Tirol - Carry van Bruggen - E-Book

Tirol E-Book

Carry van Bruggen

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Beschreibung

Vor etwa einhundert Jahren war die touristische Welt in Tirol (in den vorliegenden Reiseimpressionen vor allem Innsbruck und die nähere Umgebung) recht überschaubar. Zwar ist der Alpinismus schon seinen Kinderschuhen entwachsen, aber für den Fremden, der zur Sommerfrische in Innsbruck weilt, kommt selbst eine Besteigung des Patscherkofel einem Abenteuer gleich. Carry van Bruggens Tiroler Reiseimpressionen sind kein touristischer Reiseführer, der sich damit begnügen würde, die lokalen Sehenswürdigkeiten aufzuzählen. Gewiss werden diese Orte besucht, aber Carry van Bruggen verknüpft ihre Schilderungen mit intensiven persönlichen Noten, einer gehörigen Portion Humor und Selbstironie sowie einem sicheren Gespür für die politische Entwicklung der kommenden Jahre.

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Seitenzahl: 97

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Inhaltsverzeichnis

Karoass

Musik

Die Schlacht bei Bergisel

Eine elegante Dame

Elektrisches Licht

Matratzenlager

Schloss Elmau

Goethe-Stube

Hakenkreuzler

Frau Lona

Hoher Besuch

Eingeregnet in Heiligwasser

Jausen im Grünwalderhof

Unser Kapellmeister

Föhn

Jeunesse dorée

Hungerburg

Miniatur

Die vielen Menschen

Nach Hause

Carry van Bruggen

Karoass

Wie gerne mochte ich doch als kleines Mädchen, als ich von der Schule kam und es Herbst war und der Tag grau, aus meiner kleinen Schublade die vier Asse zum Vorschein holen, die ich für mich selbst aufbewahrt hatte, als das Kartenspiel ausrangiert wurde …

Es waren welche von diesen dunkelgrauen, schmuddeligen Bildern, zusammengesetzt aus Strichen und Streifen, und sie stellten Kurorte dar, ausländische, elegante, vornehme wie: Wiesbaden, Homburg, Spa. Unter hohen Pappeln, zwischen aufschießenden Springbrunnen, rund um die sich beängstigend aufbäumenden Reiterstandbilder bewegten sich die Herren und Damen in altmodischer Kleidung, sie trugen Gehstöcke und Sonnenschirmchen, sie wandelten an palastartigen Häusern vorbei und gingen über weite Plätze, hinter denen sich am Horizont Gebirge erhoben.

Ach, es werden alberne, törichte, schrecklich unbeholfene Bilder gewesen sein. Aber für mich waren sie lebendig, intensiv und süß, es schossen die Fontänen hinauf, rauschten die Pappeln …

Sie hatten alle den Reiz des Unbekannten und alle den Charme des Vertrauten … denn ich verweilte ja selbst dort! Jede Träumerei war eine Reise … und angesichts eines kleinen Herrn und einer kleinen Dame auf einer Bank neben einem Springbrunnen habe ich mich wiederholt gefragt, worüber sie bloß so vertieft und lebhaft sprechen mochten, sie anmutig zu ihm hinübergebeugt.

Und Freunde, schaut, das Wunder ist geschehen! Mein Ass, mein Karoass ist plötzlich lebensgroß und wahr geworden. Ich habe es bei lebendigem Leib gesehen, ich habe seine Luft eingeatmet, ich habe da mittendrin gesessen …

Und der Ort, der diese Überraschung für mich hütete, ist Innsbruck, diese schöne und fröhliche, diese stimmungsvolle und malerische Stadt am glänzenden, flinken Inn.

An einer Stadt im Tal zwischen hohen Bergen ist etwas sehr Intimes, vor allem am anbrechenden Abend. Aber das allererste Gefühl des Neuankömmlings ist Angst. Man steht auf dem Bahnhofplatz … Und sieh, wie zieht da nun von allen Seiten solch ein Unwetter heran? Diese Wolkenhaufen, sich zusammenbrauend, bleigrau? Es sind die Berge, die die Stadt umringen, die das Tal umschlingen, die den Himmel bedecken.

Lichter funkeln, hoch und einsam, an ihren düsteren Flanken: Dort haben die müden Bergsteiger ihr Lager aufgeschlagen, die sich der Nacht wegen nicht weiterwagen … Lichter funkeln, tiefer und in Grüppchen, dort liegt Hungerburg, auf einem Viertel des Weges den Berg hinauf, am Ende der breiten Maria-Theresien-Straße, Innsbrucks Flaniermeile.

Und da treiben wir mit dem Strom, in einer süßen Dämmerung, in einer angenehmen Atmosphäre von seliger Müdigkeit. Denn entlang der strahlenden, luxuriösen Geschäfte, Kinos, Cafés, Konditoreien flanieren fast nur Touristen, von einer schweren Tagestour zurückgekehrt, die Glieder matt von herrlicher Müdigkeit, die Augen sonnengesättigt, die Lungen lufterfüllt … sie flanieren, rauchen, lachen, naschen. Braun gebrannte Häupter zeigen sie über den blauleinenen Bergtourjacken. Morgen früh gehen sie wieder, morgen Abend kommen sie wieder und erfüllen mit ihrer Stimmung seliger Mattigkeit die Maria-Theresien-Straße, die helle, freundliche, an deren Ende sich die dunkle, steile Bergwand erhebt.

Aber jetzt spazieren wir durch ein Tor, nur so, auf gut Glück, und oh, das ist keine Gegenwart mehr, sondern lebendig gewordene, auferstandene Vergangenheit. Dies ist das Karoass meiner Kinderjahre und es fehlt nichts daran. Die Farben, das Grau und das Grün, ich muss sie mir unwissentlich dazugedacht haben. Es ist vollständig, es ist lebendig, es ist komplett.

Es sind die langen, niedrigen, altmodisch vornehmen Häuser, von kleinen Toren durchbrochen, flankiert von Türmchen mit leuchtend grünen Kuppeln, von Gesimsen abgedeckt, es sind die Reihen, Reihen, Reihen von geschlossenen, mit Blumen bekränzten Fenstern mit grünen Läden … es sind die starken, hohen Pappeln, die Wipfel im Raum verloren, ihre Silhouetten scharf gegen die Bergwand in der Ferne … es sind die beängstigend aufsteigenden fahlgrauen Pferde … es ist das aufschießende, singende, plätschernde Wasser … und es ist das Halbdunkel, das typische Halbdunkel meiner alten, schmuddeligen Ass-Drucke – heißen sie nicht Kupferstiche? –, und dort steht die Bank, auf der mein kleiner Herr und meine kleine Dame saßen, sie anmutig zu ihm hinübergebeugt, in ernstem Gespräch … und die Bergwand erhebt sich im Hintergrund. Niedriger, auf einem Viertel des Weges, funkeln die Lichter von Hungerburg, Juwelen im Zirbenwald, halben Weges, und noch viel höher flackern die Lagerfeuer, aber unterhalb ist alles altgrau von Mauern und grün von Türmen und Pappeln, plätscherndes Wasser in schwachem Halbdunkel. Es ist makellos.

Aber nein, denn makellos wird es erst soeben. Musik auf der Terrasse, die zum Hofgarten gehört! Und welche Musik? Karoassmusik, Kupferstichmusik, Wespentaillenmusik. Die Musik, die in unserer Jugend unsere Großtanten summten, mit einem Lächeln voller geheimnisvoll-freudiger Erinnerung … und von der schnarrende Miniaturen in unseren Spieldöschen verborgen waren … Die Musik, von der wir später kaum glauben konnten, dass sie jemals nicht da gewesen war, so gehörte sie zu allem, was von Jugend an selbstverständlich war. »Die Hugenotten«, »Die Marmorbraut«, »Der Troubadour« … ausgeführt in Kupfer, unter dunklen Pappeln, hinter einem Tor, das die Stadt verborgen hält. Fahl schimmern die palastartigen Häuser mit ihren Reihen, Reihen, Reihen von mit Blumen bekränzten Fenstern … das unsichtbare Wasser plätschert ununterbrochen … wir sind mitten im Herzen des Karoasses, in der lebendig gewordenen Vergangenheit, die als Vergangenheit niemals so zum Leben kam.

Das einzig Moderne sind die raffinierten Rohrleitungen und weitere eisige Herrlichkeiten …

Musik

Wir sind sehr müde. Der Tag war lang, der Tag war schwül, wir sind viel gelaufen. Heute Vormittag zum Herzsee, dem dunklen Bergsee, lang gezogen zwischen hohen Bäumen, der mich mit seinem Badehaus auf Pfählen an Indonesien erinnerte. Grün und kühl lag das Wasser – das Angeln ist verboten, man züchtet dort Seelachs für die Hotels –, ich würde nicht gerne in diesem tiefen Schatten zwischen diesen dicht gedrängten, großen, kalten Tieren schwimmen wollen, aber es heißt, dass man sich daran gewöhnt.

Heute Nachmittag sind wir über Heiligwasser nach Sistrans gegangen und quer über die Wiesen voller honigsüßer Blumen vorbei an Lans und so wieder zurück. Und nun sitzen wir still an unserer kleinen Essenstafel auf der Veranda und warten auf unser Mahl – nahrhaft, einfach; wir sind in einem Alttiroler Gasthof abgestiegen und schauen nach draußen in eine Seitengasse.

Mit dieser Aussicht von meinem Platz an der Tafel bin ich schon ganz vertraut. So viele Tage bereits ruht mein Auge auf dem ovalen Marienbildnis, hoch oben auf die weiße Hauswand zwischen zwei kleinen Blumenbalkonen gemalt. Bunte Blumen und bunte Heilige gehören zur Tiroler Architektur, der Katholizismus ist eine Selbstverständlichkeit.

Die sinkende Sonne vergoldet die weiße Wand und das bunte Bildnis. Ernsthaft und weise schaut das Kind auf dem Arm seiner Mutter. Ich werde nun an die dichten, stillen Wälder rund um Heiligwasser denken.

Heiligwasser ist ein hoch gelegener Wallfahrtsort, geradewegs den Patscherkofel hinauf. Aus allen Taldörfern schlängeln sich Pfade dorthin, quer durch den stillen, dichten Wald. Sie kommen, diese Pfade, aus Igls – dem Kurort, unserem vorübergehenden Aufenthalt –, aus Sistrans, aus Lans und aus Patsch, aus allen Richtungen winden sie sich durch die schwindeltiefe Stille im goldbraunen Dämmerlicht zwischen den glatten Stämmen zur weißen Kapelle beim heiligen Brunnen. Und entlang jedes dieser Pfade zeigt sich ein Kreuzweg mit all seinen Stationen und seinen Unwägbarkeiten.

In gewissen Abständen erhebt sich da aus dem fahlbraunen Boden, erhebt sich zwischen den aufrechten, dunklen Baumstämmen, erhebt sich in der urwüchsigen Stille ein hölzerner Pfahl mit einem roh in Rahmen und Glas gefassten Bild: Da ist Christus vor Pilatus, da ist Christus, der Abschied nimmt, da ist der sein Kreuz tragende Christus, da ist die Geißelung, da ist die Kreuzigung, die Grablegung … alles, was sich von Geburt bis Auferstehung zuträgt.

Auf nichts und niemanden trifft man in den großen, stillen, tiefen Wäldern; dann, entlang aller Pfade, immer wieder dasselbe Leidensgesicht, immer wieder dieselben Abbildungen derselben Ereignisse. Zwischen den glatten grauen, hoch aufragenden Baumstämmen kreuzen die Leidenswege einander, Quellen fließen an ihnen entlang, kleine Wasserfälle plätschern in der Ferne und es scheint an das ganze Leben keine andere Erinnerung als diese eine geblieben zu sein.

Daher will ich nun so gerne an diese Wälder denken, während ich auf der von der Sonne vergoldeten Wand das Kind anschaue, ernsthaft und weise in einem bunten Bildnis.

Aber ich bin so müde und es ist so schwül, ich wollte alles viel schärfer empfinden, viel intensiver erleben. Dies sind die Augenblicke, in denen die Hände vergeblich nach dem Kern des Lebens tasten, in denen die Seele schlaff und machtlos liegt.

Da ist eine Eintönigkeit, trüb stehen die Bäume, starr sind die Konturen, leer und schwer die Atmosphäre.

Ach … was will der alte Kauz mit seinem weißen Bart? Er ist kein Herr und er ist kein Bauer, er kommt nicht als Gast und nicht als Bettler, das lässt sich sogleich erraten. An einem ungedeckten Tischlein setzt er sich nieder … es ist ein reisender Musikant. Da hat er seine Zither bereits vor sich liegen, da erklingen schon die silbernen Töne …

Und schau, alles ist plötzlich anders geworden. Als würde ein beschlagenes Fenster sauber gewischt, als lichtete sich ein matter Nebel. Solch schlichte, solch bebende Töne, so eine ganz unschuldige Zillertaler Weise … solch einfaches silbernes Erklingen … und in einem Zug richtet sich die Seele hoch auf, die Müdigkeit entflieht. Es tschilpt ein Vogel, der war soeben nicht da. Bis hoch in die Berge rauschen plötzlich die Bäume, sie mischen willentlich ihr Gewisper unter die silberne Melodie. Lebendiger als soeben ist das Licht, Konturen finden ihre Geschmeidigkeit wieder.

Wonach ich gerade noch tastete, es ist mir plötzlich nahe: die Erinnerung an den dunklen Wald, in dem versunken nun einsam in anbrechender Nacht die Kreuzwege liegen, entlang der verborgenen Pfade, wo kein Mensch mehr geht, der das bleiche Bild anschaut.

Musik, Musik … ist diese kleine Zillertaler Weise froh oder ist sie traurig?

Weder froh noch traurig, sondern alles zusammen, zugleich Freude und intensives Erlebnis auslösend.

Und wie so oft muss ich mich wieder an die zwei Zeilen aus van Eedens Lied vom Schein und Wesen erinnern:

Doch wer kennt Worte, so wesenseigen,

Musik, sie wird der Sprachen Wunder zeigen.

Die Schlacht bei Bergisel

Es ist Sonntag und es regnet, es regnet schon seit dem frühen Morgen. Lass niemals wieder jemanden zu mir über die holländischen Regentage sprechen – in Tirol fühlt man sich zum Amphibium, in Bayern zum Wassertier geworden!

Gerade sind wir nach Hause gekommen, »durchgeweicht wie eine Kinderwindel«, um es mit dem Schullehrer zu sagen. Wir waren mit dem Rucksack aufgebrochen, hatten nahe bei der Stadt einen idealen Picknickplatz gefunden und gerade, als alles für die Mahlzeit ausgebreitet war, ging es los. Retten, was zu retten war, und im Trab zur nächsten Straßenbahn.

Aber was wahr ist, muss berichtet werden: Es wird hier auch jedes Mal und erstaunlich schnell wieder gut. Schau, es scheint schon blau am Himmel, wiewohl der Meraner Platz noch einer Seenplatte gleich ist … Sollen wir in Regenjacken am Inn entlangspazieren gehen?

Ich kann nicht genug vom Inn bekommen, immer wieder zieht es mich zu diesem lebendigen Wasser hin. Wie das wühlt, glitzert, silberhell und grün und grau, sich breit erstreckend zwischen glühend grasbewachsenen Ufern! Schon sehr seltsam für das holländische Auge; ein vollkommen unbefahrener Fluss! Kein Segel, keine Jolle, kein fröhliches Beurtschiff, kein flinkes Motorboot, bloß das Wasser, der Donau entgegeneilend, als gelte es, eine Verabredung einzuhalten, sich gemeinsam ins Schwarze Meer zu stürzen.