Tim lebt! - Simone Guido - E-Book

Tim lebt! E-Book

Simone Guido

4,8

Beschreibung

"Als wir damals an seinem Bettchen standen und er uns mit seinen blauen Augen anschaute, stand unsere Entscheidung eigentlich gleich fest: Wir nehmen ihn auf. Und wir haben es nie bereut. Er hat unser Leben reich gemacht, trotz aller Probleme. Tim war nicht gewollt, seine Mutter hat ihn in der 25. Schwangerschaftswoche abtreiben lassen, weil er das Down-Syndrom hatte. Aber er wollte nicht sterben. Stundenlang lag er unversorgt im Kreißsaal und wurde schließlich nach einem Schichtwechsel gerettet. Sein Gehirn hat dabei schweren Schaden genommen, außerdem ist er Autist. Als 'Oldenburger Baby' hat er Medizingeschichte geschrieben und wurde zum Symbol einer Debatte um späte Schwangerschaftsabbrüche und ihre rechtlichen und ethischen Konsequenzen. Aber dieses Buch ist kein Buch gegen Abtreibung - sondern ein Buch für das Leben. Es ist unser Geschenk zu Tims 18. Geburtstag." Simone und Bernhard Guido Nachtrag des Verlags: Ende 2018 ist Tim überraschend verstorben. Für Familie Guido bleibt das Gedenken an Tim so, wie es Rainer Maria Rilke formulierte: "Wenn ihr mich sucht, sucht mich in euren Herzen. Habe ich dort eine Bleibe gefunden, lebe ich in euch weiter." - Tim lebt.

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Inhalt

• Ein Ende mit Anfang

1. Zwischen Verdacht und Diagnose

2. Augen und Blicke

3. Diagnose: Down-Syndrom

4. Tim

5. Ende

6. Hilfe

7. Neun Stunden

8. Familie

9. Die Schuldfrage

10. Erziehung und Therapie

11. Ein Anruf

12. Neustart

Ein Anfang ohne Ende •

Danksagung

Anmerkung

Quellen

Bildteil

Für Tim.Dieses Buch ist unser Geschenk für dich, lieber Tim, und eine Möglichkeit, dir zu danken. Mach so weiter, bereichere unser Leben durch deine Fröhlichkeit und deinen Lebenswillen. Du bist ein ganz besonderer Mensch.

• Ein Ende mit Anfang

Im Korridor der Frauenklinik huscht um die Ecke ein weißes Kaninchen. Es hält für einen Moment inne, schaut auf seine goldene Taschenuhr – ticktack –, steckt sie zurück in die knopflose Westentasche. „Keine Zeit, keine Zeit. Wir haben keine Zeit!“, hoppelt das weiße Kaninchen eilig davon, zurück in seine Wunderwelt. Ein Schatten an der Wand der Klinik. Eine runde Uhr. Ihre Sekundenzeiger bewegen sich nicht ohne Geräusch. Zeit wird hier für ein Kind dreimal im Leben entscheidend:

25 Wochen

9 Stunden

6 Monate

Zeit spielt auch sonst eine besondere Rolle. Denn das Kind zählt die Minuten nicht. Es lebt ganz ohne Taschenuhr, in seiner eigenen Wunderwelt. Ticktack.

1. Zwischen Verdacht und Diagnose

Für die meisten Paare ist die Ankunft eines neuen Familienmitglieds ein freudiges Ereignis: Letzte Einkäufe werden erledigt, eine Klinik gesucht, Vorsorgetermine wahrgenommen. Voller Vorfreude schaut eine werdende Mutter, vielleicht begleitet vom Vater, bei den Untersuchungen auf das Ultraschallbild: Ist das Kind gewachsen? Kann ich mehr als beim letzten Mal erkennen?

Nur der Bruchteil eines Moments kann für immer alles verändern.

Es ist die Art, wie sich Arzt und Krankenschwester ansehen.

Wie alles still wird im Raum.

Wie sich die Untersuchungsliege plötzlich eiskalt anfühlt.

Der Körper zu frösteln beginnt.

Wie der Herzschlag einem den Atem raubt.

Das Rauschen des eigenen Blutes die Ohren betäubt.

Wie alle im Raum in einem gemeinsamen Augenblick erkennen, dass etwas nicht stimmt.

Hoffen und Bangen

In der 20. Schwangerschaftswoche trat in ihre Welt wieder die Angst. Ihr erstes Kind wurde gesund geboren. Ihr zweites hatte sie kurz vor der Geburt verloren. Grund genug, um bei diesem dritten Kind genauer hinzusehen, um Probleme rechtzeitig zu erkennen. Am Ende des fünften Schwangerschaftsmonats entdeckte der Arzt 1997 eine Auffälligkeit.

Enno Heine (Gynäkologe und Geburtshelfer) Die Frau, die das betraf, hatte einen Termin, um die vorangegangenen Vermutungen durch eine Fruchtwasseruntersuchung verlässlich bestätigen zu lassen. Sie hatte das Ganze etwas hinausgeschoben, vielleicht ein bisschen verdrängt, nach zwei Wochen dann aber doch durchführen lassen.

Bei einer Fruchtwasseruntersuchung wird eine dünne Hohlnadel durch die Bauchdecke und Gebärmutter bis in die Fruchtblase eingeführt und von dort Fruchtwasser entnommen, um genetische Tests durchführen zu lassen.

Diese Form der Pränataldiagnostik wurde schon damals, vor fast 20 Jahren, angewandt. Mittlerweile sind viele vorgeburtliche Untersuchungsmethoden hinzugekommen, die längst Standard geworden sind. Schwangere und Kind werden von Beginn an genau unter die Lupe genommen.

Vielen werdenden Eltern ist bei der Entscheidung für solche Untersuchungen nicht klar, was sie für ihre Familie bedeuten könnten. Sie werden heutzutage nun mal gemacht. Welche Emotionen dabei auf sie zukommen, sollten sie unerwartete Ergebnisse erhalten, überblicken die meisten nicht: Was werden sie tun, wenn ihr Kind behindert ist? Haben sie diese Möglichkeit wirklich durchdacht? Brauchen sie all diese Untersuchungen, um es annehmen zu können? Und ist ihnen bewusst, dass eine solche Botschaft sie von ihrem vielleicht herbeigesehnten Kind meilenweit emotional entfernen kann?

Die wenigsten stellen sich diese Fragen, wenn sie den Untersuchungen zustimmen. Sie werden dann von ihnen überrascht, wenn eintritt, wovon zunächst einmal niemand ausgeht. Manche Paare wissen später nicht einmal mehr, warum sie den Untersuchungen überhaupt zugestimmt hatten, da sie sich danach mit den Konsequenzen allein gefühlt haben. Sie beklagen, dass in unserer Gesellschaft technischer Fortschritt in den Vordergrund gestellt wird, statt einfach Mensch sein zu dürfen in all seinen Facetten. Und sie fragen sich im Nachhinein, was ihre sogenannte Risikoschwangerschaft letztlich bedeutet hat: Ein Risiko für die werdende Mutter oder für die Gesellschaft?1

Im Fall dieser schwangeren Frau ging es darum, kein Risiko für das Kind einzugehen. Nachdem sie kurz vor dem Geburtstermin ihr zweites Kind durch eine Komplikation verloren hatte, wollten die Ärzte durch engmaschigere Kontrollen sicherstellen, dass so etwas nicht bei ihrem dritten Kind passiert. Mit einem auffälligen Befund hatte zunächst einmal keiner gerechnet.

Manche Diagnosen sind dabei eindeutig: Ihr Kind wird mit einer Behinderung leben. Oder: Ihr Kind wird sterben. Andere sind keine, weil die Ärzte anhand des Befundes nur Rätsel raten können. Weil die Pränataldiagnostik so fortschrittlich ist, dass sie etwas findet, wenn sie erst einmal zu suchen beginnt, aber manchmal nicht weiß, was. Immer wieder verwischen hier die Grenzen, werden selbst gesunde Kinder auffällig.

Wie weit möchten werdende Eltern gehen? Und wo sollten sie eine Grenze ziehen? All diese Fragen beschäftigen sie meist erst, nachdem etwas entdeckt wurde, und platzen dann mitten in den Schock hinein. In dieser Zeit zwischen Verdacht und Diagnose bewegen sich Mütter wie in einer undurchdringlichen Albtraumblase. Sie versuchen, ihren Alltag fortzuführen, und pendeln zwischen Hoffen und Bangen. Dazwischen immer wieder der Impuls, aus der Situation flüchten zu wollen, und das Scheitern an der Erkenntnis, dass das Problem, vor dem sie weglaufen möchten, in ihnen festgewachsen ist. Der Herzschlag im Hals, wenn das Ultraschallgerät eingeschaltet wird, die aufsteigende Panik, wenn der Arzt wieder kein Wort sagt. Der ständige Kampf gegen die Angst, immerhin gilt zu diesem Zeitpunkt noch, ein Kind zu schützen, das erste Signale sendet und den Kontakt zur Außenwelt aufnimmt. Die seelische Belastung in diesen Wochen kann nur der nachvollziehen, der eine ähnliche Situation erlebt hat. Oder weiß, was es heißt, ein Kind zu verlieren.

Diese schwangere Frau hatte beides erlebt: Ein Kind erst kurze Zeit vorher verloren und nun unendliche Angst um ihr Ungeborenes. Zwei Wochen, vierzehn Tage lang, musste sie mit ihrer Familie auf die Untersuchungsergebnisse warten.

2. Augen und Blicke

Nur drei Wochen mussten Bernhard und Simone Guido warten, bis am Morgen des 30. Dezembers 1997 in aller Früh durch ihr Haus das Telefon schrillte. Während die Sonne in den noch stillen Räumen ihre ersten Spuren legte und die Kinder der Guidos, Pablo und Marco, unter ihren Decken hervorkrochen, lagen Simone, Bernhard und ihr Besuch noch im Bett. Zu den Silvestertagen waren Bernhards Bruder Andreas und seine Frau Kordula angereist, um gemeinsam das Jahresende sowie Andreas’ Geburtstag zu feiern. Marco war als Erster am Hörer und brachte seiner Mutter das Telefon.

Simone Guido Und wer war dran? Ausgerechnet der Leiter des Jugendamts, der fragen wollte, ob das Kind jetzt bei uns leben würde oder nicht. Kordula sagte neulich noch scherzhaft: „Im nüchternen Zustand hättest du bestimmt nicht Ja gesagt!“

Andreas Neumann muss schmunzeln, wenn er sich an diesen Morgen erinnert. Die Ähnlichkeit zu seinem Bruder ist unübersehbar: Dreitagebart, eine prägnante Nase, nur das lichter werdende Haar hat die hellen Grautöne Bernhards noch nicht erreicht.

Andreas Neumann (Bernhards Bruder) Meine Frau und ich haben den beiden so eine Verantwortung auf jeden Fall immer zugetraut.

Erste Begegnung

Auch heute sind die Neumanns bei den Guidos zu Besuch. Es ist ein wichtiger Tag für alle. Gemeinsam sitzen sie am Frühstückstisch, auf dem ein Geburtstagskuchen und eine Brötchenpyramide stehen. Die aufeinandergestapelten Brötchenhälften sind mit Käse und Wurst belegt. Melissa angelt sich ihre zweite Hälfte und beißt herzhaft in die Schinkenwurst. Simone beobachtet ihre Tochter und zählt im Kopf mit. Es reicht ein Blick in Simones blaue Augen, um zu wissen, dass ihr ganzes Gesicht strahlt. Das ist das Erstaunliche an ihr. Sie strahlt zu jeder Zeit und der Außenstehende kommt nicht umhin, sich irgendwann zu fragen, woher dieses unerschütterliche Strahlen gespeist wird.

Simone und Bernhard Guido Wir erinnern uns immer an die Szene, als wir ihn das erste Mal gesehen haben. Seine blauen Augen, die uns sofort beeindruckt haben. Eigentlich wollten wir nur einen vorweihnachtlichen Besuch abstatten, um unser Gewissen zu beruhigen. Aber als wir vor ihm standen und er uns angeschaut hat, war eigentlich alles klar.

Es war kurz vor Weihnachten, in diesem großen, altehrwürdigen Krankenhaus. Er lag auf der Intensivstation – daran hatten wir gar nicht gedacht, als wir hingefahren sind und unsere beiden Söhne Marco und Pablo mitgenommen haben. Die durften natürlich nicht mit auf die Station und wir wussten erst gar nicht wohin mit denen. Im Eingangsbereich des Krankenhauses stand ein großes Holzspielschiff, wo wir die beiden dann spielen ließen. Sie waren zu dem Zeitpunkt ja auch noch ganz klein, Marco war sechs und Pablo nicht einmal vier. Aber wir wollten ihn unbedingt zusammen als Paar sehen. Das war uns ganz wichtig.

Die erste Begegnung war dementsprechend kurz. Im Vorraum mussten wir uns Schutzanzüge anziehen, Haube, Mundschutz, alles steril. Nur so durften wir überhaupt erst den Gang der Intensivstation betreten. Dort mussten wir Bescheid geben, damit sie ihn für uns aus dem Bett holen und uns hinter der Glasscheibe zeigen, wir durften ihn also auch gar nicht berühren. Von dort hat er uns dann mit seinen großen blauen Augen angeschaut. Er sah ziemlich lädiert aus, aber seine Augen blitzten. Es heißt doch, ein Kind sucht sich seine Eltern aus, so war das auch bei uns: Er hat sich uns ausgesucht.

Marco und Pablo, die unterdessen auf dem Holzschiff gespielt und den Jungen nicht gesehen hatten, kommentieren die Rückkehr ihrer Eltern verwundert mit den Worten: „Wo ist er denn jetzt? Nehmen wir ihn nicht gleich mit?“ Scheinbar hatten alle schon eine Entscheidung getroffen.

Bernhard Guido Später wurde die Klinik abgerissen. Aber das Spielschiff hat irgendwer in den Neubau verlegt. Dadurch wurde zum Glück auch ein Stück unserer Erinnerung an diese erste entscheidende Begegnung bewahrt.

* * *

Simone und Bernhard sehen sich über die dampfenden Kaffeetassen hinweg an. Zwischen ihnen existiert eine stille Übereinkunft, die auch schon damals, 1997, ihr Geheimnis gewesen sein muss. Simones Finger liegen auf der Kette über ihrer Brust, als würde sie von dort die Erinnerung hervorkramen: „Wir fuhren zurück nach Hause und sprachen mit Familienmitgliedern, mit Experten und Freunden. Die meisten waren dagegen. ,Ein behindertes Kind, seid ihr wahnsinnig.‘“ So etwas zerstöre die Familie, die Ehe, die Söhne Marco und Pablo. Viele laute Stimmen, wenige zarte dazwischen leuchteten wie Sterne.

Andreas und Kordula Neumann (Bernhards Bruder und Schwägerin) Wir konnten das gar nicht wirklich beurteilen. Wir finden es schwierig, als Außenstehende zu sagen: „Macht das bloß nicht!“ Oder: „Finden wir toll, macht das!“ Wir blieben relativ neutral. Aber es war schon so, dass wir fast die Einzigen waren, die ermutigt statt abgeraten haben. In der Familie herrschte sehr viel Skepsis. Ein Familienmitglied, soweit wir uns erinnern, drohte sogar damit, den Kontakt abzubrechen, falls sie diesen Schritt tatsächlich gehen würden.

Melissa leckt sich die Finger und fragt ihre Mutter nach einer dritten Brötchenhälfte. Die schüttelt den Kopf. Melissa fragt ein zweites Mal. Simone schüttelt abermals den Kopf, diesmal springen ihre blonden Locken.

Über dem Küchentisch hängt ein groß aufgezogenes Foto. Simone und Bernhard stehen vor gigantischer Bergkulisse: über ihren Köpfen azurblauer Himmel, um sie herum ist die Welt ausnahmslos schneefarben. Beide stecken in dicken Skianzügen im Stile der Achtzigerjahre. Bernhard mit verspiegelter Sonnenbrille, die Beine fest in den Hang gestemmt, um Simone sicher im Arm zu halten. Simones Bein ist leicht angewinkelt, als würde sie gegenüber der Naturgewalt einen höflichen Knicks machen, ihr Kopf ist an Bernhards Schulter gelehnt. Zwei kleine Figuren in einer übermächtigen Landschaft, 1984, frisch verliebt und noch weit entfernt von eigenen Kindern, sehen sie schon damals aus, als könnte sie in diesem Leben nichts aus dem Gleichgewicht bringen.

Simone und Bernhard In Deutschland herrscht das Bild, dass mit einem behinderten Kind kein glückliches Leben möglich ist. Dass alles vorbei ist für denjenigen, der ein solches Kind annimmt. Bei den allermeisten ist das so in den Köpfen. Und trotzdem hatten wir diese Bedenken komischerweise nie. Das haben einem immer nur die Leute gesagt. Es gab wirklich nur sehr wenige, die das direkt positiv fanden. Die meisten hatten uns abgeraten und sehr starke Ängste. Die schlimmsten Szenarien wurden gezeichnet. Alle haben auf uns eingeredet, unser Telefon stand nicht mehr still.

Melissa beugt sich betont unauffällig zu Bernhard. „Papa. Darf ich noch ein Brötchen?“, flüstert sie. Bernhard wiederholt, was Simone gerade verboten hat. Darüber denkt Melissa einen Moment lang nach. Dann fragt sie Bernhard noch einmal. Als der die Stirn runzelt, schlägt sie im selben Atemzug vor, einen Apfel zu essen. Mit dieser Entscheidung sind alle zufrieden.

Kordula Neumann (Bernhards Schwägerin) Wir haben das erste Mal von dem Kind erfahren, als Simone und Bernhard bei uns zu Besuch waren. Simone sagte noch zum Abschied, kurz bevor sie ins Auto stieg: „Ach, stimmt, ich habe auch noch ein Foto.“ Sie zeigte uns ein richtiges Babyfoto, ein hilfloser, zarter Säugling mit diesen großen blauen Augen. Von da an konnte ich verstehen, warum die beiden so fasziniert von ihm waren.

Was Simone und Bernhard von Anfang an gespürt hatten, kristallisierte sich zu einer Entscheidung: Ihre beiden Söhne Marco und Pablo würden einen Bruder bekommen. Einen Bruder mit Down-Syndrom.

Dagmar Schönfeld (Ärztin und Freundin der Guidos) Ein behindertes Kind ist erst mal immer eine größere Herausforderung, egal, was es hat. Mir war klar, das würde nicht einfach werden und Schwierigkeiten mit der Betreuung mit sich bringen. Außerdem weiß niemand, wie behinderte Kinder sich im Laufe der Zeit entwickeln. Und wer sich so ein Kind anguckt, klar, der sieht zunächst einmal nur einen Säugling, der immer süß und niedlich ist. Hinzu kommt das Mitleid. Deshalb hatte ich die beiden gewarnt, ihn sich nicht anzuschauen, weil sie ihn dann sowieso nehmen würden.

Über die Schwere seiner Behinderung wussten wir zudem überhaupt nichts. Wie ist sein Geisteszustand? Wie sein körperlicher? Zu diesem frühen Zeitpunkt kann grundsätzlich noch nicht viel prognostiziert werden. Und eine Frühgeburt, die er ja auch noch war, bringt außerdem immer Probleme mit sich.

Dagmar Schönfeld sitzt Simone gegenüber, sie trägt einen türkisfarbenen dünnen Pullover mit V-Ausschnitt, hat kurze schwarze Haare und ein entwaffnendes, offenes Lachen. Sie ist eine lebendige Frau, die kein Blatt vor den Mund nimmt. Sie sei eher der pragmatische Typ, sagt Simone, Naturheilmittel seien nicht ihr Ding. Weswegen sie sich auch gerne mal kabbeln würden, fügt Simone scherzend hinzu. Dagmar Schönfeld sei aber ein herzensguter Mensch, der Tim sehr mögen würde.

Blaue Augen

Bernhard steht auf, um noch einmal Kaffee zu machen. Ein Milchschäumer plustert warme Milch auf, frisches Teewasser blubbert in einem Kocher. Mit einem prüfenden Blick auf den Tisch stellt Bernhard sicher, dass jeder hat, was er braucht, während er Melissa zum Zähneputzen schickt.

Bernhard Wenn ich für jede Entscheidung, die ich treffe, erst mal einen riesigen Entscheidungsbaum erstelle und alle Für und Wider aufliste, hilft das zumindest mir nicht weiter. Natürlich war es eine Bauchentscheidung, bei rationaler Betrachtung hätten eindeutig die Kontra-Argumente überwogen.

Blauäugig waren wir vielleicht darin, dass wir uns auf etwas eingelassen haben, dessen Folgen wir nicht abschätzen konnten. Aber auf der anderen Seite war alles zunächst auf bestimmte Zeit begrenzt. Wie hieß das früher beim Fußball? Eine kontrollierte Offensive.

Vom Wintergarten tönt ein Scheppern, Knurren und Brummen in die Küche. Es folgt ein Lachen und Klatschen. Simone scheint den Lärm nicht zu hören. Er gehört so sehr zu ihrem Alltag, dass sie ihn längst nicht mehr wahrnimmt. Melissa ist auf dem Weg zurück vom Zähneputzen ebenfalls zu hören. Die Treppe vom ersten Stock geht sie nicht, sie rutscht sie auf dem Po Stufe um Stufe abwärts nach unten. Das helle Holz erzählt von mehreren Kindheiten, die hier treppauf, treppab, rennend, stolpernd oder rutschend die letzten zwanzig Jahren gelebt wurden. Die Vorderkanten der Stufen sind ausgetreten und dunkel abgewetzt. Melissa nimmt mit einem Ruck die letzte Stufe. Das tue überhaupt nicht weh, versichert sie. „Na ja“, schiebt sie hinterher und reibt sich dabei ihr Gesäß, als sie zurück in die Küche kommt.

Sie hat den Schlafanzug gegen ihren Lieblingspullover getauscht. Er ist leuchtend orange, auf der Brust prangt ein schwarzes, haariges Gesicht. „Die wilden Kerle“ steht darüber. Mit ihrer neuen Frisur, den raspelkurzen, pechschwarzen Haaren, bleibt kein Zweifel offen, dass sie einer der wilden Kerle ist.

Andreas und Kordula Neumann (Bernhards Bruder und Schwägerin) Wir glauben nicht, dass Simone und Bernhard blauäugig waren. Sie sind mit viel Optimismus an die Geschichte herangetreten. Aber blauäugig bedeutet ja, dass jemand in eine Situation geht, ohne darüber nachgedacht zu haben. Das war mit Sicherheit nicht der Fall. Klar, als sie ihn das erste Mal gesehen haben, war die Entscheidung für sie schnell getroffen. Aber damals hieß es auch noch, das Kind bliebe nur ein Jahr. Es war also zeitlich begrenzt, so differenziert ist das zu sehen. Und in diesen Monaten konnten sie etwas für ihn tun: Er würde ein Jahr lang Liebe bekommen und kein Heimkind sein. Hätten die beiden gesagt, er bleibt für immer, hätten wir vielleicht nicht so positiv und ermutigend reagiert. Dann wären auch wir vielleicht ein bisschen skeptischer gewesen. Aber es war trotzdem keine leichtfertige Entscheidung. Auch die komplette Tragweite war zu dem Zeitpunkt noch nicht klar, wie pflegebedürftig das Kind sein würde und wie lange Krankenhausaufenthalte ihm bevorstünden, wie oft Simone an seinem Bett sitzen und sein Leben am seidenen Faden hängen würde.

Ein Känguru im Krankenhaus

Simone Wie schwer er tatsächlich behindert war, haben wir erst später erfahren. Auch, wie er in diese Welt gekommen ist. Das war lange nachdem am 30. Dezember das Jugendamt angerufen und wir zunächst einmal für dieses eine Jahr zugesagt hatten. Wir wussten nur, im Krankenhaus liegt ein kleiner Junge mit Down-Syndrom, und dass die Mutter zurzeit psychisch nicht in der Lage war, ihn anzunehmen. Nach und nach haben wir dann von seiner Geburt erfahren. Wir haben uns also für ihn entschieden, ohne seine Vorgeschichte zu kennen. Und dabei hatten wir damals beim Jugendamt als Wunsch im Pflegekindformular angegeben: „nicht behindert“ und „Mädchen“.

Als uns das Jugendamt dann schon drei Wochen nach unserer Pflegeelternausbildung ein behindertes Kind angeboten hat, haben wir selbst erst einmal gedacht: „Puh, das hatten wir doch eigentlich ausgeschlossen.“ Aber wir waren sofort in ihn verliebt und irgendwie hatte ich das Gefühl, dass es bei ihm genauso war.

Daraufhin fingen die Kontaktfahrten in die Kinderklinik nach Oldenburg an. Ich musste zunächst zwei Monate lang lernen, wie ein solches Kind gepflegt wird. Die erste Zeit habe ich eigentlich gar nichts gemacht, nur zugeschaut, was die Krankenschwestern mir gezeigt und erklärt haben, was das alles für Geräte sind und was er für Krankheiten hat. Auch, um überhaupt mit ihm warm zu werden.

Am Anfang bin ich zweimal die Woche ins Krankenhaus gefahren, am Wochenende zusammen mit Bernhard und den Kindern, und zum Schluss schließlich täglich. Für mich war alles neu, ich bin vorher noch nie auf einer Frühchenstation gewesen.

Dort reihen sich Inkubatoren und Wärmebettchen aneinander. Nach Schweregrad der Fälle wird auf unterschiedliche Zimmer aufgeteilt: in Lebensgefahr, stabil, aus dem Gröbsten heraus. Das Personal bewegt sich angenehm still. Dennoch herrscht ein ununterbrochener Geräuschpegel, die Beatmungsgeräte heben und senken zischend die Körper ihrer Abnehmer, die nur mit taschentuchgroßen Windeln bekleidet in ihren Betten liegen. Die Schwestern scheinen von einem zum nächsten Bett zu schweben, wechseln Verbände, säubern Nähte, geben tröpfchenweise Milch in Kinder, manchmal nicht schwerer als zwei Pfund Butter. Diese sind an Kabel und Apparate angeschlossen, als müssten sie erst einmal aufgeladen werden, um später am Leben teilnehmen zu können. Dazwischen geistern erschöpfte Gesichter mancher Eltern, die nicht mehr tun können, als stundenlang neben den Inkubatoren auszuharren. Es erstaunt, wie klein ein menschliches Wesen sein kann und dennoch am Leben.

Simone Er war mit sechs Monaten immer noch kleiner als ein normales Neugeborenes. Dazu lag er in diesem Bettchen, einem Inkubator, in das nur die Hände gesteckt werden können. Nur mit einer Windel bekleidet, die kleinste Frühchenwindel, die es gab. Ein paar Wochen später wurde er im Krankenhaus dann in ein normales Wärmebettchen verlegt und durfte auch mit seinen ganzen Gerätschaften am Körper gehalten werden. Wir haben daraufhin sofort mit der Kängurumethode angefangen, ihn Haut an Haut auf meine Brust gelegt und warm zugedeckt. Die erste Zeit habe ich dann auch nichts anderes gemacht. Er hat sehr positiv darauf reagiert, das hat er wirklich gebraucht.

Für Frühchen ist es das Beste, sie so viele Stunden wie möglich in direktem Körperkontakt zu tragen. Eigentlich wechseln sich dabei die Eltern 24 Stunden am Tag ab. In seinem Fall kam die erste Zeit seines Lebens zum Glück eine Dame vom Besuchsdienst, sooft es ging für ein paar Stunden. Es gab ab und zu wohl auch Krankenschwestern, die sich mit Körperkontakt um ihn gekümmert haben. Aber für so etwas ist selten genügend Personal oder Zeit übrig. Deswegen wird es wohl bei ihm zu dieser Wahrnehmungsstörung gekommen sein. Im Mutterleib sitzen die Kinder ja ganz eng gedrängt und spüren ständig den Druck der Bauchdecke und des Fruchtwassers auf ihrem Körper. Sie haben also während der Schwangerschaft eine ganz andere Körperwahrnehmung als nach der Geburt.

Auch völlig gesunde Kinder entwickeln sich die ersten Monate nach der Geburt am besten im Körperkontakt mit den Eltern. Es gehört mittlerweile zu geburtsmedizinischem Standardwissen, dass Neugeborene, eben weil sie während der Schwangerschaft diese Begrenztheit erfahren, langsam an den Raum gewöhnt werden sollten, der sich nach ihrer Geburt in für sie so immensem Ausmaß entfaltet. Wir nennen es Kulturschock, wenn wir mit einer uns fremden Welt in Berührung kommen. Säuglinge erleben nach der Geburt einen regelrechten „Raumschock“.

25 Wochen, ganze sieben Monate, erlebte dieses Kind die vertraute Enge im Bauch seiner Mutter. Danach kämpfte es sechs Monate lang, die meiste Zeit allein, im Großraum einer Intensivstation ums Überleben.

Simone Dieser permanente Körperkontakt hat ihm sicherlich gefehlt. Den Herzschlag zu hören, vertraute Geräusche, die er aus der Schwangerschaft kannte, solche Dinge. Deswegen spürt er sich heute auch so schlecht.

Seit Kurzem arbeiten wir mit einer speziellen Sandweste, die sechs Kilo wiegt, die wir ihm anziehen, damit er sich besser wahrnimmt und zur Ruhe kommt. Im Bett benutzen wir eine zwölf Kilogramm schwere Sanddecke. Er schläft nicht die ganze Zeit darunter, aber es ist für ihn ein schönes Einschlafritual, das Gewicht der Decke erdet ihn – so wie ihn damals die Kängurumethode im Krankenhaus nach und nach geerdet hat.

Ich bin irgendwann täglich hingefahren, um sicherer in der Pflege zu werden, aber auch um ihm näherzukommen. Als er sich auf meiner Brust immer wohler fühlte, hat er irgendwann versucht, sein Köpfchen zu heben, um mir in die Augen zu schauen. Ich weiß noch, wie ich auf der Liege in diesem Zimmer lag und die Sonne hereinschien. Das war einer dieser Momente, da wusste ich: Jetzt sind wir beieinander angekommen.

* * *

Aus dem Wintergarten dringen weiterhin das Scheppern, Brummen und Klatschen herüber. Sonst ist morgens in dieser ländlichen Gegend nicht viel zu hören, außer Vogelgezwitscher und mal ein Auto, das eine Garage verlässt. Amseln hopsen durch das taufeuchte Gras im Garten, an den sich auf der einen Seite Wiesen und Felder anschließen. Flaches niedersächsisches Land, über dem die Julisonne steht.

Die Guidos leben in einer Siedlung aus roten Backsteinhäusern. Die Auffahrten sind gepflegt und Beete mit Stockrosen und Lavendel bepflanzt, ein Vorgarten ist prächtiger als der andere. Hier am Rande einer Kleinstadt im Norden Deutschlands laufen sich selbst Hase und Igel nur selten über den Weg. Und unter der weiten Kuppel des Himmels ist viel Platz für die Träume seiner Bewohner.

Simone Wir haben uns so gefreut, als es ihm nach ungefähr einem Monat so viel besser ging, dass er vom Beatmungsgerät genommen werden konnte, und wir mit dem Kinderwagen endlich auch mal in den Krankenhausgarten konnten. Er hatte immer noch viele Geräte an sich, die alle mit in den Kinderwagen gestopft wurden. Auf dem kleinen Krankenhausspielplatz haben Marco und Pablo dann lebhaft getobt. Einer der beiden rief uns eines Tages von dort zu: „Er soll auch kommen! Er soll auch kommen!“, und wir mussten ihnen den Wagen ganz nah an das Klettergerüst stellen. Das ist für mich eines der ersten Bilder, das ich von uns als Familie habe.

Natürlich waren die Kontaktfahrten auch eine ziemliche Belastung. Um das zeitlich alles organisieren zu können, waren Marco und Pablo vormittags im Kindergarten und nachmittags musste ich sie teilweise bei Nachbarn und Freunden unterbringen, weil ich möglichst lange im Krankenhaus bleiben wollte. Wenn ich dann abends nach Hause kam, hatten Bernhard und ich noch den Haushalt und alles andere, was am Tag angefallen war, zu erledigen. Das war ziemlich schwierig. Aber am 6. März 1998 ist er dann zu uns gekommen.

3. Diagnose: Down-Syndrom

Ende Juni 1997 verließ die damals 35-jährige schwangere Frau ihr Haus in der Nähe von Oldenburg, um bei ihrem Arzt das Ergebnis der Fruchtwasseruntersuchung zu erfahren. Zwei Wochen hatte sie warten müssen, nun stand in der 24. Schwangerschaftswoche, Ende des sechsten Monats, fest: Ihr Kind hatte das Down-Syndrom, auch bekannt als Trisomie 21.

Down-Syndrom

Bei diesem Gendefekt weicht die Zahl der Chromosomen in den Körperzellen von der sonst üblichen ab. Das Down-Syndrom, früher im Volksmund Mongolismus genannt, ist charakteristisch durch einen spezifischen Phänotyp der Kinder: rundes Gesicht mit schwach ausgeprägtem Profil, schräg aufwärtsgerichtete Augen, gedrungene Ohrmuscheln, breite Hände mit kurzen Fingern. Ihr Körper zeichnet sich zudem durch eine Muskelschwäche aus, eine übergroße Zunge und eine durchgezogene Linie in der Handfläche, die Vierfingerfurche, sowie Minderwuchs und einen kleinen Kopf. Häufig haben die Kinder auch einen angeborenen Herzfehler. Die geistige Beeinträchtigung ist von Fall zu Fall verschieden. Während manchen ihr drittes, überzähliges Chromosom kaum anzumerken ist, brauchen andere intensive Pflege.

Kinder mit Down-Syndrom, die weder Probleme mit dem Herzen noch dem Verdauungstrakt haben, entwickeln sich aber unauffällig, nur langsamer. Sie haben nach heutiger Auffassung eine eigene, für sie normale, Entwicklung. Wichtige Schritte machen sie dabei etwas später: Sie lernen nach ungefähr zwei Jahren laufen und die ersten Worte oft erst ab dem dritten Lebensjahr.

Dass Menschen mit Down-Syndrom immer als besonders glücklich und freundlich gelten, ist ebenfalls eines ihrer Erkennungsmerkmale. Leider würden sie meistens nur darauf reduziert, sagt Simone. Down-Menschen seien aber viel mehr als nur die „dumm-glücklichen“ Behinderten, die fröhlich und unbedarft durch die Welt laufen würden. Sie seien zwar Menschen mit besonderen Bedürfnissen, aber ebenso Menschen mit besonderen Fähigkeiten, die sich nicht nur auf ihre Herzlichkeit reduzieren ließen, sondern zum Beispiel auch eine spezielle Feinfühligkeit, einen anderen Blick auf die Welt, eine hohe soziale Kompetenz und eine Maßstäbe setzende Ehrlichkeit aufweisen, sagt Simone. Sie seien Menschen wie du und ich, die ihren eigenen, ebenso wichtigen Platz in unserer Gesellschaft einnehmen.

Panik

Die schwangere Frau, berichten Augenzeugen und Medien, schien der Botschaft „Down-Syndrom“ panisch und ablehnend zu begegnen. Das ist die erste Reaktion der meisten werdenden Mütter. Der Wunsch, mit diesem Kind, vielmehr dieser Nachricht, nichts zu tun haben, sie aus den Augen, aus dem Körper, aus dem Sinn verlieren zu wollen.

Dr. Gasiorek-Wiens (Pränataldiagnostiker) Wie die Diagnose überbracht wird, muss sehr gut überlegt sein: Wird Mut gemacht oder Angst geschürt? Und wird den werdenden Eltern eine direkt greifende Betreuung angeboten? Wer sie in diesem entscheidenden Moment als Arzt nicht auffängt, weil er ungeschult ist oder nicht feinfühlig genug oder vielleicht selbst Ressentiments gegen behindertes Leben hegt, verliert sie. Sie machen sofort zu, sind nicht mehr zu erreichen und entscheiden sich automatisch gegen das Kind.

Die Frage ist, wie wurde diese Schwangere hier vorbereitet? Wartet jemand zwei Wochen auf die Ergebnisse der Fruchtwasseruntersuchung, gibt es noch keine definitive Diagnose, nur einen begründeten Verdacht. Trotzdem kann bereits eine psychologische Betreuung in die Wege geleitet werden. Aber das ist durchaus nicht überall möglich. Und solange keine klare Diagnose vorliegt, ist es auch schwer, über Dinge zu sprechen, die noch ungewiss sind.

Werdende Eltern fragen sich in dieser Zeit auch meist: „O Gott, warum passiert uns das? Und wie können wir das alles möglichst schnell beenden?“ Leider wird durch einen Abbruch nicht wirklich das Problem gelöst, nur wissen sie das in der Situation natürlich nicht. Und die Ärzte fühlen sich oft unter Druck gesetzt, weil die Schwangeren ganz schnell das Kind nicht mehr haben wollen. Damit hat ein Arzt wenig Handlungsspielraum, überhaupt noch an sie heranzukommen oder ihnen bestimmte Vorschläge zu machen, was Beratungsangebote angeht oder den Kontakt zu anderen Eltern mit einem behinderten Kind.

Niemand weiß, wie der damalige Arzt der schwangeren Frau die Diagnose übermittelte. Medien berichteten, dass auch er dem Kind ablehnend begegnete. Wie jede Schwangere wird sie unter Schock gestanden haben. Die Presse schrieb, dass sie aus der Fassung geriet und mit Selbstmord drohte. Die Indikation für einen Abbruch wäre damit in jedem Fall gegeben.

Neun von zehn

Mit dem Wunsch, die Schwangerschaft zu beenden, steht die Frau nicht alleine da. Erst kürzlich riet der britische Biologe Richard Dawkins öffentlich dazu, Kinder mit Down-Syndrom abzutreiben, da sie in unserer Leistungsgesellschaft keinen Platz haben2. Und der gesellschaftliche Habitus scheint Dawkins bereits zu entsprechen: Neun von zehn in Deutschland lebenden Frauen wählen eine Abtreibung, wenn pränatale Tests eine Behinderung anzeigen3. Über 90 Prozent4 aller werdenden Mütter hierzulande, denen das Down-Syndrom bei ihrem Kind diagnostiziert wird, entscheiden sich heute gegen das Fortsetzen der Schwangerschaft. Dabei spielt der Zeitpunkt keine Rolle.

Simone und Bernhard Was ist an Menschen mit Down-Syndrom „behindert“? Ein fitter Down-Mensch führt ein glückliches und zufriedenes Leben, kann Sport treiben, essen, trinken, sprechen und mit seinen Möglichkeiten arbeiten. Das wenige, was er schlechter kann, ist vielleicht rechnen, lesen und schreiben, sein Denken ist langsamer. Dafür kann er andere Dinge besser, Gefühle ehrlich und direkt zeigen und auch sehr viel Empathie für seine Mitmenschen aufbringen.

Hier offenbart sich eine Facette des Lebens, die in unserer Gesellschaft immer mehr verloren geht, weil es immer weniger Menschen mit Down-Syndrom gibt, da heutzutage fast alle diese Kinder abgetrieben werden. Wir verhindern dadurch aber nicht Krankheiten und Behinderungen in dieser Welt, sondern verlieren vielmehr einen gewissen Reichtum, den das Leben durch seine Vielfalt mit sich bringt, und die Möglichkeit, daran selbst und miteinander zu wachsen. Wir beschneiden uns um die Chance, durch Herausforderungen, die uns naturgemäß gegeben werden, Stärken zu entwickeln und ein menschlicheres Miteinander zu pflegen. Gerade in Zeiten, in denen in einer Gesellschaft nur noch Leistung und Erfolg einen Wert zugesprochen bekommen, scheinen uns solche Fähigkeiten essenziell.

Zeit spielt in dem Moment nach der Diagnose eine oft alles entscheidende Rolle. Einen Augenblick innehalten, um zu verstehen, in welcher Situation sich die werdenden Eltern befinden und was sie bedeutet, auch für die Zukunft. Bis der Schock sich gelegt hat, bis das Chaos sich lichtet, bis klar wird, welche Wege zur Verfügung stehen und welcher davon der gangbarste für die gesamte Familie ist. Eine solche Entscheidung sollte aus Sicht von Experten deshalb nie unter Schock getroffen werden, der sich nach den gesetzlich vorgegebenen drei Tagen Bedenkzeit oftmals kaum gelegt hat.

Simone und Bernhard Schon allein mit welchen Fotos in manchen Arztpraxen die Diagnose Down-Syndrom überbracht wird. Selbst uns kommen die vor wie aus einem Gruselkabinett des letzten Jahrhunderts. Wir haben da ganz andere Bücher im Regal stehen 5, die viel von der Schönheit dieser Menschen zeigen – nicht mehr oder weniger als bei allen anderen auch.

Trisomie 21 ist keine Behinderung, die es zu verstecken oder zu verhindern gilt. Sie ist schlicht ein anderes Sein. Jedes Kind ist anders und keines hat mehr oder weniger Recht auf das eigene Leben. Die Wahrnehmung von Menschen mit besonderen Bedürfnissen liegt also immer im Auge des Betrachters und die beginnt in diesem Fall schon beim Fotografen. Da hatten Paare vielleicht noch nie Kontakt zu einem Down-Kind und sehen dann beim Gynäkologen schlimme Fotos. Ist doch klar, dass sie ein solches Bild abstößt. Da darf ihnen dann aber auch kein Vorwurf gemacht werden. Es gibt sicherlich hilfreichere Quellen, wie zum Beispiel das Deutsche Down-Syndrom InfoCenter 6, worauf aber oftmals erst gar nicht hingewiesen wird.

Wir persönlich würden werdenden Eltern, denen einen Down-Befund für das Kind diagnostiziert wurde, wahrscheinlich raten, erst einmal gar nichts zu tun. Ist natürlich leichter gesagt als getan. Wir würden ihnen aber sagen, dass ihr Weg zwar jetzt anders verlaufen wird, als sie sich das ausgemalt haben. Nur, dass er nicht unbedingt schlechter sein muss, weil ganz andere Bereicherungen dazukommen werden, die nicht erwartet wurden. Paare sollten das Kind also erst einmal normal bekommen, es zunächst lieben und annehmen lernen. Und dann, wenn es keine konkrete Beeinträchtigung wie einen Herzfehler etc. hat, kann, wenn die erste Babyphase vorbei ist, mit Therapien angefangen werden.

Und wir würden ihnen sagen, dass es immer wieder auch schwere Momente geben wird, in denen sie als Eltern denken, dass sie es nicht schaffen werden. Aber das betrifft alle Eltern. Natürlich ist bei einem Kind mit besonderen Bedürfnissen oftmals mehr Pflege zu leisten, aber jedes Kind bringt unterschiedliche Herausforderungen und schwierige wie gute Momente mit sich. Wir haben mit Marco und Pablo genauso viel Freude und machen uns genauso viele Sorgen. Abgesehen von der Pflege ist der Aufwand zwischen gesunden und behinderten Kindern also zumindest bei uns ausgeglichen, es gibt hier keinen Unterschied.

Am wichtigsten wäre, ganz normal mit dem Kind umzugehen, es zu lieben wie jedes andere. Das ist natürlich am Anfang schwierig. Schon alleine wie die Leute auf Familien zugehen, wenn sie ein Kind mit Down-Syndrom bekommen. Allen frischgebackenen Eltern wird normalerweise gratuliert: „Herzlichen Glückwunsch, so ein schönes Baby.“ Aber wenn sie mit einem Down-Kind auf die Straße kommen, verdrücken sich alle ganz schnell, weil sie gar nicht wissen, was sie sagen sollen. Soll gratuliert werden, kann dazu überhaupt gratuliert werden? Da sagen sie dann eher: „Tut mir leid“ statt „Herzlichen Glückwunsch!“.

Der Umgang mit Down-Menschen ist aber ganz einfach, es gibt keinen Grund zur Unsicherheit. Wer ihnen auf der Straße begegnet, muss sie nur grüßen, und sie freuen sich. Es ist für sie das Größte, wenn jemand auf sie zugeht, wenn mit ihnen kommuniziert und gelacht wird. Jeder kann ihnen also offen und normal begegnen.

Hilfe!

Für die meisten Paare ist es nicht einfach, sich nach einer Diagnose ihrem ungeborenen kranken Kind emotional wieder zu nähern. Das wird auch der schwangeren Frau damals nicht anders gegangen sein. Nach einer Pränataldiagnostik, die anders als erwartet ausfällt, folgt zunächst einmal immer das Chaos. Werdende Eltern stehen unter Schock. Sie sind orientierungslos und sollen dennoch entscheiden, ob ihr Kind leben oder sterben soll. Dabei fragen sich viele, warum sie eine solche Entscheidung überhaupt treffen müssen. Warum von ihnen als werdende Eltern erwartet wird, dass sie bestimmen, ob ihr Kind mit einer Krankheit weiterleben darf oder nicht. Die zentrale Frage für manche dabei ist, warum sie ihr Kind nicht ungeprüft lieben dürfen.7 Und warum sie niemand vor dem Sturm der Informationen gewarnt und an die Hand genommen hat.

Ärzte, humangenetische Berater und Pränataldiagnostiker sind Koryphäen auf ihrem Gebiet, aber trotz all der technischen Errungenschaften, die heutzutage so viel Wissen liefern, bleiben sie in vielen Fällen ungeschult und hilflos gegenüber dem Entsetzen der Paare, die mit ihrer Entscheidung allein bleiben.

Wird in Deutschland einer Schwangeren mitgeteilt, dass ihr Kind eine Behinderung hat, findet oftmals keine direkt anschließende Beratung statt, wie ein Leben zum Beispiel mit einem solchen Kind gestaltet werden kann. Vonseiten der Ärzte ist diese psychologische Betreuung auch gar nicht zu leisten, weshalb vermehrt eng mit Beratungsstellen zusammengearbeitet wird. Diese Kooperationen laufen teilweise gut, Paare können unmittelbar aufgefangen werden. Beide Seiten beklagen aber das Fehlen nötiger Mittel, sodass Schwangere oft doch nur eine Telefonnummer in die Hand gedrückt bekommen, unter der sie dann zuweilen niemanden erreichen.

Ob dieser schwangeren Frau damals eine solche Beratungsstelle angeboten oder sie in dieser Zeit psychologisch betreut wurde, ist nicht bekannt. Viele Paare berichten allerdings, wie sie nach der Diagnose nur darüber informiert wurden, dass die Schwangerschaft auch beendet werden kann. Und wie ihnen außerdem manche Ärzte konkret zum Abbruch geraten haben:

„Ersparen Sie sich und dem Kind das Leid.“

„Um so ein Kind ist es nicht Schade.“

„Mit einem behinderten Kind allein eine Wohnung zu finden,

ist heutzutage unmöglich.“ 8

Meist sagen sie dies, um sich als Mediziner rechtlich abzusichern. Und aus Angst. Die Gesellschaft, in der wir leben, hat keinen Platz, keine Zeit und keine Geduld für ein Leben mit Behinderung.

In ihrem Fall schien es für die schwangere Frau keine Alternative zu geben. In der 20. Woche wurde der erste Verdacht geäußert, zwei Wochen später entschied sie sich für eine Fruchtwasseruntersuchung. Weitere zwei Wochen darauf erhielt sie in der 24. Schwangerschaftswoche das Ergebnis Down-Syndrom. Anschließend traf sie eine Entscheidung.

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Dr. Gasiorek-Wiens (Pränataldiagnostiker) Auch manche Ärzte akzeptieren einen Abbruch als die einfachere Lösung. Sie müssen sich nicht weiter um Beratungsplätze, komplizierte Untersuchungen, psychologische Betreuung etc. kümmern. Und sie können nicht zu Unterhaltszahlungen oder Ähnlichem verklagt werden, wenn ihre Einschätzungen vom später geborenen Kind abweichen. Auch Kinderärzte können keine klaren Prognosen abgeben, was aus dem Menschen später einmal wird. Ist die Behinderung tief greifender als erwartet, kann das durchaus zu einer Klage wegen fehlerhafter Beratung führen.

Dass ein Abbruch der leichtere Weg ist, glauben zunächst auch die meisten werdenden Eltern. Was aber leider nicht grundsätzlich so ist. Vielen wird erst im Nachhinein bewusst, was eigentlich passiert ist und welche Entscheidung aus dem Schock heraus getroffen wurde. Sie haben dann oftmals mit schweren Gewissensbissen zu kämpfen und auch in der Trauerarbeit größere Probleme, weil von allen Seiten keine Zeit gelassen wurde, sich mit der Thematik länger auseinanderzusetzen und sie überhaupt zu begreifen.

Dass es Ärzte gibt, die von Schwangerschaften mit einem behinderten Kind abraten, ist ein ernstes Problem. Eigentlich stehen den Frauen im Rahmen der Schwangerschaftskonfliktberatung viele Hilfsmöglichkeiten zu. Ich glaube, es hat auch damit etwas zu tun, dass sich ein Arzt mehr engagieren muss, wenn er versucht, den Frauen eine bessere Beratung zuteilwerden zu lassen.

Als Arzt zu einem Abbruch zu raten, um sich rechtlich abzusichern, mag durchaus auch eine Rolle spielen, aber ich glaube nicht, dass jeder so handelt. Das war vielleicht früher so, heute wird doch in den meisten Fällen versucht, den Frauen nach sorgfältiger Abwägung die Entscheidung zu überlassen. Im Prinzip ist es wichtig, jemandem so viele Informationen wie möglich zu vermitteln. Das heißt, dass auch Kinderärzte hinzugezogen werden, die Erfahrung mit solchen Erkrankungen haben, dass die Paare eine psychologische Begleitung erhalten und dies alles Hand in Hand mit den Untersuchungen läuft. Ihnen muss vor allem Zeit gelassen werden, nicht unter Druck eine Entscheidung zu fällen. Aber nicht die Schwangere allein trägt die Verantwortung für den Abbruch. Diese liegt in erster Linie beim Arzt mit der Ausstellung einer „medizinischen bzw. medizinisch-sozialen Indikation“ gemäß Strafgesetzbuch § 218a II.

Zum Glück wurde im Schwangerschaftskonfliktgesetz 2010 festgelegt, dass Ärzte verpflichtet sind, die Vermittlung zu einer Beratungsstelle zu übernehmen. Aber es bleibt das Problem, dass diese Stellen häufig nicht besetzt sind und dann der Anrufbeantworter anspringt. Wenn Frauen das allein machen müssen oder Ärzte anrufen und sich zweimal keiner meldet, ist es oft schon zu spät.

Wer damals im Falle der schwangeren Frau die treibende Kraft war – sie selbst, die sich anscheinend vehement gegen diese Schwangerschaft gewehrt hat, ihr Arzt oder ihr Umfeld –, bleibt ungeklärt. Sie habe sich nicht ausreichend aufgeklärt und informiert gefühlt, wird die Frau später in der Presse zitiert, sonst hätte sie sich vielleicht anders entschieden. Die Klinik dementiert.

Paare berichten immer wieder, wie sie, noch bevor sie die Situation, in der sie sich plötzlich befanden, verstanden hatten, von Fachpersonal und ihrem privaten Umfeld unter Druck gesetzt wurden. Sie sollten so schnell wie möglich „einen Schlussstrich ziehen“, weil es besser wäre, „alles schnell zu beenden“ 9. Solche Haltungen dem ungeborenen Kind gegenüber verunsichern die meisten werdenden Eltern. Ebenso auch die Sprachlosigkeit mancher Mitmenschen, die Unfähigkeit, mit den Betroffenen und dieser Situation umzugehen. Sie fühlen sich alleingelassen und haben darüber hinaus den Eindruck, sich für ihre intimsten Entscheidungen rechtfertigen zu müssen. Folglich ist sowohl die Situation selbst belastend, schwanger mit einem behinderten Kind zu sein, als auch die zusätzlichen Konflikte durch die Reaktionen aus dem Umfeld.

Viele Paare berichten, wie auf die Alternativen zu einem Abbruch, also mit einem behinderten Kind zu leben oder es zur Adoption freizugeben, nicht hingewiesen wurde. Ebenso wenig, wo sie Aufklärung und Unterstützung finden, wenn sie ihr besonderes Kind austragen wollen.

Andererseits gibt es Paare, die sehr zufrieden mit der medizinischen und psychologischen Betreuung waren. Bei einigen kam es zu einer direkten Beratung, die Botschaft wurde professionell überbracht und das Fachpersonal begleitete einfühlsam und respektvoll. Die Entwicklung hin zu einem breit gefächerten Netz an Betreuung und Beratung bzw. das Bewusstsein darüber, dass eine solche Entwicklung in der Pränataldiagnostik notwendig ist, um mit den rasanten technischen Errungenschaften Schritt halten zu können, scheint in Deutschland mittlerweile gegeben, nur noch nicht überall angekommen zu sein.

Simone Guido