Töchter eines neuen Morgens - Maria Nikolai - E-Book
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Töchter eines neuen Morgens E-Book

Maria Nikolai

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Beschreibung

Eine mutige junge Frau, deren Herz für die Medizin schlägt. Eine Anschuldigung, die ihre Zukunft gefährdet. Und eine Liebe, die sie nie zu finden glaubte.

München und Meersburg 1927: Schon seit ihrer Kindheit am idyllischen Bodensee weiß Katharina, dass ihr Herz der Medizin gehört. Nachdem sie den ersehnten Studienplatz in München erhalten hat, widmet sie sich mit besonderer Hingabe der Frauenheilkunde. Doch als Frau hat sie es an der Universität nicht leicht und muss gegen die konservativen Widerstände und unerbittlichen Moralvorstellungen ihrer Zeit kämpfen. Bei ihrer Arbeit lernt Katharina den charmanten Arzt Thomas von Bogen kennen, der neben seiner angesehenen Privatpraxis auch eine Praxis für mittellose Patienten führt, und die beiden kommen sich näher. Als Katharina fälschlicherweise einer Straftat beschuldigt wird, hängt nicht nur ihre berufliche Zukunft am seidenen Faden, sondern auch ihre Liebe zu Thomas …

Der dramatische Abschluss der Bestseller-Familiensaga – romantisch, hinreißend und zum Genießen!

»Spannend, vielschichtig, einladend – eine Saga, die viel verspricht und noch mehr hält!« Denglers-Buchkritik.de über die Bodenseesaga

In hochwertig veredelter Romance-Ausstattung, mit leckerem Kuchenrezept im Innenteil.

Noch mehr herzerwärmender Lesegenuss von Bestsellerautorin Maria Nikolai:
»Die Schokoladenvilla.«
»Die Schokoladenvilla. Goldene Jahre«
»Die Schokoladenvilla. Zeit des Schicksals«
»Töchter der Hoffnung. Die Bodensee-Saga«
»Töchter des Glücks. Die Bodensee-Saga«

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Seitenzahl: 550

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MARIANIKOLAI liebt historische Stoffe und zarte Liebesgeschichten. Mit »Die Schokoladenvilla« schrieb sie sich in die Herzen der Leserinnen: Die opulente Saga rund um eine Stuttgarter Schokoladenfabrikantenfamilie stand monatelang auf der Bestsellerliste und verkaufte sich mehr als eine halbe Million Mal. Mit ihrer neuen historischen Trilogie entführt Maria Nikolai ihre Fans an den schönen Bodensee zu Ende des Ersten Weltkriegs. »Töchter eines neuen Morgens« bildet den emotionalen Abschluss der Saga, der von ihren Leserinnen schon sehnsüchtig erwartet wird.

Maria Nikolai in der Presse:

»Maria Nikolai hat ein feines Händchen für allerfeinsten Herzschmerz, für Geschichten zum Dahinschmelzen.« Reutlinger General-Anzeiger

»Spannend, vielschichtig, einladend – eine Saga, die viel verspricht und noch mehr hält!« Denglers-Buchkritik.de über die Bodenseesaga

»Ein richtig schöner Sofaschmöker.« SWR über »Die Schokoladenvilla«

Außerdem von Maria Nikolai lieferbar:

Die Schokoladenvilla.

Die Schokoladenvilla. Goldene Jahre

Die Schokoladenvilla. Zeit des Schicksals

Töchter der Hoffnung. Die Bodensee-Saga

Töchter des Glücks. Die Bodensee-Saga

MARIA NIKOLAI

Töchter eines neuen Morgens

Die Bodensee-Saga

ROMAN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © 2023 der Originalausgabe

by Penguin Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Sarvin Zakikhani

Covergestaltung: Favoritbuero

Coverabbildungen: Ildiko Neer, Magdalena Russocka / Trevillion Images; UrmasHaljaste, Albert Pego, Patryk Kosmider,Vanilllla/shutterstock.com

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-27352-1V002

www.penguin-verlag.de

Und dann ist alles wieder still …

Und weißt du, was mein Leben will,

Hast du es schon verstanden?

Wie eine Welle im Morgenmeer

Will es, rauschend und muschelschwer,

An deiner Seele landen.

Rainer Maria Rilke

Prolog

Meersburg, ein Sonntagmorgen Ende April 1911

Majestätisch zog die weiß gefiederte Schwanenmutter auf den azurblauen See hinaus. In der Wasserschleppe, welche sie hinterließ, folgten die flauschigen Küken. Der Vater hatte sich aufgeplustert und bildete eine wachsame Nachhut. Man erkannte ihn unschwer an dem markanten schwarzen Höcker auf dem orangefarbenen Schnabel.

Katharina sah der Schwanenfamilie hinterher und zählte die Küken. Das tat sie beinahe jeden Tag, seit die Schwanenmutter ihre Eier ausgebrütet hatte. Doch heute stimmte etwas nicht. Sie kam nur auf sechs Schwanenkinder. Wo war das siebte?

Besorgt watete Katharina ein paar Schritte ins Wasser hinein und beschirmte ihre Augen mit der Hand gegen die goldene Morgensonne. Der See nässte den Saum ihres blauen Kleides, und die Kälte, mit der er ihre nackten Füße umspülte, jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Dennoch blieb sie stehen und beobachtete, wie die hellgrauen Fellbällchen auf den Rücken der Mutter kletterten – denn dort, zwischen ihren Schwingen, waren sie sicher vor den Hechten, die weiter draußen lauerten. Zugleich zählte Katharina noch einmal mit. Dann war sie sich gewiss. Eines der Küken fehlte.

Hastig verließ sie das Wasser und balancierte über die kleinen Kieselsteine des Ufers hin zu zwei Trauerweiden, deren Zweige sich weit in den See hinabbeugten. Wie jedes Jahr hatte das Schwanenpaar dort aus Reisig, Schilf und kleinen Ästen ein großes Nest gebaut – gut geschützt und zugleich nah genug am Wasser, um bei Gefahr schnell fliehen zu können. So hatte es jedenfalls Papa erzählt, als er Katharina den Nistplatz zum ersten Mal gezeigt hatte. Damals war sie fünf Jahre alt gewesen. Inzwischen war sie neun, und noch immer kam sie hierher, wenn das Schwanenpaar im zeitigen Frühjahr sein angestammtes Quartier bezog, um dort zu brüten und seine Jungen aufzuziehen.

Schritt für Schritt näherte Katharina sich dem Nest und spähte hinein. Doch außer den weißen Daunenfedern, mit denen die Mutter die Mulde weich ausgepolstert hatte, war nichts zu sehen. Hatte ein Fuchs das Junge geholt? Oder eine Krähe?

Katharina begann, die Umgebung des Nistplatzes abzusuchen, ging ein Stück die Bucht entlang in Richtung Hagnau, sah ins Gebüsch und schaute zwischen den Bäumen, welche die Uferzone säumten. Schließlich kehrte sie zum Nest zurück, ohne eine Spur des vermissten Schwanenkindes gefunden zu haben. Mit einem tiefen Seufzer beschloss sie, die Suche aufzugeben. In den ersten Lebenstagen gab es so viele Gefahren für die frisch geschlüpften Schwänchen, dass manchmal alle Wachsamkeit der Eltern nicht ausreichte, um sie zu beschützen.

Katharina wollte sich gerade auf den Nachhauseweg machen, als ein schwaches Fiepen sie aufhorchen ließ. Sie spitzte die Ohren, lauschte in den ruhigen Sonntagmorgen hinaus.

Da war es wieder!

Es kam vom See!

Ganz langsam bewegte sich Katharina zu der Stelle hin, an welcher die Zweige der Trauerweiden in das Wasser eintauchten und einen natürlichen Vorhang bildeten.

Wieder erklang der erbärmliche Ruf.

Katharinas Augen wanderten über die gekräuselten, leise heranrauschenden Wellen der Seeoberfläche.

Dann sah sie den kleinen Schwan. Nur mit Mühe hielt er sein Köpfchen über Wasser. Katharina wusste, dass Küken ertrinken konnten, weil sich ihr Daunenkleid im Wasser rasch vollsog, aber an einer solch seichten Stelle wie hier? Sie kniete nieder, hob das Kleine mit beiden Händen aus dem Wasser und legte es in die Schürze ihres Kleides. Während sie es sanft abtrocknete, fiel ihr auf, dass ein Bein eigenartig verdreht war. An einem der Flügelchen haftete Blut. Also war doch ein Räuber am Nest gewesen und vermutlich gestört worden, sodass er das Küken verletzt zurückgelassen hatte.

Katharina stand auf. Zum Glück gab sie so gut auf die Schwäne acht. Ein Schwanenkind hatte sie zwar noch nie gesund gepflegt, aber sie war bereit, alles dafür zu tun, um dem Kleinen das Leben zu retten.

Nach Katharinas Empfinden dauerte es eine Ewigkeit, bis sie mit dem jämmerlich piepsenden und zitternden Schwanenkind endlich die Lindenallee erreichte. Diese breite, mit riesigen alten Bäumen gesäumte Zufahrt zweigte vom Uferweg ab und führte direkt zum Gasthaus ihrer Eltern. Der Kies bohrte sich in ihre nackten Fußsohlen, aber sie achtete nicht darauf. Was, wenn es schon zu spät war für den kleinen Schwan?

Kurz bevor Katharina das zweiflügelige, verwitterte Gebäude erreichte, in dem sie mit ihrer Familie lebte, kamen ihre beiden Schwestern angelaufen.

»Was hast du denn da in der Schürze?«, fragte Lilly neugierig.

Sie war ein gutes Jahr älter als Katharina, aber Katharina fand, dass man diesen Altersunterschied nicht bemerkte. Selbst an Größe stand sie ihrer Schwester nicht nach. »Ein Küken«, erwiderte Katharina, hielt den Stoff aber schützend über dem Flaumbündel zusammen.

»Ein kleines Entchen?« Auch Helena, mit fünfzehn Jahren die Älteste von ihnen, spähte über Katharinas Schulter. In der Hand hielt sie zwei Schläger und einen Federball.

»Es ist ein Schwan.« Katharina machte ein paar Schritte Richtung Haus.

»Zeig doch!« Lilly griff nach dem Stoff und zog daran.

»Nein!« Katharina wich zur Seite. »Es ist verletzt! Lasst mich jetzt weiter, ich muss es zu Papa bringen! Der hat schon so viele Tiere gesund gemacht!«

»Wir sehen uns das Kleine nachher an, Lilly«, sagte Helena ruhig. »Katharina muss es erst einmal versorgen. Und wir wollten doch eine Partie Federball spielen!«

»Na gut.« Nur widerwillig ließ Lilly sich einen der Schläger in die Hand drücken.

Katharina eilte erleichtert weiter, hetzte die steinernen Treppen zum Portal des Lindenhofs hinauf und lief durch die dunkle Eingangshalle mit der langen Theke. Kurz bevor sie die Treppe erreichte, die zum Arbeitszimmer ihres Vaters führte, traf sie auf ihre Mutter.

»Wo sind denn deine Schuhe?«, fragte Elisabeth Lindner streng.

»Ich … ähm, die sind noch … vorne, am Wasser.«

»Du holst sie sofort!«

»Bitte, Mutter, ich habe hier einen kleinen Schwan. Den muss ich Papa zeigen …«

»Du weißt doch, dass du keine wilden Tiere herbringen sollst, Katharina!«

»Es ist doch kein wildes Tier! Es ist ein Küken! Ganz klein und …«

»Wenn es nach dir ginge, hätten wir hier bereits einen Zoologischen Garten. Du gehst jetzt auf der Stelle zurück zum See, setzt das Viech ab und holst deine Schuhe!«

»Nein!«, erwiderte Katharina trotzig. »Papa wird ihm bestimmt helfen, und ich hole die Schuhe dann spä…«

Katharina hörte das Klatschen und zuckte zusammen. Dann setzte das Brennen auf ihrer Wange ein.

»Du widersprichst nicht! Hast du verstanden!« In die Augen ihrer Mutter war der stechende Blick getreten, den Katharina so hasste. »Und jetzt bringst du es …«

»Elisabeth!« Vater stand auf der Treppe. »Was gibt es denn Schlimmes?«

Die Mutter versteifte sich. »Sie ist ungehorsam!«

»Ich habe«, Katharina hielt sich aufrecht, während sie mit aller Macht die Tränen zurückhielt, »ein Schwanenküken gerettet. Es blutet. Und es ist verletzt.«

»Und was daran rechtfertigt eine Ohrfeige, Elisabeth?«, fragte der Vater.

Durch die hagere Gestalt ihrer Mutter ging ein Ruck. »Stelle meine Entscheidungen nicht immer infrage, Gustav«, sagte sie eisig. »Ohne mich würden dir alle drei Kinder auf der Nase herumtanzen.«

»Das sehe ich anders«, gab der Vater zurück und kam die Treppe herunter. »Jetzt zeig mir mal das Schwänchen.«

Das Gesicht der Mutter versteinerte sich. »Vergiss niemals, dass du dein marodes Gasthaus ohne mich schon längst ruiniert hättest, Gustav Lindner«, presste sie aus schmalen Lippen hervor. »Ohne mich wärst du ein Niemand!« Sie wandte sich ab und ging zur Rezeption zurück.

Katharina atmete auf. Die Kälte, die zwischen den Eltern herrschte, war beinahe noch schlimmer als die unerbittliche Strenge, welche die Mutter ihr und ihren Schwestern gegenüber an den Tag legte. Jeden Abend betete Katharina dafür, dass sie sich endlich vertrugen – auch wenn der liebe Gott sie bisher nicht erhört hatte.

»Lass uns in die Küche gehen«, sagte der Vater und legte den Arm um sie. »Ich werde sehen, was ich für dein Findelkind tun kann!«

Käthe, die Köchin, murrte zwar, als Katharina ihre Schürze mitsamt Küken auf dem Küchentisch ausbreitete, holte dann aber ungefragt Leukoplast, ein Kästchen mit Verbandsmull und eine Schere.

Der Vater hob vorsichtig einen der kleinen Flügel an. »Das Blut am Flügel stammt von einer Bisswunde. Hier können wir nicht viel tun, außer zu hoffen, dass sich nichts entzündet. Das Bein dagegen«, er drehte das Kleine zur Seite, »scheint mir angebrochen zu sein. Spürst du diese unebene Stelle hier?«

Katharina tastete mit ihrer Fingerkuppe über das kurze Beinchen und nickte.

»Auch wenn es nur angebrochen ist«, fuhr der Vater fort und hielt das Küken sanft davon ab, davonzulaufen, »müssen wir es geraderücken und mit einem Verband fixieren.«

Katharina griff sofort nach dem Verbandsmull. »Wie groß soll ich ihn abschneiden?«

»Zwei Fingerbreit.«

Katharina betrachtete nachdenklich ihre Hand. »Deine Finger, Papa? Oder meine?«

Der Vater lachte. »Gute Frage. Nimm drei von deinen.«

Konzentriert legte Katharina die drei mittleren Finger ihrer rechten Hand aneinander und begutachtete sie. Dann nahm sie die Schere und schnitt sorgfältig durch das luftige, helle Gewebe. »Wenn ich groß bin«, sagte sie, ohne die Augen von ihrer Arbeit zu nehmen, »werde ich eine Heilerin.«

»Das kann ich mir gut vorstellen.« Der Vater lächelte. »Du wirst sicherlich eine hervorragende Krankenschwester.«

Katharina stutzte, legte die Schere zur Seite und sah auf. »Nein, Papa. Ich werde nicht Krankenschwester.«

»Nein?«

Sie hob das Kinn. »Ich werde Doktor.«

Der Vater hielt inne. Dann zwinkerte er ihr zu.

»Ein Doktor für Menschen natürlich«, fügte sie schnell an. »Nicht für Schwäne.«

»Das hätte ich mir eigentlich denken können.« Er übergab ihr vorsichtig das Küken. »Dann passen Sie jetzt gut auf, wie man ein Bein schient, Fräulein Doktor.«

Katharina hielt das zappelnde Schwänchen fest, während der Vater die Verletzung behandelte und anschließend verband. Trotz aller Vorsicht schrie es vor Schmerzen. Kaum war der Vater fertig, fiel es in eine Art Starre.

»Das kommt manchmal vor«, sagte der Vater beruhigend, als Katharina besorgt zu ihm aufsah. »Jetzt kommt es darauf an, ihm viel Wärme und Geborgenheit zu geben.«

»Ich nehme es mit in mein Bett«, sagte Katharina sofort, wickelte das Schwanenkind behutsam in die Schürze ein und hob es hoch.

»Es ist gut, wenn du es in den nächsten Tagen viel bei dir hast, aber ins Bett gehört es nicht. Wir gehen jetzt in meine Werkstatt und basteln eine kleine Kiste. Käthe soll dir eine Bettflasche geben und Handtücher. So kannst du ihm ein schönes Nest bauen.«

»Ich setze gleich Wasser auf«, verkündete Käthe, die am anderen Ende der Küche stand und Kartoffeln schälte.

»Er muss auch was essen«, stellte Katharina fest.

»Ganz genau.« Der Vater nickte und packte die Reste der Mullbinden zurück in das Kästchen. »Käthe – würden Sie einen Maisbrei machen? Ohne Salz?«

»Das braucht eine halbe Stunde«, erwiderte die Köchin.

»Kann es denn so lange warten, Papa?«, fragte Katharina beunruhigt.

»Gib ihm derweil etwas Wasser. Später kannst du ihm auch klein geschnittenes Gras anbieten.«

»Ich werde alles genauso machen, wie du es sagst«, versprach Katharina, die das Küken behütend an sich drückte. »Hoffentlich lässt Mutter es mich behalten.«

»Wir hatten in diesem Jahr bereits eine Kröte, eine Amsel, zwei Igel und mehrere Regenwürmer in Obhut«, erwiderte ihr Vater schmunzelnd. »Da kommt es auf ein Schwanenkind auch nicht mehr an. Ich rede mit ihr.«

Es wurde Katharinas Schwanenjahr. Sobald er laufen konnte, folgte der kleine Schwan ihr überallhin. Er watschelte mit ihr durch den Park, zum Schwimmen und Gründeln an den See, und er ließ sich auch nicht davon abhalten, sie zum Einkaufen ins Städtchen zu begleiten. Weil es bis in die Meersburger Oberstadt zu weit für ihn war, trug Katharina ihn den steilen Berg hinauf, zumindest, solange er noch nicht zu groß und zu schwer für sie war. Mehrmals versuchte sie gemeinsam mit ihrem Vater, ihn zu seiner Familie zurückzubringen, was jedes Mal misslang, weil der Kleine Katharina als seine Mutter angenommen hatte und sich jedem Trennungsversuch hartnäckig verweigerte. So wurde Katharina die Zeugin seiner ersten Flugversuche im Juli, sah im Januar die ersten weißen Federn im graubraunen Gefieder und musste sich im beginnenden Frühjahr schließlich schweren Herzens von ihrem Schwanenkind trennen. Der Vater hatte ihre bitteren Tränen einfühlsam getrocknet. Das Beste für ihren Schützling war nun einmal ein echtes Schwanenleben draußen in der Natur.

Und so machten sie sich an einem sonnigen Märztag auf, ruderten hinüber nach Konstanz und weiter bis zum Gnadensee, wo sie bei Allensbach eine Gruppe anderer Jungschwäne entdeckten, die in diesen Tagen von ihren Eltern aus den Nestern vertrieben worden waren. In dieser Gemeinschaft, so versicherte der Vater, würde ihr Schwanensohn sicher sein und in Ruhe ganz erwachsen werden können.

Schließlich war es so weit.

Katharina streichelte ihn ein letztes Mal, dann ließen sie ihn langsam ins Wasser gleiten. Mit ruhigen Ruderschlägen schufen sie Abstand, damit er seine Umgebung wahrnehmen und sich orientieren konnte. Zunächst schwamm er irritiert umher, kehrte noch einmal zum Boot zurück, so, als wolle er wieder mit ihnen nach Hause fahren. Doch dann lockte die Freiheit.

Mit kräftigen, lauten Flügelschlägen erhob er sich aus dem Wasser und glitt erhaben über die gleißend glitzernde Oberfläche des Gnadensees hinaus in sein eigenes Leben.

TEIL 1 Hohe Erwartungen

Oktober bis Dezember 1927

1. Kapitel

Meersburg am Bodensee, sechzehn Jahre später, Ende Oktober 1927

Katharina hielt die Lider geschlossen, während der nasse Birkenquast in gleichmäßigem Rhythmus auf ihren nackten Rücken klatschte. Der angenehme Geruch des Reisigs mischte sich unter die feuchte, heiße Luft, die sie einhüllte und schläfrig machen wollte, die sanften Schläge aber wirkten auf entspannende Art erfrischend.

Sie blinzelte und sah zu Helena, die gerade einen Schöpfer in den Holzbottich neben dem Ofen tauchte und Birkensud auf die heißen Steine über dem Feuer goss. Zischender Dampf stieg auf, die Temperatur in der holzgetäfelten Badestube stieg noch einmal merklich an, das Birkenaroma verstärkte sich.

»Ist es euch angenehm?«, fragte Helena mit gedämpfter Stimme.

»Es ist genau richtig«, erwiderte Lilly und fuhr fort, Katharinas Rücken mit federleichten Streichen zu bearbeiten.

»Du musst es mir beibringen, Lilly«, murmelte Katharina träge. Sie lag bäuchlings auf einer der oberen Bänke der Banja. Das traditionelle russische Dampfbad stand im Garten von Lillys Wohlfühl-Refugium neben dem Grandhotel Lindenhof und funktionierte ähnlich wie eine finnische Sauna.

»Das Quästen?«, fragte Lilly, die sich auf der darunterliegenden Holzbank so platziert hatte, dass sie Katharina mit den zu einem Bündel geschnürten Birkenzweigen behandeln konnte.

»M-hm«, seufzte Katharina wohlig. »Auch wenn es ein eigenartiges Wort ist. Quäs-ten.«

»Ein eigenartiges Wort für ein gesundes Ritual.« Lilly lachte leise. »Du darfst jederzeit an mir üben, kleine Schwester.«

Helena legte den Schöpfer ab und setzte sich auf die unterste der drei Bankreihen. »Beim Quästen muss man ein paar Dinge beachten.« Sie schmunzelte. »Sonst sieht Lilly am Ende aus, als wäre sie ausgepeitscht worden.«

»Allzu kompliziert wird es wohl nicht sein.« Katharina hob den Kopf und sah zu Helena, deren langes, dunkles Haar sich feucht über Schultern und Rücken ringelte.

»Für dich als angehende Medizinerin sicherlich nicht.« Helena lehnte sich zurück an die Holzwand und begann, ihre Strähnen zu flechten.

»Am wichtigsten ist, dass die Ruten noch Blätter tragen«, erklärte Lilly. »Und dass sie entweder frisch geschnitten oder gut eingeweicht wurden. Denn nur dann sind sie geschmeidig genug, damit die Behandlung nicht wehtut. Man beginnt an den Fußsohlen …«

»Das erklärst du mir am besten noch einmal ausführlich, wenn ich an Weihnachten wieder nach Hause komme, Lilly«, unterbrach Katharina sie sanft. »Mein Gehirn meldet mir gerade, dass es ihm zu heiß ist, um irgendetwas Fachliches zu verarbeiten.«

»Weihnachten«, murmelte Helena nachdenklich. »Weihnachten ist in knapp zwei Monaten.«

»Zwei Monate vergehen schnell«, stellte Lilly fest. »Hans arbeitet schon an seinem Wunschzettel!«

Helena lachte. »Ich ahne, dass auch die anderen Kinder bald damit anfangen. Jedenfalls die, die schon schreiben können.«

»Ich glaube, ich sollte auch einen Wunschzettel verfassen.« Katharina verschränkte ihre Arme vor dem Oberkörper, legte ihren Kopf darauf und schloss die Augen. »Ich würde mir ein Flugzeug wünschen, mit dem ich euch jederzeit kurz entschlossen besuchen könnte.«

»Ich werde beim Christkind ein gutes Wort für dich einlegen«, versicherte Lilly.

Eine Weile genossen sie schweigend die Hitze der Banja. Katharina lauschte dem Knistern des Feuers und dem säuselnden Geräusch des Birkenquasts, spürte die vertraute Nähe ihrer Schwestern und die unerschütterliche Verbundenheit mit diesem Stückchen Erde – ihrer gemeinsamen Heimat am Bodensee. Zugleich verstärkte sich die Wehmut, die sich auch nach all den Jahren zuverlässig einstellte, wenn die vorlesungsfreie Zeit zu Ende ging. Dieses unbehagliche Gefühl scherte es einen feuchten Kehricht, dass Katharina sich im Grunde ihres Herzens darauf freute, nach München zurückzukehren. Störrisch machte es sich in ihrer Magengrube breit.

In diesem Augenblick hielt Lilly mit ihren Schlägen inne. »So! Genug gequästet! Höchste Zeit für eine Abkühlung!«

Katharina drehte sich um und setzte sich gemächlich auf. »Ginge es nach mir, könntest du noch ein bisschen weitermachen.«

»Ich weiß.« Lilly grinste, legte die Birkenzweige zur Seite und stieg von der Bank. »Wer zuerst am See ist!«

Helena strich eine feuchte, dunkle Locke zur Seite, die sich nicht in ihren Zopf hatte zwingen lassen. »Wenn ich Vorsprung bekomme!«

»Rennt nur voraus!« Katharina schob die Füße über die Holzkante der oberen Bank. »Ich hole euch sowieso ein.«

Nacheinander verließen die drei die Banja, liefen nackt, wie sie waren, durch die abendkühle, gepflegte Gartenanlage des Lindenhof-Refugiums und über die Uferstraße zum See. Lachend wateten sie hinein. Das Gestade war recht flach, erst nach einigen Metern wurde das Wasser so tief, dass sie schwimmen konnten.

Katharinas Haut prickelte, als die kalten Wellen ihren erhitzten Körper umflossen. Sie ließ sich von ihnen hinaustragen, spürte, wie sie mit dem Element verschmolz, in dem sie sich, seit sie denken konnte, sicher und geborgen fühlte.

Einige Kraulzüge später drehte sie sich um. Helena und Lilly waren zurückgeblieben und spritzten sich kichernd gegenseitig nass. Einige Augenblicke lang sah Katharina ihnen zu, dann holte sie tief Luft und tauchte mit kräftigen Schwimmzügen bis zum Seegrund. Die Welt blieb zurück, und in der Stille unter Wasser löste sich allmählich der abschiedsschwere Knoten in ihrem Bauch. Ihr Geist wurde klar.

Als ihre Lungen nach Sauerstoff verlangten, kehrte sie an die Wasseroberfläche zurück, drehte sich auf den Rücken und sah in den Abendhimmel, an dem bereits die ersten Sterne heraufgezogen waren.

Eine tiefe Dankbarkeit hatte die Wehmut verdrängt. Sie war privilegiert, nicht nur in materieller Hinsicht. Schon seit sie als junges Mädchen als Hilfsschwester im Meersburger Spital gearbeitet hatte und anschließend von zu Hause fortgegangen war, um am Mädchengymnasium in Karlsruhe das Abitur zu machen, durfte sie ihr Leben frei und eigenverantwortlich gestalten. Ihre Familie trug jede ihrer Entscheidungen nicht nur mit, sondern unterstützte sie vorbehaltlos. In einem Jahr würde sie die Ärztliche Staatsprüfung abgelegt haben und nach dem sich anschließenden Praktischen Jahr endlich Ärztin sein. Eine Berufung, die sie von klein auf in sich gefühlt hatte. Ihr Leitstern, dem sie unbeirrt folgte.

Eine Schwanenfamilie gründelte an ihr vorbei. Katharina bewegte sich kaum, wartete, bis die eleganten Wasservögel weitergezogen waren, dann machte sie sich auf den Weg zurück ans Ufer. Als sie näher kam sah sie, wie ihre Schwestern ihr auffordernd zuwinkten.

»Menschenskinder, Katharina«, tadelte Helena lachend, als Katharina sich schließlich im knietiefen Wasser aufrichtete. »Das Abkühlen soll nicht zur Expedition ausarten, sondern nur ein kurzer Reiz sein.«

Katharina fuhr sich lächelnd durch ihr schulterlanges, hellblondes Haar und drückte die Nässe aus. »Bei mir braucht es halt länger, bis es mich reizt.«

»Es ist wie bei allem.« Helena stupste sie schmunzelnd in die Seite. »Du bist die Jüngste und zugleich die Härteste von uns.«

Katharina grinste.

Lilly lief bereits über die kleinen Steine am Strand. »Auf zur zweiten Runde!« Ihr goldblondes Haar hatte sie zu einem entspannten Knoten zusammengesteckt.

»Wir kommen!« Helena verließ ebenfalls das Wasser. »Schließlich wollen wir nachher noch Katharinas Abschied feiern!«

»Immer diese Feste!« Als Letzte huschte Katharina über die spitzen Kiesel des Ufers, vergewisserte sich, dass keine Passanten in der Nähe waren, querte die Uferstraße und folgte ihren Schwestern durch einen schmalen Durchlass zurück in den Garten. »Ihr wisst, dass ich so ein Bohei gar nicht brauche.«

»Aber wir«, gab Helena launig zurück. »Damit du uns im Trubel deines Studentenlebens nicht vergisst.«

»Wie könnte ich!«

Helena legte Katharina eine Hand auf die Schulter. »Jetzt dauert es nicht mehr lange, bis du mit dem Studium fertig bist. Dann kommst du zurück an den See. Wir ergänzen uns perfekt. Das Grandhotel mit seiner Weltläufigkeit und seiner Kulinarik, Lillys Lindenhof-Refugium rund ums Wohlfühlen und als Krönung: deine Arztpraxis in einem eigenen Anbau!«

»Bis dahin ist es noch ein weiter Weg«, wandte Katharina ein. »Erst einmal muss ich in Kliniken meine Erfahrungen sammeln.«

»Der Tag kommt, an dem wir wieder zusammen sein werden«, prophezeite Helena zuversichtlich.

Gemeinsam mit ihrem Ehemann Maxim und der Hilfe ihres Vaters Gustav hatte sie aus dem früheren Gasthaus der Familie in Meersburg ein Haus allerersten Ranges gemacht: Das Grandhotel Lindenhof, dessen exzellenter Ruf mittlerweile bis weit über die Grenzen der Deutschen Republik hinausreichte. Mit dazu beigetragen hatte sicherlich das Lindenhof-Refugium, das auf einem ehemaligen Nachbargrundstück entstanden war und neben einer Schwimmhalle und einem Wasserbecken nach Sebastian Kneipp einen Schönheitssalon und mehrere Massage- und Erholungsräume bot. Im Garten gab es lauschige Ruhebereiche – und ebenjene russische Banja, in der sie heute Katharinas Abschiedsabend einläuteten.

»Wo bleibt ihr denn?«, rief Lilly, die stehen geblieben war und mit einer Hand wedelte. »Wenn ihr noch feiern wollt, dann sollten wir uns ein bisschen beeilen. Außerdem ist mir kalt!«

»Die Nacht ist doch noch lang«, gab Helena kichernd zurück, während sie Katharina mit sich zog.

Im letzten Abendlicht zeichneten sich die Konturen von Hecken und Bäumen ab, ein einzelner Vogel ließ sein Lied erklingen, ab und an raschelte es im Gebüsch.

Plötzlich machte Helena eine warnende Handbewegung und hielt inne. Katharina erfasste sofort den Grund: einen kräftigen Schatten, der sich aus Richtung des Hotels auf die Banja zubewegte.

»Ich dachte, heute dürfen keine Gäste in die Banja«, wisperte Lilly. »Unsere Kleider sind im Ruheraum. Wir können doch nicht splitternackt …«

»Es ist überall angekündigt, dass die Banja und der Garten heute Abend geschlossen sind«, antwortete Helena. »Daher würde es mich wundern, wenn jemand einfach so versucht, hineinzukommen.«

»Vielleicht hat sich dieser Jemand einfach nur verirrt?«, mutmaßte Lilly.

Katharina kniff die Augen zusammen. Die füllige Silhouette konnte eigentlich nur einem gehören. »Das sieht sehr nach Pater Fidelis aus!«

»Der Pater? Aber er weiß doch auch, dass wir …«, sagte Helena leise.

Die drei starrten auf die Gestalt, die irgendetwas zu suchen schien.

»Was machen wir jetzt?«, flüsterte Lilly.

»Wir gehen vorsichtig weiter, er wird schon nicht tot umfallen.« Katharina war sich sicher, dass es sich um den Ordenspriester mit Münchner Wurzeln handelte, der vor Jahren längere Zeit im Lindenhof gelebt hatte und seither Teil der Familie war. Mittlerweile pendelte er zwischen seinem Bregenzer Heimatkloster Mehrerau und dem zur Wallfahrtskirche Birnau gehörenden Priorat seines Zisterzienserordens hin und her. Dabei fand er genügend Gelegenheiten, um immer wieder ein paar Nächte im Lindenhof zu verbringen.

»Also ich geh nicht«, stellte Lilly klar. »Selbst wenn es Pater Fidelis ist.«

»Wartet!« Katharina ging zu einer der riesigen Fächerpalmen, die in ihren Kübeln über die Gartenfläche verteilt standen und noch nicht ins Winterquartier gebracht worden waren. Sie brach einen der Wedel ab und hielt ihn schützend vor ihren Körper, während sie sich dem Ordenspriester näherte. Als sie nur noch wenige Schritte von ihm entfernt war, drehte er sich um.

»Fräulein Katharina!«, entfuhr es ihm, während er sich die Hände vor die Augen schlug. »Ich denk, ihr drei Madeln seid in der Schwitzküche!« So nannte der Pater die Banja.

»Wir haben uns kurz im See abgekühlt«, erwiderte Katharina. »Gerade wollten wir einen zweiten Durchgang beginnen.«

»Und ausgerechnet da lauf ich euch über den Weg!«

»Oder wir Euch. In puris naturalibus, sozusagen«, zitierte Katharina einen der Lieblingssprüche des Paters. Ihr fiel es schwer, sich das Lachen zu verkneifen.

»Ich schein die Nackerten anzuziehen wie das Licht die Fliegen«, seufzte dieser und drehte seinen Kopf so weit zur Seite, dass er anstelle von Katharina den Stamm einer Birke betrachten konnte. »Ich wär auch ganz g’wiss net einfach so hergekommen, aber ich such den Hendrik.«

Der zweieinhalbjährige Sohn von Lilly und Felix war genauso unerschrocken wie flink. Nicht auszudenken, wenn er in den See fiele.

»Wir ziehen uns an und helfen suchen!«

»Machts des!« Den Blick noch immer fest auf die Birke gerichtet rückte der Pater seine schwarz-weiße Ordenstracht zurecht. »Ich schau zurück zum Lindenhof. Vielleicht hat ihn ja schon jemand eingefangen. Und entschuldigen’s noch mal, Fräulein Katharina! Für die Unannehmlichkeit.« Er räusperte sich, bevor er sich etwas ungelenk zurück in Richtung Hotel bewegte, peinlich bemüht, Katharina den Rücken zuzuwenden.

Helena und Lilly schlossen zu ihr auf. »Sie suchen Hendrik«, sagte Katharina gleich.

»Nicht schon wieder!« Lilly hastete in den Ruheraum, um sich anzuziehen.

Katharina und Helena folgten. »Ich bin mir sicher, dass Felix ihn bereits gefunden hat«, beruhigte Katharina ihre Schwester, schlüpfte aber ebenfalls rasch in ihr Kleid. »Er kennt die Verstecke eures Sohnes am besten.«

»Mag sein«, Lilly war schon auf dem Weg zur Tür. »Aber auch er ist nicht unfehlbar!«

Während Lilly zum Ufer zurückging, um dort zu suchen, durchkämmten Katharina und Helena systematisch das Lindenhof-Refugium und die Umgebung der Banja. Von Hendrik keine Spur.

»Lass uns zum Hotel zurückgehen«, schlug Katharina schließlich vor. »Wir sollten uns mit den anderen abstimmen.«

Sie spähten angestrengt in die Dunkelheit, während sie den verschlungenen Kiesweg entlanggingen, der das Hotel mit dem Refugium verband. Doch von dem Kind war weit und breit nichts zu sehen.

Wenige Minuten später erreichten Helena und Katharina das Grandhotel Lindenhof, dessen beide mehrstöckigen Flügel durch eine weitläufige Halle miteinander verbunden waren. Die großzügige Architektur des Gebäudes inmitten einer üppigen Parklandschaft erinnerte an ein Herrenhaus und bot nächtlichen Ausreißern genügend Verstecke.

Stimmengewirr schlug ihnen entgegen, als sie die mit Travertinsäulen, Kübelpalmen und Korbmöbeln ausgestattete Empfangshalle betraten.

»Machts die Tür zu!« Noch bevor sie sich umsehen konnten, stand Pater Fidelis vor ihnen. »Wir haben ihn erwischt!«

»Gott sei Dank!«, entfuhr es Helena.

Katharina schloss sofort die Flügeltür des Eingangsportals.

In diesem Moment flitzte der Gesuchte an ihnen vorbei. Instinktiv griff Katharina nach dem Kind, während Felix sich von der anderen Seite näherte und seinem Sohn den Weg abschnitt. Eine Minute später fand sich der kleine Ausreißer sicher auf dem Arm seines Vaters wieder.

»Wo ist denn Lilly?«, fragte Felix und sah sich um. »Sie war doch mit euch in der Banja!«

»Sie sucht noch nach Hendrik«, erwiderte Helena. »Unten am See.«

Felix drückte Katharina das Kind in den Arm. »Dann werde ich nach ihr sehen und ihr vom glücklichen Ausgang des Abenteuers berichten.«

»Wo hatte er sich denn diesmal versteckt?«, erkundigte sich Katharina.

»In unserem Automobil«, erwiderte Felix. »Kaum hatte ich ihn entdeckt, ist er gleich noch einmal ausgebüxt.«

»Papa!«, krähte Hendrik, und seine hellblonden Locken wippten. »Ich will Schokolade!«

»Die hast du dir aber nicht verdient«, erwiderte Felix tadelnd und drückte seinem Sohn einen Kuss auf die Backe. »Außerdem gehörst du längst ins Bett!«

»Da ist er ja, der Racker!« Helenas Ehemann Maxim trat zu ihnen. An der Hand hielt er Lidia, die kleinere seiner beiden Töchter. »Lidia hat sich geweigert, zu schlafen, solange Hendriks Verbleib ungeklärt ist.« Er grinste. »Außerdem verlangte sie nach dem Gutenachtkuss ihrer Mama.«

»Kinder …«, stöhnte Helena lachend und nahm ihr Töchterchen auf den Arm.

»Ich wollte auch nicht schlafen!« Magdalena, Helenas Ältere, drückte sich an Katharina. »Aber ich bin ja auch schon fast acht. Da darf ich viel länger aufbleiben als Lidia und mit den Erwachsenen mitfeiern!«

»Darf ich mit dir mitkommen, um Mama zu suchen?« Hans, Lillys fast neunjähriger Sohn aus erster Ehe, gesellte sich zu ihnen und sah Felix fragend an.

»Selbstredend«, erwiderte Felix und legte dem dunkelblonden Jungen einen Arm um die Schulter.

Die Geste war beschützend und wertschätzend zugleich, und Katharina wurde einmal mehr bewusst, welche Innigkeit zwischen Hans und Felix bestand, auch wenn sie nicht blutsverwandt waren. Doch was sagte Blutsverwandtschaft schon aus? Auch Helena war nicht die leibliche Schwester von ihr und Lilly, und doch könnten sie einander näher nicht stehen.

»Wir machen uns auf den Weg und fangen Lilly ein, damit wir endlich mit dem Abschiedsfest beginnen können«, erklärte Felix.

Katharina schob ihren Neffen auf die Hüfte und öffnete noch einmal die Tür, um Felix und Hans hinauszulassen.

»Lass uns die beiden Kleinen zu Edith bringen«, sagte Helena, als das Schloss leise klackte. »Wenn sie in der Obhut ihres Kindermädchens sind, können wir uns um die letzten Vorbereitungen für das Festessen nachher kümmern.«

»Ich habe doch schon seit heute Morgen einen wunderbaren Abschiedstag«, erwiderte Katharina und strich über Hendriks Rücken. »Käthes großes Frühstück, die Ausfahrt in Maxims Automobil nach Überlingen, der Kaffeetisch mit der Meersburger Schlosstorte, der Nussschaumtorte und etwa zwanzig weiteren Kuchen …«

»Jetzt übertreibst du aber«, unterbrach Helena sie lachend. »Es waren höchstens neunzehn.«

Mit den Kindern auf dem Arm schlängelten Katharina und Helena sich durch einige in Grüppchen stehende Hotelgäste zur breiten Marmortreppe, die in die oberen Stockwerke führte. Hendrik kuschelte sich eng an Katharina. Seine heutigen Eskapaden hatten ihn sichtlich müde gemacht.

Bevor sie die Stufen zu den beiden großen Suiten hinaufstiegen, in welchen Helena und Lilly mit ihren Familien wohnten, hielt Katharina einen Moment inne und sah zurück auf den Trubel des Vestibüls.

Morgen früh würde sie wieder einmal auf dem Hof vor dem Grandhotel stehen und einen letzten Blick auf die in warmem Gelb gehaltene Fassade des Lindenhofs mit ihren weißen Sprossenfenstern werfen. Pater Fidelis würde auf der Empore vor dem Eingangsportal Position bezogen haben und über die prächtige steinerne Balustrade hinweg seinen Rosenkranz schwingen, die Angestellten sich zum Abschied auf der doppelläufigen Steintreppe verteilen und winken, bis die Wagen mit Katharina und ihrer Familie die Lindenallee hinuntergefahren und auf die Uferstraße eingebogen waren. Am Hafen würden der Fischer Eddi und zwei seiner Freunde warten, um sie alle mit Booten nach Friedrichshafen zu bringen. Maxim und Felix würden sich wie immer darum streiten, wer ihr Gepäck zum Zug tragen dürfte, der Vater sich derweil den größten Koffer schnappen und ins Abteil tragen. Die Köchin Käthe würde ihr einen prall gefüllten Picknickkorb reichen, Lilly und Helena damit beschäftigt sein, ihre Kinder zu bändigen, die am liebsten die Lokomotive erklimmen würden.

Schließlich würde sie am Fenster ihres Abteils stehen und auf die Köpfe ihrer Lieben auf dem Bahnsteig schauen, die sich davor drängten. Man würde scherzen, um den Abschiedsschmerz zu überspielen, und mit dem Winken beginnen, sobald der Zug anfuhr und alle in die unvermeidliche Rußwolke hüllte. Sie würde zurückschauen, bis die letzte Hand mit Taschentuch aus ihrem Blickfeld verschwunden sein würde.

Anschließend würde sie bedrückt das Fenster schließen, sich an ihrem Platz einrichten, die Landschaft vorbeifliegen sehen und ihre Gedanken schließlich auf das richten, was auf sie wartete: ihr Leben in München.

»Träumst du?«, hörte sie Helena fragen.

»Ja«, antwortete Katharina lächelnd.

2. Kapitel

München, in der Mansarde eines Mietshauses in der Jahnstraße, Mitte November 1927

Zischend leckte die Flamme des gusseisernen Spirituskochers über den Boden des Stieltopfes und brachte die frische Milch darin zum Kochen. Katharina gab einen halben Löffel Kakaopulver dazu, ließ kristallweißen Zucker hineinrieseln und verquirlte alles mit einem Schneebesen zu einer schokoladefarbenen Köstlichkeit, auf der feine Schaumbläschen tanzten. Der süße Duft verstärkte sich, als sie das heiße Getränk in einen Becher aus Steingut füllte, dessen hellblaue Glasur bereits zahlreiche Macken und Risse aufwies – er begleitete sie seit ihrer Kindheit.

Sie drehte den Kocher aus und stellte den Topf beiseite, dann nahm sie den Becher in die Hand und ging durch den großzügigen Mansardenraum zu einer der beiden kleinen Gauben. Durch das Sprossenfenster sah sie über die weiß gepuderten Dächer Münchens. Hin und wieder blieb ihr Blick an einem schmuckreichen Giebel oder einem der zahlreichen Türme hängen, die in unregelmäßigen Abständen aus dem Häusermeer aufragten. Den Rauch, der aus den Schornsteinen der benachbarten Mietshäuser aufstieg, nahmen die tief hängenden Wolken auf, die sich über die Stadt gebreitet und heute noch keinen Sonnenstrahl durchgelassen hatten. Zunehmend dichter rieselten Schneeflocken vom Himmel.

Katharina wölbte die Hände um ihren Becher und nippte am heißen Kakao. Dabei beobachtete sie eine Amsel, die ein wenig verloren in der Regenrinne des Mietshauses gegenüber hockte und mit ruckartigen Kopfbewegungen ihre Umgebung im Auge behielt. Als sich der schwarz gefiederte Vogel mit dem orangeroten Schnabel erhob und in Richtung des nahe gelegenen Alten Südfriedhofs davonflog, schlugen die Glocken der umgebenden Kirchen drei Uhr.

Dass sie schon bald nach Aufnahme ihres Studiums diese Wohnung und mit Lola zugleich eine wunderbare Mitbewohnerin und Freundin gefunden hatte, empfand sie noch immer als ein großes Glück. Denn für weibliche Studenten war es schwierig unterzukommen. Wie oft hatte Katharina bei ihrer Suche nach einer Bleibe den Satz gehört: »An Damen vermieten wir nicht!« Manche ihrer Kommilitoninnen – derer es ohnehin nicht allzu viele gab – klagten bis heute über Schikanen ihrer Vermieterinnen oder, noch schlimmer, Belästigungen durch deren Männer und Söhne.

Den köstlichen, feinherben Geschmack des Schokoladengetränks auf der Zunge, drehte sich Katharina um und trat an den großen, ovalen Tisch, der unweit der Kochnische stand und dessen hölzerne Arbeitsplatte nicht nur von den unzähligen Jahren zeugte, die er wechselnden Besitzern stumm gedient hatte, sondern auch von den gegensätzlichen Charakteren der beiden Mansardenbewohnerinnen. Die eine Hälfte bot ein ausstellungswürdiges Sammelsurium an Zetteln und Skizzen, rasch dahingeworfen mit Bleistift, Kohle oder Farbstift, dazwischen fanden sich Notizen in schwungvoller Handschrift, aufgeschlagene Bücher, die braun verfärbten Überreste eines Apfels und eine elfenbeinfarbene Porzellantasse mit Goldrand, an deren Wand und Boden sich die abstrakten Reste schwarzen Tees verewigt hatten. Eine unsichtbare Trennlinie hielt das kreative Durcheinander von Katharinas Tischseite fern, auf der, sinnvoll angeordnet, Stoeckels Lehrbuch der Gynäkologie, Aschoffs zweibändige Pathologische Anatomie, ein Bleistift, ein Radiergummi, das Vorlesungsverzeichnis und ein aufgeschlagenes Heft lagen, in welches sie ihren Studienplan für die kommenden Monate eingetragen hatte. So behielt sie die Übersicht über Vorlesungen, Seminare und Kolloquien, praktische Übungen, Kurse und klinische Visiten des gerade angebrochenen Wintersemesters.

Sie stellte den Becher ab und vergewisserte sich, dass sie die Abendvorlesung des heutigen Tages richtig im Kopf hatte: Arzneimittelverordnungslehre um fünf Uhr. Bis zum Pharmakologischen Institut bräuchte sie eine knappe Stunde zu Fuß, da sie bei diesem Wetter nicht das Fahrrad nehmen wollte. Also blieb noch eine gute Stunde Zeit, um das geburtshilflich-gynäkologische Seminar nachzuarbeiten, das sie am Morgen besucht hatte. Oder sie sah in der Buchhandlung vorbei, ob das bestellte Buch …

Die Tür flog auf. »Fünf Stockwerke, sag ich nur. Fünf!« Lola bugsierte umständlich ein riesiges, in eine Decke gehülltes Paket ins Zimmer.

»Du hast ein Bild mitgebracht«, kommentierte Katharina das Offensichtliche.

»Das hätte ich nicht gemacht, wenn ich vorher gewusst hätte, dass es schneit.«

»Wir haben November …«

»Heute Morgen war es noch trocken.« Lola sah kurz zu Katharina, dann flogen ihre Augen suchend umher.

»Wir haben keine freie Wand mehr«, gab Katharina amüsiert zu bedenken und setzte sich an den Tisch.

»Es ist nur für ein paar Tage.« Lola war noch immer außer Atem. »Ich habe es schon verkauft. Es wird am Wochenende abgeholt.« Sie ruckelte das Ungetüm quer durchs Zimmer. Dann lehnte sie es neben das einzige Bild, das Katharina aufgehängt hatte: ein Blick von den Meersburger Weinbergen auf den Bodensee, von Helenas Ehemann Maxim in kräftigen Sommerfarben auf Leinwand gebannt – ihre innere Verbindung nach Hause. Sobald sie es betrachtete, verlor sie sich im Blaugrün des Sees, sah das Wechselspiel der Farben am Himmel, meinte, die Wellen im Uferkies auslaufen zu hören und die Rufe der Wasservögel zu vernehmen. Boote mit weißen Segeln zogen vorbei, die Sonne kitzelte sie in der Nase …

Katharina unterdrückte vergeblich ein Niesen. »Also gut. Wenn es nur bis zum Wochenende ist …«

»Helfgott, sagt man bei euch hier in Süddeutschland!«, kommentierte Lola gut gelaunt. »Hast du dich erkältet?«

Katharina schüttelte den Kopf und griff nach einem Taschentuch, während Lola mit zwei fließenden Bewegungen die fixierenden Schnüre löste und den Keilrahmen von der schützenden Decke befreite. Anschließend trat sie einen Schritt zurück, nahm ihren hellbraunen Glockenhut ab und strahlte Katharina erwartungsvoll an. Ihr zu einem schicken Bubikopf geschnittenes, dunkelrot gefärbtes Haar stand feucht und wirr nach allen Seiten ab.

Katharina warf einen Blick auf Lolas neuestes Werk. »Unglaublich!«, entfuhr es ihr. »Das bist wirklich du!«

In der Tat gab das Bild Lolas ausdrucksstarke Individualität wieder, das Kinn forsch emporgereckt, die dunkelbraunen, mit dunklem Khol umrandeten Augen unter schmalen Brauen auf den Betrachter gerichtet, die mit erdbeerfarbenem Rot betonten Lippen im hell gepuderten Gesicht zu einem selbstbewussten Lächeln geöffnet.

»Ich habe es in der Technik des Impressionismus nach einer Fotografie gemalt«, erklärte Lola, warf ihren Hut in Richtung Tisch und nickte zufrieden, als dieser sich, wie beabsichtigt, über die Unordnung auf ihrer Tischhälfte legte. Zwei Zettel rutschten dabei zu Boden. »Und jetzt zahlt mir der Direktor der Münchner Industrie-Bank einen stolzen Preis dafür«, fuhr sie fort. »Fünfhundert Mark, stell dir das einmal vor!«

»Er wird es hoffentlich nicht in seinem Bankinstitut ausstellen«, erwiderte Katharina trocken. »Man sieht recht viel von dir.«

»Ich hatte ja auch nichts an.« Lola grinste. »Jedenfalls fast nichts.«

»Lass mich raten: Ein Laken über der Hüfte.« Katharina schmunzelte. Lolas Lebenslust war wie ein erfrischender Wind, der hin und wieder durch die Seiten ihrer Lehrbücher fuhr und sie daran erinnerte, dass es noch mehr gab als nur ihre Studien. Manchmal zog er sie sogar mit hinaus in die bunte Welt der durchtanzten Nächte. Selbst wenn Katharina am nächsten Tag deshalb besonders früh wieder über ihren Büchern saß, geplagt von schlechtem Gewissen und der Sorge, mit ihrem Stoff hoffnungslos in den Rückstand geraten zu sein.

»Auf dem Laken bin ich gesessen«, gab Lola zurück. »Im Ernst, Katharina. Warum sollten wir Frauen nicht unsere Körper zeigen?«

»Dagegen habe ich grundsätzlich gar nichts.« Katharina legte den Kopf schief und sah weiter auf das Bild. »Aber für diesen Zweck?«

Lola hielt kurz inne. Dann zeigte sie auf ihr Selbstporträt. »Es hat eine Botschaft, gerade für die Männer. Wir Frauen sind frei zu tun, was wir wollen. Und zu zeigen, was wir wollen.«

»Hm.« Katharina kräuselte die Stirn. »Im Raucherzimmer eines Bankdirektors würde ich dieses Bild … anders betrachten.«

»Genau dort gehört es hin«, beharrte Lola. Als Tochter einer angesehenen Berliner Pastorenfamilie, die sich den althergebrachten, bürgerlichen Erwartungen der Eltern widersetzt und auf eigene Faust nach München gezogen war, um dort an der Akademie der Bildenden Künste zu studieren, scherte sie sich weder um Konventionen noch um die Meinung anderer Leute. »Außerdem brauche ich das Geld«, fügte sie etwas leiser an.

Katharina drang nicht weiter in sie. »Lass uns mit einer Tasse heißer Schokolade anstoßen, Lola. Darauf, dass wir studieren können! Von allen Freiheiten ist das die wichtigste!«

»Ein Glas Champagner wäre mir zwar lieber, aber da wir keinen dahaben …«

Katharina stand auf und füllte einen zweiten Becher.

»Du denkst an unseren Theaterbesuch heute Abend?« Lola nahm die heiße Schokolade entgegen.

»Theater?«

»Wir haben doch Karten für Karl Valentin und Liesl Karlstadt!«

»Ach!« Katharina fasste sich an die Stirn. »Das habe ich glatt vergessen!«

Lola rollte mit den Augen. »Wenn du mich nicht hättest, würdest du glatt vergessen, zu essen und zu trinken«, seufzte sie. »Und zu leben sowieso.«

3. Kapitel

Das Apollo-Theater im Hotel Münchner Hof unweit des Hauptbahnhofs, am selben Abend

Der Abend war schon fortgeschritten, und das Publikum bog sich vor Lachen. Die letzten Minuten der Orchesterprobe trieben selbst Katharina die Tränen in die Augen. Der Mann neben ihr hielt sich den Bauch, und Lola kicherte hemmungslos in ihr Taschentuch, als Karl Valentin das Orchester auf der Bühne ins Chaos und den Kapellmeister in den Wahnsinn trieb. Liesl Karlstadt mit Dirigentenstab, Spitzbart und zerzauster Kapellmeisterfrisur war ein Bild für Götter. Die in feinstem Münchnerisch vorgetragene Wortakrobatik der beiden wurde von schön-schräger Blasmusik untermalt, beides steigerte sich im selben Takt wie die Ungeschicklichkeiten, Missverständnisse und Pannen und fand schließlich zu einem fulminanten Finale, das nicht nur mit dem konfettiartigen Regen der Notenblätter, sondern auch mit dem Verlust einiger der eingesetzten Instrumente endete.

Der Saal tobte, Beifall und Pfeifen nahmen kein Ende. Bis die letzte Zugabe zu Ende gegangen war, zeigte Katharinas Armbanduhr zehn Uhr.

»Der Valentin ist einfach einmalig. Ich habe ihn schon in Berlin gesehen!«, erklärte Lola, als sie den Apollo-Saal verließen. »Und jetzt gönnen wir uns einen Cocktail!«

»Ich sollte eigentlich noch etwas tun …«, wehrte Katharina halbherzig ab. Die Pflicht ließ sich nicht ganz abstreifen – aber auch sie hatte Lust, den Abend noch ein bisschen ausklingen zu lassen. »Wir müssen es ja nicht übertreiben«, lenkte sie ein.

»Wir übertreiben nie, wenn du dabei bist.« Lola grinste.

»Wir können ja hierbleiben«, schlug Katharina vor. »Der Münchner Hof hat doch ein Restaurant.«

»Das bestimmt schon geschlossen ist.« Lola schüttelte energisch den Kopf und hakte Katharina unter. »Lass uns in die Maximbar gehen. Der Karlsplatz ist nicht weit.«

Durch den Schnee, der reichlich fiel, zogen sie los und erreichten einige Minuten später die Maximbar im Rondell am Karlsplatz. Lola drängte sofort an den Tresen und gab, noch während sie auf den hohen Stühlen Platz nahmen, die Bestellung für zwei Mimosa auf.

»Du weißt, dass du beide trinken wirst«, merkte Katharina an und bestellte ein Glas Orangensaft.

»Und du weißt, dass du wenigstens anstoßen musst!« Lola zwinkerte ihr zu.

Es war immer das gleiche Spielchen, und es endete wie immer damit, dass Katharina und Lola sich zuprosteten, Katharina an der Champagner-Orangensaft-Mischung nippte und das Glas zu Lola hinüberschob.

»Das war wieder einmal zum Totlachen heute.« Lola trank zügig. »Schon wie er aussieht, der Valentin, so lang und so dünn, mit der riesigen Nase – und dann bewegt er sich derartig komisch …« Sie kicherte.

»Irgendwie halten sie einem den Spiegel vor, die beiden. Viele der Situationen kennt doch jeder von irgendwoher.« Katharina nahm einen Schluck von ihrem Orangensaft. »Es mit so viel Komik zu karikieren, ist genial.«

»Und die Karlstadt als Kapellmeister! Ich habe sie am Anfang gar nicht erkannt!« Lola hob kichernd das zweite Glas Mimosa. »Der Spitzbart … und wie sie dirigiert hat!« Sie fuhr mit einem imaginären Taktstock durch die Luft und wackelte mit dem Kopf, wie Liesl Karlstadt zuvor auf der Bühne.

Katharina lachte. »Du hast bereits Publikum, Lola!«

Ein Mann im eleganten Anzug, der ein paar Hocker weiter saß, sah interessiert herüber. Lola ließ den Arm sinken und setzte ein feines Lächeln auf. Der Herr nahm sein Glas und schlenderte zu ihnen herüber.

»Darf ich die Damen zum nächsten Getränk einladen?«, fragte er und deutete eine formvollendete Verneigung an. Er sprach mit einem starken englischen Akzent.

»Aber selbstverständlich!«, flötete Lola, woraufhin Katharina ihr leicht den Ellenbogen in die Seite drückte.

»Ach, komm Katharina. Nur noch eines!«

Der Herr nahm bereits neben Lola Platz.

»Für mich bitte noch einen Orangensaft«, gab Katharina sich seufzend geschlagen.

»Den wären wir fast nicht mehr losgeworden«, stellte Katharina fest, als sie eine halbe Stunde später in die Autodroschke stiegen.

»Er war aber amüsant«, erwiderte Lola mit einem glücklichen Lächeln auf den Lippen. »Ein Amerikaner in München. Und ich habe die Adresse seines Hotels!«

»Willst du ihm wirklich die Stadt zeigen?«

»Es würde mir schon Spaß machen, aber dann denkt er bestimmt, dass ich noch ganz andere Dienstleistungen anbiete.« Lola zuckte grinsend mit den Schultern. »Schade, dass Eva und Zara nicht mitgekommen sind.«

»Eva macht sich in letzter Zeit ohnehin ein wenig rar, findest du nicht?« Katharina beobachtete die Lichtkegel der Droschke und hoffte, dass das Auto auf der schneebedeckten Straße nicht ins Rutschen geriet.

»Ja. Sie hatte …« Lola machte eine abwehrende Handbewegung.

»Was?« Katharina konnte ein Gähnen nicht unterdrücken.

»Ach, egal.« Lola strich über ihren Pelzkragen. »Zara jedenfalls hat sich zu spät entschieden. Es gab keine Karten mehr.«

»Der Saal war wirklich proppenvoll.«

»So ist es jeden Abend«, erwiderte Lola. »Jeder will die Orchesterprobe sehen.«

»Apropos Abendunterhaltung: Ich würde gerne mal wieder ins Lichtspielhaus gehen.« Katharina sah Lola von der Seite an. »Das haben wir dieses Semester noch gar nicht gemacht.«

»Eine gute Idee.« Lola durchsuchte gerade ihre Handtasche. »Wo ist denn mein Lippenrot …«

Katharina schmunzelte. »Willst du dir jetzt noch die Lippen nachziehen?«

»Nein, aber ich möchte sichergehen, dass ich es nicht verloren habe … ah! Da ist es.« Sie klappte ihre Handtasche wieder zu. »Die Lichtspiele am Sendlinger Tor haben Metropolis im Programm.«

»Das ist doch der Film von der großen Stadt, in der die Arbeiter eng zusammengepfercht unter der Erde leben, und die Reichen oben«, vergewisserte sich Katharina. »Sie sind streng getrennt.«

»Genau. Das soll ein ziemliches Spektakel sein.«

»Also etwas für uns.«

»Inzwischen wurde der Film angeblich mehrfach gekürzt. Es wäre tatsächlich interessant, sich selbst ein Bild darüber zu machen, ob er gut ist oder nicht.« Lola legte eine Hand auf Katharinas Unterarm. »Wenn du schon einmal von dir aus ein Amüsement vorschlägst, sage ich ganz bestimmt nicht Nein.« Sie lächelte. »Lass uns morgen Eva und Zara fragen, ob sie Zeit und Lust haben. Wir waren schon lange nicht mehr zu viert unterwegs.«

Wenige Minuten später in der Jahnstraße

Es schneite noch immer, als sie kurz nach halb elf die Jahnstraße erreichten und gut gelaunt aus der Kraftdroschke stiegen. Katharina bezahlte den Fahrer, während Lola schon zur Haustüre ging.

»Lola! Katharina!«

Der schrille Ruf ließ Katharina innehalten. »Warten Sie einen Moment«, bat sie den Fahrer.

Als sie sich umdrehte, stand Zara bei Lola.

»Was ist denn passiert?«, rief Katharina.

»Ich … wir brauchen Hilfe!« Zara war völlig außer Atem.

»Es ist wohl etwas mit Eva.« Lola steckte den Hausschlüssel wieder ein. »Wir müssen nach Bogenhausen!«

»Können Sie uns in die Maria-Theresia-Straße bringen?«, fragte Katharina den Fahrer, der noch immer wartete.

»Kann i scho«, erwiderte er in breitestem Münchnerisch. »Des kost’ dann zwei Mark zwanzig. Nachttarif, Sie wissen’s ja.«

»Kommt!« Katharina winkte die Freundinnen zum Wagen. »Er fährt uns nach Bogenhausen.«

Lola schob Zara auf die Rückbank. Die vierte der Freundinnen besaß großväterlicherseits afrikanische Wurzeln und kannte Eva und Lola von der Akademie der Bildenden Künste. Neben ihrer Arbeit in einem Kinderasyl verdiente sie sich dort als Aktmodell ein paar Mark dazu.

Die Türen schlugen, der Fahrer fuhr schlingernd an. »Herrschaftszeit’n, des is a Sauwetter!«

»Was hat Eva?«, fragte Katharina noch einmal.

»Sie blutet so schrecklich, aber sie sagt nicht, was passiert ist.« Zara war völlig durchnässt. »Ich habe Angst, dass sie verblutet!«

»Hatte sie einen Unfall?«

»Nein. Es ist … zwischen ihren Beinen und wirklich so schrecklich viel Blut!«

4. Kapitel

Bogenhausen, Pfarrkirche St. Georg, etwa um dieselbe Zeit

Thomas von Bogen hielt die Augen geschlossen, ließ die Luft in sein Saxofon strömen, hörte, wie das Instrument den Impuls zum Schwingen brachte und die innige Melodie von Johann Sebastian Bachs Air in samtenem Klang wiedergab. Satt und warm erhoben sich die Töne des zweiten Satzes der Suite über das Kirchenschiff, verschmolzen mit dem Klangteppich, den Frieder an der Orgel ausbreitete, zogen an Wand- und Deckengemälden vorbei, schwangen sich auf zum reich verzierten, viersäuligen Hochaltar, umflossen vergoldeten Stuck und kehrten zurück zu den beiden Musikern auf der mit Fresken bemalten Empore.

Ein Gebet aus Musik.

Es war Toms Weise, mit dem Schmerz umzugehen, der in seinem Herzen wohnte, die Erinnerungen einzuhegen, die ihn noch immer heimsuchten. An dem Tag, da er seine frühgeborene Tochter im Arm gehalten, ihre ersten und zugleich letzten Atemzüge begleitet und weinend Abschied genommen hatte. An den zerstörerischen Betrug seiner Ehefrau, die zermürbende Scheidung, das Ende seines Traumes von einer eigenen Familie. An die Flutwelle traumatischer Erlebnisse, die anschließend über ihn hinweggerollt war, in den Jahren des großen Krieges.

Vor allem aber half ihm die Musik, sich weniger schuldig zu fühlen. Warum hatte er als angehender Arzt sein eigenes Kind nicht retten können? Hätte er sich nicht gegen diesen Krieg stellen müssen, statt ihn zu rechtfertigen? Hätte er die Propaganda nicht entlarven müssen, die den Kampf zu einer existenziellen Notwendigkeit aufgebläht hatte, wo die Triebfeder in Wirklichkeit doch der gierige Imperialismus der Mächtigen gewesen war? Hatte er erste Zweifel nicht beiseitegewischt, anstatt sich ehrlich mit ihnen auseinanderzusetzen?

Erst eine schwere Lungenkrankheit hatte ihn zum Umdenken gebracht. Und selbst da war er nicht heldenhaft für seine Überzeugung eingetreten, sondern hatte sich auf sein Landgut am Chiemsee zurückgezogen, um ganz gesund zu werden.

In den Feldlazaretten, im Kampf um das Leben der Soldaten, die versehrt und verwundet von der Front zu ihm gebracht worden waren, hatte er mit Gott gehadert, und, nachdem er endlich heimgekehrt war, seinen Glauben verloren gehabt. Und doch zog es ihn immer wieder hierher, fand er Trost beim Musizieren in der von kaltem Weihrauch geschwängerten Luft seiner Bogenhausener Taufkirche. Hier hatte er beschlossen, seine Fähigkeiten als Chirurg nicht nur den vermögenden Patienten seiner Privatpraxis anzubieten, sondern auch jenen zu helfen, die am Rande der Gesellschaft lebten.

Der letzte Ton verklang.

Er setzte sein Instrument ab und schöpfte Atem, hörte, wie Frieder die Registerzüge zurückschob, und öffnete die Augen.

Frieder räusperte sich und schloss das Notenheft. »Wir sollten hin und wieder in der Heiligen Messe spielen. Ich werde mit dem Pfarrer sprechen.« Er war Organist der Kirchengemeinde und Toms engster Freund.

»Abgesehen davon, dass kein Pfarrer in ganz Bayern in der Messe ein solch profanes Instrument wie ein Saxofon dulden würde«, Tom öffnete seinen Instrumentenkoffer, »möchte ich das gar nicht, Frieder. Wenn wir Nachtschwärmer mit Tanzmusik unterhalten, ist das etwas anderes. Da haben wir unseren Spaß. Aber das hier, das geht mir unter die Haut. Das kann ich nicht teilen, verstehst du?«

Frieder rutschte von der Orgelbank und nahm ein Buch mit Kirchenliedern von einem Stapel Orgelnoten, die auf einem kleinen Hocker lagen. »Für mich persönlich wäre es eine Freude, andere teilhaben zu lassen. Und in aller Öffentlichkeit für Gott zu spielen. Aber ich weiß, dass du es anders siehst.« Er grinste Tom an. »Morgen lassen wir jedenfalls die Wände im Simpl wackeln.«

»Darauf freue ich mich schon!« Tom war gern im Simplicissimus, dem Künstlerlokal in der Münchner Türkenstraße, um hin und wieder die dort auftretenden Dichter und Rezitatoren musikalisch zu begleiten. Auf eine Gage verzichtete er konsequent – seine Praxis warf genügend ab. Ihm ging es um die Freude an der Musik und die Unterstützung der Münchner Künstlerszene, die es in der bayerischen Metropole oftmals nicht leicht hatte. Sie agierte in einer Nische und weitgehend abseits des bürgerlichen und zahlungskräftigen Publikums.

»Es wird der Tag kommen, da lauschen alle gebannt einem Konzert mit Orgel und Saxofon«, prophezeite Frieder und setzte sich zurück an die Orgel.

»Spielst du weiter?«, fragte Tom, der sein Mundstück abgenommen hatte und es mit einem weichen Tuch trocken wischte.

»Noch eine gute Stunde, denke ich. Wenn mich der Pfarrer nicht rauswirft. Und du? Lässt den Tag in Ruhe ausklingen?«

Tom sah auf seine Armbanduhr. »Ich werde noch bei einem Patienten vorbeigehen, den ich vorgestern operiert habe.« Behutsam legte er sein Saxofon in den mit kobaltblauem Samt ausgeschlagenen Koffer und ließ die beiden Schlösser einrasten.

»Um diese Uhrzeit?« Frieder schüttelte den Kopf. »Du solltest dir eine Pause gönnen und nicht immer bis in die Nacht hinein arbeiten.«

»Die beiden Stunden mit dir hier waren für mich mehr Muße und Erholung als alles andere«, erwiderte Tom und nahm seinen Koffer. Als er Frieders zweifelndem Blick begegnete, lächelte er. »Ich weiß es zu schätzen, dass du dir Gedanken um mich machst, mein Freund. Sei beruhigt. Ich weiß mit meinen Kräften umzugehen. Außerdem ist es erst kurz nach elf.«

»Da bin ich mir nicht so sicher.« Frieder schlug das Notenbuch auf. Dann sah er noch einmal zu Tom. »Deine ersten Patienten kommen vor halb sieben am Morgen, die letzten oft noch um Mitternacht. Das wird dein Körper auf Dauer nicht goutieren.«

»Hab einen schönen Abend, Frieder.« Tom zog Mantel und Handschuhe an und nickte ihm freundschaftlich zu. »Wir sehen uns morgen.«

Die Orgel intonierte eine Motette, die Toms Weg von der Empore hinunter in den Eingangsbereich und weiter durch eine Seitentür hinaus in die kalte Novemberluft begleitete. Was sollte er mit Frieders Rat anfangen? Die Arbeit erfüllte seine Tage, die Musik seinen Geist. Mehr erwartete er nicht vom Leben. Nicht mehr.

Es schneite, als er durch die schmalen Kieswege des Friedhofs zum Grab seiner Eltern ging. Wann immer er in der Pfarrkirche musizierte, sah er bei ihnen vorbei. Sie waren noch vor dem großen Krieg bei einem Kutschenunglück umgekommen. Ein weiteres Stück seines Lebens, das ihm vor der Zeit genommen worden war.

Eine Weile blieb er vor der mit Efeu bewachsenen hellen Marmorstele stehen, auf denen ihre Namen und Lebensdaten eingraviert waren. Seine Mutter hatte ihn erst in ihren Vierzigern geboren, ein unerwartetes, spätes Elternglück, nachdem seine beiden Geschwister noch im Kindesalter an den Masern gestorben waren. Unvermittelt legte er eine Hand auf den vereisten kalten Stein, strich langsam über die glatte Oberfläche und versuchte, sich die Gesichter seiner Eltern vorzustellen. Es gelang ihm kaum. Manchmal standen sie ihm so lebhaft vor Augen, als habe er sich erst vor wenigen Tagen von ihnen verabschiedet. Heute aber blieb ihm die Erinnerung versagt.

Er hob den Blick zum Himmel, ließ ein paar der herabtanzenden, kalten Flocken auf seinem Gesicht schmelzen und machte sich auf den Weg nach Hause.

Elektrische Bogenlampen erhellten das Schneetreiben, als er an der Drachenburg vorbei in die Maria-Theresia-Straße einbog. Tom sah kurz hinauf, nahm beiläufig die vereinzelten Lichter in den symmetrischen Fensterreihen wahr und das Wiehern eines Pferdes. Nicht im Entferntesten erinnerte die noble Herberge für alleinstehende Beamtentöchter an eine mittelalterliche Burg. Warum der Volksmund sie wohl so getauft hatte?

Er schlug den Kragen seines Mantels hoch und packte den Saxofonkoffer fester. Zu seiner Rechten breiteten sich die winterlichen Maximiliansanlagen aus und flankierten seinen Weg über die weiß schimmernde Straße in Richtung Friedensengel. Der Schnee knirschte unter seinen Sohlen.

Nur wenige Meter weiter drang ein tuckerndes Geräusch durch den Abend. Von fern nahm Tom den Lichtkegel einer Autodroschke wahr, der über Gartengitter, Büsche und Gehsteige huschte. Der Fahrer ließ drei Personen aussteigen, wendete und fuhr vorsichtig in Richtung Prinzregentenstraße davon.

Er war fast daheim, als helle weibliche Stimmen seine Aufmerksamkeit auf sich zogen. Unwillkürlich hielt er inne und sah hinüber. Die jungen Damen unterhielten sich aufgeregt, zugleich drängten sie durch die Pforte des übernächsten Hauses. Die Witwe Gruber, deren vor langer Zeit verstorbener Gatte ein erfolgreicher Bankier gewesen war, hatte zwei ihrer zahlreichen Zimmer untervermietet. Vielleicht stand eine kleine Feier an.

Tom trat durch das fein geschwungene, weiß lackierte Gartentor in seinen großzügigen Vorgarten und ging ums Haus. Noch bevor er den Hausschlüssel aus seinem Mantel ziehen konnte, öffnete sich bereits die Tür.

»Herr Doktor!«, rief Elfi Eder, die gute Seele seines Hauses. »Gut, dass Sie endlich heimkommen! Ich habs Essen auf dem Tisch, und im Kamin brennt ein Feuer. Sie werden ja heut nimmer wegwollen.« Die Mittfünfzigerin verwechselte hin und wieder ihre Aufgabe als Haushälterin mit der einer Mutter.

»Doch, Fräulein Eder, ich muss noch einmal los.« Tom stieg die wenigen Stufen zum Eingang hinauf. »Aber zuerst werde ich Ihre Kochkunst genießen.«

Als er an ihr vorbei in die große Empfangshalle trat, erntete er einen besorgten Blick. »Sie schauen net gut aus, Herr Doktor, wenn ich mir erlauben darf, so frei zu sprechen. Sie sollt’n besser auf sich achtgeben.«

Tom hatte sich angewöhnt, die zuweilen anstrengende Fürsorge zu ignorieren. So verzichtete er auch heute auf eine Antwort, stellte den Koffer mit dem Saxofon ab und zog seinen Mantel aus. Als wollte ihm die Vorsehung etwas weismachen, überfiel ihn in der wohligen Wärme tatsächlich eine ungewohnte Bettschwere. Bevor er noch einmal aufbrach, würde er einen starken Kaffee brauchen.

Vielleicht sollte er sich tatsächlich eine Pause gönnen, wenn auch nur für ein paar Tage. Skifahren in den Alpen? Frische, klare Bergluft, Sonne und im pulvrigen Schnee durch die verschneite Landschaft wedeln – die anstehenden Weihnachtstage waren für ihn ohnehin mit sehr viel Einsamkeit verbunden. Selbst Elfi Eder verbrachte diese Zeit bei ihrer Schwester in Landshut.

Er wandte sich einer breiten, verglasten Doppeltür zu, der Verbindung zu seinen Praxisräumen im Hochparterre.

»Denkens net einmal daran, in die Praxis zu gehen«, mahnte Elfi Eder, die ihn genau im Auge behielt. »Erst müssens was essen, Herr Doktor.«

Tom seufzte ergeben.

Dann würde er die Patientenakten für den Hausbesuch eben zum Nachtisch studieren.

5. Kapitel

Die Villa von Rosina Gruber in Bogenhausen, wenige Minuten später

Fahl und abgekämpft lag Eva auf der goldgelb gemusterten Ottomane im Wohnzimmer der Witwe Gruber, ihr Kopf war zur Seite gesunken. Zunächst schien es, als ob sie schliefe, aber dann stöhnte sie leise. Als Katharina zu ihr trat, begannen ihre Lider zu flattern.

»Hörst du mich, Eva?« Katharina griff unter die Wolldecke, mit der die Freundin zugedeckt war, und suchte ihre Hand. Sie war feucht und eiskalt.

Katharina massierte Evas Finger. »Seit wann ist sie in diesem Zustand, Frau Gruber?«

»Mei, also sie ist vor drei Stunden heimgekommen«, erwiderte Rosina Gruber. Sie war eine kleine, agile Dame, in deren Haus Eva seit zwei Jahren ein Zimmer gemietet hatte. »Ich hab gerade das Abendessen vorbereitet und bin in die Halle gegangen, um sie zu fragen, ob sie mitessen möchte. Da hat sie mich ganz eigenartig angeschaut und gleich gesagt, dass ihr schwindelig ist. Und dass sie ganz schreckliches Bauchweh hat. Ja, und da hab ich sie hier aufs Kanapee gelegt, ihr die Schuhe ausgezogen und sie zugedeckt. Ich dacht, wenn sie ein bisserl schläft, geht’s ihr bald wieder besser. Dann ist aber das Fräulein Zara heimgekommen, und da wollt sich das Fräulein Eva aufsetzen …«

»Ihr war die Decke vom Sofa gerutscht, und sie hat versucht, danach zu greifen. Da habe ich gesehen, dass sie blutet«, unterbrach Zara die Gruberin.

Katharina nickte und fühlte Evas Puls, der zwar beschleunigt war, aber nicht bedrohlich flach schlug. »Ich schaue es mir an.« Vorsichtig zog sie die Decke zurück. Auf den ersten Blick konnte sie kein Blut in der Nähe von Evas Unterleib und den Oberschenkeln entdecken, wohl aber einige weiße Betttücher, die unter ihr Becken geschoben waren.

»Kam die Blutung schwallweise?« Katharina ordnete die Decke um Evas Waden und Füße.

»Ich kenne mich da nicht richtig aus«, erwiderte Zara hilflos. »Aber ich würde sagen, ja.«

»Hmm.« Katharina kniete sich ans Sofa und drehte Eva vorsichtig zur Seite. Sofort legte Eva eine Hand auf ihren Unterleib, zog die Beine an und gab Schmerzenslaute von sich. Katharina betrachtete das Blut auf den Laken. Es hatte Evas grauen Rock durchdrungen, war frisch und kräftig rot.

»Sieht so aus, als ob es noch nicht aufgehört hat«, stellte Lola fest, die neben Katharina getreten war.

»Frau Gruber, wären Sie so gut, mir heißes Wasser zu bereiten und noch mehr Tücher zu bringen?«, wandte Katharina sich an die Zimmerwirtin.

»Ja, freilich.« Rosina Gruber strich Eva fürsorglich eine braune Haarsträhne aus der feuchten Stirn, dann verließ sie den Raum.

»Was ist geschehen?« Katharina lagerte Eva wieder auf den Rücken. »Hast du deine monatliche Blutung?«

Eva schüttelte unmerklich den Kopf.

»Darf ich dich untersuchen?«

»Nein …« Eva krümmte sich unter einem weiteren Unterleibskrampf.

»Dir geht es nicht gut, und ich kann dir nur helfen, wenn ich weiß, was passiert ist,« sagte Katharina mit Nachdruck. Der sichtbare Blutverlust erschien zwar nicht lebensbedrohlich, die Schmerzen und Evas schlechter Allgemeinzustand aber gaben Anlass zur Sorge.

»Das Kind…«, sagte Eva schließlich schwach.

Katharina merkte auf. »Bist du schwanger?«

Eva schluchzte verhalten.

Katharina wartete, bis sie sich wieder beruhigt hatte. »Hast du es verloren?«