Tír na nÓg. Der Auserwählte - Sean Connell - E-Book

Tír na nÓg. Der Auserwählte E-Book

Sean Connell

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Beschreibung

Tausend Jahre in der Zukunft, tausend Jahre nach der Katastrophe: Meister Aki und sein Schüler Cornelis begeben sich auf die Suche nach der geheimnisvollen Insel Tír na nÓg, einem unzugänglichen Bollwerk der gottgleichen Älteren. Auf ihrer abenteuerlichen Reise treffen sie auf kleine schwarze Puppen, die den Verstand ihrer Wirte beherrschen, auf Metamorphen, die die Gestalt ihrer Opfer annehmen und auf riesige Gottesanbeterinnen, die den beiden nach dem Leben trachten. Und langsam aber sicher muss Cornelis erkennen, dass ausgerechnet er der seit Generationen ersehnte Auserwählte ist, dessen Aufgabe darin besteht, die Welt vor ihrer Vernichtung zu retten.

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Sean O’Connell

Tír na nÓg

Der Auserwählte

Teil 1

O’Connell, Sean: Tír na nÓg. Der Auserwählte. Teil 1, Hamburg, ACABUS Verlag 2011

Originalausgabe

PDF-ebook: ISBN 978-3-86282-040-5

ePub-ebook: ISBN 978-3-86282-130-3

Print (Paperback): ISBN 978-3-86282-039-9

Lektorat: Silke Meyer, ACABUS Verlag

Umschlaggestaltung: ds, ACABUS Verlag

Covermotiv: Andy Lettau, Action Verlag

Der ACABUS Verlag ist ein Imprint der Diplomica Verlag GmbH, Hermannstal 119k, 22119 Hamburg.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© ACABUS Verlag, Hamburg 2011

Alle Rechte vorbehalten.

http://www.acabus-verlag.de

eBook-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing, Dortmundwww.readbox.net

Für Susanne

1 To mega Therion

Der Bus kam, genau drei Tage nachdem Meister Aki seinem Schüler Cornelis davon erzählt hatte: ein rauchendes, verbeultes, vier Meter hohes stählernes Ungetüm. Ein gigantischer 600-PS-Motor schob die kettenbetriebene Raupe geschmeidig wie einen fleischgewordenen Lindwurm mit dampfenden Nüstern durch die Landschaft – ein Albtraumgerät.

Der riesige Wasserkessel im Inneren, der den Dampf für den Vortrieb erzeugte, gab der Front die Form: ein aufgeblähter Zylinder, bedrohlich wie ein bösartiges Geschwür; darüber und seitlich mehrere kraterförmige, rot pulsierende Ventile, aus denen unablässig Wasserdampf entwich. Über dem künstlichen Nebel erhob sich das unscheinbare Führerhaus mit finsteren, spinnenaugenartigen Fenstern. Kleine Scheibenwischer waren unablässig damit beschäftigt, den sich niederschlagenden Wasserdampf zu beseitigen. Hinter dem Antriebssegment befanden sich Waggons mit Lagerräumen für Güter und Waren aller Art, sowie Kabinen für mehr als zweihundert Reisende.

Sör William Aki Ignatius da Silva trug zur Abreise seinen schweren schwarzen Staubmantel mit hohem Kragen und seinen schwarzen Hut mit der großen Krempe. Eine hellbraune Krawatte, ein Geschenk seiner verstorbenen Frau, zierte sein weißes Hemd. Schweiß sammelte sich in diesem Augenblick am Kragenrand, befeuchtete den Stoff und ließ gelbe Ränder zurück.

Meister Akis Mundwinkel zuckten. Seine rechte Hand umfasste den Griff eines langen dunklen Regenschirmes, dessen stählerne Spitze sich in den staubigen Boden gebohrt hatte. Die Hand öffnete und schloss sich in einem schnellen Rhythmus. Waren sie ihm bereits auf der Spur? Spätestens seit Nordveldern hatte er das Gefühl, dass es so sein konnte.

An der linken Hand zierte ein blauer Siegelring mit einem Skorpion und einem Hirsch den Ringfinger. Diese Hand verschwand gelegentlich in der tiefen Manteltasche und umschloss einen langen, seltsam geformten Schlüssel.

Diebesgut aus dem Ewigen Eis. Seine Augenlider bewegten sich schnell, als er an die Tat dachte.

Ansonsten stand Meister Aki reglos.

Neben ihm auf dem Boden befanden sich seine lederne Reisetasche mit einem breiten Riemen und einem vergoldeten Verschluss, weiterhin eine Art Koffer in einem verrosteten Stahlrahmen, unter dem kleine Holzräder montiert waren, darauf diverse Papiertüten mit Proviant und Büchern sowie ein großer silberner Kompass. Den Rest des Gepäcks, Seesäcke und Ledertaschen, hatte er Cornelis anvertraut, der sich unlängst zuvor bemüht hatte, das Reisegut sicher zu stapeln und sich deshalb wohl weniger wie ein Meisterschüler, sondern eher wie ein Laufbursche vorkam.

„Müssen wir da wirklich rein?“, flüsterte Cornelis fast ehrfürchtig in des Meisters Richtung, als er an den Bus dachte, der in der Ferne bereits als kleiner, staub aufwirbelnder Punkt sichtbar wurde. Er hatte eine solche Maschine noch nie aus der Nähe gesehen, obwohl er bereits seit drei Jahren in Corpus Mortui studierte.

Corpus Mortui, auf dessen Dorfplatz sie in diesem Augenblick standen, war ein Schweinestall, eine olfaktorische Hölle, inmitten von weitläufigen Weizenfeldern und sanften Weinbergen, fern der großen Labyrinthos im Süden und der Stählernen Feste Kautoganka im Norden. Das Dorf, dessen Name vermutlich schon seit der Katastrophe vor eintausend Jahren Fremde abschreckte und die Bewohner gleichzeitig mit so etwas wie stillem Stolz erfüllte, war bar jeder geopolitischen noch sonstigen Bedeutung und selbst Landstreicher und anderes Gesindel mieden diese Insel menschlicher Bedeutungslosigkeit, so gut sie es konnten.

Und dennoch: Die reptilienförmigen Busse passierten diese Station zweimal in der Woche auf ihren Fahrten nach Norden oder Süden, allerdings immer zur Vorlesungszeit und so waren sie Cornelis nur aus Erzählungen bekannt. Abends und an den Wochenenden sah er sie ebenfalls nie, da er vom Dekan der Bruderschaft die Erlaubnis bekommen hatte, in Bandahui, in seinem eigenen Zuhause, leben zu dürfen; ein Haus, das immer noch voller Erinnerungen an den verstorbenen Vater war. Dieser hatte, bereits durch Fieberkrämpfe ans Bett gefesselt, immer wieder von jenem außergewöhnlichen Tag gesprochen, an dem die Bruderschaft der Archivare seinen Sohn in ihren Reihen aufnehmen würde. Schließlich war sein innigster Wunsch in Erfüllung gegangen: Cornelis wurde im Alter von dreizehn Novize und der alte Mann hauchte daraufhin zufrieden seinen letzten Atem aus.

Jetzt, nach drei harten und entbehrungsreichen Jahren, war das Ende seiner behüteten Zeit in Corpus Mortui gekommen und zum ersten Mal verspürte Cornelis tatsächlich einen Hunger nach der Welt hinter der nächsten Biegung. Sein Blick war in diesen Tagen oft in die Ferne gerichtet.

„Nun“, griff Meister Aki die Frage des Jungen auf, „wie soll ich es sagen? Solltest du Bedenken haben, ob diese Reise das Richtige für dich ist, dann hast du jetzt die letzte Chance auszusteigen.“ Ein süffisantes Lächeln lag um seine Mundwinkel. „Nichts für ungut, aber ich komme auch alleine klar, wenn es sein muss.“ Was für eine Lüge, dachte Aki betrübt, aber er konnte den Jungen nicht einweihen.

Nicht jetzt.

Es war windstill und der Dorfplatz war menschenleer. Nur eine mittlere Sandverwehung im wasserlosen Zierbrunnen verursachte beim Abrutschen ein leises Pfffh.

„Niemand wird dir böse sein“, fuhr Meister Aki nach einer Weile fort, „wenn du dort die Straße hinunterläufst und hinter einer Häuserfront verschwindest.“ Was würde er manchmal selbst darum geben, es tun zu dürfen?

Cornelis musterte Meister Aki irritiert. „Es gibt in dieser Gegend der Welt nicht viel, was mich vom Einsteigen in diesen Bus abhalten könnte“, erwiderte er heiser.

Meister Aki nickte erleichtert. „In Ordnung.“ Er schirmte die Augen mit der flachen Hand ab und musterte den sich nach Norden hin weitenden Dorfplatz. „Deine Freunde … wollten sie nicht Lebewohl sagen?“, fragte er. „Denkst du, sie werden noch kommen?“

Cornelis nickte.

Meister Aki schien auf eine seltsame Art und Weise mit dieser Frage den wunden Punkt für seine unterschwellige Unruhe gefunden zu haben: Aurelius und Hayo.

Er erinnerte sich an die letzte Begegnung mit ihnen am Abschlusstag der Novizen, im Inneren des Weinbergs. Cornelis war an diesem Tag die geheime, korkenzieherartige Treppe von der Taverne aus in die Tiefe gestiegen.

Die Kälte der alten Hallen umfing ihn wie einen Mantel. Vor ihm hörte er aus der sich lichtenden Dunkelheit bereits die ausgelassenen Stimmen der Absolventen. Die Treppe endete abrupt in einem dämmerigen Raum, der sich zu einem großen steinernen Gewölbe mit vielen jungen Menschen weitete. Links und rechts zweigten hohe hölzerne Türen ab; dahinter verborgen lagen Gänge mit Ölporträts ehemaliger Absolventen oder Professoren, die sich um die Bruderschaft verdient gemacht hatten. An den Wänden brannten steinerne Öllampen in ihren verrußten Halterungen und verströmten einen süßlichen Duft nach tierischen Fetten.

„Dachte ich es mir doch …“, sagte plötzlich eine Stimme neben ihm. „Hayo, schau dir das an … der gute Cornelis schiebt seine Rübe doch noch in die Höhle des Löwen! Wer hätte das gedacht? Sein Anstand ist so groß, dass er es anscheinend tatsächlich für notwendig befindet, zur Abschlussveranstaltung zu erscheinen!“

Hayo schob sich in Cornelis’ Blickfeld, lachte sein bellendes Tierlachen und klopfte dem großen, untersetzten Aurelius auf die Schultern. „Au Kacke, hat er es sich anders überlegt? Kommt er jetzt doch zu den Maschinisten?“ Der Mensch-Tier-Hybrid wirkte überrascht.

Cornelis konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Vor ihm standen seine besten Freunde. Sie waren laut, ungepflegt und grandios.

Hayo fuchtelte mit seiner Pfote vor Cornelis’ Gesicht. „Und, Cornelis? Was ist nun mit Meister Aki? Bist du nun tatsächlich sein Schüler geworden?“ Er zog die Lider seiner großen Augen zu Schlitzen zusammen. „Stimmt das alles, was du gestern gesagt hast?“

Aurelius warf Cornelis einen väterlich besorgten Blick zu. „Kannst du dich überhaupt noch an irgendetwas erinnern? Du warst völlig betrunken! Willst du dem Irrsinn, Sammler zu werden, abschwören und mir reumütig den Arsch küssen?“

Cornelis ignorierte ihn, obwohl er tatsächlich wegen der gestrigen Nacht etwas zerknirscht war. Im Augenblick hatte er zwar noch keine eindeutige Zusage von Meister Aki erhalten, aber die ernste Absicht, in seiner Haltung nicht zu wanken.

Das war vor drei Tagen gewesen.

Seine beiden Freunde hatten selbst noch bis zum gestrigen Abend versucht, ihn umzustimmen. Bis in die Nacht hinein hatten sie in Menhirs Taverne auf dem Weinberg getrunken, und erst sehr spät dämmerte es Aurelius und Hayo, dass Cornelis’ Entscheidung unumkehrbar war.

„Glaube ja nicht, dass wir dich ziehen lassen, ohne uns zu verabschieden“, hatte Hayo trunken gemurmelt. Aurelius verblieb seltsam wortkarg: „Mach uns keine Schande! Steig einfach in den Bus, am besten ohne zurückzublicken, ohne nachzudenken.“

Nachdem Cornelis kurze Zeit später die hölzernen Serpentinenstufen durch die spinnennetzverstopften Rebstöcke hinuntergetorkelt war, blieb er für einen Moment stehen und blickte den Mondlicht beschienenen Silhouetten seiner Freunde nach. Er wusste, was sie dachten: dass sein plötzliches Fernweh seltsam war, und dass sie sich insgeheim sehr um ihn sorgten, denn in ihren Augen war er für die Welt außerhalb dieses Kaffs nicht geschaffen.

„Es gibt nicht allzu viele perfekte Abschiedsszenen“, sinnierte Meister Aki gerade amüsiert und riss Cornelis aus seinen Gedanken. „Doch heute besteht Hoffnung. Du wirst sehen, sie werden kommen.“

In genau diesem Augenblick näherte sich der Bus mit atemberaubender Geschwindigkeit aus nördlicher Richtung und das Geräusch des schweren Raupenantriebs steigerte sich zu einem ohrenbetäubenden Rattern. Dann kam er direkt vor ihnen zum Stehen.

Brauner Staub wirbelte auf und hüllte die beiden Wartenden in einen undurchdringlichen Kokon. Aus den bullaugenartigen Panzerglasfenstern blickten fahle Gesichter auf die Passagiere aus Corpus Mortui.

Meister Aki gab seinem neuen Schüler einen sanften Stoß. „Auf geht’s, Cornelis. Du musst dich mit dem Einladen der Koffer beeilen. Der Bus hält gewöhnlich nicht lange an einem Ort wie diesem.“

Hinter ihnen ertönte plötzlich atemloses Geschrei. Aurelius’ beleibter Körper schwappte aus einer Seitengasse, gefolgt von dem hageren, muskulösen Körper Hayos. „He, hee!“, riefen sie. Sie winkten aufgeregt.

Cornelis vergaß augenblicklich seine Aufgabe, rannte los und umarmte die beiden Freunde erleichtert, während Meister Aki sich kopfschüttelnd nach dem Gepäck bückte. Einer der Schaffner des Busses hatte die nächstgelegene Kabinentür von innen entriegelt und sie zur Seite geschoben. Kühle Luft drang ins Freie. Eine Wohltat.

„Wollen Se einsteig’n?“, fragte der Mann in seiner ausgewaschenen Uniform mit den rotgoldenen Emblemen der Busgesellschaft und musterte Meister Aki abschätzend durch seine verschmutzte Brille. „’am Se Gepäck?“

Meister Aki nickte. „Gepäck und diesen jungen Burschen dort drüben!“ Er deutete auf Cornelis, der gerade wild auf seine beiden Freunde einredete.

Der Schaffner rümpfte die Nase. „Ah, der junge Mann! Den Älteren sei Dank, wenn’r rauskommt aus’m Loch wie diesem! Versteh’n Se, was ich meine? So, bitte jetzt einsteigen, und wenn’s geht, ein bisschen flott!“

Oben hatte der Busfahrer ein Seitenfenster im Fahrerhaus geöffnet und lehnte seinen dicht behaarten Unterarm heraus, den er lässig auf der Fensterbank hin- und herwippen ließ. Abschätzend musterte er den Dorfplatz von Corpus Mortui und spuckte desinteressiert aus. Er gab dem Schaffner ein Zeichen, woraufhin dieser Meister Aki noch einmal launisch aufforderte, sich zu beeilen.

Cornelis riss sich widerstrebend von seinen Freunden los und folgte dem alten Mann mit dem restlichen Gepäck ins Innere des Gefährts. Dann zog der Schaffner die Kabinentür mit einem dumpfen Geräusch zu.

Aus einem halb geöffneten Fenster rief Cornelis zu seinen Freunden hinaus: „He, … vergesst mich nicht!“

„Halt die Klappe, Cornelis, und hau bloß ab!“, gab Aurelius zurück.

Sie winkten einander wortlos zum Abschied zu, dann zog der Busfahrer dreimal kurz am Seil des Signalhorns. Der Bus nahm Fahrt auf.

Cornelis schwitzte, nachdem er den Rest des Gepäcks durch mehrere Segmente des Gefährts bugsiert hatte, vorbei an den kleinen Kabinen voller Menschen unterschiedlichster Herkunft, mit fremden Gesichtern, die ihn durchdringend anstarrten, während der schlingernde Bus ihn immer wieder aus dem Gleichgewicht brachte.

Meister Aki war in der Absicht vorausgelaufen, eine freie Kabine zu finden, doch je länger sich Cornelis durch die schmalen Gänge quälte, desto mehr schwand seine Hoffnung, dass es dem Meister gelungen war, ein ruhiges Plätzchen zu besetzen.

Schließlich, als seine Arme schon stark unter dem Gewicht des Gepäcks schmerzten, sah er Meister Akis Gesicht unvermittelt aus einer offenen Kabinentür herausblicken.

„Komm schon“, rief er. „Das kann doch nicht so schwer sein! Als ich so jung war wie du, hatte ich einiges mehr an Elan, Junge!“

Cornelis nickte abwesend und konzentrierte sich vor allem darauf, die Gepäckstücke heil in die kleine Vierpersonenkabine zu befördern, ohne sie fallen zu lassen. Dann verstaute er alles unter den Sitzen und in den Netzen über ihren Köpfen. Mit einem Seufzen ließ er sich gegenüber Meister Aki auf die rotgold gepolsterte Bank fallen. Das Abteil roch abgestanden, eine Mischung aus Schweiß und verbrauchter Luft. Cornelis sah hastig durch das staubige Bullauge, um noch einen letzten Blick auf seine Freunde zu erhaschen, doch der Bus hatte den Dorfplatz bereits hinter sich gelassen. Er bog in diesem Augenblick rumpelnd in das südliche Viertel, mit den weit auseinander stehenden Häusern und ihren von Unrat übersäten Vorgärten, ein.

„Woher stammst du eigentlich?“, fragte Meister Aki unvermittelt; er hatte sich inzwischen die Lesebrille aufgesetzt und mit einem Stift fahrig einige Einträge in einem Buch vorgenommen, das Cornelis später als Reisetagebuch identifizieren sollte.

Cornelis räusperte sich. „Aus Bandahui“, erwiderte er verlegen, „das liegt im Westen, nicht weit von hier.“ Meister Aki blickte ihn fragend über den Rand seiner Brille hinweg an und Cornelis fuhr fort: „Besteht nur aus wenigen Häusern; Corpus Mortui ist im Vergleich fast schon eine Stadt oder ein Labyrinthos oder etwas dergleichen.“

Meister Aki zog spöttisch eine Augenbraue nach oben.

Cornelis lachte daraufhin. „Aber Corpus Mortui stinkt.“

„Und Bandahui?“

„Das stinkt auch!“, räumte der Junge ein. „Ich bin wirklich froh, hier rauszukommen. Es ist alles besser, als hier zu versauern!“

Wieder schien Meister Aki mit der Antwort zufrieden zu sein. Er musterte seinen Schüler noch einige Augenblicke lang, dann wandte er sich wieder den Einträgen in seinem Buch zu.

Der Bus beschleunigte weiter und ein leichtes Brummen erfüllte die ansonsten schallgedämpfte Kabine. Sie ließen die letzten Häuser von Corpus Mortui hinter sich und folgten nun der Landstraße nach Süden, die eine Schneise durch die sanften, mit Rapsfeldern und Obstbäumen versehenen Hügel schnitt.

Hin und wieder warf Meister Aki einen Blick aus dem Fenster und musterte kurz die Gegend, doch sie schien ihn wenig zu fesseln.

Cornelis hatte inzwischen seine Schuhe ausgezogen und es sich mit hochgelegten Beinen auf dem Polster bequem gemacht. Das meist gleichförmige Schaukeln des Busses ließ ihn schnell müde werden und er erinnerte sich wieder daran, dass er heute Morgen bereits mit dem ersten Sonnenlicht aufgestanden war, um Meister Aki beim Packen zu helfen.

Seine Gedanken schweiften ab und ohne es zu merken, befand er sich wieder in dem Vorlesungssaal, in dem Professor Aulus die Abschlussveranstaltung gehalten hatte. Adelbert Aulus war ein großer, athletischer Mann undefinierbaren Alters, jenseits der fünfzig, mit scharf geschnittenen Zügen, buschigen weißen Augenbrauen und einer klassischen Nase. Seine grauen Augen waren gefürchtet, weil sie niemals ruhten, auch wenn sie meist harmlos verschmitzt in ihren dunklen Höhlen lagen. Lachfältchen umzogen sie, doch Aulus deswegen für gutmütig zu halten, wäre so, als würde man den Tiefwinter rund um Kautoganka für eine vorübergehende Schlechtwetterlage halten.

Professor Aulus war ein angesehener Mann mit sprichwörtlicher Disziplin. Seine Vorlesungen waren Pflicht, ein Fehlen oder Versagen in seinem Unterricht nahezu undenkbar. Und wenn doch, dann war es nicht das Ungünstigste, ohne viel Aufhebens seine Koffer zu packen und still und heimlich Corpus Mortui in Richtung Nirgendwo zu verlassen.

Cornelis, Aurelius und Hayo folgten dem Professor in den Vorlesungssaal und suchten sich Plätze in den hinteren Reihen des Halbrunds.

Kaum hatte Aulus hinter dem breiten, mit allerlei technischen Geräten übersäten Tisch Platz genommen, kehrte unter den Novizen augenblicklich Stille ein.

„Auch wenn es viele von Ihnen nicht glauben werden“, begann Aulus mit klarer und lauter Stimme, „ich werde mich heute kurzfassen!“

Er räusperte sich. „Sie sind heute hier versammelt, weil Sie vollwertige Mitglieder der Bruderschaft der Archivare geworden sind! Ihre Aufgabe wird es von nun an sein, das Geheimnis der menschlichen Geschichte zu wahren und weiter zu erforschen. Seien Sie dabei nicht überheblich, wenn Sie mehr sehen, mehr hören und mehr verstehen, als andere Menschen. Aber selbst unser Wissen, das Wissen, das wir in Jahrhunderten zusammengetragen haben, ist nur ein Sandkorn an einem Strand. Wir alle sind Erben einer Zivilisation, die vor rund tausend Jahren von einer unglaublichen Katastrophe hinweggefegt wurde, und bis heute vermag niemand zu sagen, was geschehen ist. Uns bleiben nur die Worte der Älteren, die vom Großen Tier, To mega Therion, berichten, und ihre Worte lauten: ‚Und ich sah ein Tier aus dem Meer steigen, das hatte zehn Hörner und sieben Häupter und auf seinen Hörnern zehn Kronen und auf seinen Häuptern lästerliche Namen.‘ Der Ältere Albert Harris sagt, diese Worte seien einem Buch entnommen, das die Bibel genannt wird. Sie können das übrigens selbst nachlesen. Wir haben einige Ausgaben dieses Buches hier in Corpus Mortui. Harris sagt auch, dass eben genau jener dort beschriebene Schrecken aus den Offenbarungen über die Menschheit hereingebrochen sei!“

Aulus machte eine kurze rhetorische Pause, die viele der Studenten sofort nutzten, um ihm lautstark zu applaudieren.

„Das weiß niemand mit Bestimmtheit“, murmelte Aurelius leise durch zusammengepresste Zähne. „Er wird jedenfalls die Geschichte mit den kollidierenden Branen nicht erwähnen, da bin ich mir sicher!“ Cornelis nickte. Auch er kannte die Theorie über zusammenstoßende Universen. Kalte Mathematik und Physik lagen ihr zugrunde und manch ein Gelehrter der Bruderschaft hatte bereits das Ende aller Religionen gefordert, denn nicht höhere Mächte, sondern schlichte Mechanik sei es, nach Auffassung einiger den Wissenschaften gegenüber aufgeschlossenen Brüder, die die Welt in ihrem Innersten zusammenhielt. Cornelis blickte kurz zur Seite und sah Hayo, wie er dabei war, sich auf die wulstige Lefze zu beißen. Aulus war ein Held, sein Held.

Viele Novizen waren vor Euphorie aufgesprungen und es dauerte einige Minuten, ehe Ruhe einkehrte und sich alle geordnet setzten. Aulus hatte sich vehement allen neumodischen Erklärungen der großen Katastrophe verweigert. Er bewahrte die Tradition von To mega Therion. Auch wenn es von Jahr zu Jahr schwieriger wurde, weil diese alte Weltsicht immer mehr Anhänger zugunsten des neuen, sich rasch verbreitenden Paradigmas verlor. Winzige Schweißperlen verbanden sich nun auf Aulus’ Stirn zu einem feuchten Film. Diesmal musste er in seiner Abschlussansprache einen besonderen Spagat hinlegen. Der Oberste Rat der Archivare hatte, wie Cornelis wusste, endlich entschieden und Maßnahmen für umfassende Nachforschungen in die Wege geleitet.

Nach einem Schluck aus dem Wasserglas fuhr Aulus fort: „Das sind die Worte, die überliefert wurden; mehr wissen wir nicht, denn Vergessenheit war die grausame Strafe für die Hybris unserer Vorfahren!“

Aulus stand auf und trat an die Tafel, die den hinteren Teil des Saals einnahm. Mit Kreide skizzierte er ein Koordinatenkreuz.

„Sie können sich sicherlich noch an eine meiner vergangenen Vorlesungen erinnern“, sagte er. „Das Wissen der Menschheit vor Armageddon stieg im Laufe der Zeit nahezu explosionsartig an. Die Zeitspanne, hier als X dargestellt, in der eine Erfindung, ja, eine Erkenntnis auf die andere folgte, verkürzte sich – wie Sie bereits aus dem Studium wissen – immer mehr … mit der Folge, dass das errungene Wissen … hier auf der Y-Achse dargestellt … exponentiell zunahm.“ Er zeichnete nun mit schwunghafter Geste eine ansteigende Kurve in das Koordinatensystem. „Der Mensch hatte zu dieser Zeit buchstäblich das Zepter aus den Händen Gottes gerissen und wie ein Zauberlehrling geglaubt, das Chaos regieren zu können. Doch Gott strafte die Menschheit: das Große Tier, die alten Griechen haben es To mega Therion genannt, brach über die sogenannte Zivilisation herein und fegte sie auf einen Schlag hinweg.“ Er machte eine kurze Pause und sah in die Gesichter seiner Studenten, ehe er fortfuhr. „Daran glaubten wir früher, daran glauben wir auch heute. Aber in den letzten Jahren kamen unter manchen Gelehrten der Bruderschaft Zweifel am Wahrheitsgehalt dieses Glaubens auf. Die Saat der Zwietracht war gesät, und ich übertreibe nicht, wenn ich behaupte, dass wir bis auf den heutigen Tag gespalten sind. Es gibt da diese …“, er sprach die Worte langsam und mit einem leicht verächtlichen Unterton aus, „diese … Branentheorie! Diese Ekpyrosis, den Weltenbrand! Eine Theorie, die besagt, dass die Erde, vielleicht sogar unser ganzes Universum, mit einem anderen Universum kollidierte. Dieser Zusammenstoß hatte dieser Ansicht nach schwere Raum-Zeit-Anomalien zur Folge. Entropische Einflüsse, die die Vorgänge östlich des Großen Stromes und weit draußen im westlichen Meer erklären könnten! Der große kosmische n-dimensionale Tsunami löschte die Zivilisation der Menschheit aus, sagen seine Anhänger! Keine galaktischen Imperien, keine außerirdischen Invasoren oder durchs All stürzende Meteoriten, oder vielleicht gar Gott! Nein!“ Aulus reckte nun beide Hände in den Saal wie ein Wanderprediger, sein Gesicht regungslos wie Stein. „Nein, es waren Branen, Gebilde jenseits unserer Vorstellungskraft, die wir uns nicht im Entferntesten ausmalen können!“

Cornelis sah erst Aurelius und dann Hayo an, doch beide schienen gebannt zu lauschen.

„Das ist Häresie!“, fuhr Professor Aulus mit ernster Stimme fort. „Wir in Corpus Mortui, aber auch in vielen anderen Einrichtungen der Bruderschaft, verabscheuen und leugnen diese Theorie, in der Gott und die Älteren keinen Platz mehr haben! Aber es gibt, wie gesagt, eine zunehmende Anzahl Mitbrüder, die ihr ergeben anhängen! Der Streit darüber ist elementar und droht unsere Gemeinschaft zu spalten! Der Oberste Rat ist deshalb übereingekommen, dass es an der Zeit ist, mehr über die wahren Hintergründe der Großen Katastrophe herauszufinden. Wir müssen endlich Gewissheit haben!“

Stille. Nur leises Atmen war zu hören.

„Ich möchte Ihnen an dieser Stelle Meister Aki vorstellen, den allermeisten von Ihnen bereits durch unzählige abenteuerliche Geschichten und Anekdoten bekannt.“

Aulus verbeugte sich kurz, dann trat er ohne ein weiteres Wort ab, und hinter der Tafel erschien ein kleiner, schlanker Mann mit kurzem weißen Haar und gestutztem Vollbart. Begleitet von lautstarkem Applaus schritt er gemächlich in den Vordergrund. Der Mann steckte in einem langen ledernen Staubmantel, wie man ihn in Kabelstadt trug, auf dem Kopf hing, etwas schief, ein schwarzer Hut, der seine Augen verdeckte.

„Mein Name ist Sör William Aki Ignatius da Silva.“ Der Mann lächelte freundlich und die Studenten verstanden die Botschaft. Hier stand eine lebende Legende der Bruderschaft.

„Ich wurde vom Obersten Rat beauftragt, das Geheimnis von To mega Therion zu lüften und das Schisma innerhalb der Bruderschaft zu beenden. Ich bin den weiten Weg hierher nach Corpus Mortui gekommen, um einen von euch zu meinem neuen Schüler zu wählen.“

Cornelis wurde jäh aus seinen Gedanken gerissen, als die Kabinentür mit einem lauten Ruck geöffnet wurde. Cornelis fuhr hoch. Das Blut rauschte wild in seinen Ohren.

Der Schaffner starrte mit finsterem Gesicht ins Innere der Kabine. „Die Fahrkart’n, bitte!“

Meister Aki reichte sie ihm wortlos. Klick, klick! Die Fahrkarten wurden gelocht und an ihren Besitzer zurückgegeben. Der Schaffner verschwand ohne ein weiteres Wort, die Schiebetür dumpf hinter sich zuschlagend. Dann waren sie wieder alleine. Der Bus brummte und ratterte vor sich hin.

Cornelis sah hinaus durchs Bullauge. Es dämmerte schon.

Meister Aki las in seinen handschriftlichen Aufzeichnungen, doch die zunehmende Dunkelheit ließ ihn bald abbrechen und er packte sein Buch in die Tasche. Dann wandte er sich Cornelis zu und lächelte.

„Wo sind wir?“, fragte der Junge. Er konnte parallel zur Straße, die im Augenblick eher einem schmalen Feldweg glich, einen träge dahinfließenden Fluss erkennen.

„Das ist der Nebelnalu“, erklärte Meister Aki und deutete aus dem Fenster. „Es wird vermutlich nicht mehr allzu lange dauern, bis wir zur Mobongenbrücke kommen, die den nördlich fließenden Mobongen überquert. Genau an dieser Stelle fließen beide Flüsse zusammen und bilden dann den breiten Nalu. Diesem werden wir eine Weile nach Süden folgen, bis zur Station Sonnenallee in der Neutralen Zone.“

Meister Aki lachte leise. „Der Name hat vermutlich eine rein ironische Bedeutung. Die Station Sonnenallee liegt im Nebeltal, wo selten genug Sonne scheint, selbst wenn mal kein Nebel herrscht, denn das Tal ist eingekeilt zwischen zwei steilen Bergen, die den Großteil des Tages lange Schatten werfen.“

Cornelis hatte plötzlich Hunger. „Werden wir dort halten?“

Meister Aki bejahte. „Es bleibt uns nichts anderes übrig. Der Bus wird dort einen Tag lang Schweröl bunkern und Waren an Bord nehmen. Das gibt uns Zeit, uns unter die Einheimischen zu mischen und einige Erkundigungen anzustellen.“

Cornelis schien nur mit halbem Ohr zuzuhören und suchte in seinem Handgepäck nach Essen. Er zog ein Stück Brot und etwas Dörrfleisch heraus. „Auch was?“, fragte er sein Gegenüber, nachdem er sich hastig ein dickes Stück Brot in den Mund gestopft hatte.

Meister Aki schüttelte den Kopf. „Nein, danke.“

Das Essen schien Cornelis’ Denkapparat wieder zu aktivieren. Mit vollem Mund gestikulierte er. „Glauben Sie, dass unsere Reise die Welt verändern wird?“

„Inwiefern?“

„Also … angenommen, die Branentheorie wäre richtig, würde das nicht unsere Sicht der Welt verändern? Ich meine, Professor Aulus sagt, sie sei Häresie. Aber wenn sie doch wahr wäre …“

„Wenn sie sich als wahr herausstellen sollte, bliebe tatsächlich kein Stein mehr auf dem andern!“ Meister Aki zog eine Augenbraue hoch. Sein Gesicht spiegelte seine gespielte Überraschung wider. „Ich hatte mich schon gefragt, wie lange es dauern würde, ehe du das Thema anschneidest. Nun, es birgt in der Tat eine Menge Sprengstoff für die Bruderschaft und die Art und Weise, wie sie die Welt sieht.“

„Wie meinen Sie das?“

„Cui bono.“

„Bitte?“

„Wem nützt es? – Das ist in diesem Fall die richtige Fragestellung. Die Älteren haben vor eintausend Jahren die Katastrophe überlebt. Sie sind unsterblich und voller Wissen und Weisheit aus der Zeit vor To mega Therion, oder wie immer du es nennen willst. Würdest du sie in ihrem Handeln als Götter ansehen?“

Cornelis dachte darüber nach. Dann nickte er. „So ungefähr, ja …“

„Das große Tier, das sich aus dem Meer erhebt … der Ältere Albert Harris ist ein kluger Kopf. Er hat dieses Bild nicht zufällig ausgewählt. To mega Therion ist eine Legende, die von Hybris und Bestrafung erzählt. Ihr Ausgang ist die Läuterung. Der Mensch soll auf den rechten Pfad der Tugend zurückkehren, selbstverständlich unter der väterlichen Anleitung der Älteren, versteht sich! Das Branenmodell hingegen …“ Meister Aki seufzte. „Das Branenmodell hat nichts mit Hybris und Bestrafung zu tun. Kollidierende Universen, besser gesagt, beinahe kollidierende Universen sind Dinge, die weit außerhalb des menschlichen Ereignishorizontes liegen. Auch die Älteren selbst wären hierbei nur ein weiterer Spielball der Geschichte, ihre Handlungen bedeutungslos!“

Cornelis blickte ratlos. „Und die Häresie? Verleugnen wir nicht, an was wir glauben?“

„Wir suchen Wahrheiten, Cornelis, nicht Glauben.“ Meister Aki musterte seinen neuen Schüler. „Teile der Bruderschaft haben das auf ihrem langen Weg durch die Geschichte vergessen. Häresie ist für unser Tun keine Gefahr, nur die Unwissenheit.“

„Und die Älteren? Haben sie uns belogen?“

Meister Aki zuckte die Achseln. „Gut möglich. Aber selbst wenn auf dem Weg der Erkenntnis ein paar Götter stürzen, dann müssen wir das in Kauf nehmen!“

Cornelis nickte, hatte aber seine Zweifel. „Ist das nicht ein zu hoher Preis, den wir da zahlen könnten?“

Meister Aki schüttelte den Kopf. „Die Menschen müssen lernen, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Wenn sich das Branenmodell als richtig herausstellen sollte, dann brauchen wir auf keinen Fall die Hilfe sogenannter höherer Wesen!“

Cornelis nickte. Es klang einleuchtend. Er war froh, dass Meister Aki so offen mit ihm über das schwierige Thema sprach. Aber es gab noch etwas, das ihm auf der Seele lag, und er sagte ohne nachzudenken: „Ihre Kritiker sagen, dass Sie bereit sind, über Leichen zu gehen, wenn es um das Erreichen Ihrer Ziele geht …“

Cornelis war überrascht, wie leichtfertig ihm diese Gedanken über die Lippen kamen, aber sie trieben ihn seit der Ankunft des Meisters in Corpus Mortui um. Genau genommen seit jenem Augenblick, als Aurelius den verstorbenen Schüler erwähnt hatte.

„Oh, nein!“, hatte sein untersetzter Freund gesagt und dabei seine einstudierte Leidensmiene aufgesetzt. „Bitte Cornelis, fang mir nicht damit an! Ich bitte dich, Aulus hat uns gewarnt, dass die Meister dieses Jahr von der wirklich ungewöhnlichen Sorte sind! Denk an Barren, der kommt direkt vom Südmeer mit Fischen in den Taschen, oder nimm Imtak aus den östlichen Bergen: der riecht nach toten Ziegen; und dann dieser Aki höchst persönlich!“

Cornelis war verärgert gewesen. Warum nur hatte sein Freund ihm die ganze Sache madig machen wollen?

„Du weißt, was sie alle sagen …“, hatte Aurelius gesagt und seinen Freund mit gespieltem Entsetzen angestarrt.

Cornelis wusste, worauf Aurelius hinaus wollte. „Er war angeblich in Kautoganka … heißt es! Auf seiner letzten Reise!“

„Oh ja!“, flüsterte Aurelius. „Natürlich war er in Kautoganka! Weißt du, was es bedeutet, im Ewigen Eis des Nordens zu sein? In Kautoganka? Vielleicht haben sie ihn dort verändert, vielleicht ist er verrückt geworden vor Kälte? Vielleicht wurde er aber auch ersetzt durch einen Metamorphen! Verdammte Scheiße, dort oben kann alles Mögliche mit ihm passiert sein, aber eins ist sicher: normal kommt man von dort niemals zurück!“

Cornelis verzog die Mundwinkel, während er spürte, dass ihm die Röte ins Gesicht schoss. Trotzig sagte er: „Er ist immer noch eine Legende! Hast du ihn nicht gehört? Er wurde vom Obersten Rat der Bruderschaft für die größte Aufgabe, die es je gab, auserwählt!“

„Dann sag’ mir eins: Warum hat er keinen Schüler mehr? Cornelis, warum, wenn er so ein großer Held ist? Sag mir das bitte!“ Aurelius schüttelte den Kopf. „Du weißt es, nicht wahr?“

Cornelis gab Menhir, dem Wirt, ein Zeichen. Noch ein Bier. Plötzlich war er sehr durstig. „Ich weiß es“, erwiderte er angespannt und ein bisschen zornig. „Das ist allgemein bekannt: sein Schüler Vaghir ist gestorben. Es war ein Unfall. Meister Aki wurde nach einer gründlichen Untersuchung bei seiner Rückkehr in Seabriggen von jeder Verantwortung freigesprochen.“

„Beinahe“, sagte plötzlich eine dunkle, aber freundliche Stimme hinter ihnen.

Alle fuhren herum.

Der kleine Mann mit verschmitztem Lächeln stand direkt neben ihnen am Tisch und blickte sie an. Niemand hatte ihn kommen sehen. „Er wurde beinahe von jeder Verantwortung freigesprochen. Die Tatsache, dass die Stillen Lande von einer heimtückischen Strahlung durchdrungen sind, ist eigentlich Grundwissen aus dem ersten Jahrgang und auch ich hätte mir dieser Gefahr bewusst sein müssen! Das hat man mir zur Last gelegt.“

Cornelis war verblüfft. „Meister Aki?“ Er konnte kaum glauben, dass der legendäre Meister direkt vor ihnen stand.

„In der Tat, ja!“

„Ich … ich bin überrascht …“

Aki nickte. „Man sieht es dir an. Professor Aulus hat dich aber sicherlich bereits vorab informiert, dass ich dich kennenlernen wollte.“

„Soweit ich weiß, ist Vaghir mit einem Dromar davongeritten, direkt auf die Strahlungsquelle zu“, spann Aurelius seinen Gedankengang von vorhin fort und versuchte, sich an eine entsprechende Vorlesung zu erinnern; seine Stimme klang belegt. „Und Sie haben nicht das Geringste unternommen, um ihn aufzuhalten? Warum haben Sie es nicht versucht?“

Meister Akis Lächeln erlosch. „Das ist wohl wahr. Es gibt einige Ordensbrüder, die sehen die Angelegenheit genau so, wie du sie schilderst. Viele Indizien sprechen auch tatsächlich dafür, es so zu sehen. Doch es war anders. Komplizierter, schwieriger! Ich kann nicht über die Gründe sprechen, die mich aufgehalten haben, aber es war mir nicht möglich, meinem Schüler zu folgen.“

Er zog einen Stuhl vom Nachbartisch heran und setzte sich darauf. „Nur so viel: ich kämpfte um das Leben …“ Die Gesichter der drei Novizen erstarrten. Cornelis öffnete den Mund. Würde der Meister jetzt das Geheimnis lüften? „… eines geliebten Menschen. Aber manchmal laufen die Dinge im Leben nicht so rund, wie wir es gerne hätten.“

Als Cornelis in diesem Moment aus seinen Erinnerungen gerissen wurde, hallten die Worte des Meisters noch in ihm nach. Dunkelheit starrte ihm aus dem Bullauge des Raupenbusses entgegen. Der Bus bockte und für einige Sekunden ruckelte es furchtbar im Inneren der Kabine. Ein lautes Rattern ertönte von draußen. Die Zeitungen aus dem losen Gepäck Meister Akis lösten sich aus der Kopfablage und fielen zu Boden. Dann war es plötzlich wieder vorüber. Sie hatten die Brücke über den Mobongen passiert und schossen nun nach Süden in die Nacht hinein.

„Über Leichen gehen? Hm …“, sagte Meister Aki gerade. Er rieb sich das Kinn. „Sagt man das? Nun, dann wollen wir das mal unbesehen so stehen lassen! Du wirst im Laufe unserer Fahrt noch genug Möglichkeiten haben, herauszufinden, ob das so ist oder nicht.“

Meister Aki schloss die Augen und murmelte: „Gute Nacht nun, wir müssen morgen ausgeruht sein, wenn wir die Station erreichen.“

2 Der Metamorph

Der Metamorph erwachte.

Kopfüber hing er im Dunkeln einer Scheune vom Dachgebälk herunter – zusammen mit Spinnweben und Fledermäusen. Seine roten, blutgefüllten Augen weiteten sich zu halboffenen Schlitzen. Er konnte nicht besonders gut sehen, aber er konnte extrem gut riechen. Er roch sein Opfer: seine Ausdünstungen, die salzigen Kristalle seines Urins, seinen Kot. Er roch es, obwohl sein Opfer diesen Ort bereits vor über einer Woche verlassen hatte, er konnte es lokalisieren, obwohl es sich innerhalb einer Menschenmenge aufhielt.

Der Metamorph wusste, dass er seinem Opfer näher kam. Das erfüllte ihn mit Freude. Sein Auftrag würde von Erfolg gekrönt sein. Er wusste es. Seit seinem Aufbruch vor rund sechs Wochen aus Kautoganka im hohen Norden hatte er die Witterung nicht verloren.

Weder Schnee noch Eis konnten seine Nase trügen. Jetzt, je tiefer er in den Süden vordrang, desto leichter gelang es ihm, der Spur zu folgen.

Der Metamorph spürte die Kraft des Ramnaroughs durch sein Blut-und Lymphsystem fließen. Seine Hautstruktur änderte sich, brach in Sekundenbruchteilen auf, bildete sich neu: Knochen wurden bloßgelegt, verbogen sich, stülpten sich ineinander. Die Haut entblößte und bedeckte Organe, Knochen und Blutgefäße, während das hässliche Gesicht des Metamorphen von stillem Schmerz verzerrt war.

Nachdem die Veränderungen vollzogen waren, schwang er sich vom Dachbalken, fiel mehr als vier Meter in die Tiefe und landete sicher auf dem strohbedeckten Boden. Er war jetzt eine Frau, jung und schön, mit anmutigem Körper.

Nackt trat er hinaus in den feinen Morgenregen und schritt gelassen, ohne auf den schlammigen Untergrund zu achten, hinüber zum Bauernhaus. Ohne Vorsicht trat der Metamorph ein, durchschritt die Stube, tötete Bäuerin und Magd, stieg die Holztreppe in den ersten Stock hinauf auf der Suche nach Kleidung. Es dauerte einige Zeit, bis der Metamorph fand, was er suchte. Er war nicht intelligent, nicht im menschlichen Sinne, aber Mimikry beherrschte er sehr gut.

Er spürte sozusagen, was richtig war. In einem Waschzuber reinigte er seine besudelten Hände, danach kleidete er sich an. Dort, wo das sommerliche Kleid nicht richtig saß, passte er seinen Körper entsprechend an.

Kurz darauf betrachtete er sich im Spiegel.

Er war zufrieden. Er lächelte. Es wurde nun Zeit, ins Dorf zu gehen.

Der Metamorph hatte die vergangenen Jahre im Dämmerschlaf verbracht, war eine endlose Zeit mit rudimentärem Bewusstsein dahingetrieben, hatte Tag- und Nachtphasen nicht voneinander unterscheiden können und kein Verlangen nach Essen oder Trinken verspürt. Die Körperfunktionen waren nahezu ausgeschaltet. Doch dann kehrte eines Tages das Licht in sein finsteres, kleines Universum zurück. Männer kamen mit gleißenden Fackeln und ängstlichen Gesichtern in die Kammer des Metamorphen. Sie nahmen ihn mit und brachten ihn nach oben, direkt in das kalte Herz des Winterpalastes, zum Herrn von Kautoganka. Dort gab man ihm den Auftrag, einen Dieb zu finden; er erhielt eine Gewebeprobe und ein Versprechen. Sein sehnlichster Wunsch sollte erfüllt werden: er würde die Freiheit wieder erlangen, nach der er sich so lange gesehnt hatte.

„Finde ihn“, lautete der Auftrag des Herrn der Feste. „Finde ihn und töte ihn, bringe mir mein Eigentum zurück. Hast du verstanden?“

Der Metamorph hatte genickt und anschließend die Feste Kautoganka verlassen. Schließlich stand er mitten in einem Schneesturm und blickte hinauf in einen furchteinflößenden Himmel. Eisige Sturmböen peitschten ihn. Obwohl er kein Mensch war, durchzuckte ihn eine fast menschliche Regung. Er verspürte Freude. Freude und eine Art von Dankbarkeit.

Das Dorf war von Gerüchen erfüllt. Eine Symphonie an Eindrücken. Viele Menschen schoben sich durch die engen Straßen; der stetige Strom der Leiber wurde nur unterbrochen von hölzernen Karren mit Waren, die von Pferden, Dromars oder von riesigen Jarlaks aus dem Südkontinent gezogen wurden. An den Straßenrändern standen Buden mit reichhaltigen Auslagen. Gaukler und Artisten präsentierten, unbeachtet von der Menge, ihre Darbietungen. Der Metamorph verhielt sich unauffällig, die Augen stets nach unten gerichtet, um keine Blicke auf sich zu ziehen. Er schob sich durch das Menschenmeer, wollte Informationen einholen und ein Transportmittel organisieren. Er nahm den Weg ins Dorfzentrum. Dort gab es einige Gasthäuser, in denen die Menschen saßen und ihre Geschichten zum Besten gaben.

Er wusste Dinge von seinem Opfer. Das machte die Suche einfacher.

Er ging in eines der Gasthäuser und bestellte Essen und Trinken.

Er musste nur stillsitzen und zuhören.

Nach einer Liebesnacht mit einem leichtsinnigen Mitglied der Bruderschaft der Archivare, erhob sich der Metamorph neben der noch warmen Leiche und kleidete sich sorgfältig an. Er hatte alles erfahren, was er wissen musste. Er raubte dem Toten Mantel, Papiere und Geld und ging leise die Stufen des Gasthauses hinunter. Außerhalb des Gebäudes dämmerte es, und die im Hinterhof angebundenen Reittiere der Gäste regten sich. Der Metamorph suchte sich ein Dromar aus. Als er das zottelige Tier berührte, begann es zu zittern.

Das Dromar spürte instinktiv, dass die Frau, die es sah, keine Frau war; dass hier etwas Grauenhaftes vor ihm stand. Dennoch hielt es still, als der Gestaltwandler aufsaß, sich vornüberbeugte und die Zügel löste.

Dann ritt der Metamorph hinaus in den frühen Morgennebel und nahm jene Straße, die nach Süden führte, nach Corpus Mortui. Jene Straße, die auch sein Opfer vor einer Woche genommen hatte.

3 Station im Nebel

Im Laufe des Vormittags stieg die Landschaft jenseits des Nalus und der Straße zusehends an, bis sich der Bus in einem düsteren Tal befand, eingekesselt von steilen, karstigen Bergflanken. Die Sonne schien fern und winzig und es dauerte nicht lange, ehe erste zarte Nebelfinger von den Hängen in die Tiefe glitten und die Straße einhüllten. Der diensthabende Busfahrer schaltete die Außenleuchten ein und fuhr, ohne abzubremsen, weiter durch den dichter werdenden Nebel.

Meister Aki blickte mit ausdruckslosem Gesicht hinaus und seine Augen wanderten von hier nach da, als suchte er etwas. Cornelis beobachtete ihn gespannt und fragte sich, was der Meister wohl dachte.

Regentropfen fielen gegen die Scheibe. Erst waren es wenige, doch bald schon verbanden sich die einzelnen Tropfen zu Rinnsalen, die die Scheibe hinunterliefen.

„Wie lange wird es noch dauern, bis wir Station Sonnenallee erreichen?“, fragte Cornelis in die Stille hinein.

Meister Aki wandte sich ihm zu. Seine Augen waren immer noch auf einen fernen Ort gerichtet. Der visuelle Kortex weigerte sich, die Erregungsmuster der Netzhaut zu interpretieren, sein Bewusstsein schien weit von seinem Körper entfernt. Er träumte. Dann zuckten seine Augenlider. Die Pupillen weiteten sich. Er blickte seinen Schüler an. „Bald, Cornelis. Bald. Pack schon mal deine Sachen zusammen. Je eher wir aussteigen, desto besser stehen unsere Chancen, dass wir in den wenigen Absteigen von Station Sonnenallee eine gute Unterkunft für die kommende Nacht finden werden.“

Heftiger Regen prasselte auf die Passagiere nieder, die sich jetzt auf dem Busbahnhof versammelt hatten. Meister Aki und Cornelis hatten eiligst Schutz unter dem hölzernen Vordach des Zolls gesucht und starrten blinzelnd hinaus in den von grellen Scheinwerfern erhellten Nebel.

Der Bus hatte am frühen Nachmittag sein Ziel erreicht. Dann waren die Passagiere angewiesen worden, das Fahrzeug zu verlassen.

Es war kalt und der Tag verströmte eine seltsame Düsternis, die nicht so recht zum Sommer passen wollte. Das wenige Licht, das ins Tal fiel, war fahl und kraftlos, von dunklen Schatten begleitet. Cornelis fröstelte. Hinter dem Zoll, so versicherte Meister Aki dem sichtlich enttäuschten Jungen, beginne die tatsächliche Station Sonnenallee. Eine Stadt.

Die letzten Türen wurden jetzt geöffnet und die Schaffner scheuchten die in den warmen Kabinen verbliebenen Passagiere rigoros ins Freie. „Vergiss unsere Koffer nicht“, mahnte der Meister und Cornelis packte ihre Sachen zusammen, während der alte Mann ohne ihn ins Freie trat – den langen, dunklen Schirm gegen den kalten Regen aufgespannt – und mit einem der Busfahrer ein angeregtes Gespräch zu führen begann.

Durch das offene Fenster konnte Cornelis einige Satzfetzen aufschnappen während er ihre Besitztümer zusammensammelte. Von den seltsamen Völkern des Ostens war da die Rede, insbesondere fiel mehrmals der Name Anunnaki. Ob der Fahrer denn auf seinen letzten Fahrten diesen Wesen begegnet sei? Die Antwort des Busfahrers konnte Cornelis nicht mehr hören, da er in diesem Moment voll bepackt auf den Gang trat und in Richtung Ausgang drängte. Nachdem er das letzte Gepäckstück neben dem Meister abgestellt hatte, blieb er keuchend stehen, während der Regen unerbittlich auf ihn niederprasselte. Als er aufblickte, war der Busfahrer verschwunden. Meister Aki stand allein im gleißenden Licht der Scheinwerfer. Ein erleuchteter Engel.