Töchter des Glücks - Maria Nikolai - E-Book
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Töchter des Glücks E-Book

Maria Nikolai

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Beschreibung

Eine mutige Frau. Eine schicksalhafte Zeit. Und der Duft von Liebe und Heimat. Die hinreißende neue Saga der Autorin der »Schokoladenvilla« geht weiter!

Baden und Württemberg, 1918. Für die junge Lilly soll es der Start ins eigene Leben sein: Frisch verheiratet verlässt sie den elterlichen Gasthof am Bodensee und beginnt hoffnungsvoll ihre Ehe an der Seite von Arno, dem Erben eines angesehenen Stuttgarter Seifenimperiums. Doch das letzte Kriegsjahr ändert alles. Als Arno vermisst gemeldet wird, liegt Lillys Welt in Trümmern. Mutig stellt sie sich der Verantwortung für das Unternehmen ihres Mannes, träumt von einer eigenen Kosmetiklinie und fasst Zukunftspläne – bis der geheimnisvolle Felix Benthin in ihr Leben tritt und ihre Gefühle gehörig durcheinander wirbelt. Denn sie weiß, dass diese Liebe nicht sein darf …

Der zweite Band der neuen historischen Trilogie von Bestsellerautorin Maria Nikolai – eine hochemotionale Familiensaga, genauso hinreißend wie »Die Schokoladenvilla«!

In hochwertig veredelter Romance-Ausstattung, mit leckerem Kuchenrezept im Innenteil.

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Seitenzahl: 577

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Maria Nikolai liebt historische Stoffe und zarte Liebesgeschichten. Mit »Die Schokoladenvilla« schrieb sie sich in die Herzen der Leserinnen: Die opulente Saga rund um eine Stuttgarter Schokoladenfabrikantenfamilie stand monatelang auf der Bestsellerliste und verkaufte sich fast eine halbe Million Mal. Mit ihrer neuen historischen Trilogie entführt Maria Nikolai ihre Fans an den schönen Bodensee zu Ende des Ersten Weltkriegs. »Töchter des Glücks« ist der zweite Band der Saga.

Außerdem von Maria Nikolai lieferbar:

Die Schokoladenvilla

Die Schokoladenvilla. Goldene Jahre

Die Schokoladenvilla. Zeit des Schicksals

Töchter der Hoffnung. Die Bodensee-Saga

Maria Nikolai

Töchter des Glücks

Die Bodensee-Saga 2 

Roman

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Copyright © 2022 der Originalausgabe by

Penguin Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Sarvin Zakikhani

Covergestaltung: Favoritbuero

Coverabbildungen: ©Ildiko Neer/ArcAngel, ©Shutterstock (Marina Grau, Standret, Gebeler, Vadym Lavra, T.SALAMATIK, kzww, Irine and Andrew, Helene PIETRINI, Nemeziya, Darya Komarova, Boris Medvedev, sumroeng chinnapan, OLEG PLESHKOV)

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-27351-4V006 

www.penguin-verlag.de

»Es klingt ein Glück,

Es blüht von weit

Und rankt um meine Einsamkeit.«

Rainer Maria Rilke

Prolog

Der Lindenhof in Meersburg am Bodensee, im Mansardenzimmer der Lindner-Mädchen, an einem Sommerabend des Jahres 1909 

»Nein, Helena! Das mache ich nicht! Auf gar keinen Fall!« Lilly hoffte, dass sie überzeugend genug klang. »Ich bin neun Jahre alt! Und das ist mein Zahn! Über den bestimme nur ich!«

»Ich will dir doch nur helfen, du Dummerchen«, erwiderte ihre dreizehnjährige Schwester. »Du wirst sehen, das geht ganz leicht!«

»Aber …« Lilly suchte fieberhaft nach Argumenten, die sie vor Helenas Versuch, ihren Wackelzahn mit einem an die Türklinke gebundenen Bindfaden herauszuziehen, bewahren konnten.

»Kein Aber«, sagte Helena streng und schnitt bereits ein Stück Zwirn ab. »Ich habe keine Lust mehr, deinem Gejammer zuzuhören, dass du nicht richtig essen kannst, weil der Zahn so wackelt.«

»Ich jammere doch gar nicht …«

Helena biss den Faden durch und hielt ihn Lilly vor die Nase. »Es ist nur ein kleiner Augenblick! Dann ist alles vorbei und du kannst ihn unter das Kopfkissen legen – für die Gute Fee.«

»Lilly, du musst den Mund aufmachen!«, sagte Katharina und spielte mit einem ihrer hellblonden Zöpfe.

Lilly streckte ihr die Zunge heraus. Sie wusste, dass Katharina schon die ganze Zeit auf diese Zahnziehprozedur hinfieberte. Mit ihren acht Jahren mochte sie die Jüngste der drei Lindner-Schwestern sein, doch schon seit Lilly denken konnte, kümmerte Katharina sich um alles, was mit irgendwelchen Wehwechen und ihrer Behandlung zusammenhing – einerlei, ob der Betroffene das wollte oder nicht.

»Jetzt setzt du dich auf das Bett und wir machen erst einmal den Bindfaden an deinem Zahn fest«, entschied Helena und nahm Lilly am Arm.

Katharina nickte. »Genau!«

Lilly ließ sich widerstrebend mitziehen.

Die drei Schwestern trugen bereits ihre Nachthemden, denn es war Schlafenszeit. Eigentlich mochte Lilly diese späte Stunde, bevor der Vater mit ihnen das Nachtgebet sprach, immer besonders gerne. Meistens spielten sie dann mit ihren Puppen oder sie malten. Manchmal sangen sie gemeinsam ein Abendlied.

Aber nicht heute.

Denn heute hatte sich Helena in den Kopf gesetzt, Lillys Zahn den Garaus zu machen. Lilly, die inzwischen auf ihrem Bett saß, die Schwestern zu beiden Seiten, rüttelte noch einmal an dem widerspenstigen Eckzahn, der schon seit einer Woche so sehr wackelte, dass sie sich nicht einmal mehr traute, in einen Apfel zu beißen. Aber das mit dem Faden und der Türe – das machte ihr weit mehr Angst als der Zahn Beschwerden.

»Darf ich den Faden festbinden, Helena?«, fragte Katharina in diesem Moment.

»Nein, Katharina, das mache ich«, sagte Helena.

Katharina verzog die Mundwinkel, widersprach aber nicht. Sie rutschte noch ein bisschen näher zu Lilly hin und sah erwartungsvoll auf Helena.

Lilly kniff die Lippen zusammen.

»Lass mich wenigstens in deinen Mund schauen, Lilly«, bat Helena.

»Ha, nein!« Lilly fürchtete eine überfallartige Verknotungsmaßnahme für ihren Zahn.

»Nur schauen! Ich mache erst einmal nix, das verspreche ich dir!«

Misstrauisch öffnete Lilly den Mund und ließ Helena hineinsehen. Zugleich reckte sich auch Katharina, um die Lage zu begutachten, und so kam es, dass die Köpfe der beiden zusammenstießen und gegen Lillys offenen Mund prallten.

Lilly schrie.

Katharina heulte auf.

»Du blutest ja, Lilly!« Helena verzog keine Miene, zeigte aber zum ersten Mal an diesem Abend so etwas wie Mitgefühl.

Lilly betastete vorsichtig ihre Lippen und betrachtete anschließend das Blut, das an ihren Fingern klebte. Zugleich spürte sie etwas Hartes in ihrem Mund. War das etwa …?

»Hmpf!« Sie spuckte den Brocken aus.

»Er ist draußen!«, flüsterte Katharina, auf deren Stirn sich durch den Zusammenstoß eine riesige Beule gebildet hatte. »Das ging aber schnell!«

Alle drei starrten auf den blutigen Eckzahn auf Lillys Handfläche. »Dann kann die Gute Fee ja kommen«, stellte Helena zufrieden fest. »Am besten, wir waschen ihn ab und legen ihn unter dein Kopfkissen, Lilly.«

Eine Stunde später lagen die drei in ihren Betten im Mansardenzimmer des Lindenhofs. Beim Abendgebet hatten sie dem Vater Lillys Zahn gezeigt, und er hatte ihn sich genau angesehen. Die Gute Fee, hatte er gemeint, würde ganz bestimmt in dieser Nacht vorbeischauen.

Diese Prophezeiung wiederum bewirkte, dass Lilly nicht schlafen konnte. Zu gerne wollte sie einmal der Guten Fee begegnen, die ganz sicher ein wunderschönes Gewand trug und einen Zauberstab bei sich hatte, mit dem sie ihren Zahn in eine Geldmünze verwandelte.

Nachdem sie sich eine Zeit lang hin und her gewälzt hatte, hielt sie es nicht länger aus und stand auf. Der Vollmond, der durch das Fenster in das Zimmer der Mädchen schien, erhellte den Raum so weit, dass Lilly nicht nur die Möbel, sondern auch Helenas dunklen Zopf erkennen konnte, der quer über ihrem weißen Kissen lag. Sie schlief tief und fest, wie immer.

Lilly wandte sich ab und öffnete die beiden Fensterflügel. Vielleicht nahm die Gute Fee ja diesen Weg, und da freute sie sich sicher, wenn sie gleich hereinflattern konnte – ohne irgendwelche Hindernisse umfliegen zu müssen. Eine Weile lang spähte Lilly in die Mondnacht, aber von der Guten Fee war weit und breit nichts zu sehen. Lediglich ein paar Fledermäuse waren auf der Jagd. Waren Feen unsichtbar?

Vom Ufer her hörte sie das leise Glucksen des Bodensees.

Lilly seufzte, schloss das Fenster, ging zu Katharinas Bett und setzte sich auf die Kante. »Schläfst du schon?«

»Ja«, murmelte Katharina schlaftrunken.

»Ich möchte so gerne die Gute Fee sehen«, wisperte Lilly.

Katharina hob den Kopf. »Was? Die Gute Fee sehen?« Sie setzte sich ruckartig auf. »Das will ich auch!«

»Schrei doch nicht so, Katharina!«, warnte Lilly. »Es ist besser, wenn Helena nicht aufwacht. Sie glaubt nämlich nicht an die Gute Fee.«

»Ehrlich nicht?«

»Das hat sie jedenfalls gesagt, als ihr das letzte Mal ein Zahn ausgefallen ist. Sie hat ihn gar nicht unter das Kopfkissen gelegt, sondern in ein Taschentuch eingepackt und in ihre Nachttischschublade getan.«

»Bei mir kommt die Gute Fee immer!« Der Stolz in Katharinas Stimme versetzte Lilly einen leisen Stich.

»Bei mir nicht … immer«, bekannte sie seufzend.

»Hm. Vielleicht bist du nicht immer brav.«

Lilly beschloss, dieses Thema nicht weiter zu vertiefen. »Bleibst du mit mir wach, Katharina?«, fragte sie stattdessen. Ein wenig Beistand konnte nicht schaden.

»Ja.« Katharina gähnte.

»Und … darf ich zu dir ins Bett kommen? Da kann ich sie besser sehen, ohne dass sie es merkt.«

»Aber …«, Katharinas Näschen kräuselte sich unschlüssig, »vielleicht weiß die Gute Fee gar nicht, wo der Zahn liegt, wenn du nicht in deinem Bett bist, Lilly.«

»Ach was. Eine Fee weiß alles!« Lilly schlüpfte unter Katharinas Decke und suchte eine Position, in der sie ihr Bett gut im Blick hatte.

Dann begann das Warten.

Lilly träumte davon, dass sie im Feengewand um den Vollmond herumflog. Sie fühlte sich herrlich, mutig und frei, und ein bisschen verwunschen – obwohl sie immer wieder unheimlichen Fledermäusen ausweichen musste.

Plötzlich hörte sie ein Knacken.

Sofort war sie hellwach und schlug die Augen auf. Neben sich vernahm sie regelmäßige Atemzüge. Katharina war also auch eingeschlafen.

Lilly wagte nicht, ihre Schwester zu wecken, denn sie bemerkte eine schemenhafte Gestalt, die durch den Raum schlich. Diese ging zunächst zu Helena, dann näherte sie sich Lillys leerem Bett. Lilly folgte jeder einzelnen Bewegung, während ihr das Herz bis zum Hals schlug.

In dem Moment, da der Schatten unter ihr Kissen griff und dort herumhantierte, wanderte das blasse Mondlicht über ihn hinweg. Lillys Augen weiteten sich vor Schreck, ihre Hände krallten sich in Katharinas Zudecke. Das konnte nicht sein. Niemals! Voll angstvoller Empörung wartete sie, bis die Gestalt ihr Tun beendet hatte und sich umwandte, um das Zimmer zu verlassen. Mit einem leisen Klacken fiel die Tür ins Schloss.

Lilly ließ die Decke los. »Katharina!« Sie rüttelte an der Schulter ihrer Schwester.

»Aber Lilly …« Katharina richtete sich auf und schlug die Hand vor den Mund. »War sie da?«, nuschelte sie aufgeregt.

»Katharina …« Lilly konnte das Unglaubliche kaum aussprechen. »Die Gute Fee … ist ein Mann!«

TEIL 1 Gestohlene Träume

Mai 1918 bis Juni 1918 

1. Kapitel

Meersburg am Bodensee, neun Jahre später, Anfang Mai 1918 

Friedvoll lag der Morgen über dem See. Sein blassgelbes Licht tanzte auf den kleinen sich kräuselnden Wellen und kündete vom neuen Tag, der im Osten angebrochen war. Die wenigen weißen Wolken, die am zartblauen Himmel dahinzogen, spiegelten sich auf der Wasseroberfläche und zerstieben in dem Moment, da Pater Fidelis’ Ruderschläge den hölzernen Kahn darüber hinweggleiten ließen.

Lilly saß dem beleibten Zisterziensermönch gegenüber. Sie lauschte dem Geräusch der eintauchenden Paddel und beobachtete die Wirbel, die durch deren rhythmische Bewegung entstanden. Um diese Stunde war nicht nur die Natur durch die aufsteigende Sonne erwacht – auch die Fischerboote draußen auf dem Bodensee waren nun gut zu erkennen. Sie hoben die Netze, die am Vortag gesetzt worden waren, in der Hoffnung, dass sich über die Nacht möglichst viele Silberforellen, Kretzer und Blaufelchen darin verfingen.

»Herrgott!« Schwer atmend hielt Pater Fidelis mit dem Rudern inne, nahm ein Tuch aus seiner Kutte und wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht.

Lilly reichte ihm eine Feldflasche mit Wasser.

Der Mönch trank hastig. »Hab Dank!«

Einige Minuten lang ließ er sinnend den Blick umherschweifen, dann gab er Lilly die Flasche zurück. Bevor er die Ruder wieder aufnahm, deutete er zu den Fischern auf den See hinaus. »Des gibt eine gute Mahlzeit!«

Lilly nickte. »Die Netze scheinen voll zu sein!« Auch sie liebte die feinen Bodenseefische, die dort eingeholt wurden. Vor allem dann, wenn sie herzhaft geräuchert worden waren.

»Ich bet jeden Abend drei Rosenkranzerl für einen guten Fang! Da darf sich der Herrgott net lumpen lassen!« Pater Fidelis zwinkerte ihr zu.

Lilly lächelte verhalten. »Er wird es kaum wagen, ein Gebet von Euch nicht zu erhören, Pater.«

»So isses.« Er richtete sich ein wenig auf. »Dann woll’n mir wohl weiter!« Mit ruckartigen Paddelbewegungen setzte er den Kahn wieder in Bewegung.

Im Gegensatz zu den Fischern blieben Lilly und Pater Fidelis in Ufernähe. Die Planken von Vaters Boot waren morsch – es war seit einigen Jahren nicht mehr benutzt worden und der Gebrauch eigentlich untersagt. Weit hinaus wagten sie sich deshalb nicht. Lilly war ohnehin überrascht, dass es Pater Fidelis gelungen war, den Vater dazu zu bringen, ihm den Kahn zu überlassen – vermutlich, weil er unterschlagen hatte, dass Lilly mit an Bord sein würde. Und so blinzelte Lilly heute mit einem schlechten Gewissen in die aufgehende Sonne. Dieses ließ sich auch dadurch nicht ganz vertreiben, dass ihr Pater Fidelis beim Einsteigen gewissermaßen Absolution erteilt hatte: »Nix gesagt ist ja net gelogen!«

Sie seufzte.

»Es ist alles gut, Fräulein Lilly«, schnaufte Pater Fidelis, der den leisen Jammerlaut gehört hatte und offenbar auf sich selbst bezog. »Nur hätt ich net gedacht, dass es so schwer geht mit dem Rudern. Und dass es so weit is!« Auf seiner Stirn bildeten sich bereits wieder Schweißtropfen.

»Soll ich die Ruder übernehmen?«, fragte Lilly. »Bis Kirchberg ist es wirklich noch ein gutes Stück.«

»Nein! Des kommt net infrage!« Der Pater erhöhte die Schlagzahl, als wolle er beweisen, dass er der Aufgabe durchaus gewachsen war. Doch anstatt nennenswert Geschwindigkeit aufzunehmen, erzeugte er lediglich einen unruhigen Schlingerkurs.

Lilly hielt sich am Rand fest. Die hastigen Bewegungen des Bootes verursachten ihr Übelkeit.

Sie schüttelte unmerklich den Kopf.

Sie war keineswegs erpicht darauf, selbst zu rudern, aber in diesem Fall wären sie nicht nur schneller am Ziel – es bekäme sicherlich auch der Magenverstimmung besser, die sie seit einigen Tagen plagte. Aber sie wollte Pater Fidelis nicht kränken und unterdrückte deshalb den wiederkehrenden Würgereiz, indem sie tief aus- und wieder einatmete. Der Ordenspriester war nun einmal nicht am Wasser aufgewachsen wie Lilly und ihre Schwestern, sondern stammte nach eigenem Bekunden aus einer Bauersfamilie in der Nähe von München. Und in den vielen Jahren, die er inzwischen im Kloster Mehrerau bei Bregenz lebte, hatte er wohl wichtigere Dinge zu tun gehabt, als sich dem Rudern oder anderen sportlichen Übungen zu widmen.

Lilly war froh, als er in einen Rhythmus zurückgefunden hatte, der den Kahn leidlich auf Kurs hielt. Sie wollte unbedingt vermeiden, ihr Frühstück dem See zu übergeben. So schaukelten sie weiter, vorbei an Hagnau und vereinzelten Gebäuden am Ufer, bis sie schließlich in der Nähe eines hübschen turmartigen Badehauses anlandeten.

Lilly ging es augenblicklich besser, und sie half Pater Fidelis dabei, aus dem Boot zu steigen. Der Kies unter ihren Schuhen knirschte, als sie es ein Stück weit aus dem Wasser zogen, damit die Wellen es nicht wieder mitnehmen konnten.

»Mei, des war eine Arbeit«, seufzte Pater Fidelis und stützte sich für einen Moment an der Bootswand ab.

»Ihr wolltet Euch ja nicht helfen lassen.« Lilly strich über die helle Schürze, die sie über ihrem braunen Arbeitskleid trug. »Gebt Ihr mir meinen Korb, Pater Fidelis?«

Pater Fidelis grinste über ihre freche Bemerkung hinweg. »Freilich!« Er nahm die mitgebrachten Sammelkörbe aus dem Boot und reichte ihr den kleineren. »Bittschön!«

Lilly griff danach und warf einen schnellen Blick auf das rot-weiße Leinentuch, unter dem sie Gartenschere, Bindfaden, Schäufelchen und ein kleines Messer wusste. »Danke.«

Pater Fidelis nickte ihr zu. »Dann wollen wir mal!«

Nur wenige Schritte waren es vom Ufer – wo zwischen den rund gewaschenen, grauweißen Steinen die zahllosen Sterne des himmelblauen Bodensee-Vergissmeinnichts leuchteten – bis zum Gürtel aus Bäumen und Gebüsch, der die Uferzone säumte. Kaum hatten Lilly und Pater Fidelis den Schatten der Erlen, Pappeln und Weiden erreicht, blieb der Mönch stehen und kniff die Augen zusammen. »Mei! So eine Freud’! Veilchen über Veilchen! Des ist eine rechte Gnade!«

Und wirklich übersäten unzählige dunkelviolette Blüten den halbschattigen Boden. Lilly nahm ein Messer aus ihrem Korb, stellte ihn ab und ging in die Hocke.

»Wir holen jetzt nur Blüten und Blätter, Fräulein Lilly. Die Wurzel dürfen wir erst im Herbst ernten!«, mahnte Pater Fidelis.

»Ich weiß, Pater.« Sie begann, sich vorsichtig durch die Blütenbüschel zu arbeiten.

Pater Fidelis faltete die Hände und sah ihr zu. Der Zisterzienser packte zwar an, wo immer er gebraucht wurde, doch allzu sportliche Bückbewegungen vermied er, da ihm sein Bauch dabei in die Quere kam. Schließlich aber nahm er selbst das Messer aus seinem Korb, ging ein paar Schritte zu einer in der Nähe stehenden Stieleiche und begann, junge Zweige abzuschneiden. »Die Eichenrinde ist gut zu brauchen«, erklärte er nebenbei, »da gibt’s einen Sud, der hilft bei offenen Wunden.«

Lilly sah über die Schulter zu ihm hin.

Der gute Pater Fidelis. Letzten Herbst schon hatte er im Lindenhof Quartier genommen, dem Gasthaus von Lillys Eltern am Ufer des Bodensees. Ursprünglich, weil er im Auftrag seines Ordens den Rückkauf der früheren Wallfahrtskirche Birnau vorantreiben sollte und eine Unterkunft in der Nähe gebraucht hatte. Mittlerweile widmete er seine Kraft den Verletzten, die in den Gasträumen behandelt wurden – denn zum Jahreswechsel war aus dem Lindenhof ein Lazarett geworden. Lillys ältere Schwester Helena und der Vater hatten keine andere Möglichkeit mehr gesehen, den finanziell schwer gebeutelten Gasthof vor dem Ruin zu retten, als dort gegen Entgelt Kriegsversehrte zu pflegen. Ein Kraftakt für die ganze Familie.

Der in den Heilkünsten bewanderte Pater Fidelis war inzwischen unersetzlich. Er wusste Hilfe bei Husten und Durchfall, Magenverstimmungen und Kopfschmerzen, bei schlecht heilenden Abszessen und Geschwüren, die durch Verletzungen und das lange Liegen verursacht wurden.

Doch nicht nur die Medizin und die Verbände wirkten Wunder. Seine ruhige, humorige Art tat allen gut: Lillys Schwestern, die bis zur Erschöpfung arbeiteten – Helena im Lindenhof-Lazarett, Katharina als Hilfsschwester im Meersburger Spital. Ihrem Vater Gustav, der auf dem Schlachtfeld einen Unterschenkel verloren hatte und damit haderte. Selbst ihrer ernsten Mutter Elisabeth entlockten seine launigen Bemerkungen hin und wieder ein schwaches Lächeln. Pater Fidelis schäkerte mit der Köchin Käthe und tröstete die Kranken. Lilly erschien er wie ein Fels in der Brandung, zumal er sein Heilpflanzenwissen mit ihr teilte, welches sie bei der Arbeit im Lazarett gut nutzen konnte.

Das Lazarett.

Anfangs war allein der Anblick der verletzten Männer eine Qual für Lilly gewesen, und sie hatte Helena mitunter dafür gehasst, aus ihrem Zuhause eine Krankenanstalt gemacht zu haben. Nur mühsam war es ihr gelungen, ihre Abscheu beiseitezuschieben und den Dienst zu tun, der von ihr wie von allen verlangt wurde. Mit der Zeit war es besser geworden, zumal Lilly wirklich etwas hatte dazu beitragen wollen, um dem Lindenhof zu helfen. Dennoch war sie für jede Gelegenheit dankbar, die es ihr erlaubte, der stickigen Atmosphäre des Krankensaales zu entfliehen.

Während Pater Fidelis den nächsten Eichenbaum in Angriff nahm, widmete Lilly sich wieder den Veilchen. Sie schnitt eine Handvoll Blüten ab, ließ sie in ihren Korb rieseln und sah gedankenverloren zu, wie sie sich auf die anderen legten. Wie wunderbar die Natur doch war!

Sie schloss die Lider, um den zarten Duft zu genießen, der von ihnen aufstieg. Verwoben mit dem linden Rauschen der Bäume im Morgenwind und dem vertrauten Schlag der Wellen auf dem Uferkies, milderte er ihre Übelkeit und legte sich wie Balsam auf ihr kummervolles Herz, das noch immer nicht verstehen wollte. Nicht verstehen konnte.

War es wirklich erst wenige Monate her, dass sie sich Hals über Kopf in den gut aussehenden Lazarettpatienten Arno Reichle verliebt hatte? Ihren Ritter in schimmernder Rüstung, der sie mit wunderbaren Worten umworben und ihr eine verheißungsvolle Zukunft als Industriellengattin versprochen hatte? Neben dem sie mit klopfendem Herzen am Traualtar gestanden hatte und dem sie voller Hoffnung in seine Stuttgarter Villa gefolgt war? Sie waren so glücklich gewesen, so voller Pläne. Nun war Arno wieder an der Front, und die Fabrik lag in Trümmern …

Ein schmerzlicher Seufzer schlüpfte über ihre Lippen und flocht sich in das Brummen einer Hummel, die sie umtanzte. Gleichzeitig hörte sie ein Rascheln.

»Des wird scho wieder, Fräulein Lilly.«

Lilly schlug die Augen auf.

Pater Fidelis stand neben ihr, einen Bund dünner Eichenzweige in der Hand. »Wo Regen is, da is auch ein Regenbogen.« Er schien zu spüren, was sie umtrieb. »Dein Mann kommt heim, ganz bestimmt! Und dann bauen’s alle eure Seifenfabrik wieder auf!«

»Ach, Pater …«

»Wollen wir weiter?« Sein Ton war aufmunternd.

Lilly nickte. In einer langsamen Bewegung beugte sie sich vor, setzte das Messer an und schnitt einige letzte Veilchen ab. Dann richtete sie sich auf.

Sie sprachen nicht viel, während sie zum Schloss hinaufgingen. Unterwegs gesellten sich Kamille und Huflattich, Brennnessel, Salbei, Löwenzahn und zahlreiche weitere Kräuter zu Veilchen und Eichenrinde. Als sie das in Weinberge gebettete Schloss Kirchberg mit seinen Walmdächern, Treppengiebeln und Türmchen erreichten, waren ihre Körbe gut gefüllt.

Pater Fidelis, der vor Lilly ging, blieb stehen. »Mei, des is heut schon warm. Wir haben doch erst Anfang Mai.« Er schnaufte hörbar durch. Dann drehte er sich zu ihr um und deutete in die Ferne. »Aber herrlich ist es hier oben, net wahr?«

Lilly wandte den Kopf und beschattete ihre Augen mit der Hand, da sie das Sonnenlicht blendete. »Ja«, erwiderte sie und ließ ihren Blick über die unwirklich friedliche Kulisse ihrer Heimat wandern. »Das ist es.«

Vor ihnen breitete sich in seinem ureigenen Blaugrün der See aus. In diesiger Ferne erahnte man das Schweizer Ufer und die Höhen der Alpen. Fischerboote sprenkelten als locker gesetzte dunkle Tupfen die Wasseroberfläche.

»Nachher machen wir aus den Veilchen eine schöne Salbe, Fräulein Lilly«, sagte Pater Fidelis. »Eine, die man auch für das Gesicht nehmen kann. Das möchten’s doch lernen, net wahr?«

»Ja, sogar sehr gern«, antwortete Lilly.

»Na, dann wollen wir mal heimfahren.«

Lilly nickte und legte die Hand auf den Henkel des Korbes in ihrer Armbeuge. »Habt Ihr etwas dagegen, wenn ich zurückrudere, Pater?«

Pater Fidelis zögerte. »Nein«, erwiderte er dann. »Ich hab nix dagegen.«

2. Kapitel

Zwei Stunden später im Lindenhof

Lilly hatte ihr Kleid mit der Tracht der Rotkreuzschwestern getauscht, ihr goldblondes Haar straff aufgesteckt und eine Haube darüber gezogen. Sie fühlte sich deutlich besser als am Vormittag. Das Rudern von Schloss Kirchberg zurück nach Meersburg hatte ihr gut getan.

Nun stand sie im Gang des Küchentrakts des Lindenhofs und band die Schleife ihrer Schürze noch einmal enger. Seit die Bomben gefallen waren und die Seifenfabrik Reichle getroffen hatten, verspürte sie kaum mehr Appetit. Dieser Tag hatte ihrer Schwiegermutter das Leben gekostet, und ihr Schwiegervater lag schwer verletzt im Krankenhaus …

»Da sind Sie ja, Fräulein Lilly!«, rief Pater Fidelis vom großen hölzernen Küchentisch herüber, als sie eintrat.

Gleichzeitig hob die Köchin den Kopf. »Ihr habt wirklich fleißig gesammelt! So viel Löwenzahn und Brennnesseln! Das gibt einen guten Salat!« Die hagere Käthe herrschte seit jeher über das Küchenreich des Lindenhofs, in dessen Mitte ein eiserner Herd mit Verblendungen aus weißer Emaille stand. »Und Erna wird noch ein paar Gänseblümchen aus dem Garten holen, gell, Erna?«

Die junge Küchenhilfe nickte. Sie stand an einem der beiden Arbeitstische, die den mächtigen Herd flankierten, und schnitt Zwiebeln klein.

Lilly schloss die Tür hinter sich und ging über den schwarz-weiß geplättelten Boden zu Pater Fidelis hinüber, der vor sich bereits ein Sammelsurium an Gerätschaften aufgebaut hatte.

»Dann können wir also gleich anfangen«, sagte er und deutete auf eine Schale, in der die gesammelten Veilchen lagen.

»Die Veilchensalbe?«, fragte Lilly.

»So ist’s. Als Erstes müssen wir zwanzig Gramm abwiegen. Blüten und Blätter.«

Lilly häufte die angegebene Menge auf die Küchenwaage, die Pater Fidelis von Käthe ausgeliehen hatte.

Er verfolgte ihre Bewegungen genau. »Jawoll!«, sagte er dann und deutete auf ein ausgebreitetes blau-weißes Leinentuch. »Die legen wir erst einmal auf die Seite.«

Während Lilly die Veilchen umbettete, griff Pater Fidelis nach einem kleinen irdenen Gefäß. »Da hab ich schon das Ziegenfett hergerichtet.« Mit einem Löffel gab er das weiße, geschmeidige Fett in eine emaillierte Schüssel. »So, das muss ins Wasserbad.«

»Langsam schmelzen?«, fragte Lilly.

»Richtig.« Er strich über die Schürze, die er sich um die Hüften gebunden hatte, um seine schwarz-weiße Zisterziensertracht vor Verschmutzungen zu schützen. »Frau Käthe?«, wandte er sich dann eine Spur zu laut an die Köchin. »Können’s uns ein Platzerl auf dem Herd freigeben?«

Käthe, die gerade unter lautem Klappern die Eisenringe über dem Herdfeuer entfernt und einen großen Kupferkessel auf die Öffnung gewuchtet hatte, hielt inne und machte eine unwillige Kopfbewegung. »Ich schlage Euch ja selten einen Wunsch ab, Pater, aber jetzt passt es wirklich nicht! Wir müssen das Kartoffelgulasch fertigkriegen. Sonst gibt es kein Mittagessen.« Mit betontem Schwung goss sie etwas Öl aus einer Kanne in den Kupferkessel. »Jetzt kannst du die Zwiebeln reingeben, Erna«, sagte sie zu ihrer Küchenhilfe.

»Ach, kommen’s, Frau Käthe!«, bat Pater Fidelis. »Wir brauchen auch net lang. Vielleicht eine Stunde.«

Die Köchin seufzte vernehmlich. Zu Lillys Verwunderung rückte sie dann aber ein Stück zur Seite und deutete auf einen Platz am Rand des Herdes. »Da! Aber stört uns nicht.« Ihr Ton war barsch.

»Vergelt’s Gott!«, säuselte Pater Fidelis. »Da halt ich für Sie eine ganz besondere Fürsprache bei dem heroben.«

»Jaja, ist schon recht«, brummte Käthe, aber Lilly meinte, ein winziges Lächeln um ihre Mundwinkel wahrgenommen zu haben. Pater Fidelis hatte bei ihr zweifellos einen Stein im Brett, denn die Bereitwilligkeit, mit der sie ihn seit Wochen in ihrer Küche an seinen Heilmitteln werkeln ließ, war untypisch für Käthe.

Lilly nahm einen Stieltopf aus dem Regal, füllte ihn mit Wasser und schob ihn auf die heiße Platte. Dann setzte sie die Schüssel mit dem Ziegenfett hinein.

Pater Fidelis beobachtete sie vom Tisch aus. »Aber aufpassen! Des darf net zu warm werden!«

Während Lilly rührte, bearbeitete Pater Fidelis die Veilchen mit dem Mörser. Ihr Duft durchzog die ganze Küche, konnte sich aber nur mühsam gegen das Aroma der im Topf röstenden Zwiebeln behaupten. Der Ordensmann trat neben Lilly. »Schau her.« Er gab die zerkleinerten Blüten und Blätter zum Fett.

»Soll ich weiterrühren?«

»Jawoll. Immer vorsichtig weitermachen.« Pater Fidelis griff nach einem kleinen Ölkrug, den er bereitgestellt hatte. »Des Olivenöl muss auch dazu.« Er goss eine gute Portion zu den Veilchen. »Und zwar immer die Hälfte von den Veilchenblüten. Also wenn es zwanzig Gramm Veilchen sind, dann gibt man zehn Gramm Olivenöl dazu.«

Lilly arbeitete konzentriert, dankbar, dass sie sich damit wenigstens ein bisschen von ihrer Sorge um Arno ablenken konnte. Die Gedanken, wo er wohl gerade war, wie es ihm ging, ob er so an sie dachte wie sie an ihn, ließen ihr sonst kaum eine ruhige Minute.

»Ich frag mich ja wirklich, wo Ihr in diesen Zeiten ein Olivenöl herbekommt«, ließ sich plötzlich Käthe vernehmen, die Erna inzwischen beim Schälen und Vierteln der Kartoffeln half.

»Na, vom Kloster Mehrerau, Frau Käthe!«

Käthe schüttelte den Kopf. »Aber derzeit darf man doch nichts über die Grenze bringen?«

»Eigentlich net. Aber wenn man ein rechtes Olivenöl für die letzte Ölung braucht …«

Lilly sah, wie er Käthe zuzwinkerte.

»Dann kocht ihr auf meinem Herd gerade eine Salbe für die letzte Ölung?« Käthe schien ungläubig.

Pater Fidelis lachte sein brummendes Lachen. »Für die wievielte Ölung ist doch wurscht. Hauptsache, sie macht eine schöne Haut.«

Lilly musste lächeln.

Käthe wandte sich kopfschüttelnd ihrem Kochkessel zu und wies Erna an, die Kartoffelstückchen hineinzugeben. Als die feuchten Erdäpfel auf das heiße Fett trafen, begann es neben Lilly so heftig zu zischen und zu dampfen, dass sie einen Schritt zur Seite machte.

»Weiterrühren, Fräulein Lilly!«, befahl Pater Fidelis streng.

»Ja, aber es ist heiß!«, verteidigte sich Lilly.

»Des macht nix. Wir arbeiten da mit Sachen, die viel kosten, da darf nix schiefgehen!« Er warf einen prüfenden Blick in die Schüssel. »Aber das ist eh schon gut so. Jetzt machmer einen Deckel auf den Topf und lassen es eine Stunde köcheln.«

»Das ging aber schnell«, stellte Lilly fest.

»Morgen geht’s weiter!«, antwortete Pater Fidelis, während er das Pflanzengemisch abdeckte. »Lassens uns der Frau Käthe ein bisserl beim Kochen helfen, Fräulein Lilly. Nachher können Sie unsere Veilchensuppe in den Keller bringen, da muss sie bis morgen durchziehen. Und Frau Käthe – das Kartoffelgulasch riecht schon k ö s t l i c h.«

Eine gute Stunde später

Die Schüssel mit dem Veilchensud war noch warm, als Lilly sich auf den Weg in den Keller machte. Doch schon kurz nachdem sie die ersten Stufen der Treppe hinuntergegangen war, überkam sie eine unangenehme Beklemmung. Sie zwang sich weiterzugehen.

Schnell verlor sich das Tageslicht, welches durch die offen gelassene Tür hereinfiel, im Dunkel des kühlen Gewölbes. Als sie in den Gang einbog, der zu den Lager- und Vorratsräumen führte, erhellten nur noch einige vereinzelte Laternen ihren Weg.

Lilly und ihre Schwestern hatten diesen Keller geliebt und gefürchtet zugleich. Unheimlich war er schon früher gewesen, dafür aber vollgestopft mit Käthes herrlichstem Naschwerk – Schokoladentörtchen, Butterküchlein, Teebrot, Anisschnitten, Fingerbiskuit, Mandelbrezeln oder dem von allen so geliebten Erdbeerkuchen. Vor den Festtagen hatten hier allerlei Cremetorten darauf gewartet, den Gästen serviert zu werden. Lilly, Katharina und Helena hatten oftmals eine Mutprobe daraus gemacht, wer von ihnen sich heimlich in den alten Gewölbekeller traute, um etwas von den dort lagernden Köstlichkeiten zu stibitzen.

Lilly schüttelte traurig den Kopf. Diese Zeiten schienen unendlich weit weg zu sein.

Sie durchlief einen gemauerten Torbogen und stellte ihre Schüssel auf einem niedrigen Regal ab, das über die gesamte Wandseite lief. Dort lagerten Teige, die gehen mussten, und allerlei Mariniertes, das ein paar Tage durchziehen sollte. Zudem warteten dort all die von Pater Fidelis angesetzten Essenzen und Tinkturen auf ihre Weiterverwendung.

Wie sehr sich alles hier verändert hatte. Kuchen und Törtchen gab es im Lindenhof nur noch selten. Lebensmittel waren knapp, auch wenn Lillys Mutter Elisabeth aus unergründlichen Quellen immer wieder größere Mengen an Zucker, Mehl und anderen Grundnahrungsmitteln auftrieb. Im Haus ihrer Schwiegereltern in Stuttgart dagegen war der Tisch trotz aller Not stets reich gedeckt gewesen.

Stuttgart.

Lilly schwindelte. Der Boden unter ihren Füßen schien zu schwanken, zugleich begann es in ihren Ohren zu hämmern …

Es war später Vormittag. Der frühe Nebel hatte sich weitgehend aufgelöst, ein leichter Wind begleitete diesen trockenen, milden Märztag. Johann hatte die geschlossene Kutsche vorgefahren, und Lilly war gerade im Begriff, sich in das weiche Leder zu setzen, als sich ein eindringlicher Alarm über die Stadt legte.

Der Ton ging ihr durch Mark und Bein. Sie sah aus den Fenstern der Kutsche, wusste nicht, was vor sich ging, während sie versuchte, die aufsteigende Angst niederzukämpfen.

»Schnell! Ein Luftangriff!« Johann riss den Schlag auf. »Zurück ins Haus, gnädige Frau! In den Keller!«

Der Schock tobte durch Lillys Adern. Gleichzeitig fühlte sie sich zu Eis erstarrt.

»Bitte, gnädige Frau!«, drängte Johann und hielt ihr die Hand hin. Lilly sah ihn ungläubig an, nahm wahr, dass er nur mühsam die Fassung bewahrte. Sie spürte seine Hände, die nach ihr griffen und sie aus der Kutsche zerrten, hörte, wie der Stoff ihres Kleides riss.

Als sie auf der Straße stand, wurde ihr schwindelig.

Von fern ertönte unheilvolles Dröhnen.

Johanns Finger gruben sich in ihre Schultern. Er deutete zum Eingangsportal der Stadtvilla, in der sie seit ihrer Heirat mit Arno lebte. »Es werden Bomben fallen! Laufen Sie!«

Seine Worte hallten in ihrem Kopf wider, brachten sie endlich in Bewegung. Wie eine Marionette, gespielt an unsichtbaren Fäden, ging sie ein paar Schritte über den Gehweg. Eine Frau rempelte sie an und hastete mit angstverzerrtem Gesicht weiter, Schreie schallten über das sonst so ruhige Villenviertel.

»Laufen Sie!«, brüllte Johann.

Lilly raffte ihren Rock, hastete durch das Tor des schmiedeeisernen Zaunes und die steinernen Treppen hinauf zum Eingangsportal. Das tiefe, gleichmäßige Grollen der anfliegenden Maschinen wurde lauter, übertönte den Heulton der Sirenen und die Warnschüsse, ließ die Luft und den Boden vibrieren. Lilly begann zu schluchzen, bedeckte ihre Ohren mit den Händen, wollte, dass es aufhört.

Als die Schatten der Flieger über den Kiesweg wanderten, öffnete sich die Tür zum Haus. Edith, das Dienstmädchen, sagte etwas zu ihr, das sie nicht verstand, packte sie am Arm und zog sie mit sich die Treppe in den Keller hinunter.

In einem fensterlosen Raum spendeten einige Kerzen schwaches Licht. Im Zwielicht erkannte Lilly die bleichen Gesichter der Bediensteten des Hauses. Ihre Knie zitterten.

»Wo ist denn der Johann?« Die Stimme der Köchin Thea war unnatürlich hoch.

»Der versorgt das Pferd«, erwiderte Edith.

»Hoffentlich reicht’s ihm noch runter.« Die Köchin sah zu Lilly. »Wir haben schon öfter Fliegeralarm gehabt.«

»Und wir werden hoffentlich auch dieses Mal verschont bleiben«, erwiderte Edith. Aber auch ihre Stimme bebte.

»Möchten Sie zu mir kommen, gnädige Frau?«, fragte Thea.

Lilly brachte kein Wort heraus. Deshalb nickte sie nur stumm und setzte sich neben die Köchin. Edith schloss die Tür. Das Stubenmädchen, die Wäscherin und die Küchenhilfe auf der Bank gegenüber hielten sich an den Händen.

In das angstvolle Schweigen, das sich ausbreitete, drangen wenig später schwere Schritte.

Mit einem stummen Nicken betrat Johann den Raum und setzte sich auf ein kleines Mostfass.

Sie warteten, beteten, hofften. Die Zeit zog sich qualvoll ins Unendliche, die Ungewissheit wuchs von Stunde zu Stunde.

Schließlich erhob sich Johann und ging nach oben.

»Ist alles wieder ruhig«, meinte er, als er kurz darauf in den Keller zurückkehrte. »Sieht so aus, als ob sie uns diesmal verschont haben. Ich geh zum Stall. Ihr bleibt noch eine Stunde hier unten. Zur Sicherheit.«

Erst später am Tag erfuhren sie von dem schrecklichen Unheil, das der Familie Reichle widerfahren war …

Lillys Hände zitterten. Zugleich legte sich eine bleierne Schwere auf ihre Brust, nahm ihr die Luft zum Atmen. Ein panisches Gefühl stieg in ihr auf, flutete ihren ganzen Körper, versetzte sie in Todesangst. Ein Kribbeln ließ ihre Fingerspitzen taub werden, dann ihre Füße, schließlich die Unterarme. Schauer liefen über Nacken und Rücken. Was war mit ihr los?

»Helena!« Ihre Stimme war ein heiseres Krächzen. Sie hustete. »Helena!«, rief sie, nun lauter, gleichzeitig bewegte sie sich in Richtung Treppe.

Sie musste zurück, weg aus diesem dunklen Keller, hinauf ans Tageslicht. »Helena!«

Sie erreichte die ersten Stufen.

»Lilly?« Helenas Stimme schien weit entfernt, doch allein ihr Klang trieb Lilly die Tränen in die Augen.

»Helena!«

Als sie mitten auf der Treppe die Arme ihrer Schwester um sich fühlte, begann sie hemmungslos zu schluchzen.

»Um Himmels willen! Lilly! Was ist denn passiert? Ist irgendjemand dort unten?«

»N… nein. Ich bekomme keine Luft.«

Lilly fühlte Helenas Finger am Inneren ihres Handgelenks. »Dein Herz rast!«

»Ich … Es pocht überall.«

Helena stützte sie ab. »Ruhig, Lilly. Ganz ruhig. Atme nicht so schnell.« Sie hielt ihr eine Hand vor Mund und Nase. »Hier hineinatmen. Langsam. Ein … und aus. Wieder ein … und wieder aus.«

Helenas bedachte Anweisungen halfen. Lillys Puls wurde langsamer. Bald ließ auch das Kribbeln nach. Sie legte den Kopf an die Schulter ihrer Schwester.

Helena strich ihr in langsamen Bewegungen über den Rücken »Besser, Liebes?«, fragte sie schließlich.

Lilly nickte.

»Dann lass uns nach oben gehen«, sagte Helena und drückte sie noch einmal fest an sich. »Du solltest etwas essen. Käthe hat das Kartoffelgulasch fertig und ist gerade dabei, ein paar Veilchenblüten zu kandieren. Wenn du dich gestärkt hast, erzählst du uns, was geschehen ist.«

3. Kapitel

Das belgisch-niederländische Grenzgebiet bei Antwerpen, Belgien, in der Nacht desselben Tages, Anfang Mai 1918 

Die Dunkelheit hatte sich über das kriegsgeschundene Flandern gebreitet, verbarg für einige Stunden Schlachtfelder, Schützengräben und die Trostlosigkeit der ausgestorbenen Dörfer und Städte vor den Augen der Welt. Der abnehmende Mond stand als blasse Sichel am Himmel. Es schien, als wagte selbst der treue Erdtrabant kaum, die trostlose Szenerie zu erhellen. Sein Leuchten verlor sich auf dem Weg vom Firmament bis zu der kleinen Menschengruppe, die Felix Benthin auf einem schmalen Pfad zur niederländischen Grenze führte.

Sie waren seit Sonnenuntergang unterwegs. Zwei Frauen und zwei Männer hatten sich ihm heute anvertraut, um sicher über die Grenze vom besetzten Belgien in die neutralen Niederlande zu gelangen.

Ihr Weg führte durch sumpfiges Gelände und dichten Wald. Jeden ihrer Schritte setzten sie mit bedacht, achteten darauf, möglichst wenige Geräusche zu verursachen. Ihnen allen war bewusst, dass dieses Vorhaben tödlich enden konnte.

Es war weit nach Mitternacht, als sie eine lang gezogene Lichtung erreichten. Felix bedeutete seinen Begleitern, einen Augenblick zu warten, bog die Zweige auseinander und trat vorsichtig aus dem Dickicht. Kurz darauf erfasste der Lichtkegel seiner Taschenlampe eine schmale, nicht allzu große Gestalt, die sich in einigen Metern Entfernung aus dem Unterholz löste und auf ihn zukam. Wie Felix trug sie Kleidung aus grauem Gummistoff und einen Rucksack auf dem Rücken.

»Wohin des Weges?« Die Stimme des Mannes klang heiser.

Felix nannte das vereinbarte Codewort. »La Dame.«

»Vier?«

»Ja.«

Mit einem kurzen Nicken setzte sich der Mann an die Spitze der kleinen Gruppe, führte sie quer über die Lichtung und dann weiter, erneut in den Schutz des Waldes hinein. Der gefährlichste Teil des Marsches lag noch vor ihnen.

Felix hatte die Grenze im Verlauf der letzten Jahre mehrfach passiert, deshalb verwunderte ihn der verwirrende Zickzackkurs nicht, den der Passeur einschlug. Als ortskundiger Helfer kannte dieser jeden Abschnitt der Grenzlinie, wusste, welche Bereiche weniger stark überwacht wurden, an welchen Stellen sich Scheinwerfer und Signalanlagen befanden und wo die deutschen Grenztruppen patrouillierten.

Sie bewegten sich schweigend, verständigten sich wo nötig mit Handzeichen. Felix’ Sinne waren geschärft, nahmen alles wahr, was sich ringsum regte – das Rascheln im Gebüsch, die Laute der Nachttiere, das Knacken der Zweige, auf die sie trotz aller Vorsicht hin und wieder traten, die raschen Atemzüge seiner Begleiter.

Erste Warnschilder tauchten auf. Sie zeigten an, dass sie sich nun innerhalb der Sperrzone bewegten. Die unheimliche Atmosphäre, die sie umgab, verdichtete sich. Jeder falsche Schritt konnte der letzte sein. Hier wurde ohne Vorwarnung geschossen.

An einer schartenartigen Bodenvertiefung stoppte der Passeur den kleinen Tross und setzte seinen Rucksack ab. Ohne ein Wort zu verlieren, entnahm er ihm zwei Gummimatten und zwei Zangen, gab Felix jeweils eine davon, und nahm sein Gepäck wieder auf. Der Ruf eines Waldkauzes hallte über sie hinweg.

Nur wenige Meter noch, dann lichtete sich der Wald. Im Dunkel der Nacht zeichneten sich schwach die Umrisse von Pfählen ab, die in regelmäßiger Reihe standen und ihnen den Weg abschnitten.

Sie waren da.

Vor ihnen erhob sich der Todeszaun, den die deutsche Armee entlang der belgisch-niederländischen Grenze zwischen Aachen und Knokke an der Nordsee errichtet hatte.

Nun musste es schnell gehen. Felix sammelte seine Schützlinge in einem kleinen Halbkreis um sich. »Die Anlage hier ist dreiteilig«, erklärte er leise. »Als Erstes kommt ein Warndraht, dann der elektrische Draht, dann erneut ein Warndraht. Sobald wir den Durchgang geöffnet haben, geht ihr hintereinander durch. Bleibt nicht stehen! Berührt nichts! Durch den elektrischen Draht jagen zweitausend Volt, das überlebt niemand. Auf der anderen Seite gehe ich voran. Ihr folgt dicht hinter mir. Nicht stehen bleiben. Immer weiterlaufen.«

Er nickte dem Passeur zu.

Während sich die Gruppe bereithielt, setzten Felix und der Passeur die isolierten Zangen an. Konzentriert durchtrennten sie nacheinander die Drähte und sicherten den Durchbruch mit Gummimatten. Es war ein Segen, dass man inzwischen um die isolierende Wirkung dieses Materials wusste.

Schließlich legte Felix seine Zange ab und gab den beiden Frauen ein Zeichen, ihm zu folgen. Geschickt wanden sie sich durch die Öffnung. Doch als der Passeur die Männer anwies, ihnen nachzugehen, bellte in der Ferne plötzlich ein Hund.

Felix war alarmiert. »Schneller!«

Auch der belgische Passeur sah sich gewarnt um und schob die beiden ruhig, aber nachdrücklich in den Durchlass. Kaum hatte der Letzte den Todeszaun passiert, packte er Zangen und Gummimatten ein und verschwand im Dunkel der Nacht.

»Los, gleich weiter«, befahl Felix leise. »Wenn einer der Streckenmeister vorbeikommt, müssen wir außer Schussweite sein.«

Sie hasteten weiter.

Kurz bevor das nächste Waldstück sie verschluckte, drehte sich Felix noch einmal um. Der todbringende Drahtverhau lag verlassen da. Es sollte kein Durchkommen geben, und doch fanden sie zu Tausenden ihre Schlupflöcher – Agenten, Flüchtende, Deserteure, verwundete Soldaten, Schmuggler. Bei Tag und bei Nacht wurden Lebensmittel, Menschen und Nachrichten von einem Land ins andere geschleust, ungeachtet der Opfer, die hier ihr Leben ließen. Nicht nur Felix war es ein Rätsel, warum es den Deutschen nicht gelang, den regen Grenzverkehr zu unterbinden. Vielleicht, weil ein solch langer Grenzverlauf nicht lückenlos zu überwachen war. Vielleicht, weil Verzweiflung besonderen Mut hervorbrachte. Vermutlich war es beides.

4. Kapitel

Der Lindenhof, am nächsten Tag

Der Wäscheberg im Bügelzimmer unmittelbar neben der Küche war beinahe so hoch wie der Säntis, dessen Gipfel sich auf der Schweizer Seite des Bodensees in den Himmel erhob. Den einen zu erklimmen, erschien Lilly genauso mühsam, wie den abzubauen, vor dem sie hier stand.

Sie besah sich die gestapelten Textilien. Ein Lazarett machte deutlich mehr Arbeit als ein Gasthaus. Unmengen an Betten mussten täglich bezogen, Nachthemden und Handtücher ausgetauscht, Unterwäsche erneuert und Verbände ausgewaschen werden. Und es nahm kein Ende. Der frische Geruch allerdings erinnerte Lilly an früher, wenn Sommergäste in den gemütlichen Zimmern logiert hatten und in der holzgetäfelten Gaststube bewirtet worden waren.

Sie ordnete die Wäschestücke nach ihrer Verwendung, legte anschließend einen leicht feuchten Kissenbezug auf den dick mit Decken abgepolsterten Bügeltisch und strich ihn glatt. Auf einem kleinen beigestellten Ofen stand ein mit glühenden Kohlen gefülltes Bügeleisen. Lilly nahm das schwere Gerät und begann, den knittrigen Stoff zu bearbeiten. Schon nach wenigen Minuten stand ihr der Schweiß auf der Stirn.

Bügelarbeit war ohnehin kräftezehrend, doch heute steckte ihr auch noch das gestrige Erlebnis im Keller in den Knochen. Das Gefühl der Todesangst, welches ohne ersichtlichen Grund über sie hinweggerollt war, hatte sie so verstört, dass heute Morgen die Übelkeit zurückgekehrt war. Mehrfach hatte sie sich in ihren Nachttopf übergeben.

Helena hatte ihr gleich strikte Bettruhe verordnen wollen, aber Lilly war trotzdem aufgestanden und hatte sich zum Dienst fertig gemacht. Sie wollte nicht allein auf ihrem Zimmer bleiben. Nach einer kurzen Diskussion hatte Helena ihr schließlich erlaubt, bei der Wäsche zu helfen – den Lazarettsaal durfte Lilly nicht betreten, für den Fall, dass sie an einer ansteckenden Magengrippe litt.

Die heiße Sohle des Plätteisens fuhr schwerfällig über den knittrigen Bezug, hinterließ eine faszinierend glatte Spur auf dem weißen Leinen und eine Duftwolke aus Holzkohle und Seife in der Luft. Die gleichförmige Tätigkeit ließ Lillys Gedanken auf Wanderschaft gehen. Sie träumte sich in Arnos Arme, die sie viel zu selten gehalten hatten. Im Januar hatten sie sich kennengelernt, im Februar geheiratet. Im März war er an die Front zurückgekehrt …

Ein prägnantes Klicken ließ Lilly zusammenzucken. Sie drehte sich um.

»Ich bin es, gnädige Frau.« In der Tür stand Erna. Auf ihren Armen balancierte sie einen weiteren Wäschestapel. »Das hab ich gerade von der Leine geholt.«

»Danke, Erna.« Lilly deutete auf den Stoß mit den Leintüchern. »Leg sie bitte einfach dazu.«

Erna tat, wie ihr geheißen, und lud ihr Bündel ab. Dann hielt sie inne.

Aus der Küche nebenan, die nur durch eine schmale Tür von den Hauswirtschaftsräumen getrennt war, hörte man das Klappern von Pfannen und Töpfen und zwei Frauenstimmen.

Erna versteifte sich. »Das ist die Frau Elisabeth.«

Lilly nickte. »Sie scheint gerade gekommen zu sein.«

»Ich gehe am besten wieder rüber. Auch wenn das Fräulein Helena gesagt hat, dass ich Ihnen hier helfen soll.«

»Ja, geh nur.«

Doch noch bevor Erna die Verbindungstür zur Küche erreichte, schlug diese auf. »Lilly!«

Obwohl sie schon erwachsen war, erzeugte der vertraut rüde Ton ein ungutes Gefühl in Lillys Bauch. »Mutter?«

»Was macht die Küchenhilfe hier?«

»Ich … ich bin schon auf dem Weg, Frau Lindner.« Erna schlängelte sich an Elisabeth Lindner vorbei und schlüpfte in die Küche.

»Sie hat hier nichts verloren.« Elisabeth schloss die Tür hinter ihr und wandte sich an ihre Tochter. »Geht es dir besser?«

»Ja.«

»Du bist noch bleich im Gesicht.«

»Das … das wird sich geben.«

»Arbeiten schadet da nicht, ganz im Gegenteil.« Elisabeth stemmte die Hände in die Hüften und besah sich kritisch Lillys Bügelarbeit. »Ein wenig genauer musst du schon sein!« Tadelnd deutete sie auf eine umgeknickte Naht. »Wenn die Falte einmal reingebügelt ist, geht sie schlecht wieder raus. Und wir können deshalb die Wäsche nicht zweimal waschen. Gib dir mehr Mühe.« Elisabeth steckte eine Strähne ihres frühzeitig ergrauten Haares unter ihr Kopftuch.

Lilly biss sich auf die Lippen, um nichts Unpassendes zu erwidern. »Ich habe Zucker und Milch besorgt«, fuhr Elisabeth fort und sah Lilly an. »Auch frische Butter. Sogar etwas Fleisch und Wurst. Wenn es also wieder ein Festessen gibt, dann wisst ihr, wem ihr das zu verdanken habt.«

»Gewiss.« Lilly nickte. »Ohne dich wäre die Not hier sehr viel größer.«

Ein schattengleiches Lächeln glitt über Elisabeths Gesicht. »Wenigstens gibt es eine in diesem Hause, die das sieht«, erwiderte sie. Dann wurde ihre Miene wieder streng. Mit ausgestrecktem Zeigefinger deutete sie auf das Bügeleisen, das Lilly zurück auf den Ofen gestellt hatte. »Es ist zu kalt. Besorg dir neue Kohlen. Sonst wirst du nie fertig.«

»Das werde ich tun, Mutter.«

»Du hast hier die nächsten Tage viel zu tun, Lilly. Lass dich von deiner großen Schwester nicht für andere Dinge einspannen, hörst du? Wenn die Wäsche liegen bleibt, versinkt Helenas Lazarett im Dreck.« Lilly hörte den Missmut, der im letzten Halbsatz mitschwang. Sie zupfte an ihrer Schürze. »Ich bleibe hier.«

»Gut. Ich werde am Nachmittag kontrollieren, wie weit du gekommen bist.« Der Blick ihrer Mutter wurde stechend. »Ach, übrigens: Dein Vater möchte dich sehen. Ich habe ihm mitgeteilt, dass du den Tag über keine Zeit hast.« Sie reckte das Kinn und verließ grußlos den Raum.

Als sie hinaus war, atmete Lilly tief durch. Sie fürchtete die Mutter und versuchte doch immer wieder, ihre Zuneigung zu erringen. Mehr noch, sie zu verdienen. Meistens scheiterte sie an der unsichtbaren Mauer, die Elisabeth um ihre große, magere Gestalt errichtet hatte.

Ihre Schwestern begegneten der Mutter anders. Katharina ging ihr aus dem Weg. Helena verhielt sich distanziert. Das mochte damit zusammenhängen, dass sie im Gegensatz zu Lilly und Katharina kein leibliches Kind Elisabeths war und das deutlich zu spüren bekam.

Lilly seufzte und nahm das Bügeleisen, um die angemahnte Falte zu bearbeiten. Zu kalt war es gewiss nicht. Sie würde die Kohle erst später tauschen.

Am Abend desselben Tages

Lilly war müde, als sie sich auf den Weg zum Arbeitszimmer ihres Vaters machte. Vor dessen Tür im ersten Stock des Lindenhofs blieb sie einen Augenblick stehen, dann klopfte sie kurz an und trat ein.

Ihr Vater saß an seinem Schreibtisch und machte einige Notizen in ein Geschäftsbuch, das aufgeschlagen vor ihm lag.

Jedes Mal, wenn sie ihn in seinem Arbeitszimmer aufsuchte, wurde Lilly warm ums Herz. Er war nicht nur der Mittelpunkt der Familie, sondern pufferte so gut er konnte auch die schwierige Art der Mutter ab. Er nahm seine Töchter ernst, hörte zu, wo Elisabeth sich abwandte. Seit er versehrt aus dem Krieg zurückgekehrt war und zunehmend selbst unter der Streitsucht seiner Frau litt, waren die drei Schwestern und der Vater noch mehr zusammengewachsen. Die Mutter dagegen wurde ihnen immer fremder.

Sie wartete, bis er seine Eintragung beendet hatte und sie ansah. »Danke, dass du gekommen bist, mein Kind.«

Der Ausdruck auf seinem Gesicht irritierte Lilly. »Was gibt es denn, Papa?«

Er zögerte kurz. »Ich muss dir heute eine traurige Nachricht überbringen«, sagte er dann. »Dein Schwiegervater … hat es nicht geschafft.«

Lilly schüttelte den Kopf, wollte nichts Genaues wissen, doch er sprach weiter. Sie erkannte sein Bemühen, es sanft zu sagen, und doch trafen sie die Worte mit Wucht. Arnos Vater, der Seifenfabrikant Reichle, war tot. Gestorben an den schweren Verletzungen, die er erlitten hatte, als die Seifenfabrik bombardiert worden war, an jenem furchtbaren Tag im März.

Der Raum um Lilly herum schien sich zu verdunkeln, während in rasch wechselnder Abfolge Erinnerungsfetzen vorüberzogen. Die etwas altmodische, aber dennoch elegante Erscheinung ihrer Schwiegermutter. Die Gesten, mit denen sie das Personal der Reichle-Villa dirigierte. Die leisen Klaviertöne, wenn sie sich dort ins Musikzimmer zurückzog und Beethoven spielte. Ihre Tränen, als ihr Sohn Arno an die Front zurückkehren musste. Die aufrechte Gestalt ihres Schwiegervaters in Anzug und weißem Hemd mit steifem Kragen. Sein gezwirbelter grauer Schnauzbart, dessen Enden beim Sprechen wackelten. Die buschigen Brauen unter einer hohen, von Falten durchzogenen Stirn. Die unzähligen Zigarren, deren Rauch in seinem Arbeitszimmer hing. Der scharfe Blick, dem nichts entging …

Arnos Mutter war bereits unter den einstürzenden Mauern der Fabrik umgekommen. Jetzt also auch der Vater.

»Armer Arno«, hörte Lilly sich sagen. »Wir müssen ihm schreiben.« Sie hatte das Gefühl, außerhalb ihrer selbst zu stehen.

»Ja, informiere deinen Mann, Lilly. Das ist jetzt das Wichtigste.«

Sie nickte.

»Ich nehme an, dass er der Erbe seiner Eltern ist?«, fuhr Gustav fort.

»Das ist er. Er hat ja keine Geschwister.«

Ihr Vater runzelte die Stirn. »Da er derzeit im Feld steht, kommen einige Aufgaben auf uns zu.«

Lilly ahnte, was er damit sagen wollte. Die Härchen an ihren Unterarmen stellten sich auf. »Arnos Onkel Fritz hat sich doch schon um alles gekümmert«, erwiderte sie schnell. Der Bruder ihres Schwiegervaters hatte sofort das Heft in die Hand genommen, als das Unglück über die Reichles hereingebrochen war. Er brauchte Lilly nicht, und Lilly war dankbar dafür.

»Auch wenn sich der Onkel derzeit um alles sorgt … so ist es dennoch an dir, dich um das Erbe deines Mannes zu kümmern«, erklärte ihr Vater ruhig, aber bestimmt. »Diese Verantwortung hast du mit deiner Heirat übernommen.«

Lillys Knie wurden weich. Ihr schwindelte. »Ich weiß doch gar nicht, was ich mit einem großen Haus und einer kaputten Fabrik anfangen soll, Papa.« Sie rang die Hände.

Doch als sie seinem Blick begegnete, wusste sie, dass er es ernst meinte.

»Du kannst dich nicht hier am Bodensee verkriechen, Lilly«, sagte er mitfühlend, aber unmissverständlich. »Ich sehe ein, dass du Schweres erlebt hast. Aber du darfst nicht die Augen verschließen und alles dem Onkel deines Mannes überlassen.«

Lilly schüttelte heftig den Kopf. »Ich kann nicht zurück.« Das musste er doch verstehen. Die Erinnerungen waren zu schrecklich, dort fühlte sie sich schutzlos und allein. Was, wenn erneut Jagdflugzeuge kämen und ihre Bomben abwarfen? Musste sie dann sterben?

»Ich kann es dir nicht ersparen.« Gustav Lindner beendete das Gespräch mit einer für ihn ungewohnten Strenge. »Du musst nach Stuttgart zurückkehren und dich um deine Zukunft kümmern. Und zwar bald.«

Das konnte nicht wahr sein. Tränen ließen Lillys Blick verschwimmen, als sie die breite Treppe des Lindenhofs hinunterstolperte. War das ihr Vater, der stets zu seinen Töchtern stand? Der immer betonte, ihr Wohl im Sinn zu haben? Der ihnen einst als Gute Fee Pfennigmünzen unter die Kissen geschmuggelt hatte, wenn ein Milchzahn ausgefallen war?

»Warum rennst du denn so, Lilly?« Am Fuß des Treppenaufgangs stand Katharina. »Hast du ein Gespenst gesehen?«

Lilly hielt inne. »Ich … ich … nein …«

»Du bist ja vollkommen durcheinander!« Katharina hakte sich bei ihr unter. »Komm. Käthe soll dir eine warme Milch mit Honig geben.«

Lilly ließ sich von ihrer Schwester in die Küche ziehen und auf die Bank am Dienstbotentisch drücken.

»Machst du ihr eine Milch, Käthe?« Katharina zog ihre Schwesternhaube ab. Ihre hellblonden Strähnen lagen zerzaust um ihren Kopf. »Und gibt es noch etwas zu essen für mich? Ich weiß, es ist schon spät …«

»Ach, papperlapapp.« Käthe füllte etwas Milch in einen kupfernen Stieltopf und stellte ihn auf den Herd. »Fürs Essen ist es nie zu spät.« Sie öffnete das Ofenrohr und zog eine ockerfarbene Steingutschüssel heraus. »Wie gut, dass ich noch etwas vom Mittag zurückbehalten und gewärmt habe.«

»Kässpätzle!«, rief Katharina glücklich. »Danke, Käthe!«

»Setzen Sie sich, Fräulein Katharina. Ich bringe sie gleich.«

Katharina nahm neben Lilly Platz und legte ihr eine Hand auf den Arm. »Magst du mir erzählen, was passiert ist? Warst du bei Papa?«

Ein Schluchzer drückte Lillys Kehle zu. »Er sagt, dass ich nach Stuttgart zurückmuss«, presste sie hervor.

»Oh weh! Schon bald?«

»Es hat sich so angehört.«

Eine Weile lang herrschte Stille. Nur Käthes Geschirrklappern war zu hören.

»Wenn Papa eine solche Entscheidung trifft«, sagte Katharina schließlich, »dann hat er vermutlich gute Gründe dafür.«

»Verstehst du denn nicht, Katharina?« Lilly richtete sich ruckartig auf, sodass Katharinas Finger von ihrer Hand glitten. »Arnos Eltern sind tot! Mein Ehemann liegt in einem Schützengraben, wer weiß, ob er noch lebt! Was, wenn Stuttgart wieder angeflogen wird? Wie oft kann man einen Angriff überleben, Katharina? Die Vorstellung, dorthin zurückzukehren, ist … unerträglich …«

»Ich verstehe dich gut, Lilly«, erwiderte Katharina. »Aber … du bist verheiratet. Papa möchte sicherlich, dass du zu deinem Mann stehst und ihm zeigst, dass du dein Versprechen ernst nimmst. Gerade weil er nicht daheim sein kann.«

»Aber ohne Arno geht es mir dort nicht gut. Ich will einfach nur bei euch sein. Hier am See. Zu Hause und in Sicherheit.«

»Das Fräulein Lilly muss sich wirklich erst noch ein bissel erholen«, mischte sich Käthe ein, während sie Lilly die Honigmilch servierte. »Sie wird selbst wissen, wann sie wieder nach Stuttgart gehen kann.«

Lilly konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten. Katharina nestelte ein Taschentuch aus dem Rock ihrer Schwesterntracht und hielt es ihr hin.

»Danke.« Lilly wischte sich über Augen und Wangen.

»Das Leben fragt manchmal nicht, ob wir bereit sind«, sagte Katharina teilnahmsvoll. »Aber trau dir etwas zu, Lilly.«

Bevor Lilly antworten konnte, kam Helena in die Küche gewirbelt. »Wie schön, ihr seid alle beide hier!« Sie lächelte ihre Schwestern an und nahm ihnen gegenüber am Tisch Platz. »Katharina, dich habe ich in den letzten Tagen überhaupt nicht zu Gesicht bekommen«, fuhr sie fort. »War so viel zu tun im Spital?«

»Es nimmt kein Ende«, erwiderte Katharina. »Kaum ist ein Patient entlassen oder zu euch verlegt, kommen mindestens drei nach.«

Lilly fiel auf, wie müde und abgekämpft ihre jüngere Schwester wirkte. Wie dünn sie geworden war. Und wie ernst sie aussah. Dabei war sie erst siebzehn Jahre alt.

Plötzlich überkam sie ein schlechtes Gewissen. Katharina und auch Helena stellten sich jeden Tag ihren Aufgaben. Keine von beiden würde zögern, der Aufforderung des Vaters zu folgen.

Sie putzte sich die Nase.

Sofort richtete sich Helenas Aufmerksamkeit auf sie. »Geht es dir gut? Du siehst aus, als hättest du geweint!«

»Ich … ja …« Lilly fiel es auf einmal schwer, ihre Not zu erklären.

»Vater möchte, dass sie nach Stuttgart zurückgeht«, antwortete Katharina an ihrer Stelle.

»Und du fühlst dich dem nicht gewachsen, Lilly?«

»Jetzt noch nicht«, erwiderte Lilly matt.

Helena griff über die Tischplatte nach ihrer Hand. »Ich habe schon gehört, dass Arnos Vater gestorben ist. Es tut mir wirklich leid.«

»Ich kann Vaters Gedanken schon nachvollziehen«, murmelte Katharina. »In Stuttgart wartet ein großes Haus darauf, geführt zu werden. Und dann gibt es noch die Fabrik …«

»Aber Arnos Onkel macht schon alles.« Lilly wölbte ihre Hände um die Tasse. Der feine Honigduft, der ihr in die Nase stieg, hatte etwas Tröstliches. »Und ich … ich kann so etwas doch eh nicht.«

»Papa weiß den Onkel wahrscheinlich nicht richtig einzuschätzen«, mutmaßte Helena.

»Onkel Fritz ist nett.« Lilly nahm einen Schluck Milch. »Er … ich glaube, er weiß genau, was er tut.«

»Mag sein«, erwiderte Helena. »Aber du bist die Zukunft für Arnos Familie.«

Lilly schloss die Augen und schüttelte leicht den Kopf.

»Es ist zu viel auf einmal«, hörte sie Helena sanft sagen. »Diese Übelkeit, das Herzklopfen, das kommt alles nicht von ungefähr. Ich glaube, dass sich da deine achtzehnjährige Seele zu Wort meldet, Lilly. Außerdem bin ich mir sicher, dass es Papa selbst wehtut, dich zurückzuschicken.«

Lilly schlug die Augen auf und stellte den Becher ab. »Er hat sehr … schroff mit mir gesprochen.«

»Vermutlich hast du es schroffer empfunden, als er es gemeint hat«, entgegnete Helena. »Und wie Katharina kann ich seine Sicht der Dinge verstehen.«

»Nein«, Lilly merkte selbst, wie erschöpft ihre Stimme klang, »ihr versteht es nicht. Mich versteht ihr nicht. Ihr habt ja nicht das schreckliche Dröhnen gehört und die Explosionen. Und ihr seid nicht in einem Keller gesessen, ohne zu wissen, ob ihr überhaupt wieder das Tageslicht seht.«

Helena stand auf, setzte sich nah zu Lilly und legte ihr den Arm um die Schultern. »Ich weiß, dass du viel mehr Kraft hast, als du ahnst, Liebes. Du wirst das alles meistern, ganz bestimmt!«

»Ich muss euch unterbrechen, Mädchen.« Käthe trat an den Tisch, servierte Katharina einen großen Teller Kässpätzle und Helena einen Becher mit Getreidekaffee. Dann betrachtete sie jede der drei Schwestern eindringlich. »Haltet zusammen, wie ihr es schon immer getan habt. Dann wird es leichter.«

»Du hast recht, Käthe.« Katharina strich sich eine Haarsträhne hinter das Ohr und sah Lilly aufmunternd an. »Lass uns in den nächsten Tagen gemeinsam überlegen, was in Stuttgart auf dich wartet und wie du die Dinge angehen könntest. Wenn du einen Plan hast, fühlst du dich nicht mehr so hilflos.«

»Hoffentlich …«, erwiderte Lilly zögernd. »Aber vielleicht … können wir zusammen auch noch mal mit Papa reden?«

»Das werden wir tun«, versicherte Helena.

»Und noch etwas«, sagte Katharina. »Nächste Woche mache ich mit einigen Spitalpatienten einen Ausflug ins Rosgartenmuseum nach Konstanz. Das wäre doch eine schöne Abwechslung für dich. Hättest du Lust, uns zu begleiten?«

5. Kapitel

Rotterdam, zur selben Zeit

Nachdem Felix und seine Gruppe den Todeszaun hinter sich gelassen und in sicherer Entfernung eine kurze Rast eingelegt hatten, waren es noch knappe zwei Stunden straffen Fußmarsches bis Roosendaal gewesen. Hier, am Rand der ersten größeren Stadt auf niederländischem Territorium, hatten sich ihre Wege getrennt. Die beiden Männer wollten nach Großbritannien weiter, eine der Frauen wurde von ihrem Verlobten erwartet.

Nur Florence war an Felix’ Seite geblieben, eine französische Spionin, mit der er bereits hin und wieder zusammengearbeitet hatte. Beide lieferten sie Informationen aus Frankreich und Belgien an das Secret Service Bureau in Rotterdam. Dort liefen nicht nur die Fäden der britischen und französischen Geheimdienstaktivitäten gegen die Deutschen zusammen, sondern auch die der zahlreichen Widerstandsgruppen in den besetzten Gebieten.

In einem Hotel am Bahnhofsplatz von Roosendaal hatten sie ein paar Stunden geschlafen, sich frisch gemacht und dann den Zug nach Rotterdam bestiegen. Am frühen Nachmittag waren sie schließlich in der pulsierenden niederländischen Hafenstadt angekommen.

Während Florence bei einer Cousine wohnte, nahm Felix bei der Witwe van den Berg Quartier, deren Wohnung im ersten Stock eines Stadthauses in der Hoogstraat lag. Die alte Dame stellte schon seit Kriegsbeginn eines ihrer Zimmer den Gästen des Secret Service Bureaus zur Verfügung, und Felix kam immer dann bei ihr unter, wenn er in Rotterdam war. Er schätzte nicht nur die Diskretion der Witwe, sondern auch ihre Kochkünste. Unmittelbar nach seiner Ankunft hatte sie einen herzhaften Apfel-Speck-Pfannkuchen serviert, gefolgt von einer Tasse echten Bohnenkaffees. Felix’ müde Lebensgeister hatten sogleich Saltos geschlagen.

Nun, gegen Abend, hatte er sich noch einmal auf den Weg gemacht. Sein Ziel waren die Räume des britischen Geheimdienstes MI1.

Er genoss den kurzen Spaziergang, der ihn durch die Hafenanlagen an die grauen Wasser der Nieuwe Maas führte. Überall herrschte geschäftiges Treiben. Es wob einen vertrauten Klangteppich aus dem Tuten der Schiffshörner, den Rufen der Hafenarbeiter, dem Rattern der Lastenkarren auf dem Straßenpflaster, dem Stampfen der Schiffsturbinen. Der Rotterdamer Hafen war ein Tor zur Welt und der Trubel, in den Felix hier eintauchte, ein bisschen wie Heimkommen.

An der Willemsbrücke zog Felix seinen Hut tiefer ins Gesicht und bog rechts auf die Boompjes ein, was übersetzt Kai der Bäumchen hieß. Eine Reihe namensgebender kleiner Bäume trennte hier die Straße mit ihren Bürogebäuden vom eigentlichen Kai und dem breit dahinfließenden Fluss. Vor der Nummer 76c, dem Gebäude der Uranium Steamship Company Ltd., blieb er stehen und sah auf die Uhr. Es war kurz vor sechs. Er war pünktlich.

Captain Richard Bolton Tinsley empfing ihn in einem luxuriös eingerichteten Büro im vierten Stock. Als Felix eintrat und über den dicken Perserteppich ging, der den Dielenboden bedeckte, verließ der Captain seinen Platz hinter einem imposanten Mahagonischreibtisch und kam ihm entgegen. »Schön, Sie zu sehen, Benthin.« Der kräftige Tinsley, der Felix kaum bis zur Brust reichte, gab ihm einen schmerzhaften Schlag auf die Schulter. »Ein Glück, dass Sie auch diesmal nicht als ein verkohltes Stück Fleisch am deutschen Drahtverhau hängen geblieben sind! Sie hätten uns gefehlt!«

»Diese Ansicht teile ich, Captain«, erwiderte Felix grinsend. »Ich hätte mir auch gefehlt!«

»Nehmen Sie Platz!« Tinsley zeigte auf vier schwere Ledersessel, die sich um einen runden, mit Intarsien versehenen Tisch gruppierten. Er selbst trat an eine Anrichte, auf dem eine ansehnliche Sammlung an Spirituosen stand. »Scotch ohne Eis, nicht wahr?«

»Exakt. Es geht nichts über einen guten schottischen Whisky«, erwiderte Felix und nahm Platz. »Florence ist noch nicht da?«

Tinsley goss die goldgelb leuchtende Flüssigkeit in zwei tulpenförmige Nosing-Gläser und reichte eines davon an Felix weiter. »Sie müsste gleich eintreffen! Slàinte Mhath!«

Felix nahm sein Glas und schwenkte es zweimal. »Cheers, Captain!«

Kaum hatte Felix den fruchtig-holzigen Whisky verkostet, führte Tinsleys Sekretärin die Französin herein.

»Mademoiselle Florence!« Mit dem Glas in der Hand eilte Tinsley zu ihr hin. »Bitte, nehmen Sie in unserer Runde Platz!«

Die Gentleman-Allüre des ansonsten für seinen rauen Ton bekannten Geheimdienstleiters amüsierte Felix. Er zwinkerte Florence zu, die mit staubbedeckten Schuhen über den kostbaren Teppich marschierte und sich zu Felix setzte, ohne ihren Mantel auszuziehen. Von Pomp hatte sie sich noch nie beeindrucken lassen.

»Fangen Sie an, Florence!«, forderte Tinsley sie auf, der den Sessel zwischen ihnen wählte. »Was lässt die Weiße Dame übermitteln?«

Florence öffnete ihren Rucksack, zog nacheinander vier Strickpullover heraus und legte sie auf den Tisch. Unregelmäßige Muster überzogen das Maschenwerk. »Von einer Gruppe Strickerinnen aus Saint-Quentin, die für die Dame Blanche tätig sind. Sie haben die augenblicklichen Aktivitäten der Deutschen entlang der Bahnhöfe eingearbeitet.«

»Sehr gut!« Tinsley musterte Florence anerkennend. »Ich gebe das Material heute noch weiter. Das alles muss schnellstens genau entschlüsselt werden.«

»Es dürfte allerdings noch mehr Interessantes darin zu finden sein.« Florence warf einen raschen Seitenblick zu Felix. »Die Deutschen planen in Kürze eine weitere Offensive. Entlang der Marne, darauf deuten die derzeitigen Truppenbewegungen hin.«

»Meine Nachforschungen haben dasselbe ergeben«, bestätigte Felix. »Es gibt allerdings Hinweise darauf, dass das Ganze ein Ablenkungsmanöver sein könnte.«

»Wovon?«, fragte Florence.