Tinderella - Rosy Edwards - E-Book

Tinderella E-Book

Rosy Edwards

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Beschreibung

Nur ein Wisch und der richtige Mann ist da. So einfach soll das bei der Dating-App „Tinder“ angeblich gehen. Rosy findet, dass es einen Versuch wert ist. Was hat sie schon zu verlieren? Single ist sie ja schon. Die ungeschriebenen Regeln lernt sie dabei auf die harte Tour kennen: Typen, die sich mit nacktem Oberkörper auf ihren Profilbildern zeigen, sind meist Idioten. Ein Match verheißt noch lange keine große Liebesgeschichte. Und ein tolles Date hat manchmal keine Fortsetzung. Rosy tindert sich trotzdem wacker durchs Leben, verliebt sich in die Falschen, verkennt die Guten und wischt so lange weiter, bis eines Tages etwas ganz und gar Unerwartetes passiert ...

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Seitenzahl: 516

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Buch

Rosy Edwards ist ein typischer Single: Eigentlich geht es ihr auch ohne Mann ganz gut, aber es wäre schon ganz schön, wenn es endlich passierte – das mit der Liebe fürs Leben. Nachdem ihre Freunde vergeblich versucht haben, sie zu verkuppeln, hat sich Rosy vorgenommen, ihr Liebesleben in die eigene Hand zu nehmen. Und da so viele darüber sprechen, warum sich nicht online umsehen? »Tinder« ist die neueste Errungenschaft des Online-Datings: schnell, hip – aber nicht immer Erfolg versprechend. Bald schon kennt Rosy auch die ungeschriebenen Regeln der App: Wähle niemals den Typ mit Schwarz-Weiß-Fotos (tatsächlich ist er rothaarig und/oder hässlich). Oder den Typ mit dem Hut (die Wahrscheinlichkeit, dass er darunter keine Haare hat, ist groß). Oder den, der seinen nackten Oberkörper zeigt, (wahrscheinlich ist er ein Idiot). Aber das ist noch nicht alles. Denn dann wird es ja erst spannend! Rosy hat alles mitgemacht, vom noblen Dinner in luftigen Höhen bis zum Date, das beinahe in einer Drogenrazzia endete. Sie tindert sich wacker durchs Leben, verliebt sich in die Falschen, verkennt die Guten und hofft doch immer wieder, dass der Richtige nur einen »Wisch« entfernt ist, und vielleicht ist er das auch …

Weitere Informationen zu Rosy Edwards

finden Sie am Ende des Buches.

ROSY EDWARDS

Tinderella

Geschichten

aus dem Singleland

Ins Deutsche übertragen

von Stefanie Retterbush

Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel

»Confessions of a Tinderella« bei Century,

Penguin Random House Group, London.

Dieses Buch basiert auf dem Leben, den Erfahrungen und Erinnerungen der Autorin. In einigen Fällen wurden die Namen der Personen, die Daten oder einzelne Details der Ereignisse geändert, aber nur um die Privatsphäre der Beteiligten zu schützen. Die Autorin hat dem Verlag versichert, dass der Inhalt dieses Buches, bis auf einige wenige zu vernachlässigende Kleinigkeiten, der Wahrheit entspricht.

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

1. Auflage

Deutsche Erstveröffentlichung Juni 2016

Copyright © der Originalausgabe 2015 by Rosy Edwards

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2016

by Wilhelm Goldmann Verlag, Neumarkter Str. 28, 81673 München

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: Getty Images/Gregor Schuster;

FinePic®, München

NG · Herstellung: Str.

Satz: omnisatz GmbH, Berlin

ISBN: 978-3-641-18809-2V001

www.goldmann-verlag.de

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Für Anthony, Fiona, Benjamin und Sam

1.

Immer in Bewegung

Hier einige Fakten über Hummus:

Hummus stammt ursprünglich aus dem Orient und wird dort vor allem zum Frühstück gegessen.Die Hauptzutat von Hummus sind Kichererbsen, eine Hülsenfrucht, allerdings nicht näher mit herkömmlichen Erbsen verwandt.Reich an Eiweiß und arm an Kohlenhydraten ist Hummus ein sehr gesundes Nahrungsmittel (es sei denn, man verzehrt es wie ich in Industriemengen).

Ich habe eine Menge über Kichererbsen gelernt, seit ich mit den Pärchen hierherkomme. Eser, mein Lieblingskellner, schmuggelt immer heimlich eine zusätzliche Portion für mich an den Tisch. Vermutlich aus Mitleid. Hin und wieder erzählt er mir eine kleine Geschichte dazu. Einer Statistik zufolge – aus dem Internet, muss also stimmen – bringen die meisten Menschen sich montagmorgens um. Vermutlich weil Sonntagabende für alleinstehende Menschen so unerträglich deprimierend sind. Die Pärchen und ich sind oft sonntagabends hier. Und Eser scheint mich als einzigen Single in unserer kleinen Truppe wohl für hochgradig selbstmordgefährdet zu halten.

»Die Pärchen«. So nenne ich, arg verkürzt und etwas herablassend, vier meiner engsten Freunde, die es nur im Doppelpack gibt – Sophie und Ollie, Kate und Bob. Wobei man zu ihrer Verteidigung sagen muss, dass sie sich normalerweise überhaupt nicht pärchenhaft benehmen (sprich, sie kopulieren nicht auf dem gedeckten Tisch). Bob heißt eigentlich auch Ollie, aber weil es viel zu verwirrend ist, zwei Ollies im engsten Freundeskreis zu haben, haben wir vor ewigen Zeiten beschlossen, einen der beiden umzutaufen. Und so wurde aus Kates Ollie Bob. Weil er mit Nachnamen Roberts heißt und »Rob« so spießig und humorlos klang. Ich heiße eigentlich Rosamund, ein Name, mit dem sich meine Mutter vermutlich für meinen langen, schmerzhaften Weg durch den Geburtskanal an mir rächen wollte, auch wenn mich heute alle Rosy nennen. Außerdem bin ich rotblond, einen Meter fünfundfünfzig klein, und von dem ganzen Hummus rundum gut gepolstert. Mein Leben ist auch ohne »Rosamund« schon peinlich genug.

Das Thema des heutigen Abends sind die derzeit unverschämt hohen Immobilienpreise. Im Laufe der letzten Jahre haben sich unsere Gesprächsthemen allmählich immer mehr verschoben, woran man unschwer erkennt, wie sehr sich unser Leben verändert hat, seit wir zwanzig waren. Seit die harsche Realität des Erwachsenwerdens und des unerbittlichen Stadtlebens uns der Freude und Zuversicht unserer Herzen beraubt haben. Früher haben wir lang und breit darüber diskutiert, wie anstrengend und stressig unsere Jobs sind, und neue aufregende Abenteuer für das nächste sehnlichst erwartete Wochenende geplant. Heute machen wir uns über den verhassten Job lustig und murren über nervige Kickboards in der Stadt. Mit siebzehn hat meine Mutter mir prophezeit, dass ich eines Tages auch Radio 4 hören würde – und zwar freiwillig. Ich weiß noch genau, wie ich sie aus vollem Halse ausgelacht habe und meinte, sie würde wohl langsam senil. Aber kurz nach meinem fünfundzwanzigsten Geburtstag muss etwas Seltsames passiert sein, denn eines Morgens wurde ich wach und musste mit Entsetzen feststellen, dass Radio 1 mir auf die Nerven ging und ich die Vorstellung, Marmelade einzukochen, plötzlich gar nicht mehr so abstoßend fand. Vor Kurzem bin ich siebenundzwanzig geworden, und ich gestehe ohne Scham, dass ich BBC Radio 4 gar nicht so übel finde. Ich stehe auf Desert Island Discs, eine Sendung, in der der jeweilige Gast erklärt, welche acht Platten er oder sie auf eine einsame Insel mitnehmen würde und warum. Und Barry Cryer finde ich einfach zum Schießen.

Wir reden über Immobilienpreise, weil Kate und Bob sich gerade nach einem Haus umsehen und ihre gesamte Freizeit damit verbringen, Immobilienpornos anzuschauen statt wie jeder normale Mensch Twitter und richtige Pornos zu konsumieren. Dass sie überhaupt darüber nachdenken, ein Haus zu kaufen, erscheint mir genauso abgefahren, als würden sie ernsthaft darüber nachdenken, sich eine Meerjungfrau als Haustier anzuschaffen – ich schlucke ja schon, wenn ich über drei Pfund für einen Soja-Latte hinblättern soll (was mich allerdings nicht davon abhält). Während ich mir mit einem Stück Fladenbrot Hummus (aus meiner Privatration) in den Mund schaufele, erklärt Bob: »Clapton können wir uns fast nicht mehr leisten.«

»Forest Hill?«, fragt Ollie.

»Da gehen die Preise auch durch die Decke.«

»Deshalb schauen wir uns jetzt ein bisschen weiter nördlich um«, wirft Kate ein, »entlang der Harringay Ladder.«

»Unfassbar, was man vor drei Jahren für das Geld noch bekommen hätte.«

»Drei Schlafzimmer statt einem.«

»Das eher ein Wandschrank ist als ein Zimmer«, fügt Sophie düster hinzu.

»Und eine Küche, die nicht gleichzeitig als Bad dient«, werfe ich ein. Ich beteilige mich gerne an solchen Gesprächen. Vom Hauskauf verstehe ich ungefähr genauso viel wie von chinesischer Papierschöpfkunst.

»Und einen Garten«, sagt Bob und legt seine Hand auf Kates. »Aber wir werden schon was finden. Früher hätte ich nicht mal im Traum daran gedacht, mich in Southgate umzuschauen.«

»Da gibt’s jetzt auch einen Costa«, meint Sophie.

»Ein Caffè Nero wäre mir lieber«, entgegne ich. »Der Latte bei Costa ist nicht so toll.«

»Unmöglich, in eine Gegend zu ziehen, in der es nur unterdurchschnittlichen Latte gibt«, meint Ollie, und alle lachen, als wäre das ein Witz.

Als Eser uns das Essen serviert, braucht er einen Kollegen zur Verstärkung: Wir konnten uns heute nicht so recht entscheiden, weshalb wir kurzerhand eine bunte Mischung aus Hackbällchen, Köfte, gegrillten Auberginen und dampfenden Schüsseln Gemüsereis für alle bestellt haben. Das Problem dabei, Rosy, Singular, zu sein, ist allerdings, dass ich auf dem Katzenstühlchen an dem einen Tischende sitze und die guten Sachen heute Abend alle am anderen Ende stehen. Als das Lamm schließlich bei mir ankommt, ist es schon heftig geplündert. Das Gespräch verebbt langsam, bis wir uns schließlich alle in gefräßigem Schweigen dem herrlichen Kreuzkümmelaroma hingeben und immer wieder hingerissen murmeln: »Mmh, das musst du unbedingt probieren …«, um dann wieder andächtig zu verstummen, gefolgt von drei Minuten zügiger und beinahe lautloser Nahrungsaufnahme. Als wir uns wieder der gebotenen Höflichkeit erinnern, stürzen Bob und Ollie sich begeistert in eine Fußballdiskussion, zu der Sophie, Kate und ich wenig bis überhaupt nichts beizutragen haben und die uns noch weniger interessiert. Sophie schenkt Wein nach. »Hat Cassie euch auch schon das Datum für die Hochzeit geschrieben?«, fragt sie. Kate nickt. Mir hat sie auch schon Bescheid gesagt. Ich weiß genau, wo das kleine Kärtchen liegt: ganz unten in meiner Unterwäscheschublade. Wenn ich es nicht sehe, brauche ich nicht an die Hochzeit zu denken, und das bedeutet irgendwie, dass ich auch nicht hingehen muss. Ich antworte mit einem vagen Halbsatz, worauf Kate sich sofort unbarmherzig auf mich stürzt: »Ist das wegen Charlie?«, und sofort wünsche ich mir, ich hätte einfach den Mund gehalten.

Sophie bedenkt Kate mit einem »Halt die Klappe«-Blick … unglaublich unauffällig, es sieht aus wie eine parodistische Pantomime. Kate beißt sich auf die Lippen und sieht mich an.

»Weißt du, ob er sie mitbringt?«, frage ich.

»Keine Ahnung«, entgegnet Sophie. »Cassie hat nichts gesagt.« Sophie und ich sind schon ewig beste Freundinnen – so lange, dass es mir nicht mal was ausgemacht hat, als sie mir auf die Füße gekotzt hat, und das an meinem Geburtstag; so lange, dass ich auf Anhieb weiß, wenn sie lügt. Bestimmt hat Cassie doch etwas gesagt, und die Antwort auf meine Frage lautet Ja. Um die etwas angespannte Stimmung aufzulockern, schwindele ich: »Ich glaube nicht, dass ich an dem Tag freibekomme«, worauf wir alle erleichtert aufatmen können. Streng genommen ist Cassie Sophies Freundin (in der Grundschule waren sie in einer Klasse und haben zusammen Küssen geübt, woran Sophie sich besonders gut erinnert). Und sie hat eine Art, Komplimente zu machen, dass man … dass man sich am Ende selbst dafür hasst (über meine Haare hat sie mal gesagt: »Ich hätte zu gerne mal rote Haare, nur für einen Tag, nur um zu sehen, wie das ist«). Lieber gebe ich das Geld, das ich für Reise, Unterkunft und Hochzeitsgeschenk bräuchte, für etwas aus, das ich wirklich mag und/oder öfter als zweimal im Jahr sehe. Außerdem habe ich die bittere Erfahrung machen müssen, dass Hochzeiten mitnichten die feuchtfröhlichen Ringelreihen sind, wie romantische Komödien uns Singles das so gerne vorgaukeln, damit wir nicht im allerletzten Augenblick noch kneifen und die penibel geplante Sitzordnung durcheinanderbringen. Dennoch könnte ich darüber hinwegsehen und mich überwinden hinzugehen, wüsste ich nicht ganz genau, dass mein Exfreund Charlie auch eingeladen ist, noch dazu mit seiner neuen Flamme.

Charlie. Der Name gefiel mir, lange bevor Charlie selbst mir auffiel, und als wir uns ineinander verliebten, gefiel mir der Klang unserer Namen: Rosy und Charlie. Charlie und Ro. Wir haben uns durch die Arbeit kennengelernt: Meine alte PR-Agentur machte eine Kampagne für die Firma, in der er arbeitete. Ich habe in den Meetings gesessen und überall hingeschaut, nur nicht zu ihm (noch heute kenne ich jede Steckdose in diesem Raum), und als seine Firma uns alle zu einem vorweihnachtlichen Umtrunk eingeladen hat, bin ich nur mitgekommen, weil meine Kollegin Pip mich förmlich an den Haaren mitschleifte. An diesem Abend hat Charlie das erste Mal mit mir gesprochen. Am nächsten Tag hat er mir eine SMS geschickt, was mich, die ich mich jahrelang strikt an die Zwei-Tages-Regel gehalten hatte, damals tief beeindruckte. Unglaublich, dass ich beinahe die Gelegenheit ausgeschlagen hätte mitzugehen, aber wenn ich es noch einmal zu tun hätte … Ich weiß nicht. Es kommt mir fast vor, als sei das in einem anderen Leben passiert.

Wir kommen von Hölzchen auf Stöckchen, während wir uns langsam, aber sicher durch das restliche Essen arbeiten. Es geht um Urlaubsplanung (Sophie und Ol: Istanbul; Bob und Kate: Frankreich; ich: vielleicht ein Wochenende bei meinen Eltern), den Nahen Osten, Samstagabendshows im Fernsehen, gewürzte vs. ungewürzte Nüsschen und wie unverschämt teuer Bahnreisen geworden sind. Wir kennen uns schon so lange, dass die Themen fließend ineinander übergehen. Sophie und ich haben uns an unserem vierten Tag an der Uni kennengelernt, Kate kam zwei Tage später dazu, und weil drei gemeinsame Studienjahre noch nicht reichten, sind wir nach unserem Abschluss gemeinsam nach London gegangen und haben in mehreren WGs zusammengewohnt, bis eine nach der anderen mit ihrer besseren Hälfte zusammenzog. Ich habe mich schrecklich für die beiden gefreut, als sie Ollie und Bob kennenlernten, und Kate und Soph waren es auch, die mich in den ersten Monaten nach Charlie über Wasser gehalten haben, als ich selbst jeden Halt verloren hatte.

Eser steht demonstrativ an unserem Tisch, während wir träge in den Resten herumpicken, und wartet, bis wir uns schließlich satt und zufrieden zurücklehnen. Dreimal muss er hin- und herlaufen, bis alles abgeräumt ist, und beim letzten Mal hat er die Dessertkarte unter dem Arm. Ich hätte nichts gegen ein bisschen Baklava – was ich gerade laut sagen will, als Ollie das Wort ergreift und die Rechnung und eine Runde Kaffee für alle bestellt. Bei uns wird nicht lange rumdiskutiert, ich werde mir auf dem Heimweg einfach ein Crunchie kaufen. Die Rechnung kommt prompt, schneller als jedes Essen, und Ollie rechnet mit dem Handy aus, wie viel jeder von uns in den Topf werfen muss. Als er die Summe verkündet hat, beginnen er und Sophie das traditionelle Tauziehen darum, wer heute an der Reihe ist zu zahlen (sie war am Montag einkaufen, aber er hat die Reinigung bezahlt), und beide plädieren hart und unerbittlich für sich, was ich irgendwie nie verstanden habe, weil ich es genau anders herum machen würde. Ich lege meine Karte obenauf; hoffentlich wird sie angenommen – sonst stehe ich wieder genauso blöd da wie neulich beim Sommerschlussverkauf bei Topshop. Und dann geht es ans Taxibestellen.

Ich bin diejenige, die am weitesten entfernt wohnt, am wenigsten verdient und das Taxi ganz aus eigener Tasche bezahlen müsste, also sehe ich nur zu, wie meine Freunde sich um ihre Handys scharen und auf Taxi-Apps eintippen, und spiele derweil gelangweilt mit den Zuckertütchen und lausche dem gedämpften Gemurmel: »… billiger als letztes Mal …«, »… keine Viertelstunde, wie immer …« Diesen Teil des Abends kann ich auf den Tod nicht ausstehen.

»Wie kommst du denn nach Hause, Ro?«, fragt Ollie.

»Ich dachte, ich laufe zur U-Bahn, ist ja nicht weit.«

Stirnrunzelnd schaut Ollie mich an. »Kriegst du die letzte Bahn noch?« Den ganzen Abend habe ich immer wieder aufs Handy geschaut (keine Anrufe, keine Nachrichten), ohne auch nur einmal nach der Uhrzeit zu sehen. Es ist 00:20 Uhr. Sonntags ist das Restaurant bis um ein Uhr nachts geöffnet. Was ich eigentlich hätte wissen müssen, nachdem ich beim letzten Mal ein Taxi nach Hause nehmen musste, was mich stolze siebenunddreißig Pfund gekostet hat (mehr als ich für meinen Anteil am Abendessen hatte berappen müssen). »Ich nehme den Nachtbus, kein Problem«, erkläre ich kess in der Hoffnung, so zu überspielen, dass es in Wirklichkeit ein ganz gewaltiges Problem ist. Mit dem Bus dauert es doppelt so lange wie mit der Bahn.

»Wie lange brauchst du zur Haltestelle? Fünf Minuten?«, fragt Kate.

»Eher fünfzehn …«

»Immerhin regnet es nicht mehr«, meint Ollie. »Das ist doch schon mal was.«

Eser bringt den Kaffee. In stillem Protest gegen den Baklava-Boykott habe ich keinen mitbestellt, was mir jetzt sehr entgegen kommt: Wenn ich für den Heimweg schon länger brauche als gedacht, will ich sobald wie möglich los. Ich tue, als müsste ich gähnen, was ich dann auch tatsächlich muss, und sage meinen Freunden, dass ich mich auf den Weg mache. Sofort versucht ein stimmgewaltiger Chor, mich zum Bleiben zu überreden, aber ich bin schon mit einem Fuß zur Tür hinaus.

»Dann bringen wir dich wenigstens noch zur Bushaltestelle«, erklärt Bob, während ich in den Parka schlüpfe und mir den Ruchsack über die Schulter schwinge (eigentlich wollte ich damit einen gewissen Nerd-Chic ausstrahlen, aber ehrlich gesagt sehe ich eher aus wie eine zwölfjährige Austauschschülerin, ganz besonders mit dem Parka). Ich entgegne, dass ich gerne ein Stückchen zu Fuß gehen möchte: Esers Großzügigkeit sei Dank besteht mein Körper zu zweiundvierzig Prozent aus Hummus, und im Restaurant, wo es bei meiner Ankunft kuschelig warm war, kommt es mir inzwischen unerträglich heiß und stickig vor. Wir verabschieden uns mit Küsschen links, Küsschen rechts, und ich marschiere zielstrebig zur Glastür hinaus nach draußen. Ollie hatte recht mit dem Regen: Es muss vor einer Weile aufgehört haben, und die Bürgersteige glänzen nass und dampfen im gelben Licht der Straßenlaternen.

Ich ziehe den Reißverschluss meiner Jacke auf und laufe los, hinein ins Brummen des abendlichen Verkehrs, der eine Wohltat ist nach dem Surroundgeplapper und dem Crescendo scheppernder Teller im Restaurant. Ich kann mir meine Freunde vorstellen, wie sie noch zusammensitzen und ihren Kaffee schlürfen und die Taxis draußen mit schnurrendem Motor warten lassen. Nicht lange, dann werden sie die Haustüren aufschließen und im dunklen Flur nach dem Lichtschalter tasten, sich die Zähne putzen und sich schnell ausziehen, ins Bett springen und sich zusammen einkuscheln. Das vermisse ich am Pärchendasein. Und den Sex, den vermisse ich auch. Sehr. Himmel, wie ich den Sex vermisse.

Erst merke ich gar nicht, dass ich mich verlaufen habe. Nur langsam überkommt mich eine dunkle Ahnung, wie eine schleichende Erkältung, und sie wird erst zur Erkenntnis, als ich mich schließlich umschaue und mir nichts auch nur annähernd bekannt vorkommt. Ich bin vor dem Restaurant nach links gegangen und dann auf die Kirche zugesteuert, aber jetzt denke ich fast, ich hätte nach rechts gemusst und auf nichts zusteuern sollen. Charlie hätte gewusst, wo wir lang müssen. Er hätte das Telefon ausgepackt und mir den Stadtplan gezeigt und mich von hinten umarmt: »Denk mal nach, Rosy«, hätte er gesagt, »wir sind hier und wollen da hin – warum sollten wir da nach links gehen?« Und dann hätte er gelacht und mir einen Kuss in den Nacken gegeben und hätte mir gesagt, dass ich ein Dummchen bin und wäre in die richtige Richtung losmarschiert. Und ich hätte seine Hand genommen und wäre ihm gefolgt, weil ich ihm blind vertraute. Ich bin ihm immer gefolgt, sogar in den letzten Monaten. Bis er weg war.

Ich habe keinen Internet-Empfang auf dem Handy, und den Weg zurückgehen, den ich gekommen bin, könnte ich nur, wenn ich wüsste, woher ich gekommen bin. Ich spiele mit dem Telefon in meiner Hand. Es ist schon spät. Wenn ich sie jetzt anrufe, wäscht sie mir bestimmt den Kopf. Andererseits ist sie seit dem ersten Semester an der Uni meine beste Freundin, also wird sie es mir verzeihen. Und sie hätte es sich ja auch vorher überlegen können, ob sie meine beste Freundin sein will. Schließlich wusste sie, worauf sie sich einlässt. Ich suche ihren Namen und drücke auf »Anrufen«. Beim dritten Klingeln geht sie ran. »Ja?«

»Ich habe mich verlaufen.«

»Wo bist du denn?«

»Wenn ich das wüsste, hätte ich mich nicht verlaufen.«

»Also gut, wo warst du?«

»In dem türkischen Restaurant; und jetzt suche ich die Bushaltestelle, aber ich habe gerade kein Internet, und es ist dunkel …«

»Okay, ganz langsam.«

Ich hole tief Luft, wie von der Besten befohlen, und lausche beim Ausatmen auf das Geklacker ihrer Tastatur im Hintergrund. Allein ihre Stimme zu hören tut gut.

»Okay, in welcher Straße bist du?«

Ich mache ein paar Schritte auf das Straßenschild zu und kneife die Augen zusammen. »Corrance.«

»Corrance, okay … siehst du die Kirche?«

Auf der anderen Straßenseite ragt eine gewaltiges graues Gebäude mit spitzem Turm und Buntglasscheiben in den Himmel. Ich lehne mich mal ganz weit aus dem Fenster. »Ja.«

»Wenn du drum herum zur Vorderseite gehst, müsste da eine kleine Grünfläche sein, die überquerst du und hältst dich dann links, und von da müsstest du schon die Hauptstraße sehen – bitte sag mir, dass du die Bushaltestelle siehst?« Sie klingt entnervt, als sei es eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit, sich keine hundert Meter vom Zielort zu befinden und sich trotzdem verlaufen zu haben – für mich ist das jedoch fast alltägliche Realität. Einmal habe ich mich sogar in der Schule verlaufen, auf die ich schon seit zwei Jahren ging. Könnte ich mir eine Superheldenkraft aussuchen, dann wäre es ein gutes Orientierungsvermögen. Oder Teleportation, denn damit hätte sich mein Problem, den richtigen Weg zu finden, sowieso erledigt.

»Wie war das Essen?«, erkundigt sich die Beste.

»Ganz nett … viel Gerede über Häuser und Urlaub. Was ja ganz spannend ist, aber manchmal auch ein bisschen …«

»… scheiße?«

Ich muss lächeln. »Genau.«

Sie meint: »Tja, wenn du halt unbedingt allein sterben willst …«, was mich zum Lachen bringt.

»Darum geht es gar nicht. Sie geben mir nicht das Gefühl, nicht dazuzugehören. Aber dieses ganze Gerede über Häuser und Urlaub führt mir jedes Mal vor Augen, wie unerreichbar das alles für mich ist.« Selbst mir entgeht der traurige Unterton in meiner Stimme nicht. Mein Singledasein treibt mich nicht zur Verzweiflung, aber in den letzten Monaten habe ich mehr und mehr das Gefühl, als würde ich … abgehängt. Die Beste meint: »Geht mir genauso«, und auch in ihrer Stimme ist die Traurigkeit nicht zu überhören, weshalb ich sie nur noch lieber mag.

Und dann sagt sie: »Ach, scheiß drauf.« Sie vergewissert sich, dass ich weiß, wo ich hinmuss, und sagt, sie ruft mich morgen an. Wir wünschen uns eine gute Nacht und legen auf. Wie sie mir gesagt hat, überquere ich die kleine Grünfläche und stehe dann an der Hauptstraße, die mir bekannt vorkommt – vor allem das türkische Restaurant, das ein Stückchen die Straße hinunter zu meiner Linken liegt. Ich halte mich rechts. Blöde Geografie.

Um halb zwei bin ich schließlich zuhause. Oona, eine meiner beiden Mitbewohnerinnen, ist noch wach und sitzt auf dem Sofa, die Zeitung von heute vor der Nase, den Laptop auf dem Schoß und den Fernseher im Hintergrund eingeschaltet.

»Wie war das Essen?«, erkundigt sie sich, als ich hereinkomme.

»Ganz nett, danke.« Ich gehe in die Küche und hole mir ein Glas Wasser. Überreste von etwas, das wohl mal Erdbeeren und Bananen waren, kleben an den Schrankfronten und dem Fliesenspiegel und überziehen die verkrustete Innenseite des Mixers in der Spüle. Ich stecke den Kopf ins Wohnzimmer. »Hat Harriet …«

»Ich habe ihr einen Zettel an die Tür geklebt.« Unsere andere Mitbewohnerin Harriet ist eine sehr angenehme Zeitgenossin, wenn sie nicht gerade wieder mit ihrem Safttick in der Küche Amok läuft. Dann könnte ich auch Amok laufen. Ich muss unbedingt daran denken, ihr morgen eine SMS zu schicken und sie vor Oonas Zettel zu warnen. Mit Oona zusammenzuleben ist … eine Herausforderung. In dem einen Jahr, seit ich hier eingezogen bin, hat sie mir zweimal die Kündigung angedroht, hat eine Klorollenquote eingeführt und wollte allen Ernstes den Fernseher verkaufen, weil Harriet und ich »sowieso nur Müll gucken«.

Ich halte das Glas unter den Wasserhahn und sage Oona, dass ich gleich ins Bett gehe.

»Ich fliege morgen nach Dublin, müsste aber am Sonntag wieder zurück sein«, sagt sie, was ich als ihre etwas eigenwillige Art und Weise interpretiere, mir eine gute Nacht zu wünschen. Oona macht irgendwas mit Finanzen. Keine Ahnung, was genau, wobei ich aus den wenigen Anekdoten, die sie gelegentlich erzählt, schließe, dass sie viel reist und ständig irgendwelche Leute anschreit. Manchmal feuert sie sie auch. Harriet ist Grundschullehrerin, worunter ich mir wenigstens was vorstellen kann, und es klingt einigermaßen interessant, vor allem verglichen mit meinem Job als PR-Account-Managerin. Und weil ich in sieben Stunden schon wieder mit dem PR-Account-Managen anfangen muss, sollte ich besser schleunigst ins Bett gehen.

*

Ich bin hundemüde. Letzte Nacht konnte ich nicht schlafen (der Hummus war schuld), also habe ich auf der Busfahrt zur Arbeit beschlossen, am besten so wenig wie möglich zu tun. Inzwischen ist es beinahe 10 Uhr. Eigentlich sollte ich um diese Zeit meine Mailbox geleert, die tägliche Presseschau zusammengestellt und verschickt und das Netz nach Berichten über unsere neueste Kampagne abgefischt haben. Leider habe ich bisher nur zwei meiner siebzehn Punkte umfassenden To-do-Liste ausstreichen können (dreizehn sind der Übertrag von vergangenem Freitag). Der erste lautete: Kaffee holen, und statt meine Arbeit zu machen starre ich wie blöde auf den Computerbildschirm. während vor meinem inneren Auge eine Folge der alten Sitcom »’Allo, ’Allo« läuft.

»Rosy.« Ich falle fast vom Stuhl vor Schreck, als ich Helens Stimme höre. Sie steht direkt hinter mir und guckt zum Glück leicht amüsiert. Meine Chefin ist zwölf Jahre älter als ich und Mutter zweier Kinder, hat glänzende kastanienbraune Haare, die aussehen wie direkt aus einer Werbeanzeige, trägt jeden Tag Lippenstift, und allein ihre Mantelkollektion muss mehr gekostet haben als meine Miete für ein halbes Jahr. Das heutige Exemplar ist von Max Mara, was ich weiß, weil ich beim Aufhängen auf das Etikett gespinkst habe. Helen ist spät dran und hat eine Sporttasche in der Hand (so teuer, dass ich die Marke gar nicht erkenne), das heißt, sie kommt wohl vom Training mit Dermot, ihrem Ex-Marine-Personal-Trainer. »Wie war’s?«, erkundige ich mich.

»Urgs«, ächzt Hellen. »Grausam. Arsenal muss gestern verloren haben, und ich glaube, Dermot hat seinen Frust an meinem Quadrizeps ausgelassen. Ich musste Sit-ups machen, bis ich umgekippt bin und mich auf dem Boden zusammengeringelt habe.« Ich biete an, ihr einen Tee zu machen, was Helen so dankbar annimmt, dass ich mich glatt frage, ob ich dafür eine Gehaltserhöhung bekomme. Ich koche ihr eine Tasse Kräutertee (sieht aus wie Pisse, riecht wie Pisse), den ich ihr ins Büro bringe, in der anderen Hand mein Feld-Wald-und-Wiesen-Schwarztee.

»Prima, danke«, seufzt Helen und lehnt sich in ihrem Sessel zurück. »Ich jammere zwar dauernd, aber er ist wirklich gut. Ich wiege wieder genauso viel wie vor der Schwangerschaft, vielleicht sogar noch ein bisschen weniger.« Sie dreht sich mit dem Sessel zu mir herum. »Ich habe noch einen Gutschein für eine Gratis-Probestunde, du solltest es wirklich mal ausprobieren.«

»Dermot würde mich fertigmachen.«

Helen lacht auf. »Aber im Fitnessstudio wimmelt es nur so vor gut aussehenden Männern«, sagt sie und wendet sich wieder dem Rechner zu. »Da könntest du jemanden kennenlernen.«

Ich starre stur geradeaus auf meinen Bildschirm. An Helens Logik ist nichts auszusetzen: Ich kann mir nur zu gut vorstellen, dass man in ihrem exklusiven Hundertzwanzig-Pfund-pro-Monat-Fitnessstudio nicht mal ein Rad schlagen kann, ohne einen muskulösen, attraktiven Mann von den Füßen zu holen – Typen, denen ein leichter Schweißfilm auf der Haut genauso gut steht wie der Anzug aus der Savile Row. Leider verdiene ich nicht ganz so viel wie Helen und bin auch nicht mit einem erfolgreichen Börsenmakler verheiratet, weshalb ich ins Fitnessstudio bei mir um die Ecke gehe. Da kostet die Mitgliedschaft nur fünfundvierzig Pfund im Monat. Kein Firlefanz, keine Extravaganzen, einschließlich der Männer. Mein Studio ist ideal, um neue Menschen kennenzulernen, wenn man auf Fünfzigjährige mit überkämmter Glatze und Bierbauch steht. Gleiches gilt für verheiratete Kerle, mit Steroiden vollgepumpte Kleiderschränke oder Typen im Ballonseidentrainingsanzug, die ein ganz spezielles Aroma verströmen. Jüngere, halbwegs attraktive Männer schneien zwar gelegentlich auch mal herein, aber die Wahrscheinlichkeit, einen davon kennenzulernen, ist nicht allzu groß, wenn man kaum öfter als einmal im Monat hingeht. Wie gerne wäre ich fitter und besser in Form. Als ich noch studiert habe, bin ich dreimal die Woche joggen gegangen, aber seit ich in London lebe, hat meine Bewegungsfreude im selben Maße abgenommen, wie die Zeit zugenommen hat, die ich untätig auf der Couch herumlümmele.

Am späten Vormittag ist Helen unterwegs zu einem Meeting, und Pip, meine herzallerliebste Arbeitsvermeidungskomplizin, hängt seit einer Viertelstunde am Telefon, und es sieht nicht danach aus, als würde sie so bald wieder aufhören zu telefonieren. Also öffne ich die Pressemitteilung, an der ich eigentlich arbeiten sollte, auf dem Bildschirm und versuche mich darauf zu konzentrieren. Helens Empfehlung bezüglich des Fitnessstudios läuft, seit sie diesen ominösen Satz gesagt hat, in Endlosschleife in meinem Kopf. Im Laufe der vergangenen Stunde hat es sich in meinem Gehirn allerdings irgendwie verbogen und verzerrt, sodass ich mich nur noch daran erinnere, dass meine schlanke, reiche, verheiratete Chefin mir gesagt hat, ich würde nie einen Mann finden und einsam und allein alt werden, wenn ich meinen dicken, faulen Hintern nicht ins Fitnessstudio bewege. Ich hätte nichts dagegen, mit Helen zu tauschen: Ich wäre gerne eine Frau, die Max-Mara-Mäntel trägt und mit dem größten Vergnügen eine Tasse dampfend heißen Grasaufguss trinkt, und ich hätte ganz sicher nichts dagegen, so einen flachen Bauch zu haben wie sie. Das Einzige, was mich davon abhält, in besagten Grasaufguss zu spucken, ist, dass ich weiß, wie viel harte Arbeit dahintersteckt. Ich lasse die Pressemitteilung Pressemitteilung sein und kneife mir in den Bauch. Ich kann mindestens einen Zentimeter Wabbel zwischen die Finger klemmen, drei, wenn ich daran ziehe, was ich dann auch mit sadistischer Freude tue.

*

Ich bin zu der Erkenntnis gekommen, dass ich krankhaft fettleibig bin. Statt also zum Mittagessen zu Pret zu gehen und irgendwas x-Beliebiges zu kaufen, das ich im Gewühl zu fassen bekomme, ehe mir der Arm abgerissen wird, entscheide ich mich für die kleine gemischte Box von dem tollen Sushi-Laden, und zum Nachtisch stelle ich mir einfach vor, ich äße einen Brownie. Als ich am frühen Nachmittag wieder am Schreibtisch sitze, ist meine To-do-Liste nur um drei Punkte geschrumpft, und ich kann an nichts anderes denken als daran, wie träge ich geworden bin: Acht Stunden am Tag sitze ich im Büro, und die einzige Bewegung, die ich bekomme, besteht in den kurzen Abstechern zu diversen Lebensmittelläden. Am Wochenende tausche ich den Bürostuhl gegen die Couch, schaue fern und esse. Ab und zu treffe ich mich mit der Besten oder Kate und Sophie zu Happy-Hour-Cocktails, die genauso viele Kalorien haben wie die doppelten Cheeseburger, die wir in uns hineinstopfen, bevor wir anschließend nach Hause wanken. Und an den Wochenenden schummele ich ohnehin mit dem Essen.

Um halb fünf bemühe ich mich nicht mal mehr, so zu tun, als hätte ich zu tun, und schicke der Besten eine Nachricht.

Eigentlich sind Fitnessstudios nicht viel anders als Clubs. Man zahlt Eintritt, und falls man auf einen leckeren Drink, eine Sitzgelegenheit und ein nettes Gespräch gehofft hat, sollte man sich das lieber gleich aus dem Kopf schlagen. Treibende, beatlastige Charthits dröhnen aus den Lautsprechern, und alle schwitzen im Takt dazu. Die Luft ist trotz Klimaanlage schweißgeschwängert, und Männer und Frauen jeglicher Couleur nippen an ihren Drinks und beäugen einander kritisch. Die Beste hält lässig eine Wasserflasche in der Hand, während ich mich umschaue und verlegen meinen T-Shirt-Saum zerknülle – ich schwitze schon, obwohl ich noch nichts anderes getan habe als hereinzuspazieren. Ich weiß nicht, ob ich der Typ fürs Fitnessstudio bin. Die Kleiderordnung für die Damen scheint eng, kurz und nuttig zu sein – wohingegen ich aussehe wie eine frischgebackene Mami an ihrem ersten freien Abend nach der Entbindung. Wären meine Leggings wenigstens an den Knien nicht so ausgeleiert. Meine ranken, schlanken, durchtrainierten Studioschwestern stecken in Designertops, von denen ich nie gedacht hätte, dass man sie tatsächlich zum Training trägt; im Vergleich dazu sieht mein ausgeblichenes The Earthquake Album-T-Shirt aus, als hätte ich es aus einem Müllcontainer gefischt. Früher war ich oft im Fitnessstudio, vor allem in der Zeit mit Charlie – er ging regelmäßig hin und hat mich immer bequatscht mitzukommen – und mit steigender Fitness war auch mein Selbstbewusstsein gewachsen. Nach unserer Trennung hat sich mein lädiertes Selbstwertgefühl zwar mühsam wieder berappelt, aber mein früheres Lungenvolumen habe ich nicht wieder zurückbekommen.

Die Beste marschiert zielstrebig zum Crosstrainer, also steige ich aufs Laufband, drücke ein paar Knöpfe und versuche zumindest so auszusehen, als wüsste ich, was ich da tue. Das Band setzt sich in Bewegung – für den Anfang gar nicht mal so schlecht. Mein Blick wandert zum Gerät meines Nachbarn, dessen Anzeige verrät, dass er mit 15,5 km/h unterwegs ist. Aber seine Füße, die in gut sitzenden, futuristisch anmutenden, leistungssteigernden Turnschuhen vom anderen Stern stecken, hämmern so unerbittlich auf das Band ein, dass ich unmöglich Schritt halten könnte. Ich steigere Steigung und Geschwindigkeit, bis es in den Waden zieht. Ich bin bei bemitleidenswerten 7,3 km/h. Energisch stopfe ich mir die Kopfhörer in die Ohren und hopse in lässigem Laufschritt weiter, der eindeutig schreit: »Ich wärme mich nur auf.«

Okay. Ich jogge. Fühlt sich gut an, ist auch ganz gut auszuhalten – und wenn ich das Handtuch über die Anzeige drapiere, sieht keiner, wie langsam ich laufe. Die Uhr ist auf zwanzig Minuten gestellt, und bisher bin ich schon wie lange gelaufen … fünfundvierzig Sekunden. Ich schaue mich suchend nach der Besten um und sehe sie auf dem Crosstrainer hinten bei der Wand. Ihr Pferdeschwanz wippt munter im Takt wie bei einer Cheerleaderin, und was für einen Sport-BH sie auch trägt, er wirkt wahre Wunder bei ihrer Oberweite. Das ist auch dem Gewichtheber vor ihr nicht entgangen. Der ist allerdings doppelt so breit wie eigentlich von der Natur vorgesehen, also dürfte er schwerlich ihr Typ sein. Die Beste marschiert unbeirrt weiter. Meine Haare schwingen nicht, und meine Brüste streift höchstens mal ein verirrter Blick, aber ich habe auch noch keinen gesehen, dessen Blicke ich gerne auf mich ziehen würde. Ein Typ, der vielleicht ganz gut aussehen könnte, sitzt vor mir auf dem Trimmrad. Diese Annahme stützt sich allerdings allein auf seinen Hinterkopf, und es wäre nicht das erste Mal, dass ich mich von einem wohlgeformten Schädel in die Irre führen lasse.

Minute sechzehn, und nur mein Stolz lässt mich noch weiterlaufen. Aber ich halte durch, bis meine zwanzig Minuten in der Hölle vorbei sind und ich endlich vom Laufband steigen kann, nur um festzustellen, dass meine Beine sich in Seegrasstelzen verwandelt haben. »Ich muss ein bisschen dehnen«, sage ich zur Besten, die zu mir herübergeschlendert kommt. Ich schaue sie an, aber sie mustert schon die ausgelegten Matten.

»Am besten legst du dich neben den da«, sagt sie. »Den Kerl in den blauen Shorts.« Ich folge ihrem Blick zu den Matten, wo der fragliche Kerl sich gerade vornüber beugt. Mit unseren gierigen Blicken degradieren wir ihn kurzzeitig zum Objekt und starren ihm hingerissen auf den Arsch. Als er sich wieder aufrichtet, sehe ich, dass er blaue Augen hat, genauso blau wie seine Shorts, dass seine Nase ganz leicht nach oben zeigt und die kurzen blonden Haare akkurat geschnitten sind. Ohne das ölige Gel sähen sie bestimmt viel besser aus. Schweißperlen laufen ihm den kurzen Hals hinunter, die er mit dem Handtuch wegwischt. Er ist nicht gerade groß, aber das bin ich auch nicht, dafür ist er schlank und ganz ansehnlich. Die Beste stupst mich in die Rippen. »Geh rüber und sag Hallo.«

»Warum?«

»Weil er gut aussieht.«

»Einigermaßen«, korrigiere ich sie und schaue mich unauffällig nach der Konkurrenz um. Die Beste sieht mich mit ungebrochenem Optimismus in den großen, runden Augen an. Ich muss an Helen denken. Ihr Mann ist auch nicht besonders groß.

Ich gehe hin. Von Gymnastikmatten wird mir übel, ich darf nicht zu lange darüber nachdenken, wer da schon alles draufgelegen und reingeschwitzt hat. Mit spitzen Fingern hebe ich eins der Dinger an einer Ecke hoch und lege dann mein Handtuch darauf, als Schutz gegen den jahrealten eingezogenen Schweiß. Während ich mich ausstrecke, geht mir auf, dass Mr McFit und ich die einzigen Leute hier sind. Und meine Matte so dicht neben seine zu legen einfach lächerlich und sicher auch verdammt nervig ist – nicht unbedingt die besten Voraussetzungen für eine neue Bekanntschaft. Er liegt auf dem Rücken, das rechte Knie an die Brust gezogen, also gehe ich auf alle viere und strecke abwechselnd die Beine. Er breitet die Arme zu beiden Seiten aus, dreht den Körper, um den Rücken zu dehnen, und dreht den Kopf zur von mir abgewandten Seite.

Ich hocke mich auf die Fersen und schaue mich hilfesuchend nach der Besten um, sehe sie aber nirgends. Also fange ich mit den Dehnübungen an, die ich im neunten Schuljahr beim Korbballspielen gelernt habe. Zuerst drehe ich langsam den Kopf (links, Mitte, rechts, Mitte). Miss Armond behauptete immer, das sei der Schlüssel zu einem vernünftigen Brustpass. Mr McFit liegt immer noch auf dem Rücken, und mit dem linken Bein als Hebel streckt er das rechte aus, den Blick konzentriert auf die Decke geheftet. Ich lasse die Schultern kreisen und bewege die Arme wie Windmühlenflügel im Kreis. Schließlich richtet er sich auf und setzt sich kerzengerade hin wie ein perfektes L, mit geradem Rücken, die Beine ausgestreckt auf dem Boden (ich glaube immer bloß, dass ich so sitze), sodass wir uns quasi gegenübersitzen. Wollte ich ihm tief und bedeutsam in die Augen schauen, wäre das jetzt die perfekte Gelegenheit – aber vorher muss ich irgendwie seine Aufmerksamkeit erregen. Also hechte ich hoch. Ganz unvermittelt.

Was in gewisser Weise beeindruckend gut funktioniert: Er schreckt hoch und schaut mich entgeistert an, worauf ich ihn mit einem verschämten, aber freundlichen Lächeln bedenke, nur um dann entsetzt festzustellen, dass ich meine Lungenkapazität maßlos überschätzt habe. Sämtliche Gedanken an ihn werden von den sich einschaltenden lebenserhaltenden Maßnahmen unterbunden. Wie gerne würde ich einen Blick zu ihm riskieren, aber wenn ich die Augen von dem fixierten Punkt an der gegenüberliegenden Wand nehme, kippe ich um und lande aller Wahrscheinlichkeit nach breitseits auf ihm. Aber früher oder später kommt ohnehin alles wieder auf den Boden der Tatsachen zurück, und es wird sicher keine elegante Landung.

Als ich schließlich zu ihm rüberlinse, tut er, als hätte er nichts bemerkt, und streckt sich nach den Zehenspitzen. Also drehe ich mich auf die Seite und hebe und senke langsam das Bein in der Hoffnung, dass es wie eine Übung aussieht. Ich bin meilenweit davon entfernt, fit genug fürs Fitnessstudio zu sein. Wenn ich herkomme, dann um der Wirklichkeit zu entfliehen: Dieses Studio ist der perfekte Ort, wenn man sich die Kopfhörer in die Ohren stecken und so tun will, als spielte man in einem Musikvideo mit und/oder trainierte für Olympia. Hierherzukommen ist jedenfalls besser, als den Abend im Pyjama auf der Couch zu verbringen und mit schlechtem Gewissen Unterschichtenfernsehen zu schauen. Aber es ist ganz bestimmt kein guter Ort, um Männer kennenzulernen. Ich bin regelrecht erleichtert, als Mr McFit die Matte zusammenrollt und ich nicht mehr die Sportskanone spielen und mir den Kopf darüber zerbrechen muss, wie um alles auf der Welt man einen Mann in Embryonalstellung anspricht. Ein letztes Mal strecke ich mich aus, und als ich mich schließlich aufrappele, sehe ich die Beste, die von dem quadratischen Gewichtheber in einer Ecke gestellt wurde. Grinsend schaue ich so lange zu, bis meine Untätigkeit quasi zur Mittäterschaft wird, dann eile ich zu ihrer Rettung und tue, als sei ich ihre bessere Hälfte.

*

Beim Nachhausekommen dachte ich erst, es wäre niemand da, aber gerade, als ich die schwere Sporttasche fallen lasse, trompetet mir Harriet (meine nichtdiktatorische zweite Mitbewohnerin) aus ihrem Zimmer ein fröhliches Hallo entgegen. Ich gehe hin und sehe sie auf dem Bett sitzen, wo sie sich gerade hingebungsvoll die Zehennägel lackiert. »Wie war’s im Studio?«

»Schmerzhaft.« Ich lasse mich rücklings neben sie aufs Bett fallen und bin fest entschlossen, mir nicht anmerken zu lassen, dass das Ziehen in meinen Beinen genauso schlimm schmerzt wie mein verletzter Stolz. Für unbeteiligte Beobachter, von denen es in Fitnessstudios nur so wimmelt, muss mein Versuch, Mr McFit anzuquatschen, einfach zum Schießen ausgesehen haben. Ich hätte auch einfach »Hi« sagen können oder »Wie geht’s?« oder »Findest du die Matten auch so eklig?« – alles besser als mein missglückter Hockstrecksprung. Allein bei dem Gedanken daran möchte ich vor Scham im Boden versinken. Ich spüre Harriets fragenden Blick. »Meine Chefin meinte, im Fitnessstudio könnte man spielend leicht Männer kennenlernen«, sage ich und schließe die Augen. »Stimmt aber nicht.«

»Willst du denn jemanden kennenlernen?«

»Hmm?« Vorsichtig klappe ich erst ein Auge auf und dann das andere.

»Falls du auf der Suche bist, wüsste ich da eventuell jemanden. Ich könnte euch ja mal zusammenbringen?«

Meine Augen, die ohnehin nur halb geöffnet sind, werden noch schmaler. Mit Freunden von Freunden verkuppelt zu werden, die »unheimlich witzig« (sprich seltsam und nervig) oder »so süß« (hässlich) sind, und das nur auf Grundlage einer einzigen Gemeinsamkeit, nämlich, dass wir beide Single sind, ist eins der ewigen Probleme alleinstehender Menschen. Als Sophie sich das letzte Mal als Kupplerin betätigte (Josh, 32, der Mitbewohner ihrer Schwester), wäre ich beinahe darauf reingefallen, bis ich sie fragte, ob sie sich auch selbst mit ihm verabreden würde. »Himmel, bloß nicht«, meinte sie daraufhin lachend. »Nein, ich finde den total öde.«

»Ein Freund von James?«, frage ich Harriet und stütze mich auf die Ellbogen. Denn offen gestanden weiß ich nicht, ob es so clever wäre, mit einem Freund von James anzubandeln: James trägt Turnschuhe zur Jeans.

»Nein, ich kenne ihn noch aus der Ausbildung, er heißt Craig.« Und damit steht sie auf und holt ihr Telefon, wobei sie wegen des noch feuchten Nagellacks die Füße hochzieht wie ein Storch im Salat. »Er hat sich vor ein paar Monaten von seiner Freundin getrennt, und als wir letzte Woche miteinander geredet haben, hat er quasi durchblicken lassen, dass er so langsam wieder die Fühler ausstreckt.«

»Quasi durchblicken lassen?« Klingt nicht unbedingt, als sei er ernsthaft auf der Suche.

»Nein, er ist wirklich toll«, entgegnet Harriet, ganz auf ihr Handy konzentriert. Mir entgeht nicht, dass das keine Antwort auf meine Frage ist. Bestimmt sucht sie ein Foto von Craig, um es mir zu zeigen, und ich weiß jetzt schon, was mich erwartet: Bestimmt hat er zwei Köpfe oder sechzehn Nasenlöcher oder ist einen Kopf kleiner als ich oder einen Meter größer. Er hat Haare bis zum Po oder ein Hakenkreuz auf die Stirn tätowiert. Was auch immer mich erwartet, der Typ wird mir ganz sicher nicht zusagen.

»Okay, was meinst du?«, fragt Harriet und reicht mir das Handy.

Ich staune nicht schlecht – keine meiner Befürchtungen scheint sich zu bewahrheiten. Craig leidet weder unter einer monströsen Missbildung, noch wirkt er wie ein Fanatiker irgendeiner Art. Die Haare sind ordentlich geschnitten, er ist anscheinend durchschnittlich groß und hat ein offenes, freundliches Gesicht. Unglücklicherweise muss Craig mindestens fünfundvierzig sein. Ich schaue Harriet an, die gespannt mein Urteil erwartet. »Ich glaube, der ist ein bisschen zu alt für mich, Haz.«

Harriet greift nach ihrem Telefon. »Ach, echt?«, fragt sie, und man hört ihr die Enttäuschung an. Nachdenklich betrachtet sie das Foto. »Er ist ein bisschen älter, aber er ist wirklich so ein netter Kerl, ihr würdet euch bestimmt blendend verstehen – er macht auch was mit PR, genau wie du.« Craig ist beinahe doppelt so alt wie ich, nicht mein Typ, und das Einzige, was wir gemeinsam haben, ist unser Job. Was ich allerdings nicht hoffen will. Wenn ich mit Mitte vierzig immer noch ein jämmerlicher kleiner Accountmanager bin, dann ziehe ich auf die Fidschi-Inseln und fange noch mal ganz von vorne an. Ich glaube nicht, dass wir ein Traumpaar werden können.

»Ich weiß nicht, ob ich schon wieder offen für jemand Neues bin«, sage ich zu Harriet. »Jedenfalls suche ich nicht.« Was im Grund genommen stimmt. Wenn ich mit den Pärchen unterwegs bin, kommt mir zwar manchmal der Gedanke, dass es ganz schön wäre, jemanden an meiner Seite zu haben. Und sollte mir ein Mann in den Schoß fallen (sozusagen), würde ich bestimmt nicht Nein sagen. Aber einen neuen Partner zu suchen ist so verdammt anstrengend – und außerdem wüsste ich gar nicht, wo ich anfangen sollte.

»Er ist so ein netter Kerl«, sagt Harriet fast vorwurfsvoll und starrt noch immer unverwandt auf ihr Handy. Das sind sie immer. Aber noch bin ich nicht so verzweifelt, dass ich mich auf ein Date mit Craig einlassen würde.

Noch nicht.

2.

Bootsmann

Als ich Pip am nächsten Tag bei der Arbeit von Harriets Verkupplungsversuchen erzählte, nickte sie mitfühlend, hörte aufmerksam zu, und als ich fertig war, gurrte sie: »Ooh, da fällt mir ein, mit wem ich dich verkuppeln könnte«, um dann fast in ihrer Handtasche zu verschwinden und ihr Handy herauszukramen. Als lösten die Worte »Single« und »verkuppeln« so etwas wie einen pawlowschen Reflex aus und die Leute könnten gar nicht mehr anders, als mir ungebeten eine Verabredung aufzuschwatzen.

»Also, ich weiß nicht, Pip«, wende ich zaghaft ein. »Eigentlich suche ich gar keinen …«

»Er heißt Elliot. Er ist ein Ex, aber das ist schon eine Million Jahre her, also zählt das nicht. Wir sind immer noch befreundet – Geoff findet das nicht so prickelnd, du würdest mir also einen Gefallen tun, wenn das mit euch beiden was würde.« So weit ist es also schon gekommen: Ich werde als Opfer dargebracht, um aufgebrachte Ehemänner zu besänftigen. Pip hält mir das Handy vors Gesicht (manchmal wünschte ich wirklich, Handys wären einfach nur zum Telefonieren da), und ich sehe eine Facebook-Seite. Sie bedeutet mir, dass ich mich durch die Bilder klicken soll.

Mein großer Bruder, den ich immer noch Bru nenne (auch wenn ich keine drei Jahre mehr alt bin und nicht mehr auf einsilbige Abkürzungen verfallen muss), hat mir mal erzählt, man bräuchte nur eine Zehntelsekunde, um sich ein Bild von jemandem zu machen. Damals fand ich den Gedanken absurd: Im Bruchteil einer Sekunde kann man doch höchstens einen flüchtigen Blick auf einen anderen Menschen erhaschen. Unmöglich, sich in dieser Zeit ein Bild von jemandem zu machen. Man kann ja schon froh sein, wenn man das Gesicht richtig sieht. Und was, wenn der andere gerade eine fiese Grimasse zieht? Dann könnte man sich zu der Annahme hinreißen lassen, er sei ein notorischer Nörgler und Menschenfeind, obwohl er sonst eigentlich für sein sonniges Gemüt bekannt und allseits beliebt ist. Man bekäme zwar einen ersten Eindruck, aber einen grundfalschen. Also habe ich Bru gesagt, dass er ein Blödmann ist und die Klappe halten soll (ich war elf). Aber als ich mir Elliots Fotos so anschaue, höre ich ihn laut und deutlich in meinem Ohr. Ich weiß nicht, ob man sich allein anhand von Bildern ein treffendes Bild vom Charakter eines Menschen machen kann, aber wenn das funktionieren sollte, dann finde ich, dass Elliot … nett wirkt. Er hat dunkle Haare und helle Augen, und wenn er lächelt, bekommt er Lachfältchen. Er ist kein Schönling, aber attraktiv, mehr Katalogmodel als GQ, aber er hat Potenzial. Aus eigener (schmerzlicher) Erfahrung weiß ich, wie sehr Fotos täuschen können: Für jedes halbwegs vernünftige Foto von mir gibt es mindestens siebzehn, auf denen ich aussehe, als hätte ich einen schwerwiegenden Gendefekt, also im Zweifelsfall für Elliot.

»Sieht gar nicht so schlecht aus«, sage ich zu Pip. »Was macht er denn beruflich?«

»Irgendwas mit Versicherungen, glaube ich. Er ist toll, sehr nett und klug. Was hältst du davon, wenn ich mal mit ihm rede und ihm deine Nummer gebe?«

Es ist ein ziemlich großer Schritt vom Durchstöbern eines Facebook-Profils eines unbekannten Mannes bis hin dazu, sich im wirklichen Leben mit ihm zu treffen, und ich weiß nicht, ob ich schon bereit dafür bin. Andererseits weiß ich sowieso kaum etwas mit Gewissheit: Ich weiß nicht, ob es so eine gute Idee war, gestern siebzehn Pfund für ein neues Shampoo auszugeben statt fürs Essen; ich bin mir nicht sicher, ob ich immer noch bauchfreie Tops tragen kann, und doch laufe ich liebend gern damit herum; und ich arbeite seit meinem einundzwanzigsten Geburtstag, als ich gerade frisch von der Uni kam, bereit, die Welt zu erobern, in der PR-Branche und weiß immer noch nicht, ob ich das überhaupt möchte. So gesehen kann ich mich ruhig auch mit Elliot verabreden. Was ich Pip sage, die mich daraufhin anstrahlt wie ein Honigkuchenpferd. Ich sage ihr, sie solle tun, was sie nicht lassen kann. Und auch wenn sie mir glaubhaft versichert, nur Geoff zu simsen, bin ich mir ziemlich sicher, dass sie postwendend Elliot eine Nachricht schickt. Ich wende mich wieder meiner To-do-Liste zu, die in den vergangenen zehn Minuten noch länger geworden zu sein scheint.

Vier Tage später, als Elliot mir eine Nachricht schickt, habe ich das Gespräch mit Pip längst wieder vergessen. Weshalb ich auch überhaupt nichts damit anfangen kann, als ich eine SMS von einer unbekannten Telefonnummer bekomme mit einer Anspielung auf eine »etwas peinliche Geschichte«, aber er wolle sich trotzdem unbedingt »mal melden!«. Gleich danach kam eine zweite Nachricht.

ENDE DER LESEPROBE