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Zwei Frauen, zwei Welten. Zwei Leben am Scheideweg. Die neue Saga von Bestsellerautorin Maria Nikolai – basierend auf wahren Ereignissen
Stuttgart/Hannover, 1901: Entgegen aller Vernunft hat sich das Dienstmädchen Lissi auf eine unerlaubte Liaison eingelassen. Doch ihre Hoffnung auf eine Heirat zerschlägt sich jäh. Schwanger und allein beschließt sie, der Heimat den Rücken zu kehren. Julia von Varrell dagegen wurde mit falschen Versprechungen in eine arrangierte Ehe gelockt. Unabhängig voneinander wagen sie den Ausbruch und fliehen in die Neue Welt. An Bord des Schnelldampfers nach New York entwickelt sich eine innige Freundschaft – die beiden Frauen wollen den abenteuerlichen Neuanfang gemeinsam wagen. Eine Bäckerei im deutschen Viertel Little Germany bietet ihnen eine Anstellung und ein Dach über dem Kopf. Bald ist sie bis in die besten Kreise bekannt für ihre duftenden Zuckerbrezeln. Doch am Horizont braut sich eine Katastrophe zusammen, die nicht nur Julias und Lissis neues Leben in seinen Grundfesten erschüttern wird ...
Hochatmosphärisch und treu bis ins kleinste Detail lässt Bestsellerautorin Maria Nikolai das in Vergessenheit geratene Viertel »Deutschländle« des historischen New York wieder auferstehen. Dabei verwebt sie fulminante Recherche mit einer abenteuerlichen und gefühlvollen Geschichte, wie nur sie es kann: Lassen Sie sich in die faszinierende Neue Welt zu Anfang des 20. Jahrhunderts entführen – und spüren Sie den Aufbruchswillen mutiger Frauen, die Leidenschaft der Liebe und den Duft von frisch gebackenen Brezeln im eigenen Wohnzimmer!
»Ganz großes Kino!« Andreas Warausch, Nürtinger Zeitung
Das Taschenbuch in hochwertig veredelter Romance-Ausstattung, mit feinen Backrezepten im Innenteil, von Zuckerbrezeln bis hin zur Torta della Nonna! Band 2 der Dilogie erscheint im Herbst 2025.
*** Entdecken Sie noch mehr Lesegenuss von Maria Nikolai mit ihren beiden Bestseller-Sagas:
»Die Schokoladenvilla« (1)
»Die Schokoladenvilla. Goldene Jahre« (2)
»Die Schokoladenvilla. Zeit des Schicksals« (3)
»Töchter der Hoffnung. Die Bodensee-Saga« (1)
»Töchter des Glücks. Die Bodensee-Saga« (2)
»Töchter eines neuen Morgens. Die Bodensee-Saga« (3)
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Seitenzahl: 611
Veröffentlichungsjahr: 2025
Maria Nikolai liebt historische Stoffe und zarte Liebesgeschichten. Mit Die Schokoladenvilla schrieb sie sich in die Herzen der Leserinnen: Die opulente Historie rund um eine Stuttgarter Schokoladenfabrikantenfamilie stand monatelang auf der Bestsellerliste und verkaufte sich eine halbe Million Mal. Mit ihrer zweiten Bestsellertrilogie entführte Maria Nikolai ihre Fans an den schönen Bodensee zu Ende des Ersten Weltkriegs. In ihrer neuen Auswanderersaga Little Germany erzählt sie von zwei mutigen jungen Frauen, die den Aufbruch in eine neue Welt wagen.
Maria Nikolais Bücher in der Presse:
»Maria Nikolai hat ein feines Händchen für allerfeinsten Herzschmerz, für Geschichten zum Dahinschmelzen.« Reutlinger Generalanzeiger
»Spannend, vielschichtig, einladend – eine Saga, die viel verspricht und noch mehr hält!« Denglers-Buchkritik.de über Die Bodensee-Saga
»Ein richtig schöner Sofaschmöker.« SWR über Die Schokoladenvilla
Außerdem von Maria Nikolai lieferbar:
Die Schokoladenvilla
Die Schokoladenvilla. Goldene Jahre
Die Schokoladenvilla. Zeit des Schicksals
Töchter der Hoffnung. Die Bodensee-Saga
Töchter des Glücks. Die Bodensee-Saga
Töchter eines neuen Morgens. Die Bodensee-Saga
www.penguin-verlag.de
Maria Nikolai
Der Duft der Neuen Welt
Roman
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Redaktion: Hanne Reinhardt / Ulrike Strerath-Bolz
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Umschlagabbildungen: © Shutterstock (Everett Collection, DanielW, icemanphotos, NATALIA-PZ) Trevillion Images (Magdalena Russocka, Rachael Fraser)
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN 978-3-641-31939-7V003
www.penguin-verlag.de
Dem, was mein Leben reich macht. Dem, was mich jeden Tag trägt. Meiner Familie.
Trage mich, trage mich Wind, trage mich übers Land. Trage mich, trage mich Wind, übers Land, übers Meer.
»Trag mi, Wind« Brigitte Hubmann
Es roch schwach nach Rauch. Unwillkürlich fasste Julia Varell ihre Tasche fester, wandte den Kopf und suchte die Ursache. Das leichte Schwanken des Schiffsbodens ausgleichend, ließ sie ihren Blick an den beiden hohen, mattgelben Schornsteinen der General Slocum emporwandern und den dichten Rauchschwaden folgen, die in den wolkenlosen Himmel zogen. Eine leichte Frühsommerbrise verwirbelte die schwarzen Säulen und trug ihre Reste als feinen Dunst bis an die Reling, an der Julia stand.
Unter der Krempe ihres Strohhuts hervor blinzelte sie beruhigt ins Sonnenlicht, unterdrückte ein Niesen und sah an der Schiffswand entlang nach unten, wo die Wasser des East River in kleinen, schiefergrauen Wellen an den Schiffsrumpf schlugen.
In ihrem Rücken wob die freudige Aufregung der anderen Ausflügler an Bord ein Geflecht aus Kichern und Schwatzen und Kinderlachen, in das sich hin und wieder mahnende Rufe von Müttern und Vätern mischten. Muntere Blasmusik durchwehte die Decks, hölzerne Planken knarzten unter den Tritten zahlloser Schuhe. Über allem lag das satte, tiefe Brummen der Dampfmaschinen, die einsatzbereit darauf warteten, das stattliche Schiff den Fluss hinaufzutreiben und mitsamt ihrer erwartungsfrohen Gesellschaft nach Locust Grove zu bringen. Ein Tag am Long Island Sound erwartete sie, mit Spielen, Baden und Dösen, mit Picknick und Musik.
Nahezu ganz Little Germany war auf den Beinen. Allen voran Mütter mit ihren Kindern, aber auch viele Großfamilien des deutschen Viertels in New York waren der alljährlichen Einladung der St. Marks Gemeinde gefolgt und fieberten nun der Abfahrt entgegen. Für einen Tag würden sie, denen das Leben sonst nichts schenkte, zu den Privilegierten gehören. Für einen Tag würden sie dem täglichen Ringen um jeden Dollar, der Enge ihrer Wohnungen, dem grauen, muffigen Einerlei und der drückenden Hitze Manhattans entkommen.
Ein Jammer, dass Lissi nicht dabei sein konnte.
Julia lenkte ihre Aufmerksamkeit zurück auf die East 3rd Street Pier, dorthin, wo ihre Freundin stand, den rötlich blonden Haarknoten gewohnt zerzaust, den weißen Sonnenschirm zusammengeklappt unter dem Arm. Lissi winkte zu ihnen herauf und versuchte, durch all den Lärm hindurch ein paar Worte mit ihrem Ehemann Paul zu wechseln, der neben Julia auf das Ablegen des Schiffes wartete. Ihre Worte verklangen ungehört, nicht zuletzt deshalb, weil Paul nur mit Mühe Lissis zweieinhalbjährige Tochter Aurelia im Zaum hielt, die irgendwo aufgeschnappt hatte, dass es bereits Eiscreme zu kaufen gab.
Der Rempler kam aus dem Nichts.
Erschrocken wich Julia einen Schritt zur Seite und erkannte im Umdrehen den mit auffälligen Kunstblumen verzierten Hut von Mrs. Philip Straub, gleichzeitig vernahm sie ein lautes Heulen zu ihren Füßen. Mrs. Straubs Jüngster hockte dort auf dem Boden, neben Julias Picknickkorb, mit angezogenen Beinen, die Hände an die Ohren gepresst, während seine Mutter mit sichtlicher Ungeduld nach ihm rief. Paul bewog den Kleinen dazu, aufzustehen. Mit sanften Worten schickte er ihn zurück zu Mutter und Geschwistern.
Mrs. Straub nickte ihnen dankend zu. Entgegen ihrer sonst so frohsinnigen Art wirkte sie aufgewühlt und fahrig, eine unpassende Verstimmung, die nicht nur Julia und Paul auffiel. Auch einige der Umstehenden beobachteten die Szene mit einer Mischung aus Neugier und Unverständnis. Ein Familienvater richtete schließlich das Wort an Mrs. Straub. Julia verstand nicht, was er sagte, sah aber, dass ein sorgenvoller Ausdruck über sein Gesicht zog, als sie ihm antwortete. Während Mrs. Straub ihre kleine Schar in Richtung des Treppenabgangs drängte, rückte der Mann nachdenklich seinen Hut zurecht. Dann ging ein Ruck durch seinen Körper. »Kommt her! Sofort!«, rief er seine eigenen vier Kinder über den Geräuschpegel ringsum hinweg zu sich. Zugleich legte er eine Hand auf den Rücken seiner Frau und wies alle durch hektische Gesten an, Mrs. Straub zu folgen. Murrend verließ der kleine Tross ebenfalls das Sturmdeck.
Die Irritation hing noch einige Augenblicke lang in der Luft. Dann fand die Atmosphäre ringsumher zu ihrer unbeschwerten Leichtigkeit zurück.
Julia spürte, wie jemand an ihrem weißen Kleid zog.
»Kaufst du mir ein Eis?« Aurelia schien sich von Julia eine schnellere Erfüllung ihres Wunsches zu versprechen als von ihrem Stiefvater. Ihre blauen Augen leuchteten hoffnungsvoll.
Julia wechselte einen einvernehmlichen Blick mit Paul, dann nahm sie Aurelia auf den Arm. »Sobald wir losgefahren sind, Liebes, kauft dein Papa dir ein Eis.«
Die Kleine runzelte die Stirn, gab sich für den Augenblick aber zufrieden.
Während Julia über das helle, geflochtene Kinderhaar strich, fiel ihr Blick auf die Gangway, wo gerade die letzten Vorbereitungen für das Ablegen getroffen wurden. Sie bemerkte, wie die Matrosen plötzlich stutzten und von ihrer Arbeit abließen, einer fasste sich in den Nacken, der andere machte eine abwehrende Geste. Dann wichen sie zur Seite, um einer Gruppe Passagiere Platz zu machen, die über die schmalen Holzplanken zurück auf die Ausflugspier hastete. Julia erkannte nicht nur Mrs. Straub mit ihren Kindern, sondern auch die Familie, die ihr gefolgt war. Kaum festen Boden unter den Füßen, hielten die Erwachsenen sichtlich Atem schöpfend inne. Nur kurz wandten sie sich noch einmal zum Schiff um, dann begannen sie, ihre verstörten Kinder zu beruhigen.
Lissi, nur wenige Meter entfernt, schüttelte ungläubig den Kopf und bedeutete mit einer Geste, dass sie nicht verstand, was hier vor sich ging. Julia sah fragend zu Paul. Der zuckte nur mit den Schultern und übernahm wieder Aurelia, die ihre Ärmchen nach ihm ausstreckte.
In diesem Moment holten die Matrosen endgültig die blumenberankte Landverbindung mit den Eisengeländern ein. Kurze, laute Rufe schallten zum Ruderhaus hinauf, die beiden riesigen Schaufelräder der Slocum setzten sich in Bewegung. Während die Stimmung an Bord noch einmal stieg, die Kapelle zum Tanz aufspielte, die Menschen auf den Decks winkten und lachten, heftete sich Julias Blick auf das traurige Häufchen der Zurückgebliebenen. Was um alles in der Welt hatte sie von Bord getrieben?
Mit einem Mal überkam sie ein ungutes Gefühl. Es ließ ihren Nacken prickeln, zog als Schauer über ihren Rücken, setzte sich mulmig in der Magengrube fest. Aurelia begann, wieder nach ihrem Eis zu quengeln.
Langsam löste sich der Dampfer von der Anlegestelle.
Mit leisem Moussieren strömte die hellgelbe Konditorcreme aus der runden Tülle auf den zu Rechtecken geschnittenen, hellbraun gebackenen Blätterteig. Doch anstatt sich dort zu tadellosen Tupfen zu formen, wand sie sich zu einem konturlosen Klumpen, verlor nur Momente später jeglichen Halt und zerfloss mit aufreizender Langsamkeit auf ihrem knusprigen Bett. Entsetzt betrachtete Lissi die Vanillepfütze, die sich gemächlich auf dem ganzen Blech ausbreitete und die feinen Teigblätter unter sich begrub. Was um Himmels willen war hier schiefgegangen?
Kopfschüttelnd betrachtete sie die Backspritze in ihren Händen. Gewiss lag es an diesem unhandlichen Ding, dass sich die Masse nicht wie vorgesehen dressieren …
»Mon Dieu!«
Gastons Stimme ließ Lissi zusammenzucken.
»Sie haben ruiniert die Millefeuilles!«, tadelte der französische Küchenmeister scharf. »Das wird Madame nicht goutieren!«
Lissi packte die Backspritze fester. »I-ich habe sie so gemacht, wie Sie es mir gesagt haben, Herr … Gaston.« Es fiel ihr schwer, das Mössjö auszusprechen, mit dem er gerne angeredet werden wollte.
Sein Blick war herabsetzend. »Wie können Sie folgen meine Rezept, wenn la Crème Pâtissière so … so schrecklich ist! Viel zu weich! Das man kann nicht einmal lassen fressen die cochons!«
»Ich werde alles neu backen«, versicherte Lissi, auch wenn ihr bei dem Gedanken graute, noch einmal mühevoll einen Blätterteig zubereiten zu müssen.
»Non!« Energisch nahm Gaston das Blech vom Arbeitstisch. »Ich selbst werde bereiten diese Millefeuilles. Sie machen die Zwueschgen au chocolat, Mademoiselle.« Mit raschen Schritten ging Gaston zum Mülleimer und kippte ihr Missgeschick hinein.
Lissi beobachtete die vorwurfsvolle Geste mit einem zunehmenden Druckgefühl auf der Brust. Auch wenn sie insgeheim erleichtert war, dass er seine komplizierten, unaussprechlichen Miföje nun selbst machte – die Tatsache, wieder einmal versagt zu haben, war ihr arg. Was, wenn Gaston seinen Unmut irgendwann zur gnädigen Frau trug und diese Lissi aus der Küche verbannte? Die Stunden, welche sie ihm hier helfen durfte, waren die Lichtblicke in ihrem Stubenmädchenalltag, der sonst aus allen Arten von Putzarbeit bestand, und das vom Morgengrauen bis weit in die Nacht. Deshalb gab sie sich stets große Mühe, wenn sie gerufen wurde, um Gaston bei der Pattisrie zur Hand zu gehen. Nicht immer lief etwas schief, aber doch oft genug. Was wiederum daran lag, dass sie ihn häufig falsch verstand, weil er so nuschelig sprach und viele Wörter verwendete, die sie nicht kannte. Dass er ihr Rezepte vorlegte, die entsetzlich kompliziert waren. Dass sie mit Zutaten umgehen musste, von denen sie nicht gewusst hatte, dass es sie überhaupt gab. Und letztlich lag es an Gastons viel zu hohen Ansprüchen.
Während der Küchenmeister seiner zweiten Küchengehilfin auftrug, das Blech zu säubern und die Zutaten für einen neuen Blätterteig herzurichten, ging Lissi zum anderen Ende des langen hölzernen Arbeitstisches, der in der Küche der Wagner-Villa stand. Einer beeindruckenden Küche, mit schwarzen und weißen Fliesen auf dem Boden, blinkendem Kupfergeschirr auf den Gesimsen und zwei reich verzierten gusseisernen Herden. Mit Wasser, das aus einem Eisenrohr in ein Becken lief, und so vielen Gerätschaften, dass Lissi immer wieder aufs Neue staunte, was alles erfunden worden war, um in den Küchen der reichen Leute Mahlzeiten zuzubereiten.
»Vite, vite!«, rief Gaston in ihre Richtung. »Wir nicht haben viel Zeit!«
Innerlich seufzend wandte sich Lissi den eingeweichten Zwetschgen zu, die in einer großen Messingschüssel auf ihre Weiterverarbeitung warteten. Eine flache irdene Schale mit geschälten Mandeln stand daneben. Sie begann, die Zwetschgen mit den Mandeln zu bestücken und auf eine gebutterte Backplatte zu legen. Neben ihr knetete Gaston hektisch die Zutaten für den neuen Blätterteig zusammen. Seine Unruhe erhöhte Lissis eigene Nervosität. Die gnädige Frau hatte zu einer Nachmittagsgesellschaft eingeladen und erwartete wie üblich eine Kaffeetafel, mit der sie glänzen konnte. Deshalb war nicht nur eine Unmenge an Backwerk herzustellen. Im Anschluss an ihre Arbeit in der Küche würde Lissi den Tisch eindecken, die vom Gärtner frisch geschnittenen Blumen in den Vasen im Vestibül, im Salon und im Speisezimmer anordnen und die Sauberkeit der Räume überprüfen. Es war viel zu viel zu tun und viel zu wenig Zeit. Wie immer.
Die Uhr an der Wand zeigte zehn Uhr. Lissi zwang sich, nicht in Gastons Hastigkeit zu verfallen. Konzentriert reihte sie Zwetschge an Zwetschge, bis sich die blauvioletten Früchte so dicht auf der Platte drängten, dass deren graues Metall nur noch an wenigen Stellen dazwischen hervorlugte. Anschließend trennte sie sechs Eier. Mit einem Schneebesen begann sie, das Eiweiß aufzuschlagen. Bald bildeten sich Schweißperlen auf ihrer Stirn, aber Lissi zog die eiserne Spirale unvermindert kraftvoll durch den glasigen Schaum, bis er sich nach und nach in weißen Schnee verwandelte.
Sie war gerade dabei, Zucker und geriebene Schokolade unterzuziehen, als die Küchentür aufschwang.
»Lissi! Du sollst zur gnädigen Frau kommen!« Die Stimme von Frau Burger, der Hauswirtschafterin, schnarrte durch den Raum.
»Non!« Gastons Widerspruch geriet eine Spur zu laut. »Lissi hat keine Zeit«, setzte er etwas verhaltener hinzu. »Sonst wir werden nicht fertig.«
»Darauf kann ich keine Rücksicht nehmen«, entgegnete Frau Burger.
»Ich … ich bin gleich wieder da.« Lissi legte den Schneebesen beiseite, band die Schürze ab und nickte Gaston entschuldigend zu. Dann folgte sie Frau Burger in den Flur, der zu den Räumen der Herrschaft führte. Hinter ihr verklang ein französischer Fluch.
Innere Erregung erfasste Lissi, als Frau Burger die Tür zum Salon der gnädigen Frau öffnete. Schon beim Eintreten umfing sie der Duft eines teuren französischen Parfums, vermischt mit dem Geruch von Papier und Büchern. Wilhelmine Wagner las viel und hatte ihren persönlichen Raum zu einer kleinen Bibliothek ausgestaltet.
Zunächst nahm die Industriellengattin keine Notiz vom Personal. Aufrecht saß sie an einem zierlichen Sekretär aus glänzendem Nussbaumholz und schrieb. Nahezu jeden Vormittag erledigte sie dort ihre Korrespondenz, und es war streng verboten, sie in dieser Zeit zu stören. Dass sie Lissi um diese Stunde zu sich befahl, deutete auf ein dringendes Anliegen hin.
Lissi verlagerte ihr Gewicht von einem Bein auf das andere. War das ein gutes Zeichen? Hatte Isidor sich erklärt? Würde die gnädige Frau sie vielleicht sogar in der Familie willkommen heißen? Unauffällig musterte sie Wilhelmine Wagner, eine groß gewachsene, schlanke Erscheinung, in deren dunklen Haarknoten sich die ersten grauen Strähnen mischten. Auf diese Weise in ihren Brief versunken, wirkte sie weich und entrückt, nicht so selbstgefällig und überlegen wie sonst.
Als die gnädige Frau den Füllfederhalter schließlich zur Seite legte, beschleunigte sich Lissis Herzschlag.
»Das Fräulein Volk ist da«, teilte Frau Burger in gedämpftem Ton mit.
»Danke, Frau Burger.« Dunkelblaue Seide raschelte, als Wilhelmine Wagner sich aufrichtete und der Hauswirtschafterin zunickte, die sich daraufhin zurückzog.
Lissi knetete ihre Finger.
»Tritt näher.«
Es fiel Lissi schwer, den Ausdruck in den Augen der gnädigen Frau zu deuten. Angespannt machte sie zwei kleine Schritte nach vorn.
Wilhelmine Wagner runzelte missbilligend die Stirn. »Es gibt vier Gründe, weshalb ein Dienstbote sofort entlassen werden kann.«
Lissi erstarrte.
»Einer davon ist Unsittlichkeit.«
Schneidend standen die Worte im Raum.
»Ich habe nicht … Ich verstehe nicht ganz …« Lissi tat ein paar weitere Schritte auf Wilhelmine Wagner zu, doch eine barsche Geste mit der Hand hieß sie innehalten.
»Du verstehst sehr wohl.« Die Augen der gnädigen Frau wanderten über Lissis Körper hinweg. »Deine Bemühungen, es zu verbergen, waren recht lange erfolgreich. Inzwischen ist es jedoch nicht mehr zu übersehen.«
Unwillkürlich legte Lissi die Hände auf ihren schwach gewölbten Bauch. »Es ist Isidors Kind.«
Die gnädige Frau lachte verächtlich. »Diese Behauptung allein würde eine Kündigung rechtfertigen.« Sie griff wieder nach ihrem Stift, öffnete eine der Schubladen ihres Sekretärs und entnahm ihr ein Büchlein mit blau-schwarz gemustertem Einband.
Lissi erkannte ihr Dienstbuch. »Bitte, gnädige Frau!« Sie rang um einen devoten Ton. »Sie müssen mir glauben. Ich bin guter Hoffnung mit … mit Ihrem Enkelkind.«
Wilhelmine Wagner fuhr herum. »Mein Sohn würde sich niemals am Gesinde vergehen.«
»Aber … ich sage die Wahrheit, gnädige Frau!« Verzweifelt suchte Lissi nach den richtigen Worten. »Es war bestimmt falsch, dass ich ihn nicht zurückgewiesen hab. Der liebe Gott hat es verboten, das weiß ich schon. Aber ich lüg nicht. Und Isidor hat … Er hat mich gern. Wenn Sie bitte Ihren Sohn fragen wollen, er wird es sicherlich …«
»Du bist ein Stubenmädchen, das seine Triebe nicht im Zaum halten kann«, fuhr ihre Dienstherrin auf. »Wer weiß, bei wem du alles gelegen hast. Versuche nicht, uns die Frucht deiner Liederlichkeit unterzuschieben.« Mit einer energischen Bewegung schlug sie Lissis Dienstbuch auf.
Das Kratzen der Feder auf dem Papier verursachte Lissi Gänsehaut. Hatte Isidor seinen Eltern denn gar nichts von ihrem Verhältnis erzählt? Waren die schönen Worte während ihrer heimlichen Stunden in seinem Zimmer, waren die Versicherungen seiner Zuneigung am Ende nur ein Spiel für ihn gewesen?
Lissi verweigerte sich diesem Gedanken.
Wilhelmine Wagner schlug das Dienstbuch zu, erhob sich und hielt es Lissi hin. »Aus christlicher Barmherzigkeit darfst du noch eine Nacht bleiben. Bis morgen früh um acht Uhr hast du deine Sachen gepackt und unser Haus verlassen.«
Ungeachtet der Tatsache, dass Wilhelmine Wagner die Wirtschafterin sofort von Lissis Entlassung in Kenntnis gesetzt hatte, war Lissi von Gaston zurück in die Küche zitiert und dort trotz ihres sichtlich desolaten Seelenzustands bis weit in die Abendstunden hinein beschäftigt worden. Anschließend hatte sie Schürze und Haube ausgezogen und mit blutendem Herzen ihr Bündel geschnürt. Viel besaß sie nicht – ein paar Wäschestücke, drei zerlesene Romane, ein Kochbuch, eine Bibel, einige wenige persönliche Dinge.
Nun lag sie im Bett, aber der Schlaf wollte nicht kommen. Zu bedrohlich standen ihr die Zeilen vor Augen, welche die gnädige Frau in das Dienstbuch geschrieben hatte, zu aussichtslos erschien ihr die Zukunft. Wer würde sie mit einem solchen Zeugnis einstellen?
Sie musste mit Isidor sprechen. Wenn er sich zu seinem Kind bekannte, dann würde seine Mutter doch sicher einlenken.
Ein Räuspern wob sich in ihre kreisenden Gedanken, zugleich spürte sie eine Hand auf ihrer Schulter. Irritiert drehte sie sich um.
»Nicht erschrecken, Lissi. Ich bin’s nur«, wisperte Minna, mit der sich Lissi eines der kleinen Gesindezimmer in der Mansarde der Wagner-Villa teilte.
»Ach, Minna.« Lissi richtete sich auf. »Was ist denn?«
»Ich hab gehört, was passiert ist.« Minna setzte sich auf Lissis Bettkante. »Dass du gehen musst.«
Lissis Kehle wurde eng.
»Du bist schwanger, gell?«, setzte Minna mit unverhohlener Neugier hinzu. Sie war nur wenige Jahre älter als Lissi.
Lissi strich über ihren Bauch. »Ja.« Lange Zeit hatte sie gehofft, dass den ausbleibenden Blutungen eine andere Ursache zugrunde liegen möge. Erst mit wachsendem Leib und den ersten wahrnehmbaren Kindsbewegungen hatte sie sich ihren Zustand eingestanden.
»Es wurde eh schon darüber geredet.« Minna zupfte ihre weiße Schlafhaube zurecht. »Sag, stimmt es, dass dein Kind vom jungen Herrn ist?«
Minnas taktlose Frage ließ Lissi zusammenzucken. »Wer hat das erzählt?«
»Die Küchenhilfe. Und die hat es von Gaston, der beim Servieren heute Nachmittag selbst das Gebäck aufgetragen und dabei ein Gespräch der gnädigen Frau mit ihren Gästen belauscht hat. Sie muss sich furchtbar aufgeregt haben, weil du behauptest, dass ihr Sohn der Vater wäre.«
Lissi fröstelte. »Es stimmt aber.« Sie zog die Bettdecke enger um sich. »Isidor Wagner ist der Vater.«
»Herrje.« Minna klang mitfühlend. »Da hättest du dir besser einen anderen ausgesucht.«
»Er … er hat mir gesagt, dass er mich mag. Dass keine andere ihm so gut gefällt.«
»Die sagen alles, was du hören möchtest, damit du ihnen zu Gefallen bist.«
»Er ist nicht so, Minna.«
Minna ordnete die Falten ihres Nachthemdes. »Du glaubst doch wohl nicht, dass er dich heiratet?«
»Warum nicht?« Es war die letzte Hoffnung, die Lissi blieb. »Ich bin etwas Besonderes für ihn.«
»Hat er das auch gesagt?« Minna schüttelte den Kopf. »Du bist nicht das erste Dienstmädchen, das von der Herrschaft ins Bett geholt wird, und du wirst nicht das letzte sein.«
»Aber …«
»Für die Herrschaft ist deine Schwangerschaft halt lästig, weil sie ein neues Dienstmädchen suchen müssen«, setzte Minna abgeklärt hinzu. »Du aber hast das Kind im Bauch. Und glaube mir, ich kenne kein einziges Balg, das anerkannt worden wäre. Das gibt es nur in Schundromanen.«
»Ich hab es ihm ja noch gar nicht sagen können«, hielt Lissi verzweifelt dagegen. »Wenn er es erst einmal weiß, wird er mir helfen. Es ist doch sein Fleisch und Blut.«
»Du kannst ja nicht einmal beweisen, dass er der Vater ist, Lissi.« Minna lachte. »Genau wie seine Mutter. Er ist ein 21-jähriger Studiosus, der sich die Hörner abstößt. Du bist nicht die Einzige, mit der er sich vergnügt.«
Lissi zuckte zusammen. »Wie … Woher weißt du das?«
»Ach, man erfährt so einiges aus den anderen Häusern.« Minna blieb vage.
Lissi nestelte nervös an ihrer Bettdecke. »Da musst du dich verhört haben.«
»Ach, Lissi …«
»Man kann doch nicht jedem Geschwätz glauben.«
»Du bist noch nicht lange genug in Stellung. Sonst wärst du nicht so unbedarft. Isidor Wagner wird eines Tages die Bettfedernfabrik seines Vaters übernehmen und eine Frau aus gutem Hause heiraten. Bis dahin hat er Narrenfreiheit.« Minna seufzte. »Wir Dienstmädchen dagegen müssen uns durchkämpfen – und auf uns aufpassen.« Sie sah Lissi an. »Unser guter Ruf ist alles, was wir haben.«
Lissi sah das Mitleid in Minnas Augen. »Und ich habe meinen verloren.« Die Erkenntnis traf sie wie ein Hieb.
Minna legte den Kopf schief. »Wenn ich an deiner Stelle wäre, Lissi, dann würde ich weggehen. Richtig weit weg. Nach Amerika vielleicht.« Ihr Ton wechselte von teilnahmsvoll zu schwärmerisch. »Dort kann man ganz neu anfangen. Als freier Mensch. Keiner sagt einem mehr, was man zu tun und zu lassen hat, und keinem ist man Rechenschaft schuldig.« Sie holte tief Luft. »Als Dienstmädchen sind wir doch nicht viel mehr als Sklavinnen. Über alles in unserem Leben bestimmt die Herrschaft, sogar darüber, wie lange wir schlafen und was wir essen. Das mache ich nicht mein ganzes Leben lang mit.«
»Und woher weißt du, dass es in Amerika besser ist?«
»Eine Tante meiner Mutter ist dort hingegangen.«
»Aus meinem Dorf haben sich auch welche auf den Weg gemacht.« Lissi dachte kurz nach. »Brasilien hieß das Land, glaube ich. Man hat noch lange davon geredet. Aber gehört hat man nichts mehr von denen.«
Minna stupste Lissi an. »Meine Füße sind kalt!«
»Komm.« Lissi rutschte ein wenig zur Seite, um Platz zu machen.
Minna schlüpfte zu Lissi ins Bett. »Meine Mutter hat die Briefe ihrer Tante aufgehoben. Alle. Ich habe sie immer wieder gelesen. Was sie geschrieben hat, das hat mir wirklich imponiert.«
»Ich weiß nichts von Amerika.« Lissi breitete die Decke über sie beide. »Ich weiß nicht einmal, wie man dort hinkommt.«
»Sie hat den Zug genommen. Nach Bremen. Von dort ist sie mit einer Kutsche weitergereist nach …«, Minna stockte, »warte, mir fällt es gleich ein … nach Bremerhaven. Genau, Bremerhaven. Das schreibt sich mit v, das fand ich eigenartig, weil man Hafen sonst mit f schreibt. Dort hat sie in einem Haus für Auswanderer auf das nächste Schiff gewartet.«
»Und hat sie dann ein Dampfschiff genommen?« Davon hatte Lissi schon einmal gehört.
»Nein, ein großes Segelschiff. Die Überfahrt muss schlimm gewesen sein, man hat sie wie Viecher eingepfercht. Es gab viele, die die Reise nicht überlebt haben, weil sie unterwegs krank geworden sind. Aber die Tante war robust und hat New York abgemagert, aber gesund erreicht. So hat sie es nach Hause geschrieben.« Der Name der Stadt, den Minna nannte, hörte sich an, als kaute sie auf einem zähen Stück Fleisch herum.
»Liegt Niu Jorg in Amerika?«, fragte Lissi.
»Ja, das ist einer der Häfen dort, wo die großen Schiffe aus Europa ankommen.« Minna zog die Knie an. »Sie hat dann schnell Arbeit gefunden und einen Auswanderer aus Stuttgart kennengelernt. Den hat sie dann auch geheiratet. Die zwei sind in ein Stadtviertel gezogen, wo nur Deutsche leben. Es gab deutsche Geschäfte und deutsches Essen. Und alle haben Deutsch gesprochen.« Sie kicherte. »Es hat sogar Deutschländle geheißen.«
»In einer Stadt in Amerika sprechen sie Deutsch?«, fragte Lissi ungläubig.
»Wo die Deutschen wohnen, schon.«
»Wie lange ist es denn her, dass die Tante deiner Mutter ausgewandert ist?«
»Oh … sehr lange. Leider hat sie irgendwann nicht mehr geschrieben. Vermutlich ist sie gestorben. Sie wäre ja jetzt auch schon sehr alt.« Minna seufzte. »Ich jedenfalls gehe eines Tages dorthin.«
»Du willst nach Niu … nach Amerika? Kostet das nicht viel Geld?«
»Es gibt bestimmt Fahrkarten, die sich auch unsereins leisten kann«, antwortete Minna. »Sonst wären nicht so viele losgezogen.« Sie machte eine halbkreisförmige Bewegung mit der Hand. »Ich spare schon darauf. Dann muss ich mich nicht mehr herumscheuchen lassen. Hier behandeln sie einen doch schlechter als den Familienhund. Vor allem«, sie dämpfte die Stimme, »kann man dort sehr reich werden. Wenn man es richtig anstellt.«
»Ich wüsste nicht, wie ich überhaupt anfangen sollte.«
»Es gibt Leute, die einem helfen. Ach Lissi, am liebsten würde ich gleich morgen nach Amerika gehen. Mit dir zusammen.«
Lissi hielt inne. »Ich kann nicht nach Amerika gehen.«
»Können tust du. Ist halt die Frage, ob du es willst.«
»Das ist mir viel zu gefährlich.« Lissi schauderte es beim Gedanken an eine so unvorstellbar weite Reise.
Minna zuckte mit den Schultern. »Jetzt wirst du bestimmt erst mal nach Hause fahren. Zu deinen Eltern. Irgendwo musst du ja hin.« Mit einem Gähnen schlug sie die Decke zurück. »Ich geh mal in mein eigenes Bett. Morgen früh um vier ist die Nacht vorbei.« Sie schob die Füße über die Bettkante. Dann hielt sie kurz inne, drehte sich noch einmal zu Lissi um und nahm sie in den Arm. »Weißt du … ach, ich werde dich vermissen!«
Eine Stunde später lag Lissi noch immer wach. Sie hörte Minnas regelmäßige Atemzüge und starrte ins Dunkel, bis farbige Punkte vor ihren Augen tanzten.
Was sollte nur werden?
Lissi hatte die zehn Mark, die ihr monatlich zusätzlich zu Kost und Logis als Lohn ausgezahlt worden waren, in einer Börse gespart. Achtzig Mark für acht Monate. Immerhin. Ein Weißbrot kostete vierzehn Pfennige, ein Liter Milch siebzehn. Eine Weile würde sie über die Runden kommen, aber was, wenn das Kind auf der Welt war? Es brauchte doch Kleidung und ein Bettchen. Und wo sollte sie wohnen? Was kostete ein Zimmer in Stuttgart?
Jetzt wirst du bestimmt erst mal nach Hause fahren.
Wenn es nur so einfach wäre. Lissi wagte kaum, sich auszumalen, was die Eltern sagen würden, daheim in Bremelau bei Münsingen auf der Schwäbischen Alb, wenn sie mit einem dicken Bauch heimkehrte. Sie führten ein karges, aber rechtschaffenes Leben, geprägt von einem tiefen Glauben. Wie sollte sie ihnen in die Augen sehen?
Elf Kinder hatte Lissis Mutter zur Welt gebracht, zwei davon waren früh gestorben. Der Vater arbeitete als Tagelöhner in der Bremelauer Gipsfabrik, das Geld war immer knapp. Um die Familie durchzubringen, zog die Mutter Gemüse in ihrem kleinen Garten und hielt Hühner, deren Eier sie verkaufte. Als Lissi durch die Empfehlung einer Nachbarin nach Stuttgart in Stellung hatte gehen können, war das eine große Erleichterung gewesen. Und sie – als das älteste der Geschwister – hatte sich erwachsen und verantwortungsvoll gefühlt. Sie wollte ihren Eltern Ehre machen.
Und nun? War sie tief gefallen.
Aus Verliebtheit. Aus Träumerei. Aus Leichtsinn.
Nach Hause konnte sie auf keinen Fall. Sie hörte bereits das Geschwätz im Ort, sah die Blicke der Leute, fühlte die moralische Brandmarkung. Das durfte sie weder ihrem Kind noch ihrer Familie antun.
Unruhig drehte sie sich zur Seite und zog die Decke über ihre Schulter. Die Lider waren schwer, wollten sich aber nicht über ihren müden Augen schließen. Zu fiebrig ihre Gedanken, zu gehetzt das Gewissen. Sie versuchte sich an einem Gebet.
Sei mein Hirte, Herr.
Ihre Ersparnisse würden zweifellos rasch aufgebraucht sein. Zugleich wusste Lissi, dass niemand ein schwangeres Stubenmädchen in Dienst nahm. Für die Stellungssuche würde sie ihren Bauch verstecken müssen. Oder sollte sie in einer der vielen Stuttgarter Fabriken um Arbeit anfragen?
Mir wird nichts mangeln. Gleich nach der Entbindung würde sie ihr Kind in Obhut geben müssen. Vielleicht fand sich eine ältere Frau, die es für ein kleines Entgelt betreute, damit sie sich um ein Auskommen kümmern konnte. Oder sollte sie in eine andere Stadt gehen? Nein. Schon Stuttgart war ihr viel zu groß, woanders würde sie sich gar nicht zurechtfinden. Außerdem lebte hier die Familie ihres Kindes. Vielleicht kümmerten sich die Wagners eines Tages doch?
Lissi drehte sich wieder auf den Rücken und rieb die brennenden Augen.
Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück.
Die Wagners lehnten ihr eigenes Enkelkind ab, weil seine Mutter ein Dienstmädchen war. War das denn nicht auch eine Sünde?
Denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich.
Sie setzte sich auf. Dieses Kind war Blut von ihrem Blut. Es war Unrecht, ihm die Vorteile und den Schutz des Namens zu verweigern.
Sie waren ihm etwas schuldig.
Leise, um Minna nicht zu wecken, schlug Lissi die Decke zurück.
Feine goldene Bänder durchzogen als Vorboten des Tages den dunkelblauen Himmel, als Lissi das Anwesen der Wagners verließ. Ihren kleinen Pappkoffer in der Hand zog sie leise die Tür des Boteneingangs hinter sich zu. Der melancholische Gesang eines Rotkehlchens begleitete ihren Weg über steile Steintreppen hinunter zur Hohenzollernstraße, seine Melodie schien die Schatten aufzunehmen, die ihr Gemüt verdunkelten. Vor dem Gartentor hielt sie inne, um sich in einer unwillkürlichen Bewegung noch einmal zur Wagner-Villa umzudrehen.
Das stattliche Gebäude mit seinem markanten quadratischen Eckturm schmiegte sich an den Südhang der Stuttgarter Karlshöhe, Weinberge und Gärten betteten alles in ruhiges Grün. Prächtige Villen und Landhäuser prägten die Nachbarschaft, viele davon waren erst wenige Jahre alt und zeugten von der industriellen Blüte der Stadt. Was für ein Gegensatz zu dem kleinen, windgebeugten Haus auf der Alb, das Lissis Familie bewohnte und in dessen beiden niedrigen Zimmern sich das gesamte Leben abspielte.
Lissis Blick suchte die tiefen, mit Ornamenten umrahmten Fenster nach einem Zeichen des Abschieds ab, wissend, dass es ein solches nicht geben würde. Innerlich sah sie sich noch einmal durch die Zimmer gehen und das Feuer in den Kaminen schüren, abstauben, aufräumen und ordnen, leise und ehrfürchtig vor dem Reichtum der Familie und all dem Schönen, das es dort gab. Ihr standen die unzähligen Male vor Augen, da sie an der Tafel aufgetragen hatte – Köstlichkeiten, von denen die Dienstboten niemals auch nur hatten probieren dürfen. In Gedanken fand sie sich in den Räumen der gnädigen Frau wieder, voller Bewunderung für die modischen Pariser Roben, die dort hingen, für den Putz und den Schmuck, der aus einer gewöhnlichen Frau eine Schönheit machte. Wie unscheinbar war sie sich vorgekommen, wenn sie hin und wieder ihr eigenes Bild in einem der Spiegel betrachtet hatte – das feine blonde Haar mit dem rötlichen Schimmer unter einem weißen Häubchen adrett frisiert, die Rüschen der gestärkten Schürze über dem schwarzen Kleid der einzige Schmuck.
Unscheinbar und unsichtbar. Und doch stets anwesend, um den Anweisungen der Herrschaft zu genügen.
Lissi wandte den Kopf ab. Vielleicht hatte sie deshalb kein schlechtes Gewissen, wenn sie an die Dinge in ihrem Koffer dachte, die sie letzte Nacht in Isidors Zimmer an sich genommen hatte. Abgesehen davon, dass alles seinem Kind zugutekommen würde, war es für die Wagners ein Leichtes, ihrem Sohn Münzen und Manschettenknöpfe, die goldene Uhr und den Füllfederhalter zu ersetzen. Lediglich die Bibel, die auf dem Nachttisch gelegen hatte, könnten sie als Verlust begreifen. Sie war das Geschenk seiner verstorbenen Großmutter und für Lissi damit ein wichtiges Sinnbild für das Band zwischen ihrem Kind und den Ahnen seines Vaters.
Sie legte eine Hand auf das kühle Eisen der Klinke.
Noch war Isidor bei einem Onkel in der Schweiz. Bis er nach Hause kam, würden einige Wochen vergehen, und wenn das Verschwinden der Gegenstände schließlich auffiele, wäre Lissi längst vergessen.
Sie öffnete das Gartentor, das die mit spitz gezackten Zäunen bekränzten Mauern des Anwesens durchbrach, und trat auf die Straße.
Es war kurz vor Sonnenaufgang.
Die Unruhe der erwachenden Stadt zerrte an Lissis gespannten Nerven, als sie das Villenviertel an der Karlshöhe hinter sich gelassen hatte und die Marienstraße entlangging. Fuhrwerke rumpelten vorüber, ihre Lenker brüllten die Tiere an, Peitschen knallten. Eine von zwei nervösen Pferden gezogene Kalesche suchte ihren Weg an den langsameren Kaltblütern vorbei, der Kutscher stieß einen Fluch aus, weil ihm niemand Platz machte. Auf dem Gehsteig kamen ihr Männer und Frauen in Arbeitskleidung entgegen, schnellen Schrittes unterwegs in die Fabriken – zu Bleyle, zu Leibfried, zu Benger & Söhne und wie sie alle hießen.
Lissi wich einem Leiterwagen aus, der mit Spitzkrautköpfen beladen war, und wechselte die Straßenseite. Inmitten dieser Unrast kam sie sich plötzlich verloren vor. Alle Welt schien ein Ziel und eine Bestimmung zu haben, sie aber wusste nicht einmal, wo sie die kommende Nacht verbringen sollte. Die christlich geführten Dienstbotenheime, die stellenlosen Mädchen günstig Unterkunft gewährten, kamen wegen ihrer Schwangerschaft nicht infrage. Dort würde sie ihren Zustand nicht lange verbergen können. Ihr blieb wohl nichts anderes übrig, als sich für die ersten Tage ein billiges Hotel zu suchen in der Hoffnung, bald wieder in Lohn und Brot zu stehen.
An der Kreuzung zur Königstraße wäre Lissi beinahe in einen zotteligen Hund hineingelaufen, der ihr wütend bellend einige Meter folgte, sich dann aber für die Hinterlassenschaft eines anderen Vierbeiners interessierte und von Lissi abließ. Die Straßenbahn bimmelte vorbei. Lissi ließ sie passieren, raffte ihren Rock und querte die Straße. Eine runde Fassadenuhr zeigte die Uhrzeit: Viertel nach fünf.
In den Geschäften des Kleinen Basars, eines feudalen halbrunden Gebäudes an der oberen Königstraße, fanden sich die ersten Händler ein. Auch in den anderen Erdgeschossläden der mehrstöckigen Bürgerhäuser mit ihren vielen Fenstern und ausgeschmückten Giebeln entlang der Stuttgarter Prachtstraße herrschte schon Betrieb. Die Geschäftigkeit nahm mit jedem Schritt in Richtung Schlossplatz zu.
Vor dem sechseckigen Zeitungskiosk gegenüber dem Kronprinzenpalais hatte sich bereits eine kleine Menschentraube gebildet. Es war Minna gewesen, die ihr vorhin noch geraten hatte, sich dort die Tageszeitung zu besorgen, um darin nach Stellenangeboten zu suchen. »Überleg dir, ob du dir nicht eine ganz andere Arbeit suchst«, hatte sie noch angefügt. »Vielleicht als Verkäuferin.« Dem fühlte Lissi sich aber nicht gewachsen. Wie sollte sie all die Honoratiorenfrauen Stuttgarts angemessen beraten und bedienen? Vom Umgang mit fremdem Geld in einer mächtigen silbernen Registrierkasse ganz zu schweigen. Nein. Zunächst würde sie versuchen, trotz ihres Zustands möglichst schnell wieder als Dienstmädchen unterzukommen, und dann überlegen, wie es für sie weitergehen sollte.
Lissi stellte sich zu den Wartenden und beobachtete einige Spatzen, die pickend über den Boden hüpften.
Es wurde heller. Die Glocke der Stiftskirche schlug halb sechs.
Gottlob war es bis zur Entbindung noch eine Weile hin. Das Kind würde Anfang Januar zur Welt kommen, wenn Lissi richtig gerechnet hatte. Durch die zahlreichen Schwangerschaften ihrer Mutter und die damit einhergehenden leisen Gespräche mit der Dorfhebamme oder den Nachbarinnen waren ihr die wichtigsten Zusammenhänge zwischen Empfängnis und Geburt vertraut, sodass sie ihren eigenen Zustand einigermaßen einschätzen konnte.
Der Herr vor Lissi nahm seine Zeitung entgegen, klemmte sie sich unter den Arm und ging in Richtung Königsbau davon. Die Reihe war an ihr. Sie trat an das offene Fenster des Zeitungshäuschens, das von Nachrichtenblättern überquoll.
»Auch für Sie das Neue Tagblatt?« Der Verkäufer rückte seine Fliege zurecht.
Lissi nickte. »Bitte.«
Er schob ihr die Zeitung hin. »Das macht zehn Pfennig, Fräulein.«
Lissi griff in die Tasche ihres knöchellangen, dunkelbraunen Rockes und gab ihm die passende Münze. Während er sie klimpernd in seine Kasse fallen ließ, bemerkte Lissi die Nässe feiner Regentröpfchen auf ihrem Gesicht. Sie warf einen schnellen Blick gen Himmel, an dem Wolken aufgezogen waren. Der Morgen schien nicht zu halten, was die Dämmerung versprochen hatte.
Sie zog sich in den Schutz der Bäume neben dem Wetterhäuschen zurück, das wenige Schritte entfernt in der Nähe des Prinzenbaus stand, stellte ihr Gepäck ab und blätterte durch die Gazette. Die ausführlichen Berichte zu Politik und Weltgeschehen interessierten sie nicht, erst bei der Wetterübersicht sah sie genauer hin – und blieb sofort an einer Überschrift hängen: Dampfer-Nachrichten.
Generalagent J. Rominger. Angekommen in New York am 3. September der Dampfer Königin Luise vom Norddeutschen Lloyd in Bremen.
Unvermittelt ging ihr Minnas Erzählung durch den Sinn. Ein Stadtviertel in New York, das Deutschländle hieß …
Wie es sich wohl lebte, im Deutschländle in New York? War es dort ähnlich wie hier in Stuttgart?
Sie schüttelte den Kopf. Amerika, das war unvorstellbar weit weg, unerreichbar für sie, Lisbeth Volk aus Bremelau. Rasch schlug sie die nächsten beiden Seiten um und mahnte sich zur Konzentration auf das, was für sie wirklich wichtig war.
Flankiert von allerlei Reklame und Angeboten für Kontoristinnen, Verkäuferinnen und Näherinnen wurde sie endlich fündig. »Ein Mädchen, fleißig und willig, in kinderlosem Haushalt gesucht.«
»Fräulein?« Eine Stimme, freundlich und werbend, ließ Lissi aufsehen. Sie begegnete dem prüfenden Blick einer Frau mittleren Alters in einem gestreiften Kleid. Sie hielt einen Regenschirm so, dass er auch Lissi schützte. »Mir scheint, dass Sie eine Stellung suchen.«
Lissi ließ die Zeitung sinken.
Julia von Varell fasste die Gerte fester und trieb Achill zum Galopp. Körper und Geist waren voll und ganz auf den Hengst ausgerichtet, lenkten ihn weich und mühelos, und je schneller sie dahinflogen, desto mehr verschmolzen ihre Bewegungen mit denen des Pferdes. Nebelschwaden, zart wie Tüll, hingen in den Zweigen der Bäume, wölbten sich über Teich und Bach, lagen über Feldern und Wiesen und zerrissen in dem Moment, da die Pferdehufe darüber hinwegtrommelten. Die ersten Sonnenstrahlen kämpften sich durch den Dunst. Bald würde die Helligkeit den Tag vollkommen in Besitz genommen und die versonnene Ruhe der frühen Morgenstunden vertrieben haben. Es war Julias liebste Zeit.
Achill setzte über einen Wassergraben. Er war ein guter Springer, kraftvoll und geschmeidig reagierte er auf Julias Hilfen, landete sicher auf der anderen Seite. Nach einem letzten Galopp erreichten sie den weitläufigen Park von Eckerde. Julia ließ ihr Pferd in den Trab zurückfallen und nahm die schale Beklemmung wahr, die ungebeten jedes Mal in ihr aufstieg, wenn sie sich dem Rittergut näherte. Seit zwei Monaten lebte sie nun hier und fühlte sich so fremd wie am ersten Tag. Würde dieser Ort ihr jemals ein Zuhause werden?
Sie bog auf einen der gekiesten Wege ein, welche die Grünanlage durchzogen, und strich sich eine dunkle Haarsträhne aus dem Gesicht. Achill schnaubte.
Es war Vater gewesen.
Er hatte ihre Träume zunichtegemacht.
Mit Nachdruck war sie von ihm in die Ehe mit Frederick von Varell gedrängt worden. Ihren innigen Wunsch, Lehrerin zu werden, hatte er als Hirngespinst abgetan und das mit diesem Beruf einhergehende Zölibat zudem als Grund angeführt, dass zahllose der jungen Frauen im Schuldienst früher oder später in einer Nervenheilanstalt endeten. Vor diesem Schicksal wolle er seine einzige Tochter bewahren, hatte er behauptet.
Seine Litanei war an Julia abgeprallt. Zum einen, weil sie ihm das mit der Nervenheilanstalt schlicht nicht glaubte. Zum anderen hatte sie sich nie nach einem Leben als Ehefrau und Mutter gesehnt. Wohl aber nach einem Leben, das ihren Wissensdurst stillte. Als Frau war ihr die Universität verwehrt, eine Ausbildung zur Lehrerin aber hätte sie absolvieren können. Bildung zu erwerben und an junge Menschen weiterzugeben, versprachen ihr eine Erfüllung, die sie woanders nicht sah.
Nachdem ihrem Vater schließlich klar geworden war, dass Julia sich nicht von ihrem Weg abbringen lassen würde, hatte er begonnen, an ihr Pflichtgefühl zu appellieren. Wenn sie die Werbung Frederick von Varells ablehnte, würde dies einen Affront darstellen, so seine Argumentation, und die damit verbundene Rufschädigung wäre irreparabel. Mit ihren neunzehn Jahren sei Julia außerdem gerade noch in einem Alter, in dem sie die Aufmerksamkeit begehrter Junggesellen wie Varells auf sich zog. In nicht allzu ferner Zukunft aber würde sie sich als ältliche Jungfer mit den Resten auf dem Heiratsmarkt begnügen müssen – meist in die Jahre gekommene Witwer, die dringend eine Mutter für ihre verwaisten Kinder brauchten.
Julia hatte ihm die Tür vor der Nase zugeknallt und drei Tage lang nicht mit ihm gesprochen.
Dann war sie in sein Arbeitszimmer zitiert worden.
Mit hartem Blick und monotoner Stimme hatte er verkündet, dass er ihr jedwede finanzielle Unterstützung verweigere, sollte sie sich seinen Wünschen weiterhin widersetzen und sich ohne seine Genehmigung in einem Lehrerinnenseminar anmelden. Zudem wäre das Reiten für sie fortan tabu, und Achill würde zeitnah ins Ausland verkauft.
Eine ungeheure Drohung. Das Reiten war Julias Lebenselixier und Achill ihr Gefährte, seit sie ihn als Fohlen zu ihrem zehnten Geburtstag bekommen hatte. Undenkbar, ihn zu verlieren.
Noch während Julia gegen ihre Tränen ankämpfte, hatte er hinzugefügt, dass sie im Falle einer Heirat Achill selbstverständlich mit nach Eckerde nehmen dürfe und dass Frederick von Varell nach ausgiebigen Gesprächen zugestimmt habe, Julia in die Leitung seines Gestüts einzuführen. Mit einem heiseren Hüsteln, das von den vielen gerauchten Zigarren kam, hatte er sich in seinen Schreibtischsessel sinken lassen und auf ihre Reaktion gewartet.
Julia umritt eine Birkengruppe und erreichte die Stallungen. Einer der Knechte bemerkte sie und eilte herbei, um das Pferd wegzubringen, aber Julia schüttelte den Kopf. »Ich versorge ihn selbst.« Sie stieg ab, führte Achill durch die Stallgasse des langen Gebäudes aus roten Ziegeln und band ihn an.
Der Stallknecht folgte ihr.
Julia nahm ein Büschel Stroh. »Ich versorge ihn selbst«, wiederholte sie über die Schulter. Es klang unwirscher, als sie eigentlich wollte.
»Aber der gnädige Herr …« Der Knecht schüttelte den Kopf. »Wie Sie meinen, gnädige Frau.« Er legte ihr eine Abschwitzdecke bereit. »Ich bin draußen.«
Während Julia Achill trocken rieb, sah sie durch die offene Stalltür, wie Frederick über den großen Hof zu ihr herüberschlenderte. Sein Lächeln war breit, aber Julia empfand es als nicht angemessen – barg es doch eine Vertrautheit, die es zwischen ihnen gar nicht gab.
Er trat zu ihr. »Du hast ihn wieder springen lassen.«
»Natürlich.« Julia rieb kräftig über das schwarzbraune Fell ihres Hengstes.
»Das solltest du nicht tun.« Frederick lockerte seine Krawatte. »Dafür ist er zu wertvoll. Er ist ein ausgezeichneter Zuchthengst.«
»Es mindert seinen Wert doch nicht, wenn ich ihn fordere.« Julia versuchte, sich die innere Unruhe nicht anmerken zu lassen, die Fredericks Anwesenheit in ihr auslöste. »Außerdem ist er mein Pferd.«
»Und mein Eigentum.«
Julia hob den Blick. In seinen grünbraunen Augen stand ein Ausdruck, den sie nicht richtig deuten konnte. Ärger? Herablassung?
Frederick stemmte seine Arme in die Seiten. »Stell dir vor, ihr stürzt und er verletzt sich dabei ernsthaft, Julia. Dann bleibt nur der Gang zum Abdecker. Das möchtest du ihm doch sicher ersparen.«
»Diese Frage stellt sich nicht.« Julia straffte die Schultern. »Denn die Gefahr eines Sturzes bestünde nur«, sie konnte sich nicht davon abhalten, ihren Blick provokant über seine muskulöse Gestalt wandern zu lassen, »wenn ein Reiter ihm nicht gewachsen ist.«
Anstelle einer Antwort lachte er leise. »Wir sollten ins Haus gehen. Mutter wartet mit dem Frühstück.«
Julia fühlte sich nicht ernst genommen und funkelte ihn an. »Ich muss Achill auf die Koppel bringen und komme dann nach.«
»Begleite mich, bitte.« Sein Ton duldete keinen Widerspruch. »Du gehst meistens deiner eigenen Wege und ich lasse dir diese Freiheit. Aber es gibt Dinge, auf die ich bestehe. Dazu gehören die gemeinsamen Mahlzeiten in der Familie.«
Julia widerstand dem Impuls, ihm einen Hufauskratzer an den Kopf zu werfen. Stattdessen legte sie Achill die Abschwitzdecke über. Frederick rief den Stallburschen herbei, wies ihn an, Achill zu übernehmen, und bot Julia den Arm. Sie unterdrückte einen Laut des Unmuts, strich Achill noch einmal ausgiebig über die Nüstern und hakte sich zögernd unter. Frederick blieb für sie auch nach dem halben Jahr, das sie sich nun kannten, ein Fremder. Als sie sich auf den Weg zum Herrenhaus machten, folgte ihnen Achills empörtes Wiehern.
»Im Übrigen«, sagte Frederick nach ein paar Schritten und unterbrach damit die Stille zwischen ihnen, »möchte ich dich bitten, dich wie eine erwachsene Frau zu benehmen. Dazu gehört nicht nur, dass du dir deine spitzen Bemerkungen mir gegenüber sparst. Sondern auch eine jeder Situation angemessene Kleidung.«
»Mein Benehmen«, Julia zog ruckartig ihren Arm zurück und blieb stehen, »hat noch nie Anlass zur Klage gegeben. Vielleicht stellst du schlicht die falschen Erwartungen an mich.«
Er sah sie abschätzig an. »Du trägst Hosen.«
»Nur wenn ich reite«, gab Julia zurück und strich über ihren hellgrauen Rock. »Außerdem handelt sich hierbei nicht um Hosen, sondern um einen Reitrock. Wie du selbst siehst, fällt es überhaupt nicht auf, dass es sich um eine Mischung aus Hose und Rock handelt.«
»Ein solches Kleidungsstück wäre nicht notwendig, würdest du nicht im Herrensitz reiten. Auch das macht nicht den besten Eindruck.«
»Eindruck? Auf wen?«
»Auf Gäste. Auf Mutter. Auf mich.«
»Ich bin nicht die einzige Frau, die einen Reitrock trägt. Und Achill zu reiten, ist im Herrensitz deutlich sicherer, als wenn ich versuchen würde, mich schräg und verdreht auf seinem Rücken zu halten.«
»Dann ist Achill unter Umständen nicht das richtige Pferd für dich.«
»Ich muss mir von dir nicht sagen lassen, dass meine Reitkünste unzureichend seien«, entgegnete sie eine Nuance schärfer als beabsichtigt.
Frederick legte ihr eine Hand auf den Rücken und nötigte sie mit leichtem Druck, weiterzugehen. »Lass uns diese Diskussion beenden, Julia. Das, was ich von dir erwarte, ist nichts Abwegiges. Es ist schlicht das übliche Verhalten einer Ehefrau ihrem Mann und der Gesellschaft gegenüber.«
Julia biss sich auf die Lippen. Auch ihr war die Sinnlosigkeit dieser Auseinandersetzung klar. Dass sie nicht in ihre Rolle hineinfand, war im Grunde nicht Fredericks Schuld, sondern eine Folge des falschen Bildes, das Vater ihm gegenüber von ihr gezeichnet hatte. Julia fragte sich ohnehin, warum er sie auf einmal unbedingt hatte verheiraten wollen. So zurückgezogen, wie er auf seinem Gestüt bei Wunstorf lebte, war sie immer davon ausgegangen, dass er froh gewesen war, sie bei sich zu haben. Vor allem, nachdem Mutter infolge jahrelanger Krankheit gestorben war und er keine Anstalten machte, sich eine neue Frau zu suchen.
»Du wirst dich in unser gemeinsames Leben hineinfinden«, hörte sie Frederick sagen, als sie die Brücke passierten, welche den Wassergraben rund um das Herrenhaus überspannte. Es klang versöhnlich. »Mit der Zeit wird dir alles vertrauter sein. Auch ich.«
Julia gab keine Antwort. Stattdessen hob sie den Blick auf das verputzte Steingebäude mit dem schiefergedeckten Turm, der wirkte, als hätte man ihn willkürlich an die Fassade angebaut. Inzwischen wusste sie, dass er das Einzige war, was an einen Vorgängerbau erinnerte, der einem Feuer zum Opfer gefallen war.
Frederick öffnete die schwere zweiflügelige Tür aus dunklem Holz, ließ Julia eintreten und begleitete sie bis zum Treppenabsatz.
»Heute kehrt mein Bruder heim«, bemerkte Frederick. »Er war lange auf Reisen.«
»Das hattest du erwähnt.« Julia zupfte an den Fingerspitzen ihrer hellbraunen Reithandschuhe.
»Bist du Mutter zur Hand gegangen bei den Vorbereitungen für das Dinner, das wir Richard zu Ehren heute Abend geben?«
»Nun ja, das war nicht …« Julia wurde von einem leisen Rascheln unterbrochen. Sie sah die Stufen hinauf.
Gemessenen Schrittes kam Auguste von Varell die Treppe herunter. Ihr schwarzes, schmuckloses Seidenkleid war hochgeschlossen, das weiße Haar streng zurückgesteckt. Julia trat zur Seite, um ihr Platz zu machen. Mit einem Kopfnicken ging Fredericks Mutter an ihr vorbei und ließ sich von ihrem Sohn auf die Wange küssen. Dann wandte sie den Kopf zur Seite, sah Julia aber nicht an. »Dass deine Frau immer nach Pferdestall riechen muss.«
Auguste von Varell hatte leise gesprochen. Ihre Worte trafen Julia dennoch mit voller Wucht.
Sie suchte Fredericks Blick.
»Mach dich frisch. Wir sehen uns im Speisezimmer«, sagte er kühl.
Das Herrenzimmer auf Gut Eckerde hatte Frederick schon immer Ruhe und Atempausen geboten. Seit Julia bei ihm lebte, war es ihm zudem eine Zuflucht geworden. Vor ihrer unübersehbaren Bedrücktheit, den ständigen Missklängen zwischen ihr und seiner Mutter, vor ihrer Ablehnung, die ihn mehr schmerzte, als er sich eingestehen wollte. Nach einem kulinarisch überzeugenden, aber unerträglich gesprächsarmen Dinner war er auch heute froh gewesen, sich mit seinem Bruder Richard hierher zurückziehen zu können. Er hatte sich in eines der beiden Lederfauteuils gesetzt, die vor den tiefen Fenstern mit den langen grünen Samtvorhängen standen. Sie rahmten den nachtdunklen Park ein, den nicht einmal der Mond erhellte.
Frederick zog an seiner Havanna und konzentrierte sich auf die einzigartigen Aromen, die der Tabak entfaltete. Unter dem leicht salzigen Geschmack lag eine erdig-würzige Note, abgerundet von einer Spur schwarzen Pfeffers. Er atmete den Rauch durch die Nase aus, schlug die Beine übereinander und sah zu seinem Bruder Richard, der, ein Glas Weinbrand in der Hand, entspannt am Kamin stand und in die knisternden Flammen blickte.
»Als kleiner Junge haben mir die Schatten Angst gemacht, die das Feuer an die Wand gemalt hat.« Auf Richards Lippen lag ein Lächeln. »Je dunkler die Nacht, desto größer die Angst.«
»Heute hast du vor nichts mehr Angst«, bemerkte Frederick.
»Das ist nicht wahr.« Richard runzelte die Stirn und nahm einen Schluck. »Aber ich habe gelernt, das Risiko einzuschätzen.«
»Ich würde eher sagen, dass du es suchst«, entgegnete Frederick. »Oder hätte dich nicht das Gift eines kleinen Frosches im Regenwald beinahe ins Jenseits befördert?«
»Ich kann auch hier auf Eckerde an einer Grippe sterben«, konterte Richard. »Oder in einem Feuer umkommen.« Er verstummte, drehte den Kopf und sah Frederick an.
Eine vage Traurigkeit legte sich über den Raum.
Frederick war neunzehn, Richard siebzehn Jahre alt gewesen, als sie bei einem verheerenden Brand ihren Vater und ihre kleine Schwester verloren hatten. Der Verlust hatte Narben hinterlassen – auch wenn seither zehn Jahre ins Land gegangen waren. Noch immer hörte Frederick Johanne nach Vater und Mutter und nach ihren Brüdern rufen, eingesperrt von den immer höher lodernden Flammen. Frederick und Richard waren losgerannt, um ihr zu helfen, aber der Vater hatte sie zurückgerufen – in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. Dann war er selbst in das brennende Gutshaus zurückgekehrt, um seine Tochter zu retten. Frederick und Richard hatten ihre weinende Mutter gehalten, und mit jeder Minute, die verging, ohne dass der Vater mit Johanne zurückkehrte, war die Ahnung zu Gewissheit geworden. Erst im Morgengrauen hatte man die beiden gefunden, Vater und Tochter, Arm in Arm in den verkohlten Ruinen des alten Herrenhauses von Eckerde. Johanne war erst sechs Jahre alt gewesen.
»Wir haben beide unsere Bestimmung angenommen«, sagte Richard in die Stille hinein. »Du als Erbe, ich als zweiter Sohn.«
»Du hast mir deutlich gemacht, dass du in die Welt hinausziehen möchtest. Ich hätte die Verantwortung für Eckerde gerne mit dir geteilt, Richard.«
»Das wäre nicht gut gegangen.« Richard leerte sein Glas und stieß sich vom Kamin ab. »Dir macht es Freude, als Gutsherr durchs Leben zu gehen. Für mich wäre das nichts. Mit den Herrschaften von Soundso parlieren, mich in den Wettstreit um den potentesten Hengst begeben, die richtige Gemahlin heimführen, damit die Erbfolge gesichert ist. Außerdem würde ich immer einen Schritt hinter dir stehen. Immer.« Richard stellte sein Glas ab und setzte sich neben Frederick. »Ich weiß, dass du denkst, dass ich dir dieses Leben hier neide. Aber das tue ich nicht.« Er nahm sich eine Zigarre aus dem Kästchen auf dem Beistelltisch und roch daran. »Ahhh!«
Frederick streifte die Asche seiner Romeo y Julieta ab. »Ich habe noch nie gedacht, dass du mir mein Leben neidest, Richard.« Er seufzte. »Vielleicht neide ich dir eher deins.«
Richard lachte. »Was du nicht sagst!«
»Mach dich nicht lustig.«
»Dann komm mit mir.« Richard setzte den Zigarrenschneider an. »Nach meiner Zeit in Brasilien reizt mich im Übrigen Nordamerika. Sobald du mir die nächste Tranche meines Erbes ausbezahlst, kümmere ich mich um die Passage.«
»Wäre es nicht sinnvoller, du würdest irgendwann daran denken, dich niederzulassen?« Frederick betrachtete die glühende Zigarrenspitze. »Dass du nicht bei uns auf Eckerde leben möchtest, habe ich verstanden. Aber es gibt doch bestimmt irgendeinen Ort, an dem du dich auf Dauer wohlfühlen könntest.«
Richard lachte. »Es gibt viele. Das ist ja das Problem.«
»Dann such dir ein nettes Mädchen, das dich erdet.«
»So wie Julia dich?« Richard steckte seine Zigarre an. »Das erscheint mir nicht erstrebenswert.«
»Du bist anmaßend.« Frederick warf ihm einen missbilligenden Blick zu.
»Ach …«
»Meine Ehe ist meine Sache.«
»Lass mich dir einen Rat geben.« Richard entließ eine gräulich-weiße Rauchwolke in den Raum.
»Erspar ihn mir.«
»Hör nicht so sehr auf Mutter«, fuhr Richard ungerührt fort. »Ich bin erst ein paar Stunden wieder hier, aber man sieht sofort, wie sie versucht, Julia zu erziehen. An Julias Stelle würde ich mich dabei auch nicht wohlfühlen.«
»Wie willst du das nach den paar Stunden beurteilen?«
»Das nennt man Menschenkenntnis.«
Frederick ärgerte sich über die schnelle Parteinahme seines Bruders. »Mutter hat ihr angeboten, sie in alles einzuführen, was sie als meine Ehefrau lernen muss.« Frederick nahm selbst noch einen Zug. »Das ist großmütig von ihr. Aber Julia zeigt wenig Interesse an ihrer Unterstützung. Stattdessen verbringt sie jede freie Minute im Stall. Ich kann verstehen, dass Mutter mehr von ihrer Schwiegertochter erwartet.«
»Weil du es tust?« Richard nestelte am Kragen seines hellen Leinenhemdes. »Ich könnte mir vorstellen, dass Julia überhaupt nicht weiß, wie sie euren Erwartungen gerecht werden soll.«
»Sie kommt aus einer Adelsfamilie. Sie ist auf einem Landgut aufgewachsen. Erzähl mir nicht, dass sie nicht weiß, was ihre Rolle ist.«
Richard paffte an seiner Zigarre. »Warum hast du sie eigentlich geheiratet? Ich meine, die Frauen steigen dir doch in Scharen nach! Warum gerade sie?«
»Warum wirbt ein Mann um eine Frau?« Frederick lachte auf. »Komm schon, Richard. Weil er denkt, dass sie ihn glücklich macht. Weil er mit ihr Kinder bekommen und die Linie weiterführen möchte.« Er hielt inne. »Die Frage ist doch vielmehr, warum sie mich geheiratet hat. Ich habe sie schließlich nicht dazu gezwungen.«
»Du nicht.« Richard sah seinen Rauchwolken nach. »Aber vielleicht wurde es ihr von ihren Eltern … nahegelegt?«
Frederick hielt verdutzt inne. An die Möglichkeit, dass Julia keinen Gefallen an ihm fand und ihn nur deshalb geheiratet hatte, weil sie dazu angehalten worden war, hatte er nicht im Entferntesten gedacht.
»Das ist doch üblich, oder etwa nicht?«, setzte Richard hinzu, als habe er Fredericks Gedankengang nachvollzogen. »Die Eltern arrangieren eine Verbindung, die beiden Seiten nützt. Bei dir ist wohl Zuneigung im Spiel. Bei ihr scheint das nicht der Fall zu sein. Ist ihr Vater in Geldnot? Lasten Hypotheken auf seinem Gut? Gibt es irgendetwas Ungewöhnliches in der Familie?«
»Nicht, dass ich wüsste.« Frederick nahm nachdenklich die Banderole seiner Havanna ab und legte sie neben den Aschenbecher aus blassgrünem Porzellan. »Ich weiß nur, dass sie kein leibliches Kind ihrer Eltern ist, sondern als Säugling zu ihnen kam. So, wie ihr Vater erzählt hat, war seine Frau damals schon krank. Deshalb hat er sie mehr oder weniger allein großgezogen. Mithilfe von Gouvernanten natürlich.«
Richard strich über seinen blonden Vollbart. »Dann will er sie gut versorgt wissen.«
»Das ist durchaus denkbar. Er ist schließlich nicht mehr der Jüngste.« Frederick zuckte mit den Schultern. »Wie dem auch sei. Sie wird sich in unser Leben hineinfinden. Ich biete ihr viel und sie wird es irgendwann zu schätzen wissen. Im Augenblick lasse ich sie noch an der langen Leine.«
»Ahhh! An der langen Leine?«, echote Richard. »Du bist ein wahrhaft großzügiger Ehemann.«
»Spar dir deinen Spott, Bruder.« Frederick sandte ihm einen maßregelnden Blick. »Auf deinen Schultern lastet nicht die Verantwortung für Land, Gut und Familie. Du tingelst in der Weltgeschichte herum und kehrst nur heim, um dir Geld abzuholen.«
»Na, na, na.« Richard legte die Zigarre im Aschenbecher ab. »Ich nehme ja nichts, was mir nicht zustünde. Vater hat mich als Zweitgeborenen abgesichert. Du kannst ja von der Guts- und Pferdewirtschaft leben. Ich dagegen muss sehen, wo ich bleibe.«
»Und nun wirst du dich in die Vereinigten Staaten empfehlen und dort Vaters Geld durchbringen.« Frederick legte seine Havanna neben die von Richard. »Es wird verglimmen wie der Tabak unserer Havannas.«
»Wenn alles nach Plan verläuft, kehre ich reicher zurück, als ich losgezogen bin«, erwiderte Richard selbstsicher. »Du wirst noch stolz sein auf deinen kleinen Bruder.«
Jetzt war es an Frederick, zu spötteln. »Du warst in Griechenland und der Türkei, in Persien, Indien und China. Von jeder Reise bist du pleite zurückgekommen, so wie diesmal auch. Es wurde nichts aus dem Handel mit Tee, Seide und Porzellan. Es wurde auch nichts aus deinem Versuch, dir als Südamerikaforscher einen Namen zu machen. Sieh mir nach, dass ich neuen Unternehmungen eine gesunde Skepsis entgegenbringe.«
»Misserfolg ist nur dann ein Problem, wenn man aufgibt.« Richard fuhr sich mit der Hand durch seine blonden, lockigen Haare, die ihm bis weit in den Nacken reichten. »Ich gebe nicht auf. Ich werde Gold schürfen. Glaube mir, wenn ich wiederkomme, bin ich ein gemachter Mann! In Amerika kann jeder etwas werden – auch ein jüngerer Sohn.«
»Ich würde dir hier auf Eckerde jede Möglichkeit geben«, erwiderte Frederick. »Du brauchst nicht zum Goldsucher zu werden.«
Richard schüttelte bedächtig den Kopf. »Ich kann mir nicht vorstellen, mein Leben lang der zweite Mann hinter meinem Bruder zu sein. Abgesehen davon bindet mich hier nichts. Eckerde ist der Ort meiner Geburt, aber Heimat ist es mir schon lange keine mehr. Mich treibt es fort.«
Frederick wusste, dass solche Gespräche zu nichts führten. Zu oft schon hatte er sich an seinem Bruder vergeblich die Zähne ausgebissen. Er richtete sich auf. »Wann wirst du wieder aufbrechen?«
»Erst im neuen Jahr.«
»Habt ihr die Tür mit Absicht offen gelassen?« Eine vertraute Frauenstimme legte sich über den Raum.
Frederick sah zur Tür und stand auf. »Mutter?«
»Bist du noch nicht zu Bett gegangen?« Auch Richard erhob sich.
»Seit wann gehe ich früh zu Bett?« Auguste von Varell trat zu ihren Söhnen. »Ich habe mit der Köchin besprochen, was einzukaufen ist, und meinen letzten Rundgang gemacht. Jetzt werde ich mich zurückziehen und noch etwas lesen.« Sie musterte ihren jüngeren Sohn. »Morgen gehst du zum Barbier, Richard. Dein Haar muss geschnitten und dein Bart gestutzt werden.«
Richard schob seine Hände in die Hosentaschen. »Ich dachte, ich hätte die Tür richtig zugemacht.« Auf die Anweisung seiner Mutter ging er nicht ein.
»Achte künftig darauf. Dienstboten haben gute Ohren und schwatzen ohne Sinn und Verstand. Im Übrigen«, Auguste von Varell legte eine Hand auf Richards Oberarm, »tu mir den Gefallen und warte mit deiner Abreise bis zum Frühjahr.«
»Ich werde sehen«, erwiderte Richard ausweichend.
»Ich erwarte es von dir.« Sie sah von Richard zu Frederick. »Und von dir erwarte ich, dass du deine Ehefrau zur Räson bringst. Inzwischen lebt sie lange genug bei uns, um sich anzupassen. Ihr Verhalten ist inakzeptabel. Ich wünsche euch eine gute Nacht.«
»Und das ist der nächste Grund, weshalb ich nicht bleiben kann«, sagte Richard leise zu Frederick, nachdem ihre Mutter den Raum verlassen hatte. »Wie hältst du diese Bevormundung nur aus?«
Julia hatte nicht die Absicht gehabt, zu lauschen. Rein zufällig war sie am Herrenzimmer vorbeigekommen, auf dem Weg zur Bibliothek, wo sie sich eine Nachtlektüre hatte suchen wollen. Doch die Tür war nur angelehnt gewesen und Fredericks Stimme nicht zu überhören.
Die Männer hatten sie nicht bemerkt. Und Auguste von Varell war durch das Rascheln ihrer Röcke rechtzeitig zu vernehmen gewesen, sodass Julia sich in die angrenzende Bibliothek hatte flüchten können.
Erst nachdem sie gewiss gewesen war, dass Mutter und Söhne sich nicht mehr auf den Fluren aufhielten, hatte sie sich auf den Weg in ihr Schlafzimmer gemacht, innerlich gebeutelt von einem Schmerz, der an den Grundfesten ihres Seins rüttelte.
Vollkommen verstört hatte sie das Mädchen fortgeschickt, das ihr beim Umziehen helfen wollte, und auch wenn es umständlich gewesen war, sich allein aus ihrem Kleid und dem Korsett zu schälen, hätte sie niemanden um sich herum ertragen. Nun saß sie in einem spitzenbesetzten Nachthemd an ihrem Frisiertisch und betrachtete sich in dem schwenkbaren, ovalen Spiegel. Unter der leichten Bräune – eine unweigerliche Folge der vielen Stunden draußen – lag eine ungewöhnliche Blässe. Schlimmer aber war die Fremdheit, mit der ihr Spiegelbild ihr entgegensah.
Stimmte das, was Frederick zu Richard gesagt hatte? Wenn ja, dann hatte sie binnen weniger Sekunden ihre sicher geglaubten Wurzeln verloren. Ihr war, als bebte die Erde, während das Leben in zwei Fragen zerfloss: Warum gerade sie? Und wer waren ihre richtigen Eltern?
Sie löste ihr Haar, nahm die Bürste und strich damit durch die dunkelbraune Flut. Das Licht zweier Hängelampen mit Schirmen aus Milchglas ließ es schimmern wie Achills schwarzbraunes Fell an Sonnentagen. Von wem hatte sie es geerbt? Von wem die schlanke Statur, von wem die honigbraune Farbe ihrer Augen, von wem den starken Willen, wenn nicht von ihrem Vater?
Erinnerungen stürzten auf sie ein.