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Dieses Buch fasst Tim Kellers (1950–2023) Wirken in beeindruckender Weise zusammen und beleuchtet in jedem Kapitel einen Schlüsselaspekt des christlichen Lebens. Der Autor Matt Smethurst schöpft aus Kellers über 40 Jahren an Predigten, Konferenzvorträgen und Büchern, um praktische theologische Einsichten zu vermitteln, die sowohl Leiter als auch Laien anregen werden.Der bekannte Pastor und Autor Timothy Keller hat die Redeemer Presbyterian Church gegründet und die Gospel Coalition mit aufgebaut. Mit seiner biblischen Einsicht, die bereits zahlreiche Gemeindeleiter geprägt hat, und seinen Ratschlägen für das christliche Leben, die das Publikum auf der ganzen Welt bewegt und gestärkt haben, werden mit Sicherheit auch künftige Generationen in den Themen Gebet, Leiden, Freundschaft, Gnade, Berufung, Vertrautheit mit Gott usw. geschult. • Rückblick auf Timothy Kellers bleibendes geistliches Erbe aus über 40 Jahren Dienst• Behandelt theologische Schlüsselthemen wie Gnade, Gerechtigkeit und Leid• Klar und fesselnd im Stil von Timothy Keller geschrieben• Für Leiter und Laien, die biblische Anleitung für das tägliche Leben suchen
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Seitenzahl: 400
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Die verändernde Kraft des Evangeliums
Matt Smethurst
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der DeutschenNationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über dnb.de abrufbar.
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Titel des englischen Originals
Tim Keller on the Christian Life:
The Transforming Power of the Gospel
© 2025 by Matt Smethurst
Published by Crossway
a publishing ministry of Good News
Publishers
Wheaton, Illinois 60187, U.S.A.
This edition published by arrangement with Crossway.
All rights reserved.
Wenn nicht anders angegeben, wurde folgende Bibelübersetzung verwendet
Lutherbibel, revidiert 2017,
© 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart
© 2025 Verbum Medien gGmbH
Kleines Lohfeld 6
D-32549 Bad Oeynhausen
verbum-medien.de
Übersetzung
Harry Enns
Lektorat
Henry Berg
Buchgestaltung
Sebastian Hoffmann
Umschlagmotiv
Mockup.Maison
Satz
Satz & Medien Wieser
Druck und Bindung
Finidr, Tschechien
1. Auflage 2025
Best.-Nr. 8652 268
ISBN 978-3-98665-268-5
E-Book 978-3-98665-269-2
Hörbuch 978-3-98665-270-8
DOI 10.54291/n857636879
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Vorwort
Einleitung
1Ein einziger Held
Jesus Christus in der ganzen Bibel
2Sünde auf den Grund gehen
Die Geschichte einer fehlgeleiteten Liebe
3Drei Lebenswege
Warum Religion Gnade braucht
4Freundschaften pflegen
Wie das Evangelium Beziehungen verwandelt
5Glaube am Arbeitsplatz
Gott und dem Nächsten in seinem Beruf dienen
6Recht tun und Liebe üben
Die Barmherzigkeit des Königs verkörpern
7Dem Vater im Himmel antworten
Wie Gebet Intimität mit Gott ermöglicht
8Eine harte Gnade
Wie Leid uns zum Herzen Gottes treibt
Schlussgedanken
Danksagungen
Endnoten
Tim Keller hat die prägenden Einflüsse unseres Lebens, einmal mit den Jahresringen eines Baumstamms verglichen: Wenn man einen Menschen durchsägt, sollte er viele Ringe haben. Was besonders für Pastoren und geistliche Leiter wichtig ist, gilt letztlich für uns alle: Es ist weise, unterschiedliche theologische Stimmen zu hören und in das eigene Denken zu integrieren. Zweifellos wollte Keller selbst seine eigenen Überzeugungen und Schwerpunkte daher lediglich als ergänzungsbedürftigen Beitrag zu einer ganzheitlichen Theologie verstanden wissen. Dennoch verdanken ihm viele geistliche Verantwortungsträger entscheidende Weichenstellungen für ihr theologisches Denken und ihre Gemeindepraxis. Auch mein persönlicher theologischer und pastoraler Stamm enthält einige Jahresringe, die wesentlich auf Tim Kellers Einfluss zurückzuführen sind. So hat der im Alter von 72 Jahren verstorbene Keller auch hierzulande tiefe Spuren hinterlassen und in die unterschiedlichsten kirchlichen Kontexte hineingewirkt. Seine Bücher und Predigten faszinieren und prägen bis heute über theologische Grenzen und Denominationen hinweg. Selbst in einigen Teilen der akademisch-universitären Praktischen Theologie hat man von diesem amerikanischen Pastor Notiz genommen und in seinem Wirken wertvolle Impulse zur Erneuerung der Kirche entdeckt. Umso erfreulicher, dass Matt Smethurst in diesem Buch die Kernüberzeugungen Kellers umsichtig herausgearbeitet hat und damit zum ersten Mal alle wesentlichen Aspekte seines Gesamtwerks an einem Ort zugänglich macht. Dabei wird deutlich: Tim Kellers Lehre und Dienst sind vor allem von theologischer Ausgewogenheit, einem klaren Fokus auf das Evangelium und nicht zuletzt von pastoraler Integrität geprägt.
Gespeist von seinen langjährigen Erfahrungen im Gemeindedienst in der von ihm gegründeten Redeemer Presbyterian Church im säkularen Manhattan, New York, verstand es Keller wie kaum ein anderer, eine überzeugende theologische Vision für Kirche und Gemeinde in einem nach-christentümlichen Umfeld zu entfalten. Seine über seinen Tod hinausreichende Anziehungskraft beruht nicht zuletzt darauf, dass er theologisch und kommunikativ zusammenhielt, was zunehmend auseinanderzudriften scheint. Sowohl seine Theologie als auch seine Gemeindeaufbauarbeit wurzelten in einer Haltung, die man im Umgang mit der Bibel zwar als »konservativ« bezeichnen kann, die gleichzeitig jedoch jenseits von Konservatismus an die gegenwärtige Kultur anschlussfähig ist. Keller suchte bewusst nach neuen Wegen, wie der für alle Zeiten gültige Inhalt des Evangeliums unter aktuellen Bedingungen so plausibel wie möglich geglaubt, gelebt und kommuniziert werden kann. Und in seiner Verkündigung und Apologetik gelang es ihm in überzeugender Weise, nicht nur den Intellekt, sondern auch die Emotionen anzusprechen. In Smethursts verdichteter Zusammenschau wird besonders deutlich, dass Keller in allem die Balance zwischen ungesunden, einseitigen Extrempositionen suchte. Ohne profillos zu werden, plädierte er wo immer möglich für ein durchdachtes »Sowohl-als auch« anstelle eines häufig irreführenden »Entweder-oder«.
So nimmt er bei der Auslegung biblischer Texte zwar einerseits deren historische und literarische Bedeutung unbedingt ernst, andererseits liest er sie stets auch im Licht der Guten Nachricht von Jesus Christus (Kapitel 1). Sünde versteht er nicht nur als Übertretung göttlicher Gebote, sondern interpretiert sie darüber hinaus von ihrer Wurzel her als Götzendienst und »fehlgeleiteter Liebe« (Kapitel 2). Das christliche Leben basiert für ihn auf unserer persönlichen Gottesbeziehung. Als Gegenkultur zu dem individualistischen Lebensstil unseres Zeitalters benötigt es aber zwingend einen freundschaftlichen Rahmen und eine verantwortliche Gemeinschaft, in der gegenseitige geistliche Rechenschaft möglich ist (Kapitel 4). Auch im Zusammenhang von Glaube und Arbeit will Keller entgegengesetzte Extreme vermeiden: aus Bequemlichkeit und Faulheit könne man zu wenig arbeiten, aber aus fehlgeleitetem Erfolgsstreben auch zu viel. Gleichzeitig sieht er sowohl in der rein negativen Darstellung der mit Arbeit verbundenen Mühe, als auch in der naiv-utopischen Beschreibung der aus Arbeit erwachsenden Erfüllung einen Gegensatz zur ausgewogenen Sicht der Bibel (Kapitel 5). Keller betont darüber hinaus mit allem Nachdruck die evangelistische Ausrichtung von Kirchen und Gemeinden, bekräftigt aber gleichzeitig deren diakonischen Auftrag und die Notwendigkeit, sich für soziale Gerechtigkeit einzusetzen (Kapitel 6). Auch im Rahmen seiner »Theologie des Gebets« formuliert er keine unnötigen Dualismen. Stattdessen verdeutlicht er, dass theologische Reflexion und geistliche Erfahrung ebenso zusammengehören wie Gotteserkenntnis und im Gebet ausgedrückte Intimität mit Gott (Kapitel 7). Wenn Keller auf seine pastorale Art schließlich über den Umgang mit Leid nachdenkt, verbindet er eine realistische Sicht auf die dunklen Seiten des Lebens mit einem hoffnungsvollen Blick auf die christliche Auferstehungshoffnung. So manövriert er auch hier behutsam zwischen lebensfremdem Triumphalismus und hoffnungslosem Zynismus und beschreibt das Leben in der Nachfolge in existentieller Tiefe als »leidvoll und traurig und dennoch von Freude durchdrungen« (vgl. 2 Kor 6,10; Kapitel 8).
Zur Ausgewogenheit Kellers gehört – auch das wird in Smethursts Studie deutlich –, dass er tief aus dem Reichtum christlicher Tradition schöpft (von Augustinus über Martin Luther und Jonathan Edwards, bis zu C. S. Lewis und Martyn Lloyd-Jones) und gleichzeitig aufgeschlossen mit neueren theologischen und missionarischen Entwürfen im Gespräch ist. Auch (partei-)politisch ließ er sich nie vereinnahmen und war so eine wohltuend ausgewogene Stimme inmitten kirchlicher und gesellschaftlicher Polarisierungen. Angesichts der theologischen und gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen, in die wir auch in unserem Umfeld gestellt sind, kann Keller uns ein leuchtendes Vorbild darin sein, feste biblisch-reformatorische Überzeugungen reflektiert, durchaus pointiert, aber auch in einem respektvollen und gewinnenden Tonfall zu vertreten.
Ferner steht Tim Keller für eine Sicht auf das christliche Leben, die konsequent im Evangelium gegründet ist (Kapitel 3). Er wurde nicht müde zu betonen, dass das Evangelium nicht einfach nur ein guter Rat für ein gelingendes Leben ist, sondern eine gute Nachricht über das, was Christus für uns getan hat. Natürlich müsse die Gute Nachricht von der unverdienten Gnade Gottes im Leben der Gläubigen spürbare Auswirkungen haben. Das Evangelium dürfe allerdings weder mit diesen Auswirkungen verwechselt noch unabhängig von ihnen betrachtet werden. Keller war es wichtig, Gesetz und Evangelium nicht nur zu unterscheiden, sondern in einer biblisch angemessenen Weise aufeinander zu beziehen. So wurde er zu einem wegweisenden Vertreter eines theologisch ausgewogenen Evangeliums-Verständnisses zwischen religiös-moralistischer Gesetzlichkeit und einem beliebigen und letztlich ungehorsamen Relativismus.
Denn das Evangelium, das hat Keller eindrücklich anhand des Gleichnisses von den zwei verlorenen Söhnen in Lukas 15 gezeigt, wird ständig von zwei Feinden bedroht. Der »gesetzliche Feind« reduziert das Evangelium auf den leistungsorientierten Versuch, ein heiliges, gottgefälliges Leben zu führen. Dann lautet die scheinbar gute Nachricht: »Gott vergibt dir deine Sünden, aber jetzt liegt es an dir!« Damit aber wird subtil der Gehorsam gegenüber dem Gesetz Gottes sowie Moral und gute Werke zum Fundament christlicher Identität. Der »relativistische Feind« dagegen reduziert das Evangelium auf eine Art religiös-mündige Selbstverwirklichung. In diesem Fehlschluss lautet die scheinbar gute Nachricht: »Gott liebt dich, und du kannst machen, was du willst!« Das passt dann zwar leichter zum gesellschaftlichen Mainstream, steht aber nicht mehr im Einklang mit der biblischen Gesamtbotschaft.
Gerade auch angesichts aktueller theologischer Debatten scheint mir kaum etwas dringlicher und notwendiger zu sein als die Einsicht, dass man im Blick auf das Zentrum unseres Glaubens nicht nur auf einer, sondern auf zwei Seiten vom Pferd fallen kann. Keller warnt uns, nicht zwischen den Extremen zu pendeln. Diese Warnung sollten wir dringend hören und ernst nehmen. Es besteht kein Grund (wie allzu oft suggeriert wird), sich zwischen einer harten, konservativ-gesetzlichen Enge und einer relativistischen Beliebigkeit zu entscheiden. Es gibt nicht nur diese beiden Wege, sondern den »dritten Weg« des Evangeliums zwischen »gesetzlichem Krampf« und »billiger Gnade« ohne Nachfolge und Glaubensgehorsam. Es ist Kellers bleibender Verdienst, uns diesen Weg gewinnend, kraftvoll und leidenschaftlich vor Augen gestellt zu haben.
»Die meisten Probleme sind die Folge einer mangelnden Ausrichtung am Evangelium. Fehlentwicklungen in der Gemeinde und sündige Strukturen in unserem Leben sind letztlich darauf zurückzuführen, dass wir die Auswirkungen des Evangeliums zu wenig durchdenken und das Evangelium nicht gründlich genug begreifen und annehmen. Oder positiv gesagt: Das Evangelium verändert unser Herz, unser Denken und unsere Haltung zu absolut allem. Wenn in einer Gemeinde das Evangelium in seiner Fülle ausgelegt und umgesetzt wird, dann wird hier eine einzigartige attraktive Verbindung von moralischer Haltung und Verständnis für andere entstehen.«1
Kellers evangeliumszentrierte Theologie ist ein wichtiges Erbe, das wir dankbar und bleibend bewahren sollten. Denn nur durch eine konsequente Ausrichtung am Evangelium entstehen geistlich gesunde und missionarisch wirksame Gemeinden.
Schließlich kommt es nicht von ungefähr, dass Matt Smethurst seine Synthese der theologischen Grundüberzeugungen Tim Kellers mit einem Verweis auf dessen Integrität beendet. Keller »begehrte für sich keine großen Dinge« (Jer 45,5), er machte nie viel Aufhebens um sich selbst. Seine beeindruckende Erfolgsgeschichte wurde nicht von diskreditierenden Skandalen geschmälert. Im Unterschied zu manch anderen Pastoren großer Megachurches baute Keller keine persönliche Plattform für sich. Er wollte auch nicht seine eigene Marke bewerben. Obwohl er die größeren kirchlichen Zusammenhänge strategisch im Blick hatte und sich in verschiedenen überregionalen Initiativen engagierte, verstand sich Keller immer zuerst als Pastor einer lokalen Kirche. Bis zu seinem 55. Lebensjahr machte er nur durch vereinzelte Publikationen auf sich aufmerksam. Den Großteil seiner Bücher veröffentlichte Keller erst nach Jahrzehnten treuer, pastoraler Arbeit, also auf dem glaubwürdigen Fundament eines sichtbaren track records. Alles, was Keller über das christliche Leben lehrte, wurde beständig und demütig im Alltag seines Gemeindedienstes auf Tauglichkeit geprüft. Seine gewachsene Social-Media-Reichweite nutzte er nicht für Selfie-durchtränkte Selbstdarstellung. Vielmehr wollte er seine Follower auf gute Inhalte hinweisen. Auch der vor Jahren vollzogene Nachfolgeprozess innerhalb der Redeemer Presbyterian Church und die damit verbundene Weitergabe von Verantwortung und Macht an die nächste Generation von Pastoren zeugt von Kellers uneigennützigem Charakter und davon, dass ihm das bleibende Wohl seiner Gemeinde wichtiger war als sein »eigenes Reich«. Aus der Ferne kann man das nur als vorbildlich betrachten.
Sowohl Kellers enge Mitarbeiter, Freunde und Kollegen, die ihn gut kannten, als auch Mitglieder seiner Gemeinde bemerkten in den Tagen nach seinem Tod unisono, dass es keine Diskrepanz gab zwischen seiner Lehre, seinem öffentlichen Auftreten und dem Mann, den sie privat erlebten. Sie beschreiben Keller als demütig, aufrichtig und zugänglich. Freundlichkeit, Güte und Herzlichkeit zeichneten ihn aus. Er war weder distanziert noch unnahbar und trotz seiner internationalen Reputation – so bezeugten es viele – einfach »einer von uns«. Im Medienmagazin Pro wurde er durchaus treffend als der »Uneitle« bezeichnet.2 In vielerlei Hinsicht war Keller also der Gegenentwurf zu einem narzisstischen Leiter; ein unbedingt notwendiges Korrektiv angesichts einer Kultur der Selbstdarstellung, die unsere Vorstellungen und Leitbilder des pastoralen Dienstes zunehmend prägt.
Tim Keller über das Leben als Christ ist eine praktische und geistlich anregende Zusammenfassung des theologischen Vermächtnisses eines klugen Theologen und leidenschaftlichen Pastors. Dabei wird Seite für Seite deutlich, wie sehr Jesus Christus nicht nur die Mitte von Kellers Theologie und pastoralem Dienst, sondern auch das Zentrum seines persönlichen Glaubenslebens war. Möge Kellers Erbe auch im deutschsprachigen Raum bleibenden Einfluss ausüben und noch in vielen weiteren theologischen bzw. geistlichen Baumstämmen glaubensstärkende Ringe hinterlassen.
Prof. Dr. Philipp BartholomäProfessor für Praktische Theologie (mit Schwerpunkt Gemeindeaufbau) an der Freien Theologischen Hochschule in Gießen
Hopewell, Virginia – ein unscheinbarer Ort, der leicht übersehen wird. In dieser ländlichen Kleinstadt, ungefähr vierzig Kilometer südlich von Richmond gelegen und etwa fünfhundertfünfzig Kilometer von New York City entfernt, machte Tim Keller (1950–2023) von 1975 bis 1984 seine ersten Erfahrungen als Pastor der West Hopewell Presbyterian Church. Fast ein Jahrzehnt lang bereitete Keller wöchentlich drei Predigten (zwei für den Sonntag, eine für den Mittwoch) für seine Gemeinde vor. Im Alter von 33 Jahren hatte er bereits etwa 1.400 Auslegungspredigten gehalten. Wie bei vielen Pastoren kleiner Gemeinden schienen seine Aufgabenbereiche endlos zu sein: Hausbesuche, Krankenbesuche, Trauungen, Beerdigungen und sogar das Anfeuern des Softballteams der Gemeinde fielen in seinen Verantwortungsbereich – ganz zu schweigen von seinen Aufgaben als Familienvater.
Diese Zeit in Hopewell war so wichtig, dass wir Kellers Wirken in Manhattan ohne sie nicht verstehen können. Die dort verbrachten Jahre waren kein kurzer Zwischenstopp, sondern »die prägendsten Dienstjahre seines Lebens«.3 In Hopewell, so Keller, »haben Kathy und ich erstmals gelernt, Menschen zu begleiten, die mit Trauer, Verlust, Tod und Finsternis zu kämpfen haben«.4 Daher entsprangen auch so viele Predigtillustrationen in der Redeemer Presbyterian Church den Seelsorgeerfahrungen, die er in seiner ersten Gemeinde gesammelt hatte.
Keller stellte fest, dass in einer Kleinstadt im Allgemeinen »dein Pastorendienst deinem Predigtdienst vorausgeht«. Das heißt, dass die Menschen dich als Prediger nicht respektieren werden, wenn sie dir nicht als Pastor und Seelsorger vertrauen. In einer Großstadt ist oft das Gegenteil der Fall: »Dein Predigtdienst ist der Grundstein deines Pastorendienstes.«5 Die Menschen werden dir als Pastor nicht vertrauen, wenn sie dich nicht als Prediger respektieren. Keller war mit beiden Dynamiken vertraut, aber auch seine Großstadtpredigten waren durchdrungen von der Weisheit, die er sich durch jahrelange und gewissenhafte Seelsorgearbeit in Hopewell angeeignet hatte.
Hopewell war auch der Ort, an dem Keller die Kunst der Kontextualisierung verfeinerte, bei der es (richtig praktiziert) um Klarheit und damit um Liebe geht. In einem Interview zwei Monate vor seinem Tod definierte Keller diesen hochgestochenen Begriff als die Übermittlung einer Botschaft auf »die verständlichste und überzeugendste Weise, ohne die Botschaft selbst zu kompromittieren oder zu verändern«. Der Interviewer fragte ihn nach dem Hauptgrund, warum ihm Kontextualisierung so wichtig sei? Ganz einfach: »Ich wünsche mir, dass Menschen sich in Jesus verlieben.«6
Timothy James Keller wurde am 23. September 1950 als ältestes von drei Kindern in Allentown, Pennsylvania, in eine bürgerliche Familie hineingeboren. Seine Eltern hätten unterschiedlicher nicht sein können: Bill wirkte unnahbar, während Louise geradezu erdrückend sein konnte. Die Familie besuchte pflichtbewusst eine lutherische Gemeinde, in der Tim aber nur selten das Evangelium hörte und sich auch nicht Christus zuwandte.7
An der Bucknell University griff Gott jedoch in sein Leben ein und eroberte sein Herz. Nach einer Phase des geistlichen Ringens tat Tim Buße über seine Sünden und vertraute sein Leben im April 1970 Christus an.8 Als Student, erinnerte sich Keller später, »wurde die Bibel für mich auf eine Art lebendig, die sich nicht leicht beschreiben lässt. Am besten lässt es sich wohl so ausdrücken, dass vorher ich die Bibel studiert, hinterfragt und analysiert hatte, während jetzt die Bibel (oder vielleicht jemand durch die Bibel) mich studierte, hinterfragte und analysierte.«9 Durch sein Mitwirken bei InterVarsity Christian Fellowship (ein evangelikaler Studentenverband) kam Keller mit solider christlicher Literatur in Berührung – einschließlich britischer Autoren wie J. I. Packer und John Stott, die ihm zu einem tieferen Verständnis des Evangeliums und seiner Bedeutung für das Leben verhalfen.
Nach seiner Zeit an der Bucknell University zog Keller im Herbst 1972 nach Massachusetts, um am Gordon-Conwell Theological Seminary Theologie zu studieren. Eine andere Studienanfängerin – eine Bekannte aus dem Westen Pennsylvanias – sollte seine engste Freundin werden. Collin Hansen schreibt:
»Noch bevor Kathy Kristy den Namen Keller annahm, wurde sie zum prägendsten intellektuellen und geistigen Einfluss auf Tim Keller. Wenn man über Tim Keller schreibt, schreibt man eigentlich über Tim und Kathy, eine Ehe zwischen intellektuell Ebenbürtigen, die sich im Studium kennengelernt hatten, weil sie ihr Engagement für den geistlichen Dienst und ihre Liebe zur Literatur teilten und sich ernsthaft mit Theologie beschäftigten.«10
Die drei Jahre auf dem Campus sollten sich als entscheidend für ihre theologische Entwicklung und Ausrichtung erweisen. Sie begannen ihr Studium mit einem Flickenteppich von Glaubensvorstellungen und beendeten es mit durchdachten Überzeugungen: einer historisch-reformierten Theologie, einem dynamischen Komplementarismus, einem Fokus auf innere geistliche Erneuerung, einer vom Evangelium geprägten Missionstheologie und so weiter. Tim und Kathy heirateten am 4. Januar 1975, noch vor ihrem Abschlusssemester. Der damals 36-jährige R. C. Sproul traute die beiden.
Als Tim in jenem Sommer seine erste Pastorenstelle antrat, war die Presbyterian Church in America (PCA) gerade einmal zwei Jahre alt. Für den frischgebackenen Pastor waren die Jahre in Hopewell, Virginia, eine Feuerprobe.11 Fortan widmete er seine ganze Kraft – durch Predigten, Seelsorge, Krankenhausbesuche und so ziemlich allem anderen, was von einem Kleinstadtpastor erwartet wird – den Heiligen, die Gott ihm anvertraut hatte. »Schon bald merkte Keller, dass seine Predigten anders werden mussten – konkreter, klarer, praktischer. … Er erkannte, dass er zuerst zuhören und lernen musste, um überzeugend reden zu können.«12 Hansen fasst es gut zusammen:
»Viele haben den Schluss gezogen, dass Keller in Hopewell gelernt hat, ›die Kekse ins unterste Regal zu stellen‹. Tatsächlich könnte man sagen, dass Keller in der Arbeitergemeinde von Hopewell gezwungen war, seine Fähigkeit zu entwickeln, schwierige und komplizierte Konzepte so herunterzubrechen, dass sie für Christen und Nichtchristen gleichermaßen verständlich sind. Wäre er direkt vom Studium in eine Gemeinde mit hohem Bildungsniveau gegangen, wäre aus ihm vielleicht nie der weithin beliebte Autor und Prediger geworden.«13
Die Jahre in Hopewell – darauf hat Keller immer bestanden – waren für sein Leben im Dienst grundlegend und prägend.
Während seiner Pastorentätigkeit in Virginia hatte Keller über das Westminster Theological Seminary in Philadelphia einen Doctor of Ministry-Abschluss erworben (sein Forschungsschwerpunkt war die Arbeit von Diakonen). Nach neun Jahren in Hopewell stellte ihn das Westminster Seminary schließlich ein, um in Teilzeit praktische Theologie zu unterrichten. (Keller wurde auch der erste Direktor der diakonischen Dienste von Mission to North America, einem Arbeitsbereich der PCA.) Die Kellers zogen also wieder zurück in den Norden und aus dem Pastor wurde ein Professor.
Während seiner erfolgreichen und fruchtbaren Lehrtätigkeit in den späten 1980er-Jahren (Keller war einer der beliebtesten Professoren) bat ihn die PCA, die Gründung einer Gemeinde im Herzen von New York City zu erwägen. Er lehnte ab, bot aber an, sich um einen anderen Kandidaten zu bemühen.14 Durch Gottes Vorsehung fand sich jedoch kein Pastor, der bereit war, den Auftrag anzunehmen. Während dieser Zeit wurde der Gedanke, sich dieser Herausforderung selbst zu stellen, immer attraktiver:
»Kellers Freunde in Philadelphia hatten monatelang für Tim gebetet, als er zunächst einen anderen Pastor für diese Berufung suchte und dann langsam erkannte, dass er selbst gefragt war. Schließlich kam er zu der Gruppe und sagte: ›Ich muss es tun.‹ Kathy hält diese Entscheidung für ›eines der mannhaftesten Dinge‹, die ihr Mann je getan hat. Der Wechsel machte ihm Angst. Aber er spürte den Ruf Gottes. Er konnte nicht wissen, dass das Ergebnis eine dynamische, wachsende Megachurch sein würde. Er wusste nur, dass es der nächste Glaubensschritt war, selbst wenn das Gründungsprojekt scheitern sollte.«15
So zogen die Kellers mit drei Söhnen im Schlepptau im Sommer 1989 mit dem Ziel nach New York, dort einen neuen Außenposten des Reiches Christi zu errichten.16 Von einem ländlichen Städtchen in Virginia über die ruhigen Vororte von Philadelphia bis hin zur Stadt, die niemals schläft, hatte Gott die Kellers schließlich an den Ort gebracht, für den er sie vorbereitet hatte.
Die Redeemer Presbyterian Church wurde bald darauf gegründet und erlebte fast sofort ein explosionsartiges Wachstum. »Jeder, der sich an diese ersten drei Jahre erinnert, sagt, dass er so etwas noch nie gesehen hat«, berichtet Keller. »Wir hatten Bekehrungen, ein Gefühl der Gegenwart Gottes, und Menschen, deren Leben verändert wurden – all das, was sich jeder wünscht. … Es war ungewöhnlich intensiv – jenseits aller unserer Erwartungen.«17 Oder wie Kathy manchmal witzelte: »Ihr wollt das Geheimrezept für die erfolgreiche Gründung einer Megachurch? Findet einfach heraus, wo Gott eine Erweckung wirken wird – und zieht einen Monat vorher dorthin.«18 Die Gemeinde erlebte im Laufe der Jahre weitere bedeutende Wachstumsschübe, auch nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001.19
Keller war maßgeblich an der Entwicklung mehrerer Dienste beteiligt, die aus der Gemeinde hervorgingen: Hope for New York (eine Initiative zur Unterstützung lokaler gemeinnütziger und auf diakonische Dienste fokussierter Gruppen), das Center for Faith and Work (eine Ressource für Gläubige, die das Evangelium in ihrem Beruf zum Tragen bringen wollen), Redeemer Counseling (ein professionelles Beratungs- und Ausbildungszentrum) und Redeemer City to City (ein globales Netzwerk für Gemeindegründungen). Nachdem Keller 2017 als Hauptpastor der Redeemer Presbyterian Church in den Ruhestand gegangen war, verwendete er einen Großteil seiner Zeit darauf, Gemeindegründer in aller Welt zu unterstützen.
Außerdem träumten Keller und der Theologe Don Carson beim Mittagessen in einem Straßencafé in Manhattan im Jahr 2002 von dem, was schließlich die Gospel Coalition (TGC) werden sollte. TGC begann 2005 mit einem Kolloquium für Pastoren (mit ausschließlich geladenen Gästen); die erste nationale TGC-Konferenz fand 2007 statt. TGC verfolgte von Anfang an das Ziel, die zentralen Anliegen des historisch-konfessionellen Evangelikalismus in der Tradition des reformierten Erbes wiederherzustellen. Zu Kellers erbaulichsten Beiträgen gehören die Hauptvorträge und Workshops, die er im Laufe von fünfzehn Jahren auf TGC-Konferenzen gehalten hat.
Dieses Buch ist keine Biographie. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, liegt der Schwerpunkt nicht auf der Beschreibung von Kellers Leben oder der Bewertung seines Vermächtnisses. Das Ziel ist bescheidener: Es geht mir darum, Tim Kellers beste Einsichten und Lehren über das Leben als Christ herauszuarbeiten und zusammenzufassen. Um Klarheit zu schaffen, wollen wir uns die einzelnen Satzteile einmal näher anschauen:
Herausarbeiten und zusammenfassen. Dieses Buch will mehr zeigen als erzählen, es will Kellers eigene Stimme in den Vordergrund rücken und mit kohärenter Klarheit erklingen lassen. Das Wort »kohärent« beschreibt sowohl die Herausforderung dieses Buches als auch seinen potentiellen Wert – nicht, weil Keller unklar oder inkohärent war, sondern weil sein Werk so umfangreich und weitreichend war. Wie fasst man fünfzig Jahre pastoralen Predigens und Lehrens über das christliche Leben zusammen? Indem man ein Thema nach dem anderen abhandelt. In diesem Buch versuche ich, ein nahrhaftes und mehrgängiges Menü zu servieren, indem ich die wichtigsten Zutaten aus den verschiedenen Vorratsschränken von Kellers breit gefächerten Werk zusammenstelle.
Tim Kellers beste Einsichten und Lehren. Keller hinterließ eine erstaunliche Menge an Material. Viele Christen werden nicht die Zeit haben, sich Tausende seiner Predigten anzuhören und über dreißig Bücher zu lesen. Sie könnten aber bereit sein, mit einem zu beginnen, das »das Beste« seiner Lehre herausstellt und im Idealfall Appetit auf mehr aus der gut gefüllten Speisekammer von Kellers Werk macht.
Über das Leben als Christ. Dieses Buch konzentriert sich auf die praktische christliche Jüngerschaft (und nicht etwa auf Kellers Ansichten zu kontroversen theologischen oder politischen Themen; das sind wichtige Themen, aber nicht der Fokus dieses Buches). Im Allgemeinen liegt hier der Schwerpunkt auf Kellers Beitrag zu zeitlosen und grundlegenden Aspekten des christlichen Alltagslebens.
Wenn es dir wie mir geht, wirst du wahrscheinlich nicht in allen Punkten mit Keller übereinstimmen. Das ist in Ordnung. In Fragen der Taufe und Gemeindeverfassung,20 bei bestimmten Aspekten der praktischen Ekklesiologie und Philosophie des Dienstes sowie in einigen Schwerpunkten im Bereich der öffentlichen Theologie deckt sich mein Verständnis nicht mit dem von Keller. Im Grunde seines Herzens war Keller ein Evangelist – und sein Wunsch, die Verlorenen zu erreichen, brachte ihn zuweilen dazu, sich bei bestimmten sozialen Fragen nicht so klar zu positionieren, wie es vielleicht klug gewesen wäre.
Obwohl es meine Absicht ist, das Beste aus Kellers Lehren über das Leben als Christ zusammenzufassen (anstatt sein Vermächtnis zu bewerten), nehme ich mir die Freiheit heraus, darauf hinzuweisen, dass er eine dreidimensionale Stimme in einer zweidimensionalen Welt war. Keller kombinierte, um es einmal mit philosophischen Begriffen zu sagen, das Normative (scharfsinnige biblische Einsicht) mit dem Situativen (durchdachtes Bewusstsein des kulturellen Moments) und dem Existentiellen (durchdringende Herzensanwendung).21 In Keller kommen der Bibellehrer, Kulturanalytiker und biblische Seelsorger zusammen. Die meisten guten Pastoren neigen dazu, sich in zwei dieser Bereiche hervorzutun, Keller hingegen brillierte in allen dreien. Im ersten und dritten Bereich wird er wahrscheinlich am stärksten unterschätzt. Man hört, wie er Philosophen und Kolumnisten der New York Times zitiert und könnte meinen, seine Predigten seien höchst akademisch und hochgestochen. Tatsächlich waren sie das überhaupt nicht. Seine Illustrationen waren anschaulich und seine Anwendungen eindringlich – gerade weil sie bodenständig und praktisch waren.
Es bleibt abzuwarten, ob Tim Keller in hundert Jahren immer noch gelesen wird. Seit seinem Tod haben jedoch bereits zahlreiche Menschen vermutet, dass sein Einfluss die Zeit überdauern wird. Wie dem auch sei: Es ist auffällig, dass so viele davon auszugehen scheinen. Kellers Stimme hat auf der ganzen Welt eine einzigartige Resonanz gefunden. Weil er ein so umfangreiches Werk hinterlassen hat, das sich insbesondere mit zeitlos wichtigen Themen des christlichen Lebens befasst (wie wir sie in diesem Buch untersuchen werden), ist seine Stimme geradezu dazu prädestiniert, auch für kommende Generationen relevant zu bleiben.
Als am 19. Mai 2023 bekannt wurde, dass Tim Keller von seinem Erlöser nach Hause gerufen worden war, gab es weltweit aus ganz unterschiedlichen Gemeinden eine bemerkenswerte Welle der Dankbarkeit für sein Leben. Was erklärt Kellers enorme und die typischen Grenzen überschreitende Anziehungskraft? Warum können Christen aus ganz verschiedenen Hintergründen nicht genug von seiner Lehre bekommen? Die Antwort liegt nicht in seiner Gelehrtheit, sondern in seiner Einfachheit: in seiner Fähigkeit, das Komplexe zu erklären und zu vermitteln. Diese Fähigkeit hat er sich als junger Pastor im ländlichen Virginia durch aufmerksames und umfassendes Zuhören angeeignet. Hansen liegt richtig, wenn er sagt:
»Kellers Originalität liegt in seiner Synthese, wie er Quellen zu unerwarteten Erkenntnissen verbindet. … Diese gottgegebene Fähigkeit, verschiedene Quellen zu integrieren und Erkenntnisse mit anderen zu teilen, wurde schon seit dem College von fast jedem beobachtet, der Keller kannte. Er ist der Guide zu den Gurus. Man bekommt ihre besten Erkenntnisse, mit Kellers ganz eigener Note.«22
Mein Ziel mit diesem Buch ist es, herauszuarbeiten, was Keller im Laufe seines Dienstes herausgearbeitet hat. Aus mehr als vierzig Jahren Predigten, Konferenzbeiträgen, Interviews, Artikeln, Büchern und mehr versuche ich das Beste aus dem wertvollsten Teil seines Vermächtnisses – biblische Weisheit für das tägliche Leben – herauszudestillieren.
Der Appetit der Christen ist da. Die Zutaten von Keller sind da. Meine Hoffnung ist, einfach die verschiedenen Vorratsschränke zu öffnen und so eine nahrhafte Mahlzeit zusammenzustellen.
Jesus Christus in der ganzen Bibel
Denkt man über die anhaltende Relevanz von Tim Kellers Wirken nach, kommen einem vor allem seine Kulturanalyse, sein Fokus auf Götzendienst, seine Betonung von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit oder eine Reihe anderer Schwerpunkte (von denen wir viele in diesem Buch untersuchen werden) in den Sinn. Keiner dieser Schwerpunkte lässt sich jedoch ohne das Thema dieses ersten Kapitels verstehen, geschweige denn in Kellers Denken verorten.
Kellers enormes Gesamtwerk wird von einem roten Faden durchzogen, der die verschiedenen Schwerpunkte zu einem kohärenten Ganzen verbindet.23 Es gab eine große Realität, die ihn faszinierte und an der er sich sein ganzes Leben lang abarbeitete: die Person und das Werk Jesu Christi.
Zu lernen, die Bibel im Hinblick auf Jesus zu lesen – ihn nicht nur als die Hauptfigur, sondern als das Hauptthema zu sehen, um das sich alles dreht und auf das alles hinausläuft –, könnte dein Leben verändern.
Wenn du in einer Gemeinde aufgewachsen bist, kennst du wahrscheinlich die bekannten biblischen Geschichten.24 Du hast Noahs schwimmenden Zoo bestaunt, hast wie David Riesen in deinem Leben besiegt und vielleicht sogar versucht, so wie Daniel zu sein – und das ist erst das Alte Testament. In den Evangelien kommen dann noch die Wunder dazu, die Jesus vollbracht hat. Wahrscheinlich hast du auch gelernt, dass diese Geschichten dich nicht einfach nur zum Staunen bringen, sondern zu einem besseren Menschen machen sollen. Siehst du, wie gern und großzügig der kleine Junge Mittagessen mit anderen geteilt hat? Tu es ihm gleich!
Für viele unserer ungläubigen Freunde und Nachbarn ist die Bibel nichts anderes als eine Aneinanderreihung gut gemeinter Moralgeschichten. Manche halten sie auch für eine Sammlung philosophischer Betrachtungen oder ein veraltetes Regelwerk, das besser in der Schublade irgendeines Hotelzimmers verschwinden sollte. Tatsächlich halten heutzutage immer mehr Menschen die Bibel für geradezu gefährlich, ein Werkzeug, mit dem die Schwachen unterdrückt und die Leichtgläubigen daran gehindert werden, ihren eigenen Weg zu gehen.
Entgegen der landläufigen Meinung ist die Bibel jedoch nicht einfach eine Sammlung von Prinzipien, Plattitüden oder abstrakten Lebenslektionen. Die Bibel enthält ein kohärentes und sich entfaltendes Drama. Sie erzählt eine große epische Geschichte, die – weil sie wahr ist – spannender ist als dein Lieblingsmärchen. Sie ist Gottes Wort.
Wenn wir die vielen einzelnen Geschichten richtig handhaben wollen, müssen wir zuerst lernen, die eine große Geschichte der Bibel richtig zu verstehen. Diese Geschichte – die von 1. Mose bis zur Offenbarung reicht – wurde zwar für dich geschrieben, handelt aber letztlich nicht von dir.25 Der zentrale Fokus liegt höher und die zentrale Figur ist besser. Angesichts der atemberaubenden Vielfalt der Bibel ist der rote Faden, der sich durch diese hindurchzieht, erstaunlich:
sechsundsechzig Bücher verschiedener Genres
über vierzig Autoren aus unterschiedlichen Hintergründen und Berufen
über fünfzehn Jahrhunderte
zehn Zivilisationen
drei Kontinente
drei Sprachen
eine einheitliche Geschichte der Erlösung
Bemerkenswerterweise enthält die Bibel einen ultimativen Plan, eine ultimative Handlung, einen ultimativen Champion und einen ultimativen Helden – und von Anfang an können wir seine Silhouette erkennen.
Achte einmal darauf, was Jesus selbst über seine einzigartige Stellung innerhalb der Bibel sagt.
In Lukas 24, kurz nach seiner Auferstehung, erscheint Jesus auf einer Straße zwei von seinen Nachfolgern, die ihn aber nicht erkennen. Verwirrt und atemlos berichten sie von der Aufregung um das unerklärlich leere Grab. Es ist der »unerklärliche« Teil, der Jesus (immer noch unerkannt) zum Sprechen bringt: »O ihr Toren, zu trägen Herzens, all dem zu glauben, was die Propheten geredet haben! Musste nicht der Christus dies erleiden und in seine Herrlichkeit eingehen? Und er fing an bei Mose und allen Propheten und legte ihnen aus, was in allen Schriften von ihm gesagt war« (Lk 24,25–27).26 Nachdem er sich den elf Jüngern gezeigt hat, bekräftigt er denselben Punkt: »Das sind meine Worte, die ich zu euch gesagt habe, als ich noch bei euch war: Es muss alles erfüllt werden, was von mir geschrieben steht im Gesetz des Mose und in den Propheten und Psalmen. Da öffnete er ihnen das Verständnis, dass sie die Schrift verstanden« (Lk 24,44–45).
Schon vor der Auferstehung hatte Jesus etwas Ähnliches gesagt. So erklärte er vor seinem Tod den Pharisäern – dem jüdischen religiösen Establishment, den »Bibelexperten« seiner Zeit – seine zentrale Stellung in ihrer großen Geschichte: »Ihr sucht in den Schriften, denn ihr meint, ihr habt das ewige Leben darin; und sie sind’s, die von mir zeugen; aber ihr wollt nicht zu mir kommen, dass ihr das Leben hättet. … Wenn ihr Mose glaubtet, so glaubtet ihr auch mir; denn er hat von mir geschrieben« (Joh 5,39–40.46).
Derartige Behauptungen wurden in der Regel nicht gut aufgenommen (um es milde auszudrücken).
Wenn Christus das geoffenbarte Herzstück des Neuen Testaments ist, hat einmal jemand behauptet, dann ist er das verborgene Herzstück des Alten Testaments.27 Das ist genau richtig. Das Alte Testament ist, um es in den Worten von B. B. Warfield zu sagen, wie ein Raum voller Schätze, der aber nur schwach beleuchtet ist.28 Es ist voll von Propheten, die ihn voraussagen, von Mustern, die ihn vorwegnehmen, und von Verheißungen, die ihn vorhersehen. Eine umfassende und auf Christus fokussierte Luftbildaufnahme der biblischen Topografie würde in etwa so aussehen:
Altes Testament:
Verheißung
Evangelien:
Manifestation
Apostelgeschichte:
Verkündigung
Briefe:
Erklärung
Offenbarung:
Vollendung
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Die Bibel ist von Anfang bis Ende eine epische Geschichte über Jesus.
Keller rät, sich einmal vorzustellen, wie es wäre, ein einzelnes Kapitel aus einem Roman zu lesen, ohne den Kontext zu kennen. Vieles wäre unverständlich. »Wenn ich nicht weiß, wie das Kapitel mit der ganzen Geschichte zusammenhängt, kann ich das Kapitel nicht verstehen.«30 Genau das geschieht, wenn man irgendeinen Teil aus dem Wort Gottes liest, ohne zu sehen, wie er mit dem Sohn Gottes zusammenhängt.
In dem Vorwort zu Alec Motyers Buch A Christian’s Pocket Guide to Loving the Old Testament erzählt Keller, wie er im Sommer 1972 zum Ligonier Valley Study Center von R. C. Sproul reiste, als Motyer aus England zu Besuch da war. Keller hatte gerade sein Studium abgeschlossen und war ein noch recht junger Christ, für den das Alte Testament eher »verwirrend und abschreckend« war.31 Während einer Fragerunde stellte jemand die Frage nach der Beziehung zwischen den Israeliten des Alten Testaments und den heutigen Christen. Motyer antwortete mit einer Illustration, die Keller fortan im Gedächtnis blieb. Er forderte die Gruppe auf, sich vorzustellen, wie die Israeliten unter Mose ihr »Zeugnis« erzählt hätten. Das könnte ungefähr so geklungen haben:
»Wir waren zum Tode verurteilte Knechte in einem fremden Land, aber unser Mittler – derjenige, der zwischen uns und Gott steht – kam zu uns und hat versprochen, uns zu befreien. Wir vertrauten auf die Verheißungen Gottes, suchten Zuflucht bei dem Blut des Lammes und wurden aus der Knechtschaft befreit. Jetzt sind wir auf dem Weg ins Gelobte Land. Noch sind wir natürlich nicht dort, aber wir haben das Gesetz, das uns anleitet. Außerdem haben wir durch das Blutopfer seine Gegenwart in unserer Mitte. Er wird bei uns bleiben, bis wir unser wahres Land erreichen, unsere ewige Heimat.«
Motyers Schlussfolgerung, dass ein Christ heute »fast wortwörtlich genau dasselbe sagen könnte«, ließ Keller »wie vom Donner gerührt« zurück. Das Gedankenexperiment brachte Keller zu einer verblüffenden neuen Erkenntnis: Nicht nur waren die Israeliten aus Gnade (und nicht aus Werken) errettet worden, es wurde schon immer »das Heil Gottes durch ein teures Sühnopfer gewirkt«.32
Wir könnten an vielen Stellen der Bibel Hinweise darauf finden, dass sie ganzheitlich zu lesen ist, aber schauen wir uns nur einmal die einfache Aussage des Apostels Paulus an die Gemeinde in Korinth an: »Denn ich hielt es für richtig, unter euch nichts zu wissen als allein Jesus Christus, ihn, den Gekreuzigten« (1 Kor 2,2). In unserem Versuch, Kellers umfassende Lehre zu entfalten, sollten wir seinen Kommentar zu diesem zentralen Vers beachten:
»Als Paulus dies schrieb, bestand die Bibel lediglich aus dem, was wir heute das Alte Testament nennen, doch wenn Paulus über diese Texte predigte, ›wusste‹ er ›nichts anderes … als nur Jesus Christus‹ – der im ganzen Alten Testament nirgends mit Namen erscheint. Wie das? Nun, Paulus hatte begriffen, dass die ganze Heilige Schrift ein einziger Wegweiser hin zu Jesus und der von ihm gebrachten Erlösung ist; jeder Prophet, Priester und König in ihr deutet voraus auf den, der der große, endgültige Prophet, Priester und König ist. Die ›ganze Heilige Schrift‹ zu predigen heißt für Paulus, Christus zu predigen – als das große Hauptthema und den innersten Kern ihrer Botschaft.«33
Aber ist es nicht ermüdend, fragst du dich vielleicht, sich beim Bibelstudium immer nur auf Jesus zu konzentrieren? »Nach meiner nunmehr über vierzigjährigen Erfahrung«, entgegnet Keller, »kann ich Ihnen versichern, dass die Geschichte dieser einen Person niemals langweilig wird, ist in ihr doch die Geschichte des ganzen Universums und der ganzen Menschheit enthalten und sie ist der große und einzige Generalschlüssel zur Geschichte unseres eigenen Lebens.«34
Vielleicht könnten wir sagen, dass der Grund, warum es nie eintönig wird, sich mit Christus zu befassen, darin liegt, dass er nicht so sehr der Antwort eines Rätsels gleicht, sondern vielmehr dem Wasser, das unseren tiefsten Durst stillt. Er ist keine bloße Eintrittskarte in den Himmel, sondern derjenige, für den wir geschaffen wurden – und nur ein tiefes Bewusstsein von seiner Liebe kann unsere Herzen umgestalten.
Die lebendige Verbindung mit dem lebendigen Christus, dem Helden der biblischen Geschichte, ist die Quelle, aus der praktisch jede andere Lehre von Keller fließt.35
Bevor wir fortfahren, sollten wir noch einmal klarstellen, warum wir an dieser Stelle beginnen. Warum ist gerade dies das Thema unseres ersten Kapitels? Im Wesentlichen einfach deshalb, weil die Bibel für Keller die Grundlage des christlichen Lebens ausmacht.
Ohne den sicheren Anker der Offenbarung Gottes werden wir von den Wellen der Spekulation umhergetrieben. Das ist ein gefährlicher Zustand. Solange wir unser Leben nicht freudig dem Wort Gottes als höchster Autorität unterordnen, bleiben wir Gefangene der lärmenden Menschenstimmen.36 Kulturelle Empfindlichkeiten, persönliche Vorlieben und hundert andere Faktoren werden in unseren Herzen die Oberhand gewinnen. Keller ist da sehr deutlich: »Heute neigen die Menschen dazu, die Bibel zu untersuchen, um Dinge zu finden, die sie nicht akzeptieren können. Aber Christen sollten es umgekehrt machen: Sie sollten der Bibel erlauben, uns zu prüfen, um herauszufinden, was Gott nicht akzeptieren kann.«37 Oder noch einfacher: »Solange die Bibel für dich nicht autoritativ ist, glaubst du an einen Gott, den du selbst erschaffen hast – und bleibst einsam.«38
Auch wenn dieses Buch für Laien und nicht nur für professionelle Geistliche gedacht ist, kann die Weisheit, die Keller Predigern ans Herz legt, nämlich zum Kern der Bibel vorzudringen, uns allen helfen, unsere Bibeln nicht gegen den Strich, sondern in der richtigen »Jesus-Richtung« zu lesen. Eine christuszentrierte Auslegung ist entscheidend für die Umgestaltung des Lebens und eine treue Jesusnachfolge.
Alles, was wir in diesem Buch behandeln werden, basiert daher auf einer christuszentrierten Lektüre von Gottes Wort.
Jesus einfach nur zu erwähnen, erweist ihm jedoch nicht unbedingt Ehre. Wir können so schnell darin sein, Christus im Alten Testament zu »finden«, dass wir dem ursprünglichen Text nicht gerecht werden. Jesus einfach nur aus dem Hut zu zaubern, untergräbt die Integrität der Bibel und beraubt uns des Genusses, sie so zu lesen, wie Gott es beabsichtigt hat.
Obwohl Keller dafür bekannt ist, »zu Christus zu gelangen«, warnt er davor, die Bibeltexte nur als Sprungbretter zu betrachten. In seinem Buch über das Predigen (das für jeden Bibelleser nützlich ist) benennt er zwei häufige Fehler. Der erste Fehler ist das Studium eines Textes (auch eines Textes über Jesus), ohne dabei das Evangelium zu berücksichtigen; der zweite, dass wir zu schnell oder achtlos zu Jesus kommen.39 Bevor wir den Erlöser sehen, so Keller, müssen wir sicherstellen, dass wir den Text verstanden haben: Wir dürfen die »historischen Realitäten des Textes« nicht beiseitelassen, »als ob die alttestamentlichen Schriften ihren ursprünglichen Adressaten nichts zu sagen gehabt hätten«.40 Wir dürfen uns also nicht nur auf Christus fokussieren und dabei den Text ignorieren, genauso wenig wie wir uns nur auf den Text fokussieren dürfen, wenn wir dabei Christus aus dem Blick verlieren.
Keller wird manchmal dafür kritisiert, dass er auf eine ein Stück weit vorhersehbare Weise zu Christus gelangt und es dabei unterlässt, das volle Gewicht der moralischen Ansprüche Gottes herauszuarbeiten. Meiner Erfahrung nach hat Keller jedoch vorbildlich gezeigt, wie das Evangelium uns verwandelt – wie es nicht nur das letzte Wort hat, sondern in gewissem Sinne auch das erste Wort und die Grundlage für alles andere ist: »Es ist absolut wichtig, dass der Prediger seinen Zuhörern nicht nur zeigt, wie sie moralisch und gut leben sollen, sondern solche Ermahnungen immer auch mit dem Evangelium verknüpft. Und es ist genauso wichtig, dass er der Gemeinde nicht immer nur versichert, dass Gott sie bedingungslos liebt und aus Gnade erlöst hat, sondern ihr auch zeigt, wie echte Erlösung unser Leben verändert.«41
Schau dir zum Beispiel an, wie Keller seine typische Predigtstruktur erklärt (auch das ist nicht nur für Prediger, sondern ebenso für Zuhörer relevant):
»
Einleitung:
Was das Problem ist; unser zeitgenössischer kultureller Kontext: Wir haben folgendes Problem …
Erste Predigtpunkte:
Was die Bibel dazu sagt; der kulturelle Kontext der ursprünglichen Adressaten: Folgendes müssten wir tun …
Mittlere Predigtpunkte:
Was uns hindert; der Zustand des Herzens der heutigen Adressaten: Warum wir das nicht schaffen.
Spätere Predigtpunkte:
Wie Jesus das Problem gelöst hat, und zwar bis in die Tiefen des Herzens hinein: Aber Jesus hat es geschafft.
Anwendung:
Wie wir als Menschen, die an Jesus glauben, leben sollten.«
42
Das ist nicht die einzig richtige Möglichkeit, einen Text zu lehren (zumindest hoffe ich das, ich halte mich nämlich nicht genau an diese Vorlage). Es wird jedoch deutlich, dass Keller, wenn er schließlich »bei Jesus angekommen ist«, noch nicht am Ende seiner Botschaft angelangt ist. Erst mit dem letzten Punkt, der moralischen Anwendung, erreicht die Predigt einen Gipfel, der eine klare Sicht bietet. Als Fallbeispiel führt er die Geschichte von Abraham und Isaak in 1. Mose 22 an:
»
Dies müssten wir tun:
Gott in allen Bereichen unseres Lebens an die erste Stelle setzen, wie Abraham dies tat. (An diesem Punkt endet die Predigt traditionell oft schon!)
Aber das können wir nicht:
Wir können es nicht! Eigentlich wollen wir es auch nicht. Und so haben wir Gottes Verdammungsurteil verdient.
Aber es gibt Einen, der hat es geschafft:
Am Kreuz hat Jesus seinen Vater bis zur letzten Konsequenz an die erste Stelle gesetzt. Es war die ultimative, vollkommene Unterwerfung unter den Willen Gottes. Jesus ist der Einzige, zu dem Gott je gesagt hat: ›Gehorche mir, dann will ich dich richten und verdammen.‹ Jesus hat trotzdem gehorcht – um der Wahrheit willen, um Gottes willen, um unseretwillen. Es war der einzige vollkommene Gehorsamsakt, den es je gegeben hat.
Und deswegen – und nur deswegen – können wir anders werden:
Erst dann, wenn wir sehen, dass Jesus ja so gehorcht hat wie damals Abraham – und das für uns! –, können wir anfangen, so zu leben wie Abraham. Lassen Sie diese Wahrheit Ihr Herz verwandeln.«
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Noch einmal: Es geht nicht darum, dass jede bibeltreue Predigt genau diese Struktur nachahmt. Aber der Ansatz eines Predigers ist unvollständig, wenn er praktisch nie eine Aussage wie »Lebe durch die Gnade Gottes so wie Abraham« zulässt. Einige evangeliumszentrierte Verkündiger fürchten sich so sehr davor, moralistisch zu klingen, dass sie (trotz guter Absichten) am Ende ganz anders klingen als die Bibel. Moralische Anwendungen (gut) werden nur dann zu moralistischen Anwendungen (schlecht), wenn sie losgelöst von der Gnade des Evangeliums vorgetragen werden.
Keller scheute sich nicht vor direkten moralischen Anwendungen. Tatsächlich besteht das Buch, das du gerade liest, aus einer Reihe von aus der Bibel abgeleiteten Imperativen: Widersteh dem Götzendienst (Kap. 2), meide Moralismus (Kap. 3), sei ein guter Freund (Kap. 4), arbeite zur Ehre Gottes (Kap. 5), lebe gerecht (Kap. 6), bete innig (Kap. 7) und leide mutig (Kap. 8). Von Anfang bis Ende ruft uns Keller dazu auf, unser Leben durch die Kraft des Heiligen Geistes verändern zu lassen. Aber wir werden den Boden unter den Füßen verlieren, wenn wir nicht von einem soliden Fundament der Gnade ausgehen.44
Das Alte Testament bietet endlose Möglichkeiten, die vielfältigen Wunder Jesu Christi zu entdecken. Wir können seine Herrlichkeit in jedem Thema der Bibel sehen,45 in jeder Literaturgattung und in jedem Textabschnitt,46 in jeder einzelnen Erlösungsgeschichte,47 in jedem Schlüsselsymbol48 und natürlich in jeder wichtigen Figur.49 (Lies sorgfältig: Wir haben es hier nicht mit einer rhetorischen Einlage zu tun, sondern der Essenz der großartigsten Botschaft der Welt.)
»Jesus ist der wahre und bessere Adam, der die Prüfung im Garten bestand und dessen Gehorsam Gott uns anrechnet (1. Korinther 15).
Jesus ist der wahre und bessere Abel, der unschuldig erschlagen wurde, aber dessen Blut nicht nach unserer Verdammnis schreit, sondern nach unserem Freispruch (Hebräer 12,24).
Jesus ist der wahre und bessere Abraham, der Gottes Ruf, seine angestammte, vertraute Heimat zu verlassen, befolgte und hinauszog (›obwohl er nicht wusste, wohin er kommen würde‹, Hebräer 11,8), um ein neues Gottesvolk zu gründen.
Jesus ist der wahre und bessere Isaak, der tatsächlich und für uns alle geopfert wurde. Gott sagte damals zu Abraham: ›Nun weiß ich, dass du mich liebst, weil du mir deinen einzigen Sohn, den Sohn, den du liebst, nicht vorenthalten hast‹ (vgl. 1. Mose 22,12). Jetzt können wir zu Gott sagen: ›Jetzt wissen wir, dass du uns liebst, weil du uns deinen einzigen Sohn, den Sohn, den du liebst, nicht vorenthalten hast.‹
Jesus ist der wahre und bessere Jakob, der mit Gott rang und den Schlag der Gerechtigkeit, den wir verdient hatten, auf sich nahm, sodass wir, wie Jakob, nur noch die Wunden der Gnade empfangen, die uns aufwecken und erziehen.
Jesus ist der wahre und bessere Josef, der zur Rechten des Königs sitzt und denen, die ihn verraten und verkauft hatten, vergibt und seine neue Macht benutzt, um sie zu retten.
Jesus ist der wahre und bessere Mose, der in die Bresche zwischen dem Volk und Gott tritt und einen neuen Bund vermittelt (Hebräer 3).
Jesus ist der wahre und bessere Fels des Mose, der uns, wenn der Stab der Gerechtigkeit Gottes an ihn schlägt, Wasser in der Wüste gibt.
Jesus ist der wahre und bessere Hiob – der wirklich unschuldig Leidende –, der nach seinem Leiden für uns eintritt und seine törichten Freunde rettet (Hiob 42).
Jesus ist der wahre und bessere David, dessen Sieg der Sieg seines Volkes wird, das keinen Finger gerührt hatte, um ihn selber zu erringen.
Jesus ist die wahre und bessere Ester. Er riskierte nicht nur den Verlust eines irdischen Palastes, sondern verlor den himmlischen Palast; er riskierte nicht nur sein Leben, sondern gab es hin – um sein Volk zu retten.
Jesus ist der wahre und bessere Jona, der sich in den Sturm hinauswerfen ließ, damit wir nicht untergingen.«
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Wie gesagt, wir können beim Bibellesen so schnell »zum Evangelium kommen«, dass wir dem Text nicht gerecht werden. Das ist eine reale Gefahr. Glücklicherweise lässt sich der Instinkt, Christus im Text auf eine verantwortungsvolle Weise zu finden, schulen und verfeinern. Es ist tatsächlich ein bisschen so, als würde man den Bruce Willis-Film The Sixth Sense sehen – zum zweiten Mal. Keller erklärt:
»Der Film hat ein völlig überraschendes Ende, das einen förmlich zwingt, den ganzen Film neu Revue passieren zu lassen und jede Szene im Lichte des Endes neu zu deuten. Und wenn man den Film ein zweites oder drittes Mal sieht, kann man gar nicht anders, als bei jeder Szene an die Auflösung am Schluss zu denken. Das Ende lässt alles, was vorangeht, in einem ganz bestimmten Licht erscheinen. Ganz ähnlich bei der Bibel: Wenn ich einmal begriffen habe, dass alle Geschichten und Spannungsbögen und alle großen Themen in Christus und sein Erlösungswerk münden, kann ich gar nicht anders als zu sehen, dass jeder Text im tiefsten Grunde von Jesus handelt.«51
Keller zeigt uns Gottes Fürsorge auf jeder Seite des Alten Testaments: die Kleidung von Adam und Eva; die Verheißungen an Abraham und die Patriarchen; das komplizierte Opfersystem; Personen (z. B. Mose), Ereignisse (z. B. der Auszug aus Ägypten) und Institutionen (z. B. der Versöhnungstag), die auf Christus hinweisen; und ausdrückliche Verheißungen eines kommenden Messias. Wenn wir also sagen, dass die Bibel von Jesus handelt, dann stellen wir fest, dass das Ganze von der Musik der rettenden Gnade durchdrungen ist. Das allumfassende Wirken Christi ist der Schlüssel, der uns die Gute Nachricht aus jedem Text erschließt. Keller geht sogar so weit, zu behaupten, dass wir mit einem Bibeltext erst dann fertig sind, »wenn wir gezeigt haben, wie dieser Text uns lehrt, dass nur Jesus uns erlösen kann und nicht wir selber«.52