Túatha Dé Danann. Nekropolis - Sean Connell - E-Book

Túatha Dé Danann. Nekropolis E-Book

Sean Connell

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Beschreibung

Nach ihrer Flucht durch die Traumkorridore erreichen Cornelis und seine Begleiter Bella Constanzia, die Nekropolis. In einer letzten Anstrengung soll der Junge aus Bandahui die Welt vor dem alles vernichtenden Kataklysmus retten, doch leider hat er nicht die geringste Ahnung, wie er das anstellen soll. Und schon stehen die Túatha Dé Danann, die Todfeinde der Menschen, vor den Toren der Nekropolis und bereiten sich auf den Sturm auf die letzte Zitadelle der Menschheit vor.

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Sean O’Connell

Túatha Dé Danann

Nekropolis

Teil 2

O’Connell, Sean: Túatha Dé Danann. Nekropolis. Teil 2, Hamburg, ACABUS Verlag 2012

Originalausgabe

PDF-eBook: ISBN 978-3-86282-205-8

ePub-eBook: ISBN 978-3-86282-206-5

Print (Paperback): ISBN 978-3-86282-204-1

Lektorat: Silke Meyer, ACABUS Verlag

Umschlaggestaltung: ds, ACABUS Verlag

Covermotiv: © crimson - Fotolia.com, © heisenberg - Fotolia.com

Der ACABUS Verlag ist ein Imprint der Diplomica Verlag GmbH, Hermannstal 119k, 22119 Hamburg.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© ACABUS Verlag, Hamburg 2012

Alle Rechte vorbehalten.

http://www.acabus-verlag.de

eBook-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing, Dortmundwww.readbox.net

Für

Renate O’Connell

1 Die Türme des Schweigens

Miri und Viktor standen hoch über dem Hafen und blickten hinaus auf die Totenstadt und den Golf von Iblis. Dort draußen glich die Farbe des Wassers dem Blau des Himmels und an Tagen wie diesem war beides untrennbar miteinander verwoben, so dass niemand zu sagen vermochte, wo das Meer endete und wo der Himmel begann.

Bella Constanzia, die Nekropolis, jene unvorstellbar große Stadt im Grenzland zwischen der Großen Leere im Norden, KI.MA im Nordosten und dem Golf von Iblis im Süden, war alt. Beinahe so alt wie die Welt selbst, und das Wissen um sie war längst verloren.

Eine Legende besagte, dass Bernadette la Halle die Stadt als Hauptstadt und Sitz für die Älteren auserkoren hatte, aber weder Michael Altfeld noch Jerry Marrks erinnerten sich daran, je hier gewesen zu sein – sagten sie zumindest. Viktor und Miri schenkten den Worten der beiden Unsterblichen keinen Glauben; zu sehr verfolgten diese Menschen ihre eigenen, geheimnisvollen Ziele.

Es gab weitere Legenden, die davon berichteten, dass Bella Constanzia aus einer Zeit vor den Menschen stammte – errichtet von den geheimnisvollen Túatha Dé Danann, lange bevor die Älteren das sidhe betreten hatten. Wieder andere Legenden behaupteten, dass Bella Constanzia, wie die Labyrinthos und viele Städte in Nord- und Südland, in jener nicht näher dokumentierten Zeit nach der Großen Katastrophe, nach To mega Therion, in Ramnaroughblasen eingekapselt nach Nord- und Südland gebracht worden waren.

Allen Legenden, so widersprüchlich und seltsam sie auch sein mochten, war jedoch eins gemeinsam: Bella Constanzias Schicksal und das seiner Bewohner war an einem Tag vor fünfhundert Jahren für immer besiegelt worden, als eine unbeschreibliche Eruption des Mundes auf der anderen Seite des Golfs die Metropole im Schlaf überraschte und alles Leben durch eine pyroklastische Wolke auslöschte.

Die Stadt maß von West nach Ost mehr als dreihundert unglaubliche Kilometer und von Nord nach Süd noch ganze siebzig. Bella Constanzia war somit breiter und in der Summe größer als das nördlich gelegene Sternenheim. Doch während dort Lärm und Licht das Leben bestimmten, regierte hier die Stille.

Viktor ließ den Blick schweifen.

Landeinwärts, jenseits der halbmondförmigen Ausläufer des riesigen Hafens, entdeckte er entkernte Wohnkomplexe, längst verstummte Generatorenhallen und Fabriken, Theater- und Konzertsäle mit eingestürzten Fassaden und Dächern. Nur noch bloße Schatten ihrer selbst. Vögel und streunende Katzen hatten jetzt die Herrschaft angetreten. Aber da waren noch mehr Bauten, wie Viktor jetzt erkannte: leerstehende Versammlungshallen, Museen, Schulen, Stadtverwaltungen, Badeanstalten, Krematorien, Krankenhäuser und Observatorien; sie alle lagen begraben unter schwarzen Schichten erkalteten Magmas.

Viktor wandte den Blick nach Westen. Pastellfarbene Türme aus Stein, Stahl, Gold und Silber ragten in den rot leuchtenden Himmel und trugen, wie er wusste, Namen wie die Türme des Meeres, Türme der Hügel, Türme der Trauer und Verzweiflung oder Türme des Schweigens. Sie waren verschlossen. Es schien, als hätte die Zeit selbst sie ihrer Bewohner und ihrer Bedeutung beraubt.

„Habe ich dir jemals erzählt“, sagte Viktor an Miri gewandt, „dass ich davon geträumt habe, das Innere all dieser Türme zu erkunden?“

Miri drehte sich zu ihm herum und blickte ihn überrascht an. „Es sind Duncan Dunvegans Türme. Du solltest nicht von ihnen sprechen. Sie sind tabu.“

Er nickte widerstrebend. „Wenn diese Zeiten vorüber sind und wir erwachsen sind, dann können wir diese Stadt vielleicht wieder aufbauen. So wie sie früher war.“

Miris Gesicht verfinsterte sich. „Es bleibt keine Zeit mehr erwachsen zu werden.“

Miri glaubte den Worten der Älteren, selbst wenn sie nicht wahr waren. Nicht wahr sein durften – wie Viktor grimmig für sich selbst hinzufügte. Die Welt – nein, nicht die Welt, das Schwarze Loch, dieses mysteriöse Objekt, in dem die Welt hinter dem Schleier gefangen lag – verdampfte. Die Entropie nahm zu. Alles, so hatten die Älteren gesagt, war dem Untergang geweiht.

„Es sei denn, dein neuer Freund Cornelis findet endlich heraus, was er tun muss, um uns zu retten. Er hat inzwischen alles, was er braucht: den Gral, den Königsstein und das Schwert. Was ist nur los mit ihm?“

Bekümmert sah sich Miri um. Ihr Blick sagte ihm, dass sie die Stadt nicht mehr mochte. „Hier leben nur die Toten, und bald werden wir ein Teil von ihnen sein. Wir hätten niemals zurückkehren dürfen.“

„Willst du immer noch nach Mes?“, fragte er. Es fiel ihm schwer, ihre Gedanken zu verstehen. Bei ihrer Flucht nach Sternenheim war sie davon besessen gewesen nach Mes zu gehen. Doch jetzt? Die Traumkorridore hatten sie und ihre neuen Freunde von Sternenheim hierher gebracht. Bella Constanzia war, wie es schien, das letzte Bollwerk gegen die sich ausbreitende Entropie. Viktor schüttelte verwirrt den Kopf. Existierte Mes überhaupt noch?

„Sei nicht albern“, erwiderte Miri, als hätte sie seine Gedanken erraten. Sie berührte mit den Fingern seine Wange. „Ich will nicht nach Mes. Die Entropie der Großen Leere rückt näher und mit ihr kommen die Gespenster. Es gibt keinen Ort, an den wir gehen können.“

Viktor nickte. Er erinnerte sich an die Gespenster.

Die Schattengänger.

Die Túatha Dé Danann.

Sie hatten sie gesehen. Auf ihrer Reise nach Sternenheim. Die Erinnerungen daran waren schrecklich, doch Viktor versuchte seine aufkeimende Angst zu unterdrücken, weil sie ihn in Miris Augen schwach erscheinen lassen würde. Ganz tief drinnen jedoch, da war längst aller Mut versiegt, und er wurde sich schmerzlich bewusst, dass er nur ein zwölfjähriger Junge war und kein Krieger.

„Du kannst gehen, wohin du willst, Miri. Die Stimmen in unseren Köpfen sind verschwunden.“

Duncan Dunvegan hatte bei einem seiner schrecklichen Experimente ihre Seelen dupliziert und sie in dem Kopf des jeweilig anderen verankert, sodass Viktor Miris Gedanken hören konnte und sie die seinen. Doch die Banshees in Sternenheim hatten sie getrunken und die Stimmen verstummen lassen.

„Was soll das, Viktor? Willst du, dass ich weggehe, damit ich nicht mit ansehen muss, wie sehr du dich fürchtest? Wer kümmert sich dann um dich? Cornelis etwa?“

Viktor rührte sich nicht. Jedes Zucken in seinem Gesicht wäre für sie eine Bestätigung gewesen, und sie würde ihm seine Angst solange unter die Nase reiben, bis er vor Verzweiflung zu heulen anfinge. Also blieb er ruhig, beherrschte sich und versuchte, wie ein Mann zu denken.

Er musterte Miri verstohlen. Seit einiger Zeit erschien sie ihm anders als früher. Weniger mädchenhaft. Weiblicher. Und sie war mehr denn je ein Wesen der Wüste. Bernsteinfarbene Augen in einem offenen, braunen Gesicht, umgeben von sanft fallenden, goldenen Locken. Er spürte eine Regung, die süßer war als jedes romantische Verlangen, doch Miris Gedanken waren stets woanders, selten bei ihm. Und wenn sie es waren, dann nicht so, wie er es sich wünschte.

„Beeilen wir uns“, sagte sie jetzt kühl. „Die anderen erwarten uns spätestens bei Sonnenuntergang im Hauptquartier.“

Die Straßen weiteten sich zu einem Platz. Dahinter folgte eine breite, marmorne Treppe. Viktor und Miri nahmen Stufe um Stufe, und als sie eine aus weißem Stein gemeißelte Balustrade auf halber Höhe erreichten, blieben sie stehen und blickten zurück. Der Golf von Iblis lag still und reglos im Süden. In der anderen Richtung erhob sich die Stadt. Die alten Boulevards und Paläste entlang der Hügel waren überwuchert von Ranken, Moosen und Schmarotzern. Vielfältiges, tierisches Leben existierte dort. Dazwischen funkelten erhalten gebliebene architektonische Kleinode von beeindruckender Schönheit.

Sie gingen weiter und kurz darauf wurde die Stille der Stadt überlagert vom Brummen unsichtbarer, im Erdreich verborgener Maschinen. Dunvegan betrieb sie, um Teile der Nekropolis am Laufen zu erhalten. Wind kam auf. Auf dem Dach eines Hauses klapperte ein Windrad in seiner rostigen Einfassung. Da und dort wehten vergilbte Fähnchen; sie knatterten und flatterten in der stärker werdenden Brise, als wollten sie eine Schar Besucher begrüßen. Ein verbeulter alter Eimer rollte scheppernd durch eine Gasse und prallte gegen eine Wand. Viktors Augen folgten ihm und er entdeckte hinter der Stelle, wo er liegen blieb, den breiten, innerstädtischen Kanal, eine schwarze Linie zwischen den hellen Fassaden der Häuser. Dort fuhren eine Schar Boote der Mu mit den Toten nach Norden ins Innere der Metropole; vermutlich dorthin, wo Duncan Dunvegan noch vor geraumer Zeit seine Experimente in der Basilika durchgeführt hatte. Doch Dunvegan war seit ihrer wundersamen Rückkehr nach Bella Constanzia verschwunden, hatte all Apparaturen mitgenommen und sich still und heimlich in ein neues Versteck irgendwo in der Stadt verkrochen.

Mehr Boote als üblich, dachte Viktor und musterte die schlanken Kähne. Dann fiel es ihm wieder ein: Entropie, Krieg und Chaos bestimmten dieser Tage die Welt außerhalb der Nekropolis.

Was immer nördlich von Bella Constanzia geschah, es hatte die Stadt in Form von neuem Versuchsmaterial für Duncan Dunvegan erreicht.

Meister Aki hatte eine richtig gute Idee gehabt, dachte Cornelis und war ziemlich froh, dass er den Vorschlag des alten Mannes angenommen hatte. Viktor, Miri, Aurelius, Hayo, Raggah und er selbst waren alle ausgezehrt und müde von ihren Rundgängen durch die Stadt im Hauptquartier nahe dem Hafen eingetroffen. Deshalb war es kein Wunder, dass Akis’ Idee, ein kleines abendliches Picknick zu veranstalten, schnell auf fruchtbaren Boden gefallen war.

„Geht aber nicht zu weit fort“, hatte Meister Aki zum Abschied gemahnt.

„Keine Sorge, Meister. Seht Ihr dieses Gebäude dort hinten mit dem Flachdach? Dorthin werden wir gehen. Nur für den Fall, dass Ihr euch sorgt“, hatte Cornelis erwidert und auf ein mehrstöckiges Haus entlang des Hügels gedeutet, das sich hinter dem Hauptquartier erhob.

Mit einem fast vergessenen Lied auf den Lippen kletterten Cornelis und Raggah die rostige Leiter nach oben. Das Mädchen hatte einen improvisierten Picknickkorb und eine mottenzerfressene Decke mitgebracht, Viktor und Miri so viele Porzellanteller und Kristallgläser, wie sie nur tragen konnten. Cornelis’ Brust und Kopf waren unter Unmengen von alten Kissen begraben. Seine Sicht war gleich Null. Miri bestimmte zielsicher einen Platz in der Mitte des Daches und Viktor rollte gemeinsam mit Cornelis die alte Decke aus, während Raggah zwei kleine Immerfeuer entzündete und sie in den von Moos durchdrungenen Kiesboden des Flachdachs rammte.

Cornelis warf die großen Kissen auf die ausgebreitete Decke und setzte sich. Selbst vom Boden aus hatte er noch einen wunderbaren Blick auf den Hafen, der weit unter dem Gebäude in einer steilen Kurve nach Süden hin abfiel und mit langen, jahrhundertealten steinernen Molen ins Meer hinausgriff. Cornelis entkorkte vorsichtig die Flasche Wein, die Meister Aki in einem alten Vorratskeller entdeckt hatte.

Die Flasche, hatte der alte Mann gesagt, ist für euch – nimm sie ruhig mit. Ihr sollt euren Abend genießen.

Kaum waren die Gläser ausgepackt und der Wein eingeschenkt, vernahmen die vier plötzlich aufkommenden Lärm. Besorgt wandten sie ihre Köpfe und erblickten erleichtert den Hybriden Hayo und den Maschinisten Aurelius, wie sie über die Außenleiter das Dach erklommen. Eine Kiste trugen sie bei sich, eine Kiste voller Wein wie es schien, die Aurelius umständlich und fluchend auf das flache Dach schob.

„Das wäre nicht notwendig gewesen“, rief ihnen Miri entgegen. „Nicht?“, lachte der Maschinist und trabte schnaubend herbei, die Kiste direkt vor seinen voluminösen Leib haltend. „Warum nicht? Wir haben schließlich was zu feiern.“

„Ach, ja? Was denn?“

„Tod und Auferstehung.“ Aurelius ließ den Wein demonstrativ auf den Kiesboden des Daches knallen. „Ist es denn nicht ein Wunder, mehr als nur ein Menschenleben zu haben? Wir waren tot … Cornelis und ich zumindest … und wir sind wieder auferstanden. Na?“

Raggah grinste. „Herzlichen Glückwunsch! Etwas anderes hätte ich von euch auch nicht erwartet.“

Viktor und Miri applaudierten fröhlich, während Cornelis und Aurelius sich theatralisch umarmten und vor den anderen verneigten. Das Klatschen wurde lauter. Hayo brummte etwas Unverständliches und half Viktor und Miri dabei, die Porzellanteller zu verteilten. Danach wurden die Kristallgläser gereicht.

„Miri und ich haben ebenfalls etwas zu feiern“, sagte Viktor schüchtern, nachdem jeder über Teller und Glas verfügte. „Die Stimmen in unseren Köpfen … sie sind verstummt.“

Miri nickte bestätigend. „Gib mir einen Kuss, du Esel“, hauchte sie.

Viktor tat wie befohlen und grinste dabei. Dann machte Meister Akis Flasche die Runde. Aurelius brachte irgendeinen dämlichen Trinkspruch aus, den Cornelis kurz darauf mit einem Tritt nach seinem Hintern quittierte, dann saßen sie alle still, während die Sterne nach und nach den Himmel eroberten.

„Warum können wir nicht einfach hier bleiben?“, fragte Raggah nach einer Weile, den Kopf an Cornelis’ Schulter gelehnt.

„Geht nicht“, erklärte Hayo, „es ist unsere Pflicht, als Helden zu sterben.“ Er lachte, aber es klang weniger fröhlich als beabsichtigt.

„Oh, ich brauche kein Heldentum“, grunzte Aurelius und leerte den Inhalt seines Glases in einem Zug, um sich ordentlich nachzuschenken. „Ich brauche nur die Schönheit von Frauen, Ruhe, Wein und Frieden. Und … bei Bernadette, seht nur … ist das nicht unglaublich? Das Meer glitzert wie Sternenlicht.“

Alle blickten gebannt nach Süden, doch Cornelis starrte landeinwärts. Etwas forderte dort hinten in der Dunkelheit seine Aufmerksamkeit.

„Schaut mal …“, rief er und kam sich in diesem Moment wie ein Spielverderber vor. „In einem dieser verlassenen Türme … da brennt Licht!“

„Was hast du vor?“ Aurelius versuchte sich seinem Freund in den Weg zu stellen, doch der Schüler von Meister Aki ließ sich nicht beirren und schritt forsch geradeaus. Die Gruppe hatte kurzerhand all ihre Habseligkeiten auf dem Dach zurückgelassen und stapfte jetzt in raschem Tempo durch die Stadt.

Cornelis schwieg.

Aurelius stöhnte theatralisch und wandte sich hilfesuchend an Raggah. „Warum sagst du ihm nicht, dass wir feiern wollen? Es könnte immer noch ein schöner Abend werden …“

„Sag es ihm doch selbst“, sagte Raggah schnippisch und schritt rasch an Aurelius vorüber.

Hayo schloss zu ihnen auf und klopfte seinem beleibten Freund auf die Schulter. „Wenn Cornelis sich was in den Kopf gesetzt hat, ist er nicht mehr zu bremsen. So gut solltest du ihn kennen.“

„Das heißt also … du bist auch auf seiner Seite?“

Der Hybrid lachte bellend.

„Seid mal still!“ Cornelis war stehen geblieben. Er deutete nach vorne. Von einer Querstraße her schritten kleine, in Schatten getauchte Gestalten durch die Dunkelheit. Sie waren nicht größer als Kinder. Ihre grauen, nackten Körper wirkten im Licht der Sterne fast schwarz. Ihre überdimensionalen Köpfe mit den großen mandelförmigen Augen verliehen ihnen ein merkwürdiges, nichtmenschliches Aussehen.

Es waren Mu.

Jene Kreaturen, die unter anderem für den Raub von Meister Akis Gehirn verantwortlich gewesen waren. Sie zogen große, halb geschlossene hölzerne Leiterwagen hinter sich her.

„Sie bringen die Toten“, entfuhr es Viktor und er biss sich auf die Unterlippe.

„Nein, nein … seht doch nur …“ Hayo fluchte leise. „Das kann doch nicht wahr sein! Sie bringen Fässer – und die sehen verdammt noch mal genauso aus wie jene an Bord der Mondblume.“

Raggah runzelte die Stirn. „Was hat das zu bedeuten?“

„Hm, … warum folgen wir ihnen nicht und finden es heraus?“, schlug Cornelis vor. „Ich wollte schon immer wissen, was mit den ganzen entnommenen Gehirnen geschieht. Ihr Ziel scheint jedenfalls der erleuchtete Turm dort vorne zu sein. Vielleicht werden wir diesmal ein paar Antworten erhalten.“

„Wenn wir ihnen folgen“, gab Aurelius zu bedenken, „könnte uns das möglicherweise in Schwierigkeiten bringen.“

Cornelis wandte sich zu ihm um. „Oh, keine Sorge … mit Schwierigkeiten habe ich Erfahrung.“ Er griff demonstrativ nach dem Heft seines Schwertes. „Aber sie lassen sich hiermit gut lösen.“

„Ja, schon recht, du Angeber! Du hast dich, wie es scheint, ziemlich schnell ans Töten gewöhnt“, erwiderte Aurelius.

Cornelis warf ihm einen überraschten Blick zu, dann fixierten seine Augen erneut die Mu. „Ich glaube, Duncan Dunvegan steckt hinter dieser Geschichte mit den Fässern.“

Miri nickte. „Die Mu haben ihm bereits früher Fässer und Leichen gebracht. Als er seine Laboratorien noch in der Basilika hatte. Es sind willkommene Rohstoffe für seine Experimente.“

„Experimente?“, echote Aurelius verständnislos. Er schüttelte den Kopf. „Was denn für Experimente …?“

„Er infizierte beispielsweise die Toten mit Seelen und erweckte sie auf diese Art und Weise wieder zum Leben … Dinge dieser Art.“

„Er hat die Toten … wiedererweckt?“ Aurelius wurde bleich. „Mit Seelen? Wie …“

Miri schnitt ihm das Wort ab. „Dunvegan hat vieles getan, das dich entsetzen würde, mein lieber Freund aus Nordland.“

Raggah warf Cornelis einen fragenden Blick zu. „Das verstehe ich nicht. Ich dachte, es gibt diese Seelen überhaupt nicht, von denen Miri spricht? Hat das nicht Bernadette gesagt?“

Cornelis nickte. Dieser Gedanke war ihm auch schon gekommen. Irgendwie widersprachen sich die Aussagen der Älteren anscheinend erheblich. „Ja … Das waren zumindest ihre Worte. Aber vielleicht hat Dunvegan ja auch gelogen?“

„Gelogen?“ Miris bernsteinfarbene Augen funkelten wild. „Wie meinst du das?“ Sie stemmte ihre Hände in die Hüften und reckte angriffslustig das Kinn in Cornelis’ Richtung. „Dunvegan hat in dieser Hinsicht sicherlich nicht gelogen. Ich weiß nur zu gut, was ich selbst erlebt habe.“

„Nicht streiten …“, flüsterte Raggah, winkte ab und deutete auf die Straße. „Seht nur! Die Mu sind verschwunden.“

Vor ihnen ragte jetzt einer der pastellfarbenen Türme auf. Sein Fundament, errichtet auf einem breiten, quadratischen Vorplatz, bestand aus gigantischen Granitblöcken und bildete eine trutzburgartige Ummauerung. Hier befand sich auch ein weitläufiger Treppenaufgang, der direkt vor dem Portal des Turms endete. Dahinter stülpte sich der eigentliche Bau wie ein riesiger Finger in die Höhe. Die glatte Außenhaut des Turms wurde nach gut einhundert Metern von einem stählernen Balkon mit Flanschen zum Andocken von Luftschiffen unterbrochen. Darüber setzte er sich noch zwanzig, dreißig Meter fort, um schließlich in einer nadelartigen Spitze auszulaufen.

Neben dem Balkon glaubte Cornelis einen riesigen, geschwollenen Schatten vor dem finsteren Nachthimmel zu erkennen. Er kniff die Augen zusammen. War das ein Luftschiff? Und wenn ja, gehörte es möglicherweise dem Älteren Duncan Dunvegan?

Die Mu waren inzwischen im Inneren des Turms verschwunden. Cornelis fasste sich ein Herz. „Ihr wartet hier. Ich gehe allein rein.“

„Kommt gar nicht in Frage …“, unterbrach ihn Hayo und schüttelte den Kopf. „Wir kommen selbstverständlich mit dir.“

„Hayo, bitte …“

„Er hat recht, du gehst auf keinen Fall allein.“ Es war Raggah, die sprach. „Ich zumindest komme mit dir.“

„Und was ist mit uns anderen?“, fragte Hayo misstrauisch.

Raggah bedachte den Hybriden mit einem Blick, der keinen Widerspruch duldete. „Ihr anderen bleibt hier.“

Das kreisrunde Innere des Turms wurde von einem guten Dutzend Immerfeuer in goldenen Wandhalterungen erleuchtet. Eine gusseiserne Wendeltreppe, ungewöhnlich kunstvoll gestaltet, wand sich in der Mitte des Turms korkenzieherartig nach oben und entschwand in der Decke. Raggah und Cornelis schlichen lautlos an mannshohen Containern vorbei und duckten sich hinter alten Holzschränken und -regalen. Cornelis sah seltsam geformte Glaskolben, gehalten von provisorischen Metall- und Holzkonstruktionen, deren Sinn und Zweck sich ihm nicht erschlossen. Manche dieser Kolben waren durchscheinend, andere milchig beschlagen und durch lange, gewundene Schläuche miteinander verbunden. Flüssigkeiten wurden hin- und hergepumpt. Ein Teil der Maschinen beherbergten in ihrem Inneren Zahnräder und Zylinder, die klickerten und klackerten.

Ein armdicker, gleißender Lichtbogen entzündete sich an einem stählernen Emitter und durchmaß den ganzen Saal, um nahe der gegenüberliegenden Wand an einer zweiten Elektrode aufzutreffen. Cornelis konnte im blauen Wabern der Elektrizität plötzlich die Umrisse der Mu ausmachen. Einige karrten Instrumente auf Rollwagen hin und her, andere entluden die mitgebrachten Fässer. Kurz darauf wurde ein letzter, größerer Wagen in den Turm geschoben und von seiner speckigen, ledernen Plane befreit. Cornelis erschrak. Er erkannte die reglose Gestalt wieder, die auf dem Wagen lag. Es war Harlekin.

Aus dem Hintergrund näherten sich in diesem Augenblick Mechanische Diener. Ihr Rückgrat und ihre Brust waren komplett freigelegt. Ölige, mit Nährflüssigkeit gefüllte Beutel, in denen graue Organe schwammen, hingen scheinbar lose, nur durch Fleischerhaken miteinander verbunden, hinter den dürren Rippen. Zwischen den Beuteln verliefen Kanülen. Cornelis hielt den Atem an. Diese MDs hier, das wurde ihm sofort klar, waren keine Roboter im eigentlichen Sinne. Vermutlich waren sie aus irgendwelchen Leichenresten zusammengesetzt. Cornelis schluckte hart.

In diesem Moment griffen die MDs nach dem reglosen Maschinenjungen und zogen ihn unsanft vom Wagen. Er fiel zu Boden, ohne sich zu regen. Dann polterte ein großgewachsener Mann die Wendeltreppe des Turms herunter. Langes, feuerrotes Haar und ein ungepflegter Vollbart zierten sein wettergegerbtes Gesicht. Ein voluminöser Bauch spannte seinen schlichten schwarzen Arbeitsanzug.

„Legt ihn auf den Behandlungstisch und beginnt mit der Prozedur“, brummte er. „Wir müssen uns beeilen, ehe sein Herr und Meister ihn vermisst.“

Die Mechanischen Diener hoben den Maschinenjungen hoch und legten ihn mit dem Gesicht nach oben auf einen stählernen Tisch mit Teleskopbeinen. Zwei der Mu kamen herbeigeeilt und blieben vor Harlekin stehen. Sie hielten seltsam geformte silberne Werkzeuge in ihren kleinen, feingliedrigen Händen. Cornelis bemerkte, dass einer von ihnen etwas gegen Harlekins Gesicht presste. Was immer es war, es spreizte die Kiefer des Maschinenjungen auseinander. Dann hoben die Mechanischen Diener Harlekin erneut an und drehten ihn unsanft herum, sodass er mit dem Bauch nach unten zu liegen kam. Der zweite Mu zog eine Metallplatte aus dem Tisch heraus und enthüllte eine kreisrunde Öffnung. Die MDs pressten den Kopf ihres Gefangenen mit Gewalt in die Aussparung. Ein Knopf am Tisch wurde gedrückt. Die hydraulischen Tischbeine streckten sich. Einer der Mu trat näher heran, blickte neugierig nach oben in den geöffneten Mund und schob dem Maschinenjungen ein schuhlöffelartiges Objekt in den Rachen.

„Das Tabernakel“, grollte der Rothaare ungeduldig. „Holt endlich das Tabernakel. Beeilt euch!“

Harlekin schien unterdessen etwas Kontrolle über seinen Körper wiedererlangt zu haben. Er winkelte die Unterarme an und versuchte sich mit einem Ruck aufzurichten. Mehrere Mu drückten den Maschinenjungen zurück auf den Tisch, während andere ihnen mit riesigen Elektrozangen in den Händen zu Hilfe kamen.

„Macht ihn bewegungsunfähig“, rief der Rothaarige. Die kleinen grauen Wesen setzten die Zangen an und lösten per Knopfdruck die hydraulischen Schneiden aus. Arme und Beine des Maschinenjungen fielen polternd zu Boden. Harlekin schrie laut auf und Cornelis sprang aus seiner Deckung, um dem Maschinenjungen beizustehen, aber Raggah riss ihn geistesgegenwärtig zurück.

„Bist du verrückt geworden?“, zischte sie. „Du kannst da nichts ausrichten. Es sind zu viele.“

Cornelis nickte widerwillig, schloss für einen Moment die Augen, kämpfte seine Wut nieder und atmete tief durch.

Die Mu hatten inzwischen Harlekins abgetrennte Arme und Beine auf einen der nicht mehr benötigten Wagen geworfen und bildeten jetzt einen Kreis um den Rolltisch.

„Wo bleibt das Tabernakel?“, rief der Rothaarige ungeduldig.

Einer der Mu hielt eine Art schrumpeliges, kopfgroßes Ei in seinen Händen, das überraschenderweise von einem bläulichen Ramnaroughfeld umhüllt war. Er stellte es vorsichtig auf den Boden, direkt unter Harlekins Torso, und berührte den Schild nacheinander an verschiedenen Stellen. Das Flimmern erlosch. Der rothaarige Mann gab dem Mu, der den Schuhlöffel in der Hand hielt, ungeduldig ein Zeichen. Dieser führte das metallene Objekt erneut in Harlekins Mund ein, woraufhin sich das Ei öffnete. Seine schrumplige Haut bildete sich zurück und eine dunkle, faustgroße Öffnung erschien. Aus Harlekins Mund entfleuchte ein seltsamer weißer Nebel, der von der Öffnung aufgezogen zu werden schien. Als er verschwunden war, bildete sich die Öffnung zurück. Der Rothaarige durchmaß den Raum, griff hastig nach dem Ei und aktivierte umgehend erneut den Schild. Dann warf er einen kurzen, verächtlichen Blick auf Harlekin.

„Bringt ihn weg. Leert danach die Fässer in den großen Tank … und räumt hier auf. Beeilt euch – ich fürchte, es sind allzu neugierige, alte Bekannte in der Stadt. Wenn sie hier auftauchen, dürfen sie nichts mehr vorfinden. Ich fliege zurück in die Unterstadt. Der Tag ihrer Erweckung ist nahe. Wir haben jetzt genug Gehirne, genug Seelenwasser, genug Ramnarough und bald – wenn Harknell, das alte Schlitzohr, nicht gelogen hat – sogar einen ganz besonderen Wirtskörper für unsere bezaubernde Rachel. Tempus fugit – amor manet.“ Dann eilte der Rothaarige mitsamt dem Ei die korkenzieherartigen Stufen hinauf und entschwand den Blicken von Cornelis und Raggah.

„Wir müssen ihm folgen“, presste der Junge hervor.

„Warte“, sagte Raggah und hielt ihn zurück. Dann beugte sie sich vor und küsste ihn. Eine lang anhaltende, feuchte Wärme, die sanft und sehr angenehm war und die Cornelis für einen Augenblick grenzenlos verwirrte.

Sie blickte ihn an. „Ich lenke die Mu und die MDs ab, und du folgst dem Mann mit dem Ei.“ Ein Grinsen stahl sich über ihr Gesicht. „Sei brav. Hack ihn bitte nicht gleich in tausend Stücke, hörst du, großer Krieger? Wir müssen mit ihm reden. Finde heraus, wer er ist und was er vorhat. Und komm zurück.“

Cornelis nickte. „Keine Sorge. Was wird aus Harlekin?“

Raggah und Cornelis sahen hinüber zum Tisch. Er war leer.

„Ich kümmere mich darum.“ Raggah zückte ihre beiden Dolche, küsste Cornelis erneut, diesmal allerdings nur flüchtig, und verließ die Deckung, ohne zu ihm zurückzublicken. Der Junge huschte hinüber zur Wendeltreppe und hastete lautlos nach oben. Nur wenige Augenblicke später war er den Blicken der Mu und der MDs entschwunden und befand sich in einer anderen Welt. Der Geruch war überwältigend. Gigantische Bücherregale mit endlos vielen Folianten, passgenau in die runden Wände des Turms gearbeitet, dominierten den ersten Stock und erinnerten ihn an Colombinas Domizil im Einsamen See. Es musste sich auch hier um eine Bibliothek der Älteren handeln. Es konnte gar nicht anders sein. Der rothaarige Mann musste demnach der Ältere Duncan Dunvegan sein. Jener Unsterbliche, der mit den Seelen der Menschen experimentierte. Seelen, wie Cornelis in Gedanken hinzufügte, die es laut Bernadette gar nicht geben durfte.

Vor tausend Jahren, vor der großen Katastrophe, hatten auf der Erde Wissenschaftler angeblich herausgefunden, dass der Mensch nichts weiter war als ein komplexer biologischer, aber seelenloser Organismus. Die einzige Hoffnung auf ewiges Leben bestand nicht mehr in der christlichen Vorstellung eines Lebens nach dem Tod, sondern allein in der biologischen Unsterblichkeit. Auch Bernadette war die Verwirklichung dieses Traumes gelungen. Doch dann hatte sie sich auf der Insel Tír na nÓg vor seinen Augen in den Freitod gestürzt, in der Hoffnung, ihren einzigen Sohn und alle anderen Menschen im sidhe zu retten. Warum sie diesen Weg gewählt hatte, blieb für Cornelis vorerst ein Geheimnis. Aber zum ersten Mal, seit er mit Meister Aki aus Corpus Mortui aufgebrochen war, war er zuversichtlich, dass es ihm gelingen würde es zu lüften.

Er gab sich einen Ruck, hastete weiter, nahm zwei Stufen auf einmal. Jedes Stockwerk offenbarte neue, faszinierende Einblicke in die Welt der Unsterblichen. Seltsam geformte Schränke, Tische voller Folianten mit unbekannten Aufzeichnungen und aufgeschlagenen Notizbüchern – sie waren überall, selbst über dem Boden verstreut. Regale voller wissenschaftlicher Apparaturen, die Cornelis fremd erschienen, von der Decke hängende Kunstobjekte, antike, merkwürdig aussehende Skulpturen auf geschliffenen Steinquadern und schlichte, winzige Nischen mit Plastikstühlen und Plastiktischen wechselten sich ab. Dann folgten nüchterne Stockwerke mit Vorratskammern, in denen sich vom Boden bis zur Decke Dosen, Kisten und Fässer mit unbekanntem Inhalt türmten. Ein Weinlager hier, ein Raum mit elektronischen Geräten dort. Er rannte an zwei Zimmern mit Arbeitskleidung vorbei. Eine Vielzahl Schutzanzüge, Handschuhe, Stiefel, Brustpolsterungen in unterschiedlichen Größen stapelten sich darin, aber auch Helme und Atemmasken. Die meisten dieser Räume waren türlos und so spähte Cornelis neugierig hinein. Schließlich entdeckte er eine Waffenkammer, die aber kaum Waffen beinhaltete. Dann schloss sich eine weitere riesige Bibliothek an. Auch hier stapelten sich tausende, vielleicht sogar zehntausende von Büchern auf engstem Raum. Wieder führte eine Treppe in der Mitte des Turmes nach oben. Diesmal war sie schmaler und aus altem Holz.

Wo war Dunvegan?

In diesem Augenblick hörte Cornelis von oben das dumpfe Schlagen einer Tür. War das etwa der Balkon mit den Anlandeflanschen?

Müde hastete er nach oben, doch die Stufen schraubten sich fast endlos dahin und er dachte kurz zurück an den furchtbaren Aufstieg von Magog nach Kautoganka. Sein Herz begann zu rasen und ein tiefer Schwindel erfasste ihn. Plötzlich stand Cornelis vor der Tür. Er drückte die Klinke nach unten und stieß sie auf. Kalte Nachtluft umfing ihn und ein böiger Wind zerrte an seiner Kleidung. Cornelis trat über die Schwelle auf den kreisrunden Balkon hinaus. Ihm schwindelte angesichts der Höhe. Unter ihm lag die Stadt, ein amorphes Häusermeer, in nächtliche Dunkelheit getaucht. Auf der anderen Seite des Turms erblickte er das hölzerne Heck einer Luftschiffgondel und einen prall gefüllten Auftriebskörper. Der Bug des Luftschiffes wurde von einer mächtigen stählernen Flansche gehalten. Die Frachtklappe war geöffnet. Niemand war zu sehen. Ohne nachzudenken, nahm er Anlauf und sprang Kopf über voraus in die Frachtwanne des Luftschiffes. Er landete auf etwas Weichem und Nachgiebigem.

Der Geruch nach Verwesung stieg ihm in die Nase. Ehe Cornelis schreien oder wieder nach oben klettern konnte, schloss sich über ihm völlig unerwartet die hölzerne Luke.

Im Hauptquartier war es nahezu dunkel. Die provisorischen Immerfeuer waren heruntergedreht, die Kerzen gelöscht. Ed Mirko, der ehemalige Polizist aus Sternenheim, den es genau wie seine neuen Freunde durch den Traumkorridor nach Bella Constanzia verschlagen hatte, kam von seinem letzten Rundgang durch die Totenstadt zurück und knallte das riesige Multikalibergewehr auf den Tisch.

„Nichts“, sagte er mit belegter Stimme. „Keine Spur von ihnen. Auf dem vereinbarten Gebäude mit dem Flachdach jedenfalls sind sie nicht.“

Meister Aki blickte auf. Seine Augen drückten Überraschung aus. „Ich glaube nicht, dass wir uns Sorgen machen müssen. Andererseits ist Cornelis jung und verliebt. Vielleicht kann man ihm in seiner jetzigen Verfassung nicht über den Weg trauen.“

Michael Altfeld, der unsterbliche Ältere und Schwertkämpfer, erhob sich. Er wirkte müde und erschöpft, als hätten sämtliche Naniten in seinem Körper die Arbeit eingestellt. „Ich vertraue ihm. Aber die Stadt … Bella Constanzia – auch wenn sie in diesem Moment still und menschenleer erscheinen mag, sie bleibt gefährlich. Die Mu haben wir bereits entdeckt, ebenso einige wilde, nachtaktive Jäger, die um die Ruinen streifen. Aber vergesst nicht, auch Duncan Dunvegan ist hier und niemand weiß, was er da draußen treibt.“ Er seufzte. „Unsterblichkeit macht bekanntlich etwas exzentrisch.“

„Gefahr.“ Jes Jehnson, der Schrottmann, gesellte sich unvermittelt zu ihnen an den Tisch. Er hatte bislang geschwiegen. Jetzt starrte er Meister Aki und die anderen mit seinem rot pulsierenden Laserauge an. Reglos. „Gefahr kann Freunde töten. Handeln. Rasch.“

Die Sonne schwand und die kurze Dämmerung des Südens fiel über die Straßen der Nekropolis. Jerry Marrks trieb es stadteinwärts, hin zu jenem Ort, den Viktor und Miri als Basilika bezeichneten. Ein riesiges, gepanzertes Gebäude voller schwarzer Dornen und Wehrtürme; ein Ort, der Marrks vertrauter war, als er es bislang zugegeben hatte.

Er drang über einen unscheinbaren Seiteneingang ein und hastete hinunter in die tiefen dunklen Kammern des Gebäudes. Er kam zu spät: Der riesige, mit Goldornamenten versehene Tresor, auf den er es abgesehen hatte, war bereits geöffnet. Verborgen hinter einer Tür beobachtete er das Geschehen vor ihm. Eine Gruppe Mu hatte einen kopfgroßen, eiförmigen Gegenstand aus dem Inneren entnommen und ihn vorsichtig in eine Kiste gelegt. Jerry hielt den Atem an. Er hatte es sofort wiedererkannt. Es war das Tabernakel. Für einen kurzen Moment überlegte er, ob er die Mu einfach töten und den Gegenstand an sich nehmen sollte, doch dann zögerte er. Der Gral war hier. Der Auserwählte war hier. Rachels Seele war hier. Die Fäden des Schicksals hatten es ganz eindeutig so bestimmt. Er durfte sich jetzt auf keinen Fall einmischen, wollte er seine eigenen Pläne damit nicht gefährden. Er entschied, die Mu ziehen zu lassen. Zumindest bis er wusste was sie mit dem Tabernakel vorhatten. Die kleinen grauen Wesen nahmen die Fackeln aus den Wandhalterungen und verschwanden den Gang entlang. Der Feuerschein warf noch einige Augenblicke ein diffuses, flackerndes Licht an die Wände, dann wurde es dunkel in der Kammer. Ein Gesicht, blass und oval, umrahmt von langen schwarzen Locken erschien vor Jerrys innerem Auge. Rachel. All die Versprechen, die er ihr gemacht hatte, all die niemals erwiderten Liebesschwüre. Er seufzte, gab sich einen Ruck und folgte wie betäubt den Mu hinaus in die kühle Nachtluft.

Die Sterne des Südens hingen jetzt über ihm. Jerry starrte empor, versuchte das Glitzern am Himmel in seiner ganzen Ausdehnung zu begreifen, doch das Licht war kalt und abweisend. Fremd. Er wandte den Blick ab. Sein Herz pochte. Seine Gedanken waren von wirrer Natur und er scheute unwillkürlich davor zurück, sie näher zu erforschen. Er wusste was die Mu jetzt tun würden. Er hatte ihre Ausrüstung gesehen. Die Hochenergiekanonen. Jerry biss sich auf die Unterlippe. Dunvegans Kreaturen schienen genau zu wissen, wohin sie gehen mussten und er folgte ihnen, anstatt sie aufzuhalten.

Und dann sah er sie: Harlekin und Colombina. Seine beiden Schöpfungen. Natürlich war es zu spät für eine Warnung. Zu spät, um irgendetwas zu tun. Der Maschinenjunge ging etwas voraus, Colombina folgte ihm. Sie waren in ein Gespräch vertieft, hielten sich lose an den Händen, schlenderten vollkommen gelassen durch die sie umgebende Dunkelheit. Dann zuckten blaue Strahlen aus den Waffen der Mu und trafen Colombina