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Die Rettung deiner Zukunft liegt in der Vergangenheit. Eisige Begegnungen mit Mammuts, unerbittliche Kämpfe gegen Neandertaler, unheimliche Entdeckungen in der Pyramide des Pharao – im Kampf gegen den tyrannischen Herrscher Nimrod musste Jason schon etliche Gefahren meistern. Nun findet er sich unvermittelt im alten Rom wieder. Doch bevor er nach dem dortigen Timelock suchen kann, lässt Nimrod ihn gefangen nehmen. Er will sich seinen Gegner endgültig vom Hals schaffen und hat auch schon einen Plan, wie: Jason soll als Gladiator im Kolosseum kämpfen! Erlebe alle Abenteuer der Mystery-Thriller-Reihe "Timelock"! Band 1: Zeitrebellen Band 2: Zeithüter Band 3: Zeitmeister (Frühjahr 2026)
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Seitenzahl: 368
Veröffentlichungsjahr: 2025
Alle Abenteuer des Mystery-Thrillers Timelock:
Zeitrebellen
Zeithüter
Zeitmeister
Als Ravensburger E-Book erschienen 2025 Die Print-Ausgabe erscheint im Ravensburger Verlag
© 2025 Ravensburger Verlag Text © 2025 by Michael Peinkofer Die Veröffentlichung dieses Werkes erfolgt auf Vermittlung der literarischen Agentur Peter Molden, Köln. Umschlaggestaltung: ZeroMedia GmbH Verwendete Bilder von Shutterstock/Mlap Studio, FinePic® Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.
ISBN 978-3-473-51276-8
ravensburger.com/service
Alles geschieht blitzschnell, innerhalb von nur wenigen Augenblicken – und doch kommt es ihm vor, als würde die Zeit in diesem Moment einfrieren und stillstehen.
Das unterirdische Gewölbe, die Hieroglyphen an den Wänden, das Bildnis der ägyptischen Gottheit Thot – all das scheint weit entfernt zu sein. Nur noch das Hier und Jetzt ist von Bedeutung … oder ist es eine Täuschung? So wie alles, was Jason Wells über die Zeit zu wissen glaubt?
»Junge!«, ruft Yussuf. Er sieht ihn an, die dunklen Augen weit aufgerissen. »Da ist noch etwas, das ich dir sagen mu…«
Draußen sind Schüsse zu hören und etwas prallt gegen die metallene Tür, die die Zeitkammer versiegelt. Das Schott erzittert und verformt sich unter wuchtigen Schlägen. Nur noch Augenblicke und der Feind wird hier sein …
»Was ist noch?«, will Jason wissen.
»Keine Zeit mehr«, erwidert Yussuf. Unter seinem Hemd zieht er eine Pistole hervor, schützend stellt er sich vor die Tür. »Verschwindet, sofort!«
Wieder hagelt es Schläge von der anderen Seite. Jeden Augenblick wird das Schott nachgeben und die Grauen Wächter werden die Zeitkammer stürmen!
»Vater!« Namiras Stimme überschlägt sich. Ihr ist klar, dass sie ihn womöglich niemals wiedersehen wird, dass dies vielleicht ein Abschied für immer ist.
»Kümmert euch nicht um mich!«, entgegnet Yussuf streng und in diesem Moment ist es nicht der Vater, der spricht, sondern der Anführer des Widerstands, der letzte Hüter der Zeit … »Ihr habt eine Mission zu erfüllen! Das und nichts anderes zählt, habt ihr verstanden?«
Seine Worte verhallen in der uralten Kammer, während draußen wieder Schüsse fallen. Schreie sind zu hören und erneut erzittert das Schott unter dem Ansturm der Wächter … doch plötzlich verstummen all diese Geräusche, prallen an der Wand ab, die Jason um sich herum errichtet. Nicht aus Ziegelsteinen oder aus Glas, sondern allein durch die Kraft seines Willens.
Noch nie hat er einen Sprung wie diesen gewagt, noch niemals versucht, jemand anders als sich selbst über die Abgründe der Zeit hinwegzutragen.
Was, wenn es ihm nicht gelingt?
Was, wenn seine Kräfte nicht ausreichen und Namira und er irgendwo in Raum und Zeit verloren gehen? Was würde dann aus ihnen werden? Und was aus der Mission, die sie zu erfüllen haben?
Ängste und Zweifel drohen ihn zu überrollen, aber er verdrängt sie, konzentriert sich nicht länger auf das Hier und Jetzt, sondern auf die Vergangenheit, in die Namira und er reisen wollen. Er hält ihre bebenden Hände in seinen, sie sind das Letzte, das er von seiner Umgebung noch spürt, während alles andere hinter eine Wand aus Nebel und Vergessen sinkt.
Ein seltsames Gefühl erfüllt ihn, ein Hauch von Schwerelosigkeit, während eine unwiderstehliche Kraft ihn erfasst und fortzureißen droht.
Plötzlich ohrenbetäubender Krach, der selbst die Nebel der Zeit noch durchdringt – eine Explosion! Der Boden unter ihren Füßen bebt, Risse bilden sich in der Decke der alten Kammer.
»Jetzt!«, gellt Yussufs Schrei.
Das Letzte, was Jason und Namira sehen, ist das Schott, das aus den Angeln bricht. Yussuf wird von der Wucht der Explosion erfasst und durch die Luft geschleudert, gleichzeitig dringen hünenhafte, mit ihren Gasmasken grässlich anzusehende Krieger in die Zeitkammer ein – die Grauen Wächter!
»Papa!«, ruft Namira und sie sehen noch, wie sich die Grauen auf den benommen am Boden liegenden Yussuf stürzen … im nächsten Moment erfasst der Sog Jason und Namira und reißt sie hinweg über die Abgründe von Raum und Zeit …
In die ferne Vergangenheit.
In der Vergangenheit, genaue Zeit unbekannt
Mit einem scharfen Atemzug fuhr Jason in die Höhe.
Kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn, sein Pulsschlag raste und sein Atem ging stoßweise, während er in die Dunkelheit starrte, die ihn umgab.
Er brauchte ein paar Sekunden, um zu begreifen, dass er nur geträumt hatte … allerdings war es nicht einfach nur ein Traum gewesen. Es war auch eine Erinnerung, die Jason quälte, denn all diese Dinge waren tatsächlich geschehen, erst vor wenigen Tagen … oder, wenn man es aus seiner Perspektive betrachtete, vor Tausenden von Jahren.
Sein Puls beruhigte sich allmählich wieder, doch zum Aufatmen bestand kein Anlass. Denn die Gegenwart, die Jason Wells umgab, die Wirklichkeit, in der seine Gefährten und er gestrandet waren, war nicht weniger schlimm und gefährlich als das, was hinter ihnen lag.
Es war kalt und es war feucht.
Der Gestank von Moder tränkte die Luft, irgendwo in der Dunkelheit tropfte Wasser. Und manchmal, wenn es ganz still war, konnte man das Trippeln winzig kleiner Pfoten hören.
Ratten …
»Kannst du auch nicht schlafen?« Kinyas Stimme drang an sein Ohr, ganz zaghaft und vorsichtig.
Schon für Namira und ihn war das, was sie während der vergangenen Stunden und Tage erlebt hatten, kaum zu begreifen – wie musste es da erst einem zehnjährigen Waisenjungen gehen, der noch bis vor Kurzem in einer Sklavenstadt zur Zeit von Pharao Ramses dem Zweiten gelebt hatte?
Sie alle waren aus ihrer eigenen Zeit gerissen worden und in einer für sie fremden Welt gelandet, aber dem armen Kinya musste all das völlig unbegreiflich sein. Nicht ohne Grund hatte er Jason und Namira bei ihrer ersten Begegnung für leibhaftige Götter gehalten …
»Nicht besonders gut, Kleiner«, gab Jason zu. Er sprach leise, um Namira nicht zu wecken, die in der Ecke der Zelle auf ihrer Pritsche lag. Doch je besser sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnten, desto mehr ging ihm auf, dass auch Namira nicht schlief. Mit offenen Augen starrte sie hinauf zur gewölbten, von Schimmel überzogenen Decke.
»Alles okay?«, fragte Jason.
»Ja klar, alles okay«, versicherte sie, schwang die Beine von der Pritsche und setzte sich auf. Wie Jason trug auch sie eine einfache, knielange Tunika mit einem Strick als Gürtel. Ihre eigene Kleidung hatte man ihnen weggenommen, zusammen mit der wenigen Habe, die ihnen nach inzwischen drei Sprüngen durch die Zeit noch geblieben war.
Der erste Sprung – der, den sie in letzter Sekunde aus der Zeitkammer gemacht hatten, nur Augenblicke bevor die Grauen Wächter dort eingetroffen waren, hatte sie rund 40.000 Jahre in die Vergangenheit geführt. Der nächste Sprung ins alte Ägypten zur Zeit der Pharaonen und der Pyramiden – dort waren sie auf Kinya getroffen, der ihnen geholfen hatte. Ihn in seiner Zeit zurückzulassen hätte bedeutet, ihn dem sicheren Tod zu überantworten, also hatte Jason ihn mitgenommen, auch wenn der Sprung zu dritt ihn seine ganze Kraft gekostet hatte. Nicht von ungefähr war er danach wie ohnmächtig zusammengebrochen, und auch jetzt noch steckte ihm die Erschöpfung tief in den Knochen, so als wäre er viele Hundert Meilen weit zu Fuß gegangen, ohne sich auch nur ein einziges Mal auszuruhen.
Immerhin war er noch lange genug bei Bewusstsein geblieben, um zu sehen, wohin der Zeitfluss sie getragen hatte: ins alte Rom. Doch schon auf den ersten Blick war zu erkennen gewesen, dass irgendetwas hier ganz und gar nicht stimmte, denn die römischen Soldaten waren mit Gewehren bewaffnet, die etwa so gut in diese Zeit passten wie ein Haartrockner oder ein Kaugummiautomat.
Auch was den genauen Zeitpunkt ihrer Ankunft betraf, tappten die drei Gefährten im Dunkeln – und das wortwörtlich. Denn bereits seit mehreren Tagen waren sie in diesem finsteren Loch eingesperrt, das eine vergitterte Tür hatte und nur ein winzig kleines Fenster, das den Namen nicht verdiente. Es war ebenfalls vergittert und dazu noch so weit oben angebracht, dass man nicht hinausschauen konnte. Nur etwas Sonnenlicht und blauer Mondschein fielen abwechselnd herein, sodass man wenigstens wusste, ob es gerade Nacht war oder Tag. Indem sie sich auf Jasons Schultern stellte, war es Namira gelungen, einen Blick hinaus zu werfen – mehr als einen düsteren, schmutzigen Innenhof hatte sie allerdings nicht zu sehen bekommen.
»Vermutlich haben sie uns in einen der Stadtkerker gesteckt«, vermutete sie. Anders als Jason, der keine Ahnung von Geschichte hatte, weil er im Unterricht in der Lehranstalt nicht aufgepasst hatte, war seine Gefährtin von ihrem Vater Yussuf unterrichtet worden und so etwas wie ein wandelndes Lexikon – doch auch das half ihnen im Moment nicht weiter. »Nach den Rüstungen der Soldaten zu schließen, die uns verhaftet haben, würde ich sagen, dass wir uns im Rom der Kaiserzeit befinden – aber wann genau, kann ich nicht sagen. Der Kaiser könnte Nero heißen – oder Caligula.«
»Wäre das schlimm?«, fragte Kinya, der ihren düsteren Unterton bemerkte.
»Der eine hat zugeguckt, wie die Stadt lichterloh in Flammen stand, und dazu ein Liedchen geträllert«, entgegnete Namira düster. »Der andere war komplett irre. Noch Fragen?«
»Nein«, flüsterte Kinya in die Dunkelheit.
»Wenn ich nur wüsste, warum uns der Sprung ausgerechnet in diese Zeit und an diesen Ort gebracht hat.« Jason war aufgestanden und ging in der Zelle auf und ab, so gut das auf zwei mal zwei Metern eben möglich war.
»Immerhin wissen wir, dass etwas mit dieser Zeit nicht stimmt, sonst hätten die Legionäre keine Schusswaffen getragen«, gab Namira zurück. »Für alle weiteren Informationen bist du zuständig, denn du bist der Zeithüter.«
»Ein schöner Zeithüter.« Jason lachte bitter auf. »Noch vor ein paar Wochen wusste ich nicht mal, dass es so etwas wie Zeithüter überhaupt gibt – oder dass meine Eltern welche waren. Und von Reisen durch die Zeit wusste ich schon gar nichts, bis dein Vater mir davon erzählt hat!«
»Papa«, sagte Namira leise, sodass sich Jason am liebsten auf die Zunge gebissen hätte. Wann immer die Rede auf ihren Vater kam, wurde sie schrecklich traurig, und er konnte ihren Schmerz beinahe fühlen.
»Es geht ihm gut«, versicherte er. »Irgendwie muss er es geschafft haben, den Grauen Wächtern zu entkommen – sonst wäre unsere Reise schon längst zu Ende gegangen.«
Namira nickte. Sie wusste, dass er recht hatte. Wann immer ein Zeithüter in die Vergangenheit sprang und seine eigene Gegenwart verließ, blieb auch seine Seele dort zurück, verwahrt in einem Artefakt, das man Seelenwürfel nannte. Nahm dieser Schaden, so ging der Besitzer der Seele elend zugrunde – und da es Jason nach wie vor gut ging, musste das wohl bedeuten, dass es Namiras Vater irgendwie gelungen war, sich vor den Grauen Wächtern in Sicherheit zu bringen.
Und den Seelenwürfel ebenfalls …
Oder die Wächter hatten Yussuf getötet, den Seelenwürfel in ihren Besitz gebracht und überlegten nun, was sie damit anfangen konnten … aber über diese Möglichkeit wollten sie lieber gar nicht erst nachdenken.
Namira straffte sich und strich mit einer energischen Geste das schwarze Haar aus dem Gesicht, das vorn lang war und im Nacken kurz geschnitten. Von dem Tag an, da sie einander zum ersten Mal begegnet waren*, hatte Jason sie für ihre Tapferkeit und Klugheit bewundert. Eine bessere Gefährtin hätte er sich für seine Mission nicht wünschen können. Doch auch das änderte nichts an den Zweifeln, die ihn plagten, seit sie ihren Fuß in diese Zeit gesetzt hatten – und noch mehr, seit sie in diesem finsteren Kerker saßen.
Seufzend ließ er sich wieder auf seine Pritsche sinken und das Warten ging weiter.
Es war kalt und feucht in der Zelle.
Der Gestank von Moder tränkte die Luft.
Irgendwo tropfte Wasser in eine Pfütze.
Und manchmal hörten sie die Ratten.
In der Gegenwart
Die Fahrt dauerte lang – oder vielleicht kam es Otaku auch nur so vor.
Zusammen mit der kleinen Hana saß er im Laderaum eines Lastwagens. Die Männer und Frauen, die sich ihnen als Widerstandskämpfer vorgestellt hatten, als Zeitrebellen, waren halbwegs freundlich zu ihnen gewesen, aber das war es auch schon. Zu vertrauen schienen sie ihnen jedenfalls nicht, sonst hätten sie ihnen wohl kaum die Augen verbunden.
Was hatte das alles zu bedeuten?
Otaku hatte von Anfang an kein gutes Gefühl dabei gehabt, den anonymen Hinweisen zu folgen. Zugegeben, er hatte eine Falle der Grauen Wächter vermutet und damit offenbar falschgelegen. Aber letztlich waren die Hinweise doch nur ein Köder gewesen und er schalt sich einen Narren dafür, dass er ihn geschluckt hatte.
Andererseits – was hätte er tun sollen?
Mit Hana war es zuletzt immer schlimmer geworden – ihre Ohnmachtsanfälle, die seltsamen Träume … Als sie felsenfest behauptet hatte, dass Menschen aus ihrer Umgebung verschwunden wären, hatte Otaku ihr zunächst kein Wort geglaubt – schließlich hatte er nicht den Hauch einer Erinnerung an die betreffenden Leute gehabt. Doch nach und nach hatte Hana ihn überzeugt, dass mehr dahintersteckte als bloße Einbildung. Und immer mehr hatte auch er den Eindruck gewonnen, dass etwas mit dieser Welt nicht stimmte, dass sie auf merkwürdige Weise falsch war … und er hatte begriffen, dass das kleine Mädchen, das er damals in der verbotenen Bibliothek gefunden hatte, alles andere als ein gewöhnliches Kind war.
Hana hatte schon immer Geschichten geliebt. Unzählige Male hatte sie Otaku angebettelt, ihr etwas vorzulesen, aus den Büchern, die unter der Herrschaft Nimrods eigentlich verboten waren und von denen es nur noch ganz wenige gab. Für Sagen und Märchen und Geschichten von wagemutigen Reisen hatte sich das kleine Mädchen ganz besonders begeistert – so sehr, dass Otaku sie sogar danach benannt hatte: Hanashi, was »Geschichte« bedeutete … oder eben nur kurz Hana.
Doch nun hatte sich herausgestellt, dass Hana ihre ganz eigene Geschichte hatte, die nicht weniger verworren und spannend zu sein schien als das, was die Heldinnen und Helden ihrer Bücher erlebten, von Dorothy Gale bis Jim Hawkins.
Und auch ihren wahren Namen hatten sie erfahren.
Helena.
In der alten Universität waren sie auf eine Aufzeichnung ihrer Mutter gestoßen … Von einer Flucht war darin die Rede gewesen und von drohender Gefahr, vor der man das Mädchen habe schützen wollen. Und die Widerstandskämpfer, auf die sie kurz darauf getroffen waren, hatten etwas von falschen Wirklichkeiten erzählt, von Veränderungen in der Geschichte und von einem Kampf, der in der Vergangenheit stattfand …
Otaku hatte nichts davon verstanden.
Nur eines wusste er: dass sie diesen Leuten auf Gedeih und Verderb ausgeliefert waren.
Als er noch ein gewöhnlicher Dieb gewesen war und Hana – Helena – und er in ihrem Versteck in dem alten U-Bahnhof gelebt hatten, da waren sie wenigstens ihre eigenen Herren gewesen. Sie hatten getan und gelassen, was sie wollten, und solange sie nicht den Grauen Wächtern in die Hände fielen, hatten sie nichts zu befürchten gehabt.
Nun jedoch hatte sich das alles geändert und Otaku ertappte sich dabei, dass ihn Furcht beschlich. Seine kleine Gefährtin vertraute diesen Rebellen.
Er tat es nicht.
Wie lange die Fahrt in dem Lastwagen dauerte, wusste er nicht zu sagen. Weder gab es eine Uhr noch sprach man mit ihnen. Der Zustand der Straßen, über die sie fuhren, veränderte sich allerdings merklich: Anfangs kamen sie auf den Hauptstraßen rasch voran, doch schon bald fuhren sie über kurvige Nebenstrecken. Zuletzt schienen die Wege nicht einmal mehr befestigt zu sein – der Wagen rumpelte und sprang wie ein Ball auf und ab, sodass sich Otaku mehrmals den Kopf stieß.
Irgendwann ging die Fahrt zu Ende.
Der Lkw wurde langsamer. Auf knirschendem Kies rollten die Reifen aus und das Fahrzeug blieb stehen.
Die Widerstandskämpfer, die zusammen mit ihnen im Laderaum gesessen hatten, standen auf und öffneten die Tür nach draußen. Unter ihnen war auch die junge Frau, die den Trupp befehligte.
»Wir sind da«, sagte sie. »Kommt mit.«
»Kann ich die Augenbinde abnehmen?«, fragte Otaku.
»Noch nicht.«
»Warum nicht?«, wollte Helena mit kindlicher Neugier wissen. Manchmal wirkte sie wie eine ganz gewöhnliche Achtjährige, dann wieder schien sie Weisheit und Wissen weit jenseits ihres Alters zu besitzen.
»Es ist zu eurer Sicherheit«, sagte die Frau, die ihnen noch keinen Namen genannt hatte – auch das war nicht gerade ein Zeichen von Vertrauen. »Wenn die Grauen Wächter euch fangen, könnt ihr nichts verraten.«
»Was sie nicht davon abhalten wird, uns zu foltern«, merkte Otaku an – schließlich wusste jedes Kind, wozu Nimrods berüchtigte Geheimpolizisten fähig waren. »Offenbar dient es also mehr eurer Sicherheit als unserer.«
»Genug gequatscht«, raunte ihm jemand von der Seite zu und man bugsierte ihn so grob zum Heck des Lkw hinaus, dass er beinahe gestürzt wäre.
Draußen war heller Tag – aber das war auch schon alles, was Otaku durch die Augenbinde wahrnehmen konnte.
»Mitkommen«, sagte die Frau und sie setzten sich in Bewegung, ein Dutzend Füße über knirschenden Kies.
»Krümel?«, fragte Otaku halblaut.
»Ich bin hier«, gab Helena zurück. Offenbar ging sie direkt neben ihm.
»Bist du in Ordnung?«
»Klar, warum nicht?«
»Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte er tapfer und entgegen seiner eigenen Überzeugung.
»Ich weiß«, versicherte sie, und tatsächlich schwang nicht eine Spur von Furcht in ihrer Stimme mit.
Unter seiner Binde verdrehte Otaku die Augen. In diesem Moment wünschte er sich inständig, ein wenig mehr von ihrem kindlichen Gemüt zu haben.
»Du musst ihnen vertrauen, Otaku«, raunte das Mädchen ihm zu. »Sie haben Angst vor den Grauen Wächtern, deshalb sind sie so vorsichtig. Aber es sind gute Menschen, verstehst du?«
»Wollen wir’s hoffen«, erwiderte er und seufzte. »Ich wollte, ich hätte dein Vertr…«
In diesem Moment hörte er, wie sich Schritte über den Kies entfernten.
»Krümel?«, fragte er – doch diesmal kam keine Antwort mehr. »Krümel, bist du noch da?«
Er blieb stehen und lauschte.
Keine Antwort.
»Weitergehen«, sagte die barsche Stimme hinter ihm und stieß ihn so unsanft an, dass er stolperte.
»Wo ist Hana?«, wollte Otaku wissen. »Ich meine Helena … wo habt ihr sie hingebracht?«
»Weitergehen«, verlangte die Stimme nur.
Otaku wurde klar, dass nun genau das geschehen war, was er die letzten sechs Jahre erfolgreich vermieden hatte und was ihrer beider größte Angst gewesen war.
Sie waren getrennt worden.
Genaue Zeit unbekannt
»Ihr wisst also nicht, in welcher Zeit wir uns befinden«, sagte Kinya nach einer quälend langen Zeit in die Stille, die sich in der Kerkerzelle ausgebreitet hatte. »Aber du hast das Ziel doch ausgewählt, oder nicht?«
Aus großen fragenden Augen sah der Junge Jason an. Da das Altägyptische, das er sprach, eng mit dem Interanto verwandt war, das in Jasons und Namiras Gegenwart gesprochen wurde, konnten sie sich gut verständigen.
»Weißt du, Kleiner, so funktioniert das nicht«, erklärte Jason bereitwillig. »Wenn ich springe, denke ich nicht an eine bestimmte Zeit oder einen bestimmten Ort und springe dann …«
»Nein?«, fragte Namira. »Aber hat es mein Vater dir nicht genau so beigebracht? Dir den Ort und die Zeit vorzustellen, bis ins letzte Detail?«
»Das ist wahr«, gab Jason zu, »aber wie soll ich das, wenn ich vorher nicht mal weiß, wo die Timelocks versteckt sind? Eigentlich ist es genau umgekehrt – ich konzentriere mich nur auf den Sprung selbst und auf meinen Wunsch, die Dinger zu finden, dann lasse ich den Fluss der Zeit das Ziel bestimmen.«
»Du vertraust dich ihm an«, folgerte Kinya. »So wie wenn man mit einem Kahn den Nil hinabfährt.«
»Sozusagen.« Jason rang sich ein Lächeln ab. »Und deshalb habe ich zu Beginn des Sprungs auch keine Ahnung, wohin die Reise geht. Ich lasse mich von der Strömung treiben – und wenn ich irgendwann das Gefühl habe, dass ich das Ufer ansteuern sollte, dann endet der Sprung.«
»Und dieses Gefühl hat dich hierhergeführt?«, fragte Kinya und sah sich in ihrem halbdunklen, schäbigen Gefängnis um.
»Sieht ganz so aus. Tut mir leid, Kleiner.«
Jason ließ den Kopf sinken. Noch immer fühlte er sich müde und ausgelaugt – und nicht nur von dem anstrengenden Sprung, sondern auch, weil er seine Freunde in diese fürchterliche Lage gebracht hatte. Und weil er keine Ahnung hatte, ob dies tatsächlich der richtige Zeitpunkt war.
Hatte er den Kahn zur rechten Zeit ans Ufer gesteuert? War er rechtzeitig ausgestiegen? Oder hatte er sich verwirren lassen von den unendlich vielen Eindrücken, die während eines Sprungs auf den Zeitreisenden einprasselten? Von den Gefühlen und Erinnerungen, die ihn dabei überkamen? Zugegeben, die Gewehre, mit denen die römischen Legionäre sie bedroht hatten, waren ein Hinweis, aber das bedeutete noch nicht, dass …
»Was sind Timelocks?«, fragte Kinya in die Stille, die abermals entstanden war.
Jason und Namira wechselten Blicke.
Sie hatten dem ehemaligen Sklavenjungen ohnehin schon viel mehr erzählt, als er hätte wissen dürfen, hatten ihm ihre wahre Herkunft offenbart und ihn zuletzt gar aus seiner eigenen Zeit mitgenommen – warum also sollte er nicht auch noch den Rest erfahren?
»Stell dir einen Bach vor«, antwortete Jason mit demselben Bild, mit dem Namiras Vater ihm damals das Prinzip der Timelocks erklärt hatte. »Das Wasser plätschert friedlich dahin, bis jemand einen großen Stein hineinwirft. Was geschieht dann?«
»Das Wasser fließt um den Stein herum«, wusste der Junge.
»Ganz genau – es muss einen Weg um den Stein herum finden und ändert dadurch seinen Lauf. Und genau das bewirkt ein Timelock im Fluss der Zeit.«
»Ich verstehe«, meinte Kinya nickend – um gleich darauf den Kopf zu schütteln. »Nein, ich verstehe nicht. Was bedeutet das? Was geschieht, wenn der Fluss der Zeit sich verändert?«
»Dann verändert sich auch das, was in der Zeit geschieht«, antwortete Namira an Jasons Stelle. »Die Vergangenheit, die Geschichte, verstehst du? Das Ergebnis ist eine andere Zukunft. Eine Wirklichkeit, in der Nimrod – oder Nimrotep, wie er sich in deiner Zeit genannt hat – der Herrscher über die ganze Welt ist.«
»Und … das ist der Ort, von dem ihr kommt?«
»Allerdings.« Namira nickte.
»Wie ist es dort?«
»Es würde dir nicht gefallen. Es gibt dort keine Freiheit«, erklärte Namira. »Die Menschen werden auf Schritt und Tritt beobachtet und die Kinder werden ihren Eltern gleich nach der Geburt weggenommen. Alles dient nur dem einen Ziel, dem Herrscher Nimrod zu gefallen.«
»Also seid ihr Sklaven«, folgerte Kinya mit verblüffender Logik. »Genau wie ich.«
»Das ist wahr«, räumte Jason ein, »aber die gute Nachricht ist, dass es nicht so bleiben muss. Mein ganzes Leben lang hatte ich schon das Gefühl, dass etwas mit der Welt nicht stimmt, dass Nimrods Herrschaft falsch ist, ein Irrtum der Geschichte. Die Wahrheit ahnte ich natürlich nicht, so wie ich auch nicht wusste, dass es Menschen gibt, die gegen Nimrod kämpfen.«
»Die Zeitrebellen«, flüsterte Kinya ehrfürchtig. Allmählich begann er, die Dinge zu verstehen.
»Namira und ihr Vater holten mich aus der Anstalt heraus, in der ich gefangen war«, bestätigte Jason. »Von ihnen erfuhr ich von den Zeithütern, die in der Lage sind, kraft ihrer Gedanken durch Raum und Zeit zu reisen. Über Jahrtausende hinweg haben sie den Fluss der Zeit gehütet – bis im Jahr 2068 einer von ihnen die Gesetze brach und in die Vergangenheit reiste, um sie zu verändern.«
»Nimrod«, fügte Namira erklärend hinzu, »und er tat es mithilfe der Timelocks – beziehungsweise wird es tun. Denn hier, in dieser Zeit, sind sie noch nicht alle gesetzt, und wenn es uns gelingt, sie zu zerstören, können wir die Zukunft, wie wir sie kennen, vielleicht verhindern.«
»In der Pyramide ist es uns gelungen«, meinte Kinya.
»Ja, aber davor sind wir in der Eiszeit gelandet, und da haben wir versagt«, erwiderte Jason leise. »Und was das Hier und Jetzt betrifft … Selbst wenn wir den richtigen Zeitpunkt erwischt haben, wie sollen wir verhindern, dass Nimrod den Timelock setzt, wenn wir im Kerker gefangen sind?«
»Wir könnten springen«, schlug Kinya vor. Seine Augen leuchteten dabei vor Begeisterung.
»Und wohin?«, fragte Jason. »Um in meine eigene Zukunft zu springen, muss ich sie mir genau vorstellen, bis in die letzte Einzelheit … außerdem bin ich noch viel zu geschwächt vom letzten Sprung.«
»Trotzdem«, beharrte Namira. »Du bist der Sohn mächtiger Zeithüter. Wenn du den Timelock nicht finden kannst, dann kann es niemand. Du bist der Schlüssel zur Zukunft, Jason.«
»Und wenn ich das gar nicht sein will?« Ein Anflug von Panik überkam ihn. »Ich habe nicht darum gebeten, ein Zeithüter zu sein. Und meine angeblich so mächtigen Eltern habe ich nicht mal gekannt!«
»Nein«, gab Namira zu. »Aber sie haben dir etwas hinterlassen und sie haben dir vertraut, genau wie mein Vater – also solltest du dir auch vertrauen.«
Sie sah ihn direkt an und wieder war da etwas zwischen ihnen, eine tiefe Verbundenheit, die sich nicht näher beschreiben ließ. Wie um sie zu unterstreichen, ergriff Namira Jasons Hand.
»Ich vertraue dir«, fügte sie hinzu und lächelte.
»Ich auch«, fügte Kinya hinzu und legte seine Hand obendrauf.
»Danke.« Jason sah zu Boden, um zu verbergen, wie sehr ihn die Worte seiner Freunde bewegten. In Lehranstalt 118 hatte keiner dem anderen vertraut und Jason hatte es bitter bereut, als er es doch einmal getan hatte**. »Trotzdem würde ich gerne wissen, was hier los ist«, fügte er leise hinzu. »Was treibt Nimrod im alten Rom?«
»Alles, was er will, ist Macht«, rief Namira ihm in Erinnerung. »Vermutlich hat er sein überlegenes Wissen auch hier genutzt, um sich eine hohe Position zu verschaffen.«
Jason nickte. Sie hatte recht – aber selbst wenn es ihnen in nächster Zeit gelang, irgendwie aus dem Kerker zu entkommen, wie sollten sie den Abtrünnigen finden? Und wie an ihn herankommen? Womöglich war er in diesem Augenblick bereits dabei, Dinge zu tun, die sich nicht mehr ändern ließen …
Es war mehr als Unsicherheit, die er in diesem Moment verspürte, mehr als die Sorge zu versagen. Es war nackte Furcht, die Jason Wells in diesem Augenblick fühlte, und seinen Gefährten ging es vermutlich ebenso, auch wenn zumindest Namira es gut versteckte. Kinyas Augen glänzten feucht in der Dunkelheit.
»Was soll nun werden?«, hauchte er.
Jason wollte etwas erwidern, wollte dem Jungen Mut zusprechen, obwohl er ihn selbst nicht hatte – als von außerhalb der Kerkerzelle Geräusche zu hören waren.
Schritte, die sich näherten.
Dann ein metallisches Klirren.
Gleichzeitig wurde der Gang vor der Zelle von flackerndem Fackelschein erhellt und bedrohliche Schatten erschienen an der aus groben Steinen gemauerten Wand.
»Da kommt jemand!«, zischte Namira.
Kurz nach Jasons Sprung in die Vergangenheit
Dass er noch am Leben war, überraschte ihn selbst am meisten.
In dem Augenblick, da die Explosion das Schott aus den Angeln riss und die Grauen Wächter die Zeitkammer stürmten, hatte Yussuf gedacht, dass alles vorbei wäre. Aus dem Augenwinkel hatte er noch gesehen, wie die Gestalten von Jason und Namira sich auflösten und schließlich ganz verschwanden, und ihm war klar gewesen, dass ihre Reise in dem Moment vorbei sein würde, in dem die Grauen den Seelenwürfel bekamen.
Das durfte nicht geschehen!
Obwohl die Wucht der Explosion ihn quer durch den Raum geschleudert hatte, obwohl er mit dem Rücken gegen die steinerne Wand geprallt und vor Schmerz halb benommen war, riss er die Pistole in den Anschlag, die er noch immer krampfhaft umklammerte, und drückte den Abzug.
Gleich mehrmals hintereinander spuckte die Waffe Feuer. Der Wächter, der ihm am nächsten war, brach zusammen. Einer seiner Kumpane stürzte über ihn und ging knurrend zu Boden.
Das verschaffte Yussuf die Zeit, die er brauchte, um sich wieder auf die Beine zu raffen und zu der Säule zu eilen, auf der der Seelenwürfel lag – jenes aus dem geheimnisvollen Tempurit gefertigte Behältnis, in dem sich nun die unsterbliche Seele von Jason Wells befand. Nahm sie Schaden, so bedeutete dies das Ende des Jungen, und Namira würde unrettbar gestrandet sein, irgendwo in der Vergangenheit!
Rasch nahm Yussuf den Würfel an sich, schob ihn unter sein weites Hemd, während weitere Graue Wächter in die Zeitkammer stürmten. Gleichzeitig stieg mit hässlichem Zischen gelber Rauch auf – eine Betäubungsgranate!
Doch in diesem Moment hatte sich Yussuf bereits auf einen anderen Ort konzentriert, auf eine andere Zeit … auch wenn sie nur wenige Augenblicke vor seiner eigenen lag. Er spürte, wie sich seine Umgebung in Nebel hüllte, hörte noch den wütenden Schrei des Grauen Wächters und das Rattern seiner Maschinenpistole. Doch die Kugeln erreichten Yussuf nicht mehr, fegten durch seine sich auflösende Gestalt hindurch – während der Zeithüter selbst das Gefühl hatte, in bodenlose Tiefe zu stürzen.
Der Sturz endete nur Augenblicke später, inmitten einer alten Kanalröhre, die unter der Kammer verlief – mit einem winzigen Sprung in die Zukunft hatte sich Yussuf hierher gerettet. Den Grauen Wächtern war der Zeithüter damit fürs Erste entkommen – den Rest seiner Flucht allerdings würde er wie jeder andere Mensch zu Fuß zurücklegen müssen.
Hals über Kopf hetzte er die schmale Röhre hinab, die sich vor ihm erstreckte. Den Seelenwürfel, dessen orangerotes Glühen ihm zugleich als Lichtquelle diente, presste er dabei schützend an sich, so als hinge sein eigenes Leben davon ab.
Was aus seinen Leuten geworden war, den anderen Kämpferinnen und Kämpfern des Widerstands, konnte er nur vermuten. King, seine rechte Hand, war mit hoher Wahrscheinlichkeit tot, von den Wächtern erschossen. Ob die anderen es geschafft hatten, sich wie er selbst in die Kanalisation zu flüchten, vermochte er nicht zu sagen. Alle, die sich den Zeitrebellen angeschlossen hatten, hatten das Risiko gekannt. Sie hatten gewusst, dass ein Tag wie dieser kommen würde, es war fast unausweichlich gewesen. Nimrods Spione waren buchstäblich überall – schon der geringste Fehler, die kleinste Unvorsichtigkeit bedeutete entdeckt zu werden. Es grenzte an ein Wunder, dass es überhaupt so lange gut gegangen war.
Nun war geschehen, was Yussuf stets befürchtet hatte, doch die Opfer waren nicht vergeblich gewesen. Denn Jason Wells war unterwegs in die Vergangenheit – und solange er unterwegs war, bestand Hoffnung, dass er die Timelocks fand und zerstörte und Nimrods Schreckensherrschaft damit beendete.
Wie gering diese Hoffnung war, darüber dachte Yussuf lieber nicht nach, während er durch die Röhren der alten Kanalisation hetzte, die sich in einem wirren Labyrinth unter der Metropole erstreckten, bis hinab zum Fluss.
Falls die Grauen Wächter auf den Gedanken kamen, hier nach ihm zu suchen, würden sie nicht nur Probleme haben, sich zurechtzufinden; die uralten, steingemauerten Röhren waren auch zu eng für ihre hünenhaften, grobschlächtigen Gestalten. Aber es war ohnehin wahrscheinlicher, dass sie ihm Drohnen auf den Hals hetzten – vor ihnen musste Yussuf auf der Hut sein. Jason Wells mochte der Sohn der mächtigsten Zeithüter sein, die es je gegeben hatte, und vielleicht hatte auch er selbst Kräfte, von denen er noch nichts ahnte – aber wenn die Grauen den Seelenwürfel in ihren Besitz bekamen, bedeutete dies in jedem Fall das Ende der Mission.
Yussuf biss die Zähne zusammen. Er musste alles daran setzen, Jason die nötige Zeit zu verschaffen – mehr konnte er jetzt nicht mehr für ihn tun. Warum nur hatte er den Jungen nicht besser ausgebildet? Ihm seine Herkunft nicht schon früher offenbart? Der Plan des Widerstands hatte vorgesehen, Jason bis zu seiner Volljährigkeit in der Lehranstalt zu belassen – dort wäre er sicher gewesen, wenn sich die Ereignisse nicht plötzlich überstürzt hätten. Doch sein Erbe hatte Jason vorzeitig verraten und die Gefahr der Entdeckung war zu groß geworden. Also hatte Yussuf Namira als Agentin des Widerstands in Anstalt 118 geschleust. Wenn er sich nicht auf seine eigene Tochter verlassen konnte, auf wen dann? Die Fähigkeit des Springens mochte Namira nicht von ihm geerbt haben, aber sie war eine Kämpferin durch und durch, loyal und mutig, die beste Agentin, die er je ausgebildet hatte.
Anfangs war alles gut gegangen.
Namira hatte Kontakt zu Jason aufgenommen und ihn vor seinen Feinden in der Anstalt beschützt. Doch dann war alles ganz anders gekommen als geplant – und nun rannte Yussuf Hals über Kopf durch ein Labyrinth alter Kanalröhren, wobei er den Seelenwürfel als Lichtquelle benutzte.
Anfangs trieb ihn noch das Adrenalin an, das heiß durch seine Adern pumpte und dafür sorgte, dass er schneller und ausdauernder lief als bei jedem Training. Doch mit der Zeit ließ die Wirkung nach und Erschöpfung stellte sich ein.
Die Schritte des Zeithüters verlangsamten sich, sein Atem begann zu rasseln. Schließlich gesellte sich noch ein fieser Schmerz hinzu – und Yussuf stellte fest, dass sein linker Hemdsärmel blutgetränkt war.
»Verdammt«, stieß er hervor.
Er blieb stehen und öffnete sein Hemd, zog es von der linken Schulter. Eine Fleischwunde klaffte darin, die heftig blutete. Offenbar hatte es ihn bei dem Sturz gegen die Wand doch schlimmer erwischt, als er gedacht hatte. Oder hatte eine Kugel ihn gestreift? In der Aufregung seiner Flucht hatte er es zunächst gar nicht bemerkt, doch nun wurde der Schmerz immer stärker und schwächte ihn.
Mit einer Verwünschung auf den Lippen legte er den Seelenwürfel auf den Boden. In seinem Licht riss Yussuf die beiden Ärmel seines Hemdes ab. Den blutgetränkten ließ er in einer der Beintaschen seiner Hose verschwinden, um keine Spuren zu hinterlassen, den anderen benutzte er, um die Wunde notdürftig zu verbinden. So, sagte er sich, würde es einigermaßen gehen, bis es ihm gelang, Kontakt zur nächsten Widerstandszelle aufzunehmen.
Er nahm den Seelenwürfel auf und wollte weiter – als er im orangeroten Licht die Blutspur sah, die er hinterlassen hatte, ohne es zu bemerken. Erneut stieß er eine Verwünschung aus. Die Spur war nicht sehr deutlich, aber Spürdrohnen würden dennoch in der Lage sein, ihr zu folgen – und die Grauen Wächter würden das Blut analysieren und womöglich erkennen, von wem es stammte …
Für einen Moment überlegte er, umzukehren und die Spur zu beseitigen, doch zum einen konnte er das gar nicht mit dem, was ihm zur Verfügung stand, zum anderen hätte es bedeutet, sich den Grauen Wächtern wieder zu nähern und den Seelenwürfel geradewegs zu ihnen zu tragen. Dieses Risiko konnte er nicht eingehen – also wandte er sich in die andere Richtung und setzte seine Flucht durch die Kanalisation fort.
Er ahnte nicht, dass Graue Wächter und Spürdrohnen nicht die einzigen waren, die sich für die Blutspur interessierten, die er in der Röhre hinterließ …
Irgendwann hörte er vor sich Wasser plätschern und atmete auf. Das musste bedeuten, dass der Fluss ganz in der Nähe war. Mit etwas Glück würde auch das Boot noch da sein, das seine Leute ein Stück flussabwärts versteckt hatten, und er konnte im Schutz der Nacht entkommen.
Schon spürte er die frische Luft, die ihm vom Ende der Röhre entgegendrang. Er folgte der Biegung, die der schmale Tunnel beschrieb, und konnte plötzlich das Ende sehen: das schwarze Wasser des Nils, darüber die mondlos dunkle Nacht. Der Anblick gab Yussuf neuen Mut.
Er biss die Zähne zusammen und schleppte sich dem Ende der Röhre entgegen, ungeachtet des heftigen Schmerzes in seiner Schulter. Dass ihm etwas in der Dunkelheit folgte, dass der Geruch seines Blutes einen Jäger angelockt hatte, der sich unbemerkt an seine Fersen geheftet hatte, merkte er nicht. Sein Ziel war die Tunnelmündung, dorthin wollte er, und er atmete auf, als er sie erreichte.
»Endlich«, flüsterte er, als er hinaus ins Freie wankte. Die Röhre mündete auf die Uferböschung, die sanft zum Fluss hin abfiel. Tausendfach spiegelten sich die Lichter der Stadt im schwarzen Wasser.
Gierig sog Yussuf die kühle, unverbrauchte Luft in seine Lungen – doch zum Aufatmen blieb keine Zeit. Denn in diesem Moment hörte er hinter sich ein Scharren.
Den Seelenwürfel noch immer in den Händen, drehte er sich herum – als ihm aus der dunklen Tiefe der Röhre auch schon das blanke Grauen entgegensprang!
Alles, was Yussuf sehen konnte, war ein weit aufgerissener Rachen und dolchartige Zähne. Ein Aufschrei des Entsetzens entfuhr ihm, während er mit einer Hand nach der Pistole griff, die in seinem Hosenbund steckte – und im nächsten Moment zerfetzten Schüsse die Stille der Nacht.
In der Gegenwart
Otaku wusste nicht mehr, wie lange er in der Dunkelheit gesessen hatte. Als man ihm die Augenbinde schließlich abnahm, konnte er zunächst gar nichts erkennen.
Helles Licht blendete ihn, sodass er die Augen mit den Händen abschirmen musste. Erst ganz allmählich konnte er zwischen seinen Fingern hindurchblinzeln.
Was er sah, gefiel ihm nicht.
Man hatte ihn in einen leeren, fensterlosen Raum gebracht. Mehrere Lampen waren direkt auf ihn gerichtet. Was sich dahinter befand, konnte er nicht erkennen, aber den leisen Stimmen nach mussten dort Leute sein. Er selbst saß auf einem Stuhl, der ziemlich unbequem war. Und ein Gefühl sagte ihm, dass es besser war, nicht aufzustehen.
»Was soll das?«, fragte er. »Wo ist Hana?«
»Dem Mädchen geht es gut«, gab ihm eine Stimme zur Antwort, die von irgendwo jenseits der Scheinwerfer drang. Sie klang dunkel, roh und gefühllos, ohne eine Spur von Mitleid. »Du solltest dir lieber Gedanken um dich selbst machen.«
»Wieso? Wo bin ich? Wohin haben Sie mich gebracht?«
»Still!«, brüllte die Stimme, sodass Otaku zusammenzuckte. »Die Fragen stelle ich.«
Otaku biss sich auf die Lippen und beschloss, dass es vorerst besser war zu schweigen – auch wenn ihn die Sorge um das Mädchen, das er als seine kleine Schwester adoptiert hatte, beinahe um den Verstand brachte.
»Dein Name lautet O-1411?«, fragte die dunkle Stimme.
»Mein Name lautet Otaku«, widersprach er trotzig.
»Also bist du kein treuer Bürger Nimropias? Du willst deine Aufgabe im System nicht erfüllen?«
»Was soll die Frage? Haben Sie nicht gesagt, dass Sie vom Widerstand sind?«, fragte Otaku dagegen – und ein hässlicher Verdacht begann in ihm zu keimen: Was, wenn diese Leute in Wahrheit keine Zeitrebellen waren, sondern Graue Wächter, die sie angelockt hatten und denen sie auf den Leim gegangen waren wie dumme Kinder …? »Nein«, setzte er trotzig hinzu – was hatte er jetzt noch zu verlieren? »Das System kann mich mal!«
»Ist das auch der Grund, warum du deine Haare blau färbst? Du willst deine Einzigartigkeit betonen? Dich von der Masse der Bürger abheben?«
»Darüber habe ich noch nie nachgedacht«, erwiderte Otaku. »Aber ich glaube, dass jeder Mensch andere Stärken und Schwächen hat und dass jeder das Recht haben sollte, ihnen zu folgen.«
»Den Schwächen folgen?«
»Fehler machen gehört dazu«, sagte Otaku. »Wie soll man denn sonst seine Schwächen herausfinden? Und wie aus seinen Fehlern lernen?«
»Aber so etwas geht auf Kosten der Allgemeinheit, die Gemeinschaft wird dadurch geschwächt«, hielt die Stimme dagegen. »Wo bleibt dein Sinn für Verantwortung, O-1411? Jede Kette ist nur so stark wie ihr schwächstes Glied. Wir alle sind dazu verpflichtet, so stark zu sein, wie es uns irgend möglich ist. Das schulden wir dem Staat und Nimrod, unserem Herrscher!«
»Jeder hat Schwächen«, widersprach Otaku. »Sie nicht zuzugeben, macht einen nicht stärker, sondern nur zu einem Aufschneider und Lügner.«
»Das sind gefährliche Worte und noch gefährlichere Gedanken«, sagte die unheimliche Stimme. Nun, da sich seine Augen ein wenig besser an das grelle Licht gewöhnt hatten, glaubte Otaku, jenseits des Lampenscheins jemanden zu erkennen. Eine dunkle, schemenhafte Gestalt … »Wer hat dich auf diese aufrührerischen Ideen gebracht?«
»Wozu stellen Sie mir diese Fragen? Sie wissen doch schon alles über mich, wer ich bin und was ich getan habe …«
»Aber wir wollen sichergehen, dass wir auch alles richtig verstehen«, schnarrte es zurück. »Das Mädchen Helena – wann und wo hast du es zum ersten Mal getroffen?«
»Vor ein paar Jahren, auf einem Streifzug«, erwiderte Otaku unbestimmt.
»Du bist ein Dieb?«
»Ich tue, was zum Überleben nötig ist.«
»Das ist keine Entschuldigung. Du hättest dich auch bei einer der staatlichen Behörden melden können. Der Herrscher hat ein großes Herz und ein offenes Ohr für junge Menschen, denen es am Nötigsten fehlt.«
»Ich weiß«, versicherte Otaku mit vor Sarkasmus triefender Stimme. »Er nimmt sie und steckt sie in die nächstbeste Anstalt.«
»Wo es ihnen an nichts mangelt und sie alles lernen, was ein zukünftiger Bürger wissen muss.«
»Wo man ihr Gehirn wäscht, bis sie nicht mehr klar denken können und ohne Widerspruch alles tun, was man ihnen sagt«, drückte Otaku es anders aus.
»Und das willst du nicht?«
»Ich würde lieber sterben«, erklärte der Junge mit derartiger Entschlossenheit, dass eine Weile keine Antwort erfolgte. »Sind Sie noch da?«, fragte er.
»Durchaus«, grollte es zurück. »Du hast das Mädchen also zufällig gefunden?«
»Ja«, bestätigte Otaku, »da war sie gerade zwei Jahre alt. Natürlich habe ich gleich gesehen, dass sie keine Asiatin ist – ich nahm an, dass ihre Familie sie im Stich gelassen oder ausgesetzt hatte oder dass sie von den Grauen Wächtern geholt worden war. Also habe ich sie mitgenommen.«
»Hast du versucht, eine neue Familie für sie zu finden?«
»Anfangs ja, aber niemand konnte oder wollte mir helfen. Also bin ich ihre Familie geworden und habe mich um sie gekümmert.«
»Das hättest du nicht tun müssen.«
»Denken Sie, das wüsste ich nicht?« Otaku winkte ab. »Ich hätte sie auch auf der Schwelle der nächstbesten Anstalt ablegen können, aber so bin ich nun mal nicht. Das nennt man Mitgefühl, wissen Sie? Aber ich fürchte, dafür ist unter Nimrods Herrschaft nicht allzu viel Platz.«
»Noch mehr gefährliche Worte. Ich frage dich noch einmal: Wer hat dir das beigebracht?«
Inzwischen war Otaku sicher, dass die Gestalt hinter dem Licht ein Riese sein musste, die Schultern breit wie ein Fahrzeug, ein wahrer Berg von einem Mann. Das ließ nur einen Schluss zu: Es war ein Grauer Wächter … was auch die dunkle Stimme erklärte und seine seltsame Art zu sprechen.
Der Graue saß nur dort und regte sich nicht, während er Otaku Fragen stellte.
Bedrohlich.
Lauernd.
Unheimlich …
Otaku schauderte bis ins Mark. Sein blaues Haar hing plötzlich in schweißnassen Strähnen, das Sprechen fiel ihm schwer. Aber er wollte es sich nicht anmerken lassen …
»Meine Großmutter«, erwiderte er tapfer. »Sie hat mir beigebracht, dass es auch einen anderen Weg gibt als den Weg Nimrods und seiner Spione.«
»Warum?«, fragte der Graue.
»Warum was?«
»Warum hat deine Großmutter dich solche Gedanken gelehrt?«
»Weil sie ein guter Mensch war, deshalb.«
»Das meine ich nicht. Ich will wissen, woher sie diese Ideen hatte. Hat sie sich womöglich … erinnert?«
»Woran erinnert?«, hakte Otaku nach.
»An eine andere Zeit«, entgegnete der Graue mit leisem Knurren. »An eine andere Wirklichkeit.«
»Sie meinen, eine Zeit vor Nimrod?«
Abermals blieb der große Schatten eine Antwort schuldig, ließ nur seine drohende Gegenwart wirken.
»Ja, sie hat sich erinnert«, bestätigte Otaku trotzig, »nur dass es nicht ihre Erinnerungen waren. Meine Großmutter hat gelesen – in Büchern, wenn Sie überhaupt wissen, was das ist. Schließlich hat Nimrod uns das Lesen verboten.«
»Das ist nicht wahr – aber der Herrscher behält sich vor, die Bücher auszuwählen, aus denen wir lesen dürfen«, widersprach der Graue.
»Wo ist der Unterschied?«, fragte Otaku. »Wenn man nicht lesen darf, was man will, wozu bekommt man es dann überhaupt beigebracht?«
»Du hast die verbotenen Bücher deiner Großmutter ebenfalls gelesen, nicht wahr?«
»Und wenn?«
»Es erklärt deine gefährlichen Gedanken. Und dem Mädchen hast du auch daraus vorgelesen …«
»Woher wissen Sie das?«
»Weil sie es mir erzählt hat, deshalb. Sie war weit weniger widerspenstig als du, O-1411.«
»Natürlich.« Otaku lachte freudlos auf. »Schließlich haben Sie sich ja als ihre Freunde ausgegeben. Sie haben sie getäuscht und belogen.«
»Und du etwa nicht? Du hast ihr Geschichten vorgelesen, die frei erfunden sind, folglich ist alles darin gelogen …«
»Nicht alles«, widersprach Otaku. »Bücher handeln von einer anderen Wahrheit. Sie handeln davon, frei zu wählen und eigene Entscheidungen zu treffen, das Leben als Abenteuer zu sehen – und nicht nur als Pflicht, die man dem Herrscher gegenüber zu erfüllen hat.«
»Du findest das falsch?«
Otaku biss sich auf Lippen. Ihm war klar, dass eine ehrliche Antwort ihn teuer zu stehen kommen würde …
»Ich habe dich etwas gefragt, O-1411«, sagte der Graue Wächter eindringlich, und zum ersten Mal bewegte er sich und stand auf – ein wahrer Koloss, der jenseits des Lichtscheins als finsterer Schatten emporwuchs, so als wollte er sich jeden Augenblick auf Otaku stürzen. »Findest du die Lehren Nimrods des Herrschers falsch?«
»Ich …«
»Ja oder nein?«
»Ja, verdammt«, platzte es aus Otaku heraus. »Ich denke, dass es Nimrod nur darum geht, das Volk zu unterdrücken und jeden freien Gedanken zu ersticken – alles, was bunt und schön ist in der Welt, will er vernichten. Er will unsere Gehirne waschen und uns dazu bringen, dass wir aufhören, wie Menschen zu fühlen und zu denken. Deshalb gibt es die Anstalten für die Kinder und die Bildwände für die Erwachsenen, auf denen immer nur dieselbe Botschaft verbreitet wird, nämlich dass die Gemeinschaft alles ist und der Einzelne ist nichts – aber das ist nicht wahr«, fügte Otaku hinzu. »Ein einziger Mensch, der frei denkt und handelt, kann einen großen Unterschied machen … deshalb hat Nimrod auch so große Angst vor einem kleinen Mädchen.«
»Du denkst, dass es uns um sie geht?«