Tipping Point - Malcolm Gladwell - E-Book

Tipping Point E-Book

Malcolm Gladwell

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Beschreibung

Eine totgesagte Schuhmarke, die über Nacht zum ultimativ angesagten Modeartikel wird. Ein neu eröffnetes Restaurant, das sofort zum absoluten Renner wird. Der Roman einer unbekannten Autorin, der ohne Werbung zum Bestseller wird. Für den magischen Moment, der eine Lawine lostreten und einen neuen Trend begründen kann, gibt es zahlreiche Beispiele. Wie ein Virus breitet sich das Neue einer Epidemie gleich unaufhaltsam flächendeckend aus. So wie eine einzelne kranke Person eine Grippewelle auslösen kann, genügt ein winziger, gezielter Schubs, um einen Modetrend zu setzen, ein neues Produkt als Massenware durchzusetzen oder die Kriminalitätsrate in einer Großstadt zu senken. „Tipping Point“ zeigt, wie wenig Aufwand zu einem Mega-Erfolg führen kann.

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Seitenzahl: 368

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Buch

Trends sind eines der faszinierendsten Phänomene menschlicher Gesellschaften. Wie entstehen sie und wodurch? Malcolm Gladwell, Wissenschaftskolumnist beim »New Yorker«, wagt eine neue Antwort auf diese sehr alten Fragen: Trends, Ideen oder soziale Verhaltensweisen verbreiten sich genauso wie ein Virus epidemisch, jahrelang sind gerade mal ein paar Menschen davon betroffen, dann aber binnen kurzem ganze Massen. Worauf es ankommt, das ist der »Tipping Point«, jener magische Moment also, in dem die Ansteckung ausgelöst wird. Wir neigen zu dem Glauben, dass nur groß dimensionierte Maßnahmen auch ähnlich große Wirkungen erzielen. Weit gefehlt, behauptet Gladwell und belegt mit detaillierten Nachweisen das Gegenteil: Wer eine schlecht gehende Firma, eine Bekleidungs- oder Schuhmarke auf den richtigen Weg bringen oder wer soziales Verhalten ändern will, kann gerade auch mit kleinen, aber präzisen Eingriffen Erfolg haben. So ist es beispielsweise nachgewiesen, dass scheinbar so unbedeutende Maßnahmen wie die Reparatur von Straßenlaternen und das konsequente Entfernen von Graffiti die Verbrechensrate in Manhattan deutlich reduziert haben.

Autor

Der Journalist Malcolm Gladwell arbeitet seit 1996 für »The New Yorker«. Zuvor war er als Reporter und Bürochef der »Washington Post« in New York tätig. Gladwell wurde 1963 in England geboren, er ist aufgewachsen in Ontario, Kanada und lebt heute in New York.

Malcolm Gladwell

Tipping Point

Wie kleine Dinge Großes bewirken können

Aus dem amerikanischen Englisch von Malte Friedrich

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Die amerikanische Originalausgabe erschien unter dem Titel »The Tipping Point. How Little Things Can Make a Big Difference« bei Little, Brown and Company, Boston/New York/ London.

Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Copyright © 2002 der Originalausgabe by Malcolm Gladwell

Copyright © 2016 der durchgesehenen Neuausgabe by Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Redaktion: Eckard Schuster

Covergestaltung: UNO Werbeagentur, München

Coverabbildung: Getty Images / Maarten Wouters

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

KF · Herstellung: Str.

ISBN 978-3-641-18914-3V002

www.goldmann-verlag.de

Für meine Eltern, Joyce und Graham Gladwell

INHALT

EINLEITUNG

EINS Die drei Regeln von Epidemien

ZWEI Das Gesetz der Wenigen: Vermittler, Kenner Und Verkäufer

DREI Der Verankerungsfaktor: »Sesamstrasse«, »Blue’s Clues« und das Erziehungsvirus

VIER Die Macht Der Umstände(Teil eins): Bernie Goetz oder Explosion und schrumpfen der Verbrechensrate in New York City

FÜNF Die Macht der Umstände(Teil zwei):Die magische Zahl einhundertfünfzig

SECHS Fallstudie eins:Gerüchte, Sportschuhe und die Macht der Übersetzung

SIEBEN Fallstudie zwei:Selbstmord, Rauchen und die Suche nach der nicht süchtig machenden Zigarette

SCHLUSS

ANMERKUNGEN

DANKSAGUNG

EINLEITUNG

Für die Hush Puppies – die klassischen amerikanischen Wildlederschuhe mit der leichten Kreppsohle – kam der Tipping Point irgendwann zwischen Ende 1994 und Anfang 1995. Die Marke war bis zu diesem Zeitpunkt praktisch tot gewesen. Es wurden nur noch etwa 30000 Paar im Jahr verkauft, zum größten Teil in der Provinz und in Schuhläden in Kleinstädten. Wolverine, die Firma, die die Hush Puppies herstellt, dachte daran, die Produktion der Schuhe, die sie berühmt gemacht hatten, ganz einzustellen. Aber dann geschah etwas Seltsames. Bei Modeaufnahmen wurden zwei leitende Wolverine-Manager – Owen Baxter und Geoffrey Lewis – von einem Designer aus New York angesprochen, der ihnen berichtete, dass die klassischen Hush Puppies in den Clubs und Bars in Downtown Manhattan plötzlich der letzte Schrei seien. »Er erzählte uns«, erinnert sich Baxter, »dass es Läden im East Village und in Soho gebe, wo die Schuhe verkauft würden. Die Besitzer hätten begonnen, in die alten Tante-Emma-Läden zu laufen, wo die Schuhe noch vorrätig waren, und sie aufzukaufen.« Baxter und Lewis waren zunächst nur verblüfft. Wie konnten Schuhe, die offensichtlich nicht mehr in Mode waren, ein solches Comeback erleben? »Er sagte uns, dass Isaac Mizrahi selbst diese Schuhe trage«, sagt Lewis. »Ich muss hinzufügen, dass wir zu der Zeit keine Ahnung hatten, wer Isaac Mizrahi war.«

Bis zum Herbst 1995 überstürzten sich die Ereignisse. Zuerst rief der Designer John Bartlett an. Er wollte in seiner Frühlingskollektion Hush Puppies einsetzen. Dann rief eine weitere Designerin aus Manhattan an, Anna Sui, die für ihre Modenschau ebenfalls Hush Puppies wollte. In Los Angeles setzte der Designer Joel Fitzgerald einen sieben Meter hohen aufblasbaren Basset, das Markenzeichen der Hush Puppies, auf das Dach seines Modegeschäfts in Hollywood und wandelte eine danebenstehende Kunstgalerie in eine Hush-Puppies-Boutique um. Als die Arbeiten noch im Gange waren – die Wände wurden gestrichen und Regale aufgebaut –, kam der Schauspieler Pee-Wee Herman herein und wollte zwei Paar kaufen. »Es war total von Mund zu Mund«, erinnert sich Fitzgerald.

1995 verkaufte die Firma 430000 Paar der klassischen Hush Puppies, im nächsten Jahr viermal so viele und im darauffolgenden Jahr noch mehr, bis Hush Puppies wieder ein unverzichtbarer Teil der Kleidung junger amerikanischer Männer geworden waren. 1996 gewannen die Hush Puppies auf dem Council of Fashion Designers Dinner den Preis als bestes modisches Accessoir, und der Vorstandsvorsitzende von Wolverine stand neben Calvin Klein und Donna Karan auf der Bühne und nahm einen Preis für eine Leistung entgegen, zu der die Firma – wie er als Erster zugeben würde – fast nichts beigetragen hatte. Der Verkauf von Hush Puppies war förmlich explodiert, und es hatte alles mit einer Handvoll junger Leute im East Village und in Soho begonnen.

Diese ersten Jugendlichen, wer immer sie gewesen sein mögen, hatten sicherlich nicht vor, die Hush Puppies wieder populär zu machen. Sie trugen sie aus dem einzigen Grund, weil niemand sonst sie trug. Dann nahmen zwei Modedesigner die Idee auf und gebrauchten die Schuhe, um etwas ganz anderes zu verkaufen – Haute Couture. Die Schuhe waren nur eine Zutat, mehr nicht. Und dann war es innerhalb eines Jahres passiert – die Hush Puppies brachen alle Rekorde. Sie erreichten einen bestimmten Punkt, und von da an wurde es zu einer Lawine. Wie war das möglich? Wie schaffen es ein Paar Schuhe für dreißig Dollar, die von einer Handvoll junger Hipster und Designer in Manhattan entdeckt werden, innerhalb von zwei Jahren, jedes Kaufhaus in den Vereinigten Staaten zu erobern?

1.

Es gab eine Zeit, das ist noch nicht lange her, als sich ganze Viertel in den hoffnungslos armen Stadtteilen von New York, in Brownsville und East New York etwa, nach Einbruch der Dunkelheit in Geisterstädte verwandelten. Normale arbeitende Menschen wagten sich im Dunkeln nicht auf die Straße. Man sah keine Kinder auf Fahrrädern. Ältere Leute saßen nicht auf den Treppen vor den Haustüren oder auf Parkbänken herum. In diesen Teilen Brooklyns war der Drogenhandel so offenkundig, und die Bandenkriege waren so allgegenwärtig, dass die meisten Menschen es vorzogen, sich nach der Dämmerung in die Sicherheit ihrer Wohnungen zurückzuziehen. Polizisten, die in den Achtziger- und frühen Neunzigerjahren in Brownsville Dienst taten, berichten, dass der Polizeifunk nach Einbruch der Dunkelheit von Nachrichten über jede vorstellbare Art von Gewalt und Kriminalität überquoll. 1992 gab es in New York City 2145 Morde und 626182 Gewaltverbrechen, wobei der Schwerpunkt der Straftaten in Distrikten wie Brownsville und East New York lag. Aber dann geschah etwas Seltsames. An einem rätselhaften und kritischen Punkt begann die Verbrechensrate sich zu drehen. Sie erreichte den Tipping Point und kippte. Innerhalb von fünf Jahren fiel die Anzahl der Morde um 64,3 Prozent auf 770, und die Gewaltverbrechen halbierten sich auf 355893. In Brownsville und East New York belebten sich die Gehsteige, Fahrräder kehrten zurück, und alte Leute erschienen wieder auf den Bänken und vor den Haustüren. »Früher war es nichts Ungewöhnliches, auf den Straßen Maschinenpistolenfeuer zu hören wie irgendwo im Dschungel von Vietnam«, sagt Inspektor Edward Massadri, Chef des Polizeireviers von Brownsville. »Man hörte die automatischen Waffen in Bed-Sty und Brownsville und besonders in East New York. Jetzt hör ich so was nicht mehr.«1

Die Polizei der Stadt New York wird einem dazu sagen, dass es die neue Polizeistrategie war, die diese dramatische Verbesserung zustande brachte. Kriminologen verweisen auf das Nachlassen des Crack-Handels und die veränderte Altersstruktur der Bevölkerung. Ökonomen sagen, dass die allmähliche Verbesserung der Wirtschaftslage in der Stadt im Laufe der Neunzigerjahre diejenigen jungen Leute in Lohn und Brot brachte, die sonst zu Kriminellen geworden wären. Das sind die konventionellen Erklärungen für das Ansteigen und Abflauen sozialer Probleme, aber letztlich sind sie alle ebenso wenig zufriedenstellend wie die Aussage, dass es die jungen Leute im East Village waren, die den beispiellosen Erfolg der Hush Puppies auslösten. Die Veränderungen im Drogenhandel, in der Bevölkerungsstruktur und in der Wirtschaft sind alle langfristige Trends, die im ganzen Land stattfinden. Sie erklären nicht, warum die Verbrechensrate in New York so viel radikaler abgesunken ist als in anderen Städten des Landes, und sie erklären auch nicht, warum dies in so außerordentlich kurzer Zeit geschah. Was die Fortschritte in der Polizeiarbeit angeht, so sind sie sicher wichtig. Aber es gibt eine rätselhafte Lücke zwischen dem Maß der Veränderung in der Polizeistrategie und der Größe der Wirkung auf Orte wie Brownsville und East New York. Schließlich ebbte das Verbrechen in New York nicht langsam ab, als sich die Lebensbedingungen allmählich verbesserten. Seine Quote stürzte ab. Wie kann die Veränderung einer Handvoll von wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Indizes innerhalb von fünf Jahren zu einer Verringerung der Mordrate um zwei Drittel führen?

2.

Der Tipping Point ist die Biografie einer Idee, und die Idee ist sehr einfach. Sie besagt, dass man die dramatische Verwandlung von unbekannten Büchern in Bestseller oder den Anstieg des Rauchens unter Jugendlichen oder das Phänomen der Mundpropaganda oder eine ganze Anzahl von anderen geheimnisvollen Veränderungen im Alltagsleben am besten versteht, wenn man sie sich als Epidemien vorstellt. Ideen und Produkte und Botschaften und Verhaltensweisen verbreiten sich genauso wie ein Virus.

Der Aufstieg der Hush Puppies und das dramatische Sinken der Verbrechensrate in New York sind Lehrbuchbeispiele für den Ablauf einer Epidemie. Obwohl sie auf den ersten Blick wenig miteinander zu tun zu haben scheinen, haben sie eine grundlegende Struktur gemeinsam. Niemand schaltete eine Anzeige und teilte den Leuten mit, dass die traditionellen Hush Puppies »cool« seien und dass man sie tragen sollte. Diese jungen Leute zogen die Schuhe einfach an, wenn sie in Clubs oder Cafés gingen oder in den Straßen von Manhattan herumliefen, und indem sie das taten, setzten sie andere Leute ihrem Sinn für Mode aus. Sie infizierten sie mit dem Hush-Puppies-»Virus«.

Das Sinken der Verbrechensrate in New York verlief mit Sicherheit in genau der gleichen Form. Es war nicht so, dass eine riesige Zahl potenzieller Mörder im Jahr 1993 plötzlich aufschreckte und beschloss, keine Verbrechen mehr zu begehen. Und es war auch nicht so, dass es der Polizei plötzlich auf magische Weise gelang, in vielen Situationen einzugreifen, die ansonsten einen tödlichen Ausgang genommen hätten. Was geschah, ist etwas anderes: Die kleine Anzahl von Menschen in der kleinen Anzahl von Situationen, auf welche die Polizei oder die neuen gesellschaftlichen Kräfte Einfluss nahmen, fingen an, sich anders zu verhalten, und dieses Verhalten sprang irgendwie auf andere potenzielle Kriminelle in ähnlichen Situationen über. Auf irgendeine Weise wurde eine große Anzahl von Menschen in New York innerhalb kurzer Zeit von einem Anti-Verbrechens-Virus »infiziert«.

Und schließlich liefen beide Veränderungen sehr schnell ab. Sie bauten sich nicht langsam und stetig auf. Es ist lehrreich, sich die Kurve der Verbrechensrate in New York von, sagen wir, Mitte der Sechzigerjahre bis Ende der Neunzigerjahre anzuschauen. Die Kurve sieht aus wie ein riesiger Torbogen. 1965 wurden in der Stadt 200000 Gewaltverbrechen begangen, und von diesem Punkt an beginnt diese Zahl steil anzusteigen. Sie verdoppelt sich innerhalb von zwei Jahren und steigt kontinuierlich, bis sie in der Mitte der Siebzigerjahre 650000 pro Jahr erreicht. Auf dieser Ebene verharrt sie die nächsten zwei Jahrzehnte, um dann im Jahr 1992 ebenso steil zu sinken, wie sie dreißig Jahre zuvor gestiegen war. Die Verbrechensrate in New York ging nicht langsam zurück. Sie flachte nicht sanft ab. Sie erreichte einen bestimmten Punkt, und dann war es so, als ob jemand mit aller Kraft auf die Bremse getreten hätte.

Diese drei Eigenschaften – zum einen die Ansteckung, zum zweiten die Tatsache, dass kleine Ursachen große Wirkungen haben können, und zum dritten, dass die Veränderung nicht allmählich, sondern jäh in einem dramatischen Moment eintritt – sind die gleichen drei Prinzipien, die bestimmen, wie Masern sich durch eine Grundschulklasse bewegen oder wie die Grippe in jedem Winter die Menschen erfasst. Von den dreien ist das dritte, das epidemische Prinzip – die Tatsache, dass Epidemien sich in dramatischer Schnelligkeit ausbreiten oder zurückgehen –, das bedeutendste. Denn dieses Prinzip erklärt zugleich die anderen beiden und erlaubt Erkenntnisse darüber, warum gesellschaftliche Veränderungen sich heute so entwickeln, wie sie es tun. Und den dramatischen Moment einer Epidemie, wenn alles plötzlich umschlagen kann, nennt man Tipping Point.

3.

Eine Welt, die den Regeln von Epidemien folgt, unterscheidet sich sehr von der Welt, in der wir im Augenblick zu leben glauben. Denken Sie einen Moment lang über das Konzept der Ansteckung nach. Wenn ich das Wort benutze, denken Sie an Erkältung oder Grippe oder vielleicht an etwas sehr Gefährliches wie HIV oder Ebola. Wir haben alle eine sehr spezifische, biologische Vorstellung davon, was Ansteckung bedeutet. Aber wenn es Verbrechensepidemien gibt oder Modeepidemien, dann muss es Formen von Ansteckung geben, die nichts mit Viren zu tun haben. Haben Sie zum Beispiel schon mal an Gähnen gedacht? Gähnen ist eine überraschend machtvolle Handlung. Nur weil Sie das Wort »Gähnen« in den letzten beiden Sätzen gelesen haben – und die zwei zusätzlichen »Gähnen« in diesem Satz –, wird eine beträchtliche Zahl von Ihnen innerhalb der nächsten Minuten gähnen. Während ich dies niedergeschrieben habe, musste ich zweimal gähnen. Wenn Sie dies an einem öffentlichen Ort lesen, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass ein gewisser Prozentsatz der Leute, die Sie gähnen sahen, jetzt auch gähnen. Und ein Prozentsatz der Leute, die diejenigen Leute beobachteten, die Sie haben gähnen sehen, gähnen jetzt auch und so weiter und so fort in einem sich stets erweiternden gähnenden Kreis.

Gähnen ist unglaublich ansteckend. Ich habe einige von Ihnen, die diese Zeilen lesen, zum Gähnen gebracht, einfach indem ich das Wort »Gähnen« niederschrieb. Die Leute, die gähnten, als sie Sie gähnen sahen, wurden durch den Anblick Ihres Gähnens infiziert – was eine zweite Art der Ansteckung ist. Sie haben vielleicht sogar nur gegähnt, weil sie Sie haben gähnen hören, denn das Gähnen ist auch akustisch ansteckend: Wenn man blinden Menschen ein Tonband mit Gähngeräuschen vorspielt, werden sie auch gähnen. Und schließlich: Wenn Sie gegähnt haben, als Sie dies gelesen haben, ist Ihnen da der Gedanke durch den Kopf gegangen – wie unbewusst und flüchtig auch immer –, dass Sie müde sein könnten? Ich habe den Verdacht, dass dies bei einigen von Ihnen so gewesen ist, was bedeutet, dass Gähnen auch emotional ansteckend sein kann. Einfach indem ich das Wort niederschreibe, kann ich Ihnen ein Gefühl einpflanzen.2 Kann das Grippevirus so etwas tun? Ansteckung ist also eine Eigenschaft, die in den unerwartetsten Dingen liegen kann, und das müssen wir im Kopf behalten, wenn wir epidemische Veränderungen erkennen und diagnostizieren wollen.

Das zweite unter den Prinzipien von Epidemien – dass kleine Veränderungen große Wirkungen haben können – ist auch eine ziemlich radikale Vorstellung. Wir sind so sozialisiert worden, dass wir Ursache und Wirkung einander grob annähern. Wenn wir eine starke Emotion ausdrücken wollen, wenn wir etwa jemanden davon überzeugen wollen, dass wir ihn oder sie lieben, dann wissen wir, dass wir leidenschaftlich und direkt sprechen müssen. Wenn wir jemandem eine schlechte Nachricht überbringen müssen, sprechen wir leise und wählen jedes Wort sorgfältig. Man hat uns gelehrt zu denken, dass das, was wir in eine Beziehung oder eine Transaktion oder ein System investieren, in seiner Intensität und Bedeutung direkt dem Ergebnis entspricht.

Nehmen Sie zum Beispiel die folgende Denksportaufgabe. Ich gebe Ihnen ein großes Stück Papier und fordere Sie auf, es einmal zu falten, dann das gefaltete Stück zu nehmen und es nochmals zu falten, und dann noch einmal und noch einmal und noch einmal, bis Sie das ursprüngliche Papier fünfzig Mal gefaltet haben. Wie dick, glauben Sie, wird der zusammengefaltete Papierstapel schließlich sein?

Um die Frage zu beantworten, werden die meisten Leute das Blatt vor ihrem geistigen Auge falten und zu dem Schluss kommen, dass es schließlich so dick wie ein Telefonbuch ist oder, wenn sie mutig sind, so hoch wie ein Kühlschrank. Aber die richtige Antwort lautet, dass der Papierstapel so hoch wäre wie die Entfernung zur Sonne. Und wenn man ihn noch einmal falten könnte, so hoch wie die Entfernung zur Sonne und zurück. In der Mathematik nennt man so etwas eine geometrische Progression. Wenn ein Virus sich in einer Population ausbreitet, verdoppelt er sich wieder und wieder, bis er (bildlich gesprochen) in fünfzig Schritten auf die Distanz zwischen Erde und Sonne angewachsen ist. Unsere menschliche Vorstellungskraft tut sich schwer mit dieser Art von Progression, weil das Ergebnis – die Wirkung – so weit außerhalb jeglicher Proportionalität zur Ursache zu stehen scheint. Um die Macht von Epidemien zu erfassen, müssen wir unsere Vorstellung von Proportionalität aufgeben. Wir müssen uns auf die Möglichkeit einstellen, dass kleine Ereignisse große Veränderungen auslösen können und dass diese Veränderungen manchmal sehr schnell eintreten.

Diese Möglichkeit einer schnellen Veränderung steht im Zentrum der Idee des Tipping Point, und sie mag durchaus diejenige Vorstellung sein, die für uns am schwersten zu akzeptieren ist. Der Ausdruck wurde zum ersten Mal in weiteren Kreisen bekannt, als er in den Siebzigerjahren benutzt wurde, um die Flucht weißer Bevölkerungsgruppen aus den Zentren der älteren Städte im Nordosten der USA in die Vorstädte zu beschreiben. Wenn die Zahl zugezogener schwarzer Amerikaner in einem bestimmten Stadtviertel einen gewissen Punkt erreicht hatte – zum Beispiel 20 Prozent –, machten Soziologen die Beobachtung, dass dieses Viertel »kippte«: Die verbleibenden Weißen zogen ziemlich umgehend auch weg.

Der Tipping Point ist der Moment der kritischen Masse, die Schwelle, der Siedepunkt. Es gab einen Tipping Point für Gewaltverbrechen Anfang der Neunzigerjahre in New York und einen Tipping Point für das Wiederauftauchen der Hush Puppies, genauso wie es einen Tipping Point für die Einführung neuer Technologien gibt. Sharp produzierte das erste preiswerte Faxgerät im Jahr 1984 und verkaufte etwa 80000 dieser Geräte im ersten Jahr. In den nächsten drei Jahren kauften Betriebe aller Art langsam und stetig immer mehr Faxgeräte, bis 1987 so viele Leute ein Fax besaßen, dass es für jeden sinnvoll war, sich so ein Gerät anzuschaffen. 1987 war der Tipping Point des Faxgerätes. Eine Million Geräte wurden in diesem Jahr verkauft, und bis 1989 waren zwei Millionen in Betrieb. Mobiltelefone folgten der gleichen Kurve. Im Laufe der Neunzigerjahre wurden sie kleiner und billiger, und der Service wurde besser, bis die Technologie im Jahr 1998 den Tipping Point erreichte und plötzlich jeder ein Mobiltelefon besaß. (Eine Erklärung der mathematischen Abläufe des Tipping Point findet sich in den Anmerkungen.3)

Alle Epidemien haben Tipping Points. Jonathan Crane, ein Soziologe, der damals an der University of Illinois lehrte, hat die Wirkung untersucht, die die Zahl von sogenannten »role models« – hier verstanden als soziale Vorbilder – in einem Stadtviertel auf die Jugendlichen dieser Gemeinde ausübt. Zu diesen Vorbildern zählte er die Akademiker, Manager, Lehrer, die das Census Bureau als »high status« definiert hat. Er untersuchte das Verhältnis der Zahl der Vorbilder in einer Gemeinde zu Teenagern, die noch zur Schule gingen. Und er stellte fest, dass es kaum Unterschiede hinsichtlich der Zahl der Frühschwangeren oder der Schulabgänger ohne Abschluss gab, wenn der Prozentsatz der High-Status-Vorbilder zwischen 40 und 5 lag. Sank aber die Zahl dieser Vorbilder in einer Gemeinde auf unter 5 Prozent, nahmen die Problemfälle schlagartig zu. Im Falle schwarzer Schulkinder zum Beispiel verdoppelte sich die Zahl der Schulabgänger ohne Abschluss, wenn der Prozentsatz der Vorbilder nur um 2,2 Prozentpunkte sank – von 5,6 auf 3,4 Prozent. Beim selben Tipping Point verdoppelte sich auch fast die Rate der Schwangerschaften unter weiblichen Teenagern, die sich vor Erreichen dieses Punktes kaum verändert hatte. Wir setzen intuitiv voraus, dass die sozialen Probleme in einem Stadtviertel in einer Art stetiger Progression zunehmen. Aber manchmal ist dieser Prozess alles andere als stetig: Wenn der Tipping Point erreicht ist, schlägt die Situation plötzlich um, Schulen verlieren die Kontrolle über ihre Schüler, und Familien lösen sich in kurzer Zeit auf.

Ich kann mich daran erinnern, wie ich als Kind zuschaute, als unser junger Hund zum ersten Mal Schnee erlebte. Er war zugleich verblüfft und entzückt und überwältigt. Er wedelte aufgeregt mit dem Schwanz, während er in der seltsamen federleichten Substanz herumschnüffelte. Er winselte angesichts dieser geheimnisvollen Veränderung seiner Umwelt. Am Morgen seines ersten Schnees war es nicht viel kälter gewesen als am Abend zuvor. Die Temperatur mag am Abend des vorhergehenden Tages zwei Grad Celsius gewesen sein, und am Morgen ein Grad unter null. Mit anderen Worten: Fast nichts hatte sich verändert, und doch – das war das Erstaunliche – war fast alles anders. Der Regen hatte sich in etwas ganz anderes verwandelt. Schnee! Wir sind im Kern alle Geschöpfe der Allmählichkeit, unsere Erwartungen messen wir am stetigen Fluss der Zeit. Aber die Welt des Tipping Points ist ein Ort, an dem das Unerwartete zum Normalfall wird, wo die radikale Veränderung mehr ist als nur eine Möglichkeit. Sie ist – entgegen all unserer Erwartungen – eine Gewissheit.

Auf der Spur dieses radikalen Gedankens werde ich Sie mit nach Baltimore nehmen, damit Sie etwas über die Syphilisepidemie in dieser Stadt erfahren. Ich werde Sie mit drei faszinierenden Menschentypen bekannt machen, die ich Kenner, Vermittler und Verkäufer nenne und die eine entscheidende Rolle in den Mundpropaganda-Epidemien spielen, die unsere Vorlieben und Trends und Moden diktieren. Ich werde Sie in das Studio mitnehmen, wo die Kindersendungen »Sesamstraße« und »Blue’s Clues« produziert werden, und in die faszinierende Welt des Mannes, der daran mitwirkte, den Columbia Record Club zu schaffen. An diesen Beispielen wollen wir untersuchen, wie Botschaften beschaffen sein müssen, damit sie die größtmögliche Wirkung auf das Publikum haben. Ich entführe Sie in eine Hightech-Firma in Delaware, um über Tipping Points zu sprechen, die das Gruppenleben bestimmen, und in die U-Bahn von New York, um zu verstehen, wie die Verbrechensepidemie dort beendet wurde. Der Sinn dieser Streifzüge ist es, zwei einfache Fragen zu beantworten, die den Kern all dessen bilden, was wir als Erzieher, Eltern, Geschäftsleute und Politiker gern erreichen würden. Warum lösen bestimmte Ideen oder Verhaltensweisen oder Produkte Epidemien aus und andere nicht? Und was können wir tun, um bewusst positive Epidemien auszulösen und unter Kontrolle zu behalten?

EINS DIE DREI REGELN VON EPIDEMIEN

Um die Mitte der Neunzigerjahre wurde die Stadt Baltimore von einer Syphilisepidemie erfasst. Innerhalb eines Jahres, von 1995 bis 1996, nahm die Zahl der Kinder, die mit der Krankheit geboren wurden, um 500 Prozent zu. Wenn man sich die Syphilisfälle in Baltimore in einem Liniendiagramm anschaut, verläuft die Linie jahrelang parallel zur x-Achse, um dann, 1995, fast im rechten Winkel anzusteigen.

Was brachte das Syphilisproblem in Baltimore dazu zu kippen? Nach Auffassung der Gesundheitsbehörden bestand das Problem im Crack-Kokain. Crack ist bekannt dafür, dass es einen dramatischen Anstieg von riskantem sexuellen Verhalten mit sich bringt, das zur Verbreitung von AIDS und Syphilis führt. Es zieht viele Leute in die ärmeren Viertel der Stadt, um Drogen zu kaufen, was die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass sie sich dort anstecken und eine Infektion in ihr eigenes Viertel tragen. Es verändert die Muster sozialer Beziehungen zwischen Stadtvierteln. Crack, sagten die Gesundheitsbehörden, war der kleine Anstoß, den das Syphilisproblem brauchte, um sich in eine Epidemie zu verwandeln.4

John Zenilman von der Johns Hopkins University in Baltimore, ein Experte für sexuell übertragbare Krankheiten, hat eine andere Erklärung: den Zusammenbruch der medizinischen Versorgung in den ärmsten Stadtbezirken. »1990 bis 1991 suchten etwa 36000 Patienten die städtischen Kliniken für sexuell übertragbare Krankheiten auf«, sagt Zenilman. »Dann beschloss die Stadt aufgrund von Haushaltsproblemen Sparmaßnahmen in den Krankenhäusern. Pro Klinik ging die Zahl des medizinischen Personals von siebzehn auf zehn zurück. Die Zahl der Ärzte sank von drei auf praktisch null. Daraufhin kamen im Jahr nur noch etwa 21000 Patienten in die Kliniken. Auch im ambulanten Bereich, bei den Leuten, die auf die Straßen hinausgingen, gab es einen ähnlichen Einschnitt. Das hatte natürlich politische Ursachen. Dinge, die früher gemacht worden waren, wie das Aktualisieren von Computer-Software und so weiter, wurden nicht mehr gemacht. Es war der schlimmste Fall einer nicht funktionierenden kommunalen Verwaltung. Manchmal hatten sie nicht mal mehr genug Arzneimittel.«

Zu der Zeit, als noch 36000 Patienten pro Jahr die Kliniken im Zentrum von Baltimore aufsuchten, blieb die Krankheit sozusagen im Gleichgewicht. An irgendeinem Punkt zwischen 36000 und 21000 Patientenbesuchen im Jahr aber brach, nach Meinung von Zenilman, die Epidemie aus. Sie übersprang die Grenzen der Innenstadt und erreichte auch die Außenbezirke. Menschen, die vorher nur eine Woche lang ansteckend gewesen waren, bevor sie behandelt wurden, trugen die Infektion nun drei oder vier Wochen mit sich herum, bevor sie geheilt wurden. Der Zusammenbruch der medizinischen Versorgung ließ die Syphilis zu einem viel größeren Problem werden, als sie es zuvor gewesen war.

Aber es gibt noch eine dritte Theorie, die von John Potterat, einem der führenden amerikanischen Epidemiologen, aufgestellt wurde. Für ihn sind die baulichen Veränderungen in East und West Baltimore schuld. East und West Baltimore sind die heruntergekommenen Viertel zu beiden Seiten von Baltimores Innenstadt. In diesen beiden Bezirken lag das Zentrum des Syphilisproblems. Mitte der Neunzigerjahre, erklärt Potterat, ging die Stadtverwaltung von Baltimore dazu über, die alten, aus den Sechzigerjahren stammenden Sozialwohnblocks in East und West Baltimore abzureißen. Sie wurden unter großer publizistischer Anteilnahme gesprengt. Bilder von den Sprengungen waren in allen Zeitungen, das Fernsehen übertrug. Zwei der berühmtesten Fälle – Lexington Terrace in West Baltimore und Lafayette Courts in East Baltimore – waren riesige Bauten, in denen Hunderte von Familien wohnten. Sie galten als Schwerpunkte der Kriminalität und als Herde ansteckender Krankheiten. Zur gleichen Zeit begannen die Menschen, die alten Reihenhäuser in East und West Baltimore zu verlassen, da diese ebenfalls verfielen.

»Es war unübersehbar«, sagt Potterat, der zu dieser Zeit zum ersten Mal East und West Baltimore besuchte. »Die Hälfte der Reihenhäuser war leer, Fenster und Türen waren zugenagelt. Und zur gleichen Zeit wurden die Hochhäuser abgerissen. Was da geschah, war eine Art Aushöhlung. Das beschleunigte die Diaspora. Jahrelang war die Syphilis auf eine bestimmte Gegend von Baltimore beschränkt gewesen, sie blieb innerhalb eng umgrenzter soziosexueller Milieus. Aber die Zerstörung der Häuser führte dazu, dass die Leute in andere Stadtteile von Baltimore zogen, und sie nahmen die Syphilis und andere Verhaltensweisen mit.«

An allen drei Erklärungen ist interessant, dass sie eigentlich nichts Dramatisches an sich haben. Die Gesundheitsbehörden glaubten, dass Crack das Problem sei. Aber es war nicht so, dass Crack erst 1995 in Baltimore auftauchte. Es war seit Jahren da gewesen. Vielmehr meinten sie damit, dass eine leichte Verschärfung des Crack-Problems in der Mitte der Neunzigerjahre eingetreten war und dass diese kleine Veränderung ausreichte, um eine Syphilisepidemie in Gang zu setzen. Auch Zenilman behauptete nicht, dass die Kliniken für sexuell übertragbare Krankheiten in Baltimore geschlossen worden seien. Sie waren gegenüber früher nur schlechter ausgestattet, das Personal war reduziert worden. Und Potterat sagte auch nicht, dass ganz Baltimore »ausgehöhlt« worden war. Aber es reichte aus, behauptete er, dass eine Handvoll Bauten mit Sozialwohnungen abgerissen und Reihenhäuser in einer Schlüsselregion im Stadtzentrum aufgegeben wurden, um die Syphilis explodieren zu lassen. Kleinste Veränderungen genügen, eine Epidemie auszulösen.

Eine zweite und vielleicht interessantere Tatsache ist es, dass diese Erklärungsversuche alle eine unterschiedliche Art des Kippens einer Epidemie schildern. Die Behörden sprechen vom allgemeinen Kontext der Epidemie – wie Etablierung und Überhandnehmen einer Suchtdroge die Lebensbedingungen in einer Stadt so verändern können, dass sie die Epidemie zum Kippen bringt. Zenilman redet von der Epidemie selbst. Als die Krankenhäuser ihre Versorgungsleistungen einschränken mussten, hauchte dies der Syphilis ein zweites Leben ein. Sie war eine akute Infektion gewesen, und nun wurde sie zu einer chronischen. Sie war ein hartnäckiges Problem geworden, das nicht mehr zügig bekämpft wurde. Potterat seinerseits konzentrierte sich auf die Träger der Syphilis. Die Krankheit wurde von einem bestimmten Personentyp in Baltimore verbreitet, sagte er, von sehr armen, wahrscheinlich drogensüchtigen, sexuell aktiven Individuen. Wenn dieser Menschentyp plötzlich aus seiner alten Nachbarschaft herausgerissen und in eine neue verpflanzt würde – in ein neues Stadtviertel, wo Syphilis nie ein Problem gewesen war –, hätte die Krankheit die Möglichkeit, den Tipping Point zu erreichen.

Mit anderen Worten: Es gibt mehr als eine Art, eine Epidemie zum Kippen zu bringen. Epidemien sind eine Funktion der Menschen, die die Krankheit übertragen, eine Funktion der Ansteckung selbst und eine Funktion der Umgebung, in der die Infektion agiert. Und wenn eine Epidemie kippt, wenn sie aus ihrem Gleichgewicht ausbricht, dann kippt sie, weil eine Veränderung in einem (oder zwei oder drei) dieser Bereiche eingetreten ist. Diese drei Träger der Veränderung nenne ich das Gesetz der Wenigen, den Verankerungerungsfaktor und die Macht der Umstände.

1.

Wenn wir sagen, dass eine Handvoll junger Leute im East Village die Hush-Puppies-Epidemie in Gang setzte oder dass der Auszug der Bewohner einiger Siedlungen ausreichte, in Baltimore eine Syphilisepidemie auszulösen, so sagen wir im Grunde, dass in einem bestimmten Prozess oder System einige Leute wichtiger sind als andere. Das ist zunächst einmal keine besonders radikale Aussage. Ökonomen sprechen häufig vom 80/20-Prinzip, und sie meinen damit, dass in fast jeder Situation etwa 80 Prozent der »Arbeit« von 20 Prozent der Beteiligten verrichtet wird.5 In den meisten Gesellschaften begehen 20 Prozent der Kriminellen 80 Prozent der Verbrechen. 20 Prozent der Autofahrer verursachen 80 Prozent aller Unfälle. 20 Prozent der Biertrinker trinken 80 Prozent des Biers. Bei Epidemien indessen wird dieses Missverhältnis sehr viel extremer: Ein winziger Prozentsatz der Menschen verrichtet den größten Teil der »Arbeit«.

Potterat zum Beispiel untersuchte einmal eine Gonorrhöe-Epidemie in Colorado Springs.6 Er sah sich über einen Zeitraum von sechs Monaten jeden Patienten an, der in das städtische Krankenhaus kam, um sich gegen die Krankheit behandeln zu lassen. Dabei stellte er fest, dass die Hälfte aller Fälle aus vier Stadtbezirken kam, die etwa 6 Prozent der Stadtfläche ausmachten. Die Hälfte dieser Patienten wiederum besuchte dieselben sechs Bars. Dann interviewte Potterat 768 Leute in dieser winzigen Untergruppe und fand heraus, dass 600 von ihnen die Gonorrhöe entweder gar nicht weiterübertragen oder nur eine einzige andere Person angesteckt hatten. Jene, die die Verbreitung der Epidemie ausgelöst hatten – die also zwei, drei, vier oder fünf andere infiziert hatten –, waren die verbleibenden 168. Mit anderen Worten: In ganz Colorado Springs – einer Stadt mit mehr als 100000 Einwohnern – kippte die Gonorrhöe-Epidemie aufgrund der Aktivitäten von ungefähr 170 Menschen, die in vier kleinen Bezirken der Stadt wohnten und im Grunde dieselben sechs Bars besuchten.

Wer waren diese 170 Menschen? Sie sind nicht wie Sie und ich. Es sind Leute, die jeden Abend ausgehen, Leute, die weit mehr Sexualpartner haben als der Durchschnitt, Leute, deren Leben und Verhalten von der Norm der Gesellschaft deutlich abweichen. Mitte der Neunzigerjahre gab es zum Beispiel in den Pool-Salons und auf den Rollschuhbahnen von East St. Louis, Missouri, einen Mann, der Darnell McGee hieß und »Boss Man« genannt wurde. Er war groß, fast zwei Meter, und attraktiv, ein talentierter Rollschuhfahrer, der junge Mädchen mit seinem Geschick auf der Bahn beeindruckte. Seine Spezialität waren Dreizehn- bis Vierzehnjährige. Er kaufte ihnen Schmuck, fuhr sie in seinem Cadillac spazieren, gab ihnen Crack und schlief mit ihnen. Zwischen 1995 und 1997, als er von einem Unbekannten erschossen wurde, hatte er mit mindestens einhundert Frauen Sex und infizierte – wie sich später herausstellte – mindestens dreißig von ihnen mit HIV.

Zur selben Zeit gab es in der Nähe von Buffalo, New York, etwa 2500 Kilometer von Colorado Springs entfernt, einen anderen Mann, eine Art Klon des »Boss Man«, der sich in den Elendsvierteln von Jamestown herumtrieb. Sein Name war Nushawn Williams, aber er wurde auch »Face« genannt oder »Sly« und »Shyteek«. Williams hatte Dutzende von Frauen auf einmal, er hatte drei oder vier Wohnungen in der Stadt angemietet, und er verdiente sein Geld damit, Drogen aus der Bronx nach Jamestown zu bringen und dort zu verkaufen. (Ein Epidemiologe, der mit dem Fall vertraut war, sagte mir lakonisch: »Der Mann war ein Genie. Wenn ich damit durchkommen könnte, was Williams machte, bräuchte ich nie wieder zu arbeiten.«) Williams war ein ähnlich attraktiver Mann wie der »Boss Man«. Er kaufte seinen Mädchen Rosen, ließ sie sein langes Haar zu Zöpfen flechten, war großzügig mit Marihuana und Whisky und inszenierte in seinen Wohnungen nächtelange Orgien. »Ich schlief drei- oder viermal in einer Nacht mit ihm«, erinnerte sich eine seiner Partnerinnen. »Es war eine Party nach der anderen, und ich war immer dabei … Wenn Face Sex gehabt hatte, machten es die anderen ihm nach. Einer ging raus, und der Nächste kam rein.« Williams sitzt jetzt im Gefängnis. Er hat mindestens sechzehn seiner früheren Freundinnen mit dem AIDS-Virus infiziert. Der berühmteste Fall dieser Art aber findet sich in dem Buch And the Band Played On, in dem der Autor Randy Shilts auf den sogenannten »Patienten Null«, den angeblich ersten Überträger von AIDS, eingeht.7 Dies war ein kanadischer Steward namens Gaetan Dugas, der behauptete, in ganz Nordamerika mit über 2500 Partnern Sex gehabt zu haben und dessen Name mit mindestens vierzig der frühesten AIDS-Fälle in Kalifornien und New York in Verbindung steht. Das sind die Leute, die eine Epidemie zum Kippen bringen.

Gesellschaftliche Epidemien nehmen genau den gleichen Verlauf. Sie werden ebenfalls von einer Handvoll ungewöhnlicher Menschen angetrieben. Nur dass es in diesen Fällen nicht der sexuelle Appetit ist, der sie von anderen unterscheidet. Hier geht es darum, wie gesellig sie sind oder wie energisch oder kenntnisreich oder welchen Einfluss sie auf ihre Umgebung haben. Im Fall der Hush Puppies besteht das Rätsel darin, wie diese Schuhe, ausgehend von einigen modebewussten Hipstern in Manhattan, zu einem Verkaufserfolg in allen Shopping-Malls des Landes werden konnten. Worin bestand die Verbindung zwischen dem East Village und dem sogenannten »Middle America«, der breiten Masse im eher provinziellen Teil zwischen West- und Ostküste? Das Gesetz der Wenigen sagt, die Antwort liege darin, dass einige dieser außergewöhnlichen Menschen den Trend erkannten und durch gesellschaftliche Beziehungen, Energie, Begeisterung und die Kraft ihrer Persönlichkeit dafür sorgten, dass sich Hush Puppies im Lande verbreiteten, genauso wie Gaetan Dugas und Nushawn Williams in der Lage waren, das HIV-Virus zu verbreiten.

2.

Als in Baltimore die städtischen Krankenhäuser zu Sparmaßnahmen gezwungen wurden, wandelte sich das Wesen der Syphilis, die in den ärmeren Vierteln der Stadt verbreitet war. Bis dahin war sie eine akute Infektion gewesen, die bei den meisten der Erkrankten schnell behandelt werden konnte, bevor sie die Möglichkeit hatten, andere anzustecken. Aber mit dem Niedergang der Kliniken wurde Syphilis zunehmend zu einer chronischen Krankheit, und ihre Träger hatten drei- oder viermal so viel Zeit, ihre Infektion weiterzugeben. Epidemien kippen, weil einige wenige Träger durch ihren extremen Lebensstil die Verbreitung schlagartig beschleunigen. Aber sie können auch den Tipping Point erreichen, wenn etwas geschieht, was die Form der Krankheit selbst verändert.

Der niederländische AIDS-Forscher Jaap Goudsmit behauptet, dass genau dies bei der AIDS-Epidemie geschah.8 Goudsmits Theorie ist ein Versuch, eines der großen Rätsel der Virusforschung zu beantworten. Die Frage lautet: Wann sprang HIV von Affen auf Menschen über, und wann wurde das Virus im Laufe dieses Übergangs so tödlich? Seine Arbeit konzentrierte sich auf eine Form der Lungenentzündung, die PCP – Pneumocystis jirovecii pneumonia – genannt wird und die in den Vierziger- und Fünfzigerjahren des 20. Jahrhunderts in Mitteleuropa grassierte. PCP ist ein Bakterium, das wir alle in unserem Körper tragen, wahrscheinlich von Geburt an oder kurz danach. Meistens bleibt es harmlos. Unser Immunsystem hält es unter Kontrolle. Aber wenn etwas anderes, wie zum Beispiel HIV, das Immunsystem schwächt, wird PCP so unkontrollierbar, dass es zu einer tödlichen Form der Lungenentzündung kommt. Bei AIDS-Patienten war PCP so verbreitet, dass man es damals als einen fast sicheren Hinweis auf die Infektion mit HIV betrachtete. Goudsmit ging daran, in medizinischen Archiven Fällen von PCP nachzugehen, und was er herausfand, ist erschreckend. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg gab es eine PCP-Epidemie, die in Danzig ihren Ausgang nahm, sich über ganz Mitteleuropa verbreitete und das Leben Tausender kleiner Kinder forderte.

Goudsmit hat eine der Städte, die von der PCP-Epidemie am härtesten getroffen wurden, genau untersucht, die Bergbaustadt Heerlen in der niederländischen Provinz Limburg. In Heerlen gab es damals ein Ausbildungskrankenhaus für Hebammen, das sich Kweekschool voor Vroedvrouwen nannte. In dieser Klinik befand sich eine Abteilung – die sogenannte »Schwedische Baracke« –, die in den Fünfzigerjahren als eine besondere Station für Frühgeburten diente. Zwischen Juni 1955 und Juli 1958 erkrankten 81 Babys in der »Schwedischen Baracke« an PCP, 24 von ihnen starben. Goudsmit sagt, dass die Kinder die Krankheit eindeutig nicht von ihren Müttern geerbt hatten. Sie erkrankten alle zwischen fünfzig und hundert Tagen nach ihrer Geburt, PCP hat jedoch nur eine Inkubationszeit von etwa einem Monat. Die Krankheit wurde eindeutig durch Ansteckung übertragen. Zwei Babys in einem nahegelegenen Krankenhaus starben ebenfalls, und sie hatten beide in Betten neben Babys gelegen, die aus der Schwedischen Baracke verlegt worden waren. Goudsmit glaubt, dass es sich dabei um eine frühe HIV-Epidemie handelte und das Virus irgendwie in das Krankenhaus gelangte und von Kind zu Kind weitergegeben wurde, weil man damals offensichtlich eine Spritze für Bluttransfusionen oder Antibiotika-Injektionen mehrfach nutzte. Er schreibt:

Sehr wahrscheinlich brachte zumindest ein Erwachsener – wahrscheinlich ein Bergmann aus Polen, der Tschechoslowakei oder Italien – das Virus nach Limburg. Dieser eine Erwachsene könnte, ohne dass es großes Aufsehen erregte, an AIDS gestorben sein. Er könnte das Virus an seine Frau und die Kinder weitergegeben haben. Seine infizierte Frau (oder Freundin) könnte in der Schwedischen Baracke ein Kind zur Welt gebracht haben, das gesund schien, aber HIV-infiziert war. Nichtsterilisierte Spritzen könnten dann das Virus auf die anderen Kinder übertragen haben.

Das wirklich Seltsame an dieser Geschichte ist, dass nicht alle Kinder starben. Nur ein Drittel starb. Die anderen schafften etwas, was heute fast unmöglich erscheint. Sie besiegten HIV, ihr Immunsystem rang das Virus nieder, und sie lebten gesund weiter. Mit anderen Worten: Die Arten von HIV, die in den Fünfzigerjahren in Umlauf waren, scheinen ganz anderer Natur gewesen zu sein als die heutigen. Sie waren genauso ansteckend. Aber sie waren schwach genug, dass die meisten Menschen – sogar kleine Kinder – sie niederzukämpfen und zu überleben vermochten. Die HIV-Epidemie kippte in den frühen Achtzigerjahren, kurz gesagt, nicht nur aufgrund der enormen Veränderungen im Sexualverhalten der homosexuellen Szene, die es dem Virus ermöglichten, sich so schnell auszubreiten. Sie kippte auch, weil HIV selbst sich verändert hatte. Aus welchem Grund auch immer – das Virus wurde sehr viel tödlicher. Wenn man sich infizierte, blieb man infiziert. Das Virus verankerte sich.

Diese Vorstellung von der Relevanz der »Verankerung« hat enorme Implikationen im Hinblick darauf, wie wir gesellschaftliche Epidemien betrachten. Wir verbringen viel Zeit damit, darüber nachzudenken, wie man Botschaften »ansteckender« machen kann – wie man so viele Menschen wie möglich mit Produkten oder Ideen erreichen kann. Aber der schwierige Teil jeder Kommunikation ist es zu verhindern, dass die Botschaft in ein Ohr hinein- und aus dem anderen wieder hinausgeht. Man will, dass sie sich »verankert«, denn nur das bedeutet, dass eine Botschaft Wirkung erzielt. Man bekommt sie nicht mehr aus dem Kopf. Die Menschen haben sie »gelernt«. Als zum Beispiel Winston im Frühjahr 1954 Filterzigaretten einführte, warb die Firma mit dem Slogan: »Winston tastes good like a cigarette should.« Zu der Zeit war das grammatisch falsche und irgendwie provokative »like« des Satzes (richtig hätte es »as« heißen müssen) eine kleine Sensation. Es war eine Werbung, über die die Leute damals sprachen, wie auch über den späteren Slogan von Wendy’s Hamburgern im Jahr 1984, in dem die Konkurrenz provokativ gefragt wurde: »Where’s the beef?«

In seiner Geschichte der Zigarettenindustrie schreibt Richard Kluger9, dass die Marketingleute bei R. J. Reynolds, die Winston vertrieben, über die Aufmerksamkeit, die ihre Werbung erweckte, begeistert waren. Sie kreierten aus dem Slogan mit eingängiger Musik einen Werbe-Jingle und verbreiteten ihn in Radio und Fernsehen. Innerhalb weniger Monate und zweifellos aufgrund dieses ansteckenden Slogans erreichte Winston den Tipping Point und schob sich vor Parliament, Kent und L&M an die zweite Stelle der meistverkauften amerikanischen Zigaretten, übertroffen nur noch von Viceroy, der damals beliebtesten Zigarette. Innerhalb einiger Jahre wurde Winston zur bestverkauften Marke in den USA. Noch heute kennen die meisten Menschen in Amerika den Slogan. Er ist einprägsam, ein Werbespruch, der sich auf klassische Weise im Kopf verankert, und diese Verankerung ist ein entscheidender Faktor, wenn man den Tipping Point erreichen will. Denn wenn Sie sich nicht daran erinnern, was ich Ihnen sage, warum sollten Sie Ihr Verhalten ändern oder mein Produkt kaufen oder ins Kino gehen, um meinen Film anzuschauen?

Der Verankerungsfaktor besagt, dass es spezifische Wege gibt, eine ansteckende Botschaft einprägsam zu machen. Es sind also relativ einfache Veränderungen in der Präsentation und der Strukturierung von Informationen, die sich entscheidend auf die Verbreitung auswirken.

3.

Jedes Mal, wenn jemand in Baltimore in ein öffentliches Krankenhaus geht, um sich gegen Syphilis oder Gonorrhöe behandeln zu lassen, hält John Zenilman die Adresse des Mannes oder der Frau in seinem Computer fest, sodass der Fall als kleiner schwarzer Stern auf dem Stadtplan auftaucht. Es ist eine medizinische Version der Pläne, die die Polizeireviere an den Wänden haben, mit verschiedenfarbigen Stecknadeln, die die Schauplätze von Verbrechen markieren. Auf Zenilmans Plan häufen sich die Sterne in den Bezirken East und West Baltimore, zu beiden Seiten der Innenstadt. Von diesen beiden Bereichen breiten sich die Fälle entlang zweier zentraler Straßen aus, die durch beide Viertel hindurchgehen. Im Sommer, wenn es die meisten Fälle sexuell übertragbarer Krankheiten gibt, vermehren sich die schwarzen Sterne beiderseits der Straßen, die aus East und West Baltimore hinausführen. Die Krankheit gerät in Bewegung. Aber in den Wintermonaten ändert sich die Lage. Wenn es kalt wird und die Bewohner von East und West Baltimore mehr Zeit in ihren Wohnungen verbringen und nicht in Bars und Clubs und an Straßenecken, wo es zu sexuellen Handlungen kommt, vermindert sich die Zahl der Sterne deutlich.

Die Wirkung der Jahreszeiten auf die Zahl der Fälle ist so stark, dass es nicht schwerfällt, sich vorzustellen, dass ein langer, harter Winter in Baltimore ausreichen würde, um die Syphilisepidemie – zumindest saisonal – substanziell einzudämmen.

Epidemien, das macht Zenilmans Plan sehr anschaulich, werden stark von der jeweiligen Situation beeinflusst – von den Umständen, Bedingungen und Besonderheiten der Umgebung, in der sie ablaufen. Das ist offensichtlich. Wirklich interessant aber ist die Frage, wie weit dieses Prinzip ausgedehnt werden kann. Es sind nicht nur banale Faktoren wie das Wetter, die das Verhalten von Menschen beeinflussen. Selbst der kleinste, subtilste und am wenigsten erwartete Faktor kann unsere Gewohnheiten verändern.

Eines der berüchtigtsten Verbrechen in der Stadt New York war der Mord an einer jungen Frau aus Queens, Kitty Genovese, die 1964 auf offener Straße erstochen wurde. Sie wurde von dem Täter durch ihre Straße gejagt und innerhalb einer halben Stunde dreimal angegriffen, während 38 Menschen, ihre Nachbarn, durch die Fenster zusahen. Während dieser ganzen Zeit griff aber niemand der 38 Augenzeugen zum Telefon, um die Polizei anzurufen. Der Fall provozierte einen Aufschrei in der Presse. Er wurde zum Symbol der Kälte und Inhumanität großstädtischen Lebens. Abe Rosenthal, der später Chefredakteur der New York Times wurde, schrieb in einem Buch über den Fall:

Niemand kann sagen, warum die 38 nicht zum Telefon griffen, während Miss Genovese attackiert wurde, denn sie können es selbst nicht sagen. Man kann aber annehmen, dass ihre Apathie auf die Lebensbedingungen der Großstadt zurückgeht. Es ist fast eine Frage des psychologischen Überlebens, dass man, bedrängt und umgeben von Millionen von Menschen, so viele wie möglich ignoriert, um zu verhindern, dass sie ständig auf einen eindringen. Gleichgültigkeit gegenüber seinem Nächsten und seinen Schwierigkeiten ist der konditionierte Reflex des Lebens in New York wie auch in anderen Großstädten.10

Das ist die Art von gesellschaftlicher Erklärung, die uns intuitiv einleuchtet. Die Anonymität und Entfremdung des Lebens in der Großstadt machen die Menschen hart und gefühllos. Die Wahrheit im Fall Genovese aber erweist sich als etwas komplizierter – und interessanter. Zwei Psychologen aus New York – Bibb Latané von der Columbia University und John Darley von der New York University – führten in der Folge des Verbrechens eine Serie von Untersuchungen durch, um zu einem Verständnis dessen zu gelangen, was sie das »Zuschauerproblem« nannten.11