Töchter der Hoffnung - Maria Nikolai - E-Book
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Töchter der Hoffnung E-Book

Maria Nikolai

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Beschreibung

Nach »Die Schokoladenvilla«: Die neue historische Saga von Maria Nikolai!

Meersburg, 1917: Ein romantisches altes Gasthaus am Ufer des Bodensees, umgeben von einem blühenden Garten – für Helena Lindner und ihre Schwestern ist der Lindenhof ein Ort voller idyllischer Kindheitserinnerungen. Doch drei Jahre Krieg haben ihre Spuren hinterlassen. Die Gästezimmer stehen leer, Vater Gustav ist an der Front, und Mutter Elisabeth regiert mit eiserner Hand. Trotz der schweren Zeit lässt Helena der Traum nicht los, den Ort ihrer Kindheit zu neuem Leben zu erwecken und zu einem Grandhotel auszubauen. Als ein junger Adliger sich im Lindenhof einmietet, erwacht in ihr neuer Mut. Den schönen Fremden umgibt eine faszinierende Aura, aber sein Gesicht trägt tiefe Narben. Während sich die beiden näherkommen, entdecken sie Gemeinsamkeiten, die tief in Helenas Vergangenheit führen …

Der Auftakt der neuen Saga von Bestsellerautorin Maria Nikolai – so sehnsuchtsvoll und bezaubernd wie »Die Schokoladenvilla«!

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Seitenzahl: 526

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MARIA NIKOLAI liebt historische Stoffe und zarte Liebesgeschichten. Mit Die Schokoladenvilla schrieb sie sich in die Herzen der Leserinnen: Die opulente Saga rund um eine Stuttgarter Schokoladenfabrikantenfamilie stand monatelang auf der Bestsellerliste und verkaufte sich fast eine halbe Million Mal. Nun entführt Maria Nikolai ihre Fans mit dem Auftakt ihrer sehnsüchtig erwarteten neuen historischen Trilogie an den schönen Bodensee zu Ende des Ersten Weltkriegs. Willkommen im Grandhotel Lindenhof!

Die Schokoladenvilla in der Presse:

»Unheimlich gut recherchiert. Man bekommt sehr viele Informationen darüber, wie in Stuttgart zu dieser Zeit gelebt wurde. Auch was fürs Herz, ein richtig schöner Sofaschmöker.« SWR »Kaffee oder Tee?«

»Liebevoll erzählt und genau das Richtige für kuschelige Stunden.« Neue Welt

»Leidenschaft zum Lesen.« Closer

Außerdem von Maria Nikolai lieferbar:

Die Schokoladenvilla

Die Schokoladenvilla. Goldene Jahre

Die Schokoladenvilla. Zeit des Schicksals

Die Schokoladenvilla. Zeit des Schicksals. –

Die Vorgeschichte zu Band 3 (E-Book)

Die Schokoladenvilla Band 1–3: Die komplette Bestseller-Saga in einem Band (E-Book)

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MARIA NIKOLAI

TÖCHTERDERHOFFNUNG

DIEBODENSEE-SAGA

ROMAN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Copyright © 2021 by Penguin Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Sarvin Zakikhani

Covergestaltung: Favoritbuero

Covermotiv: © Richard Jenkins; Shutterstock/© yegorovnick, © Studio Light and Shade, © Mazur Travel (2), © patpitchaya, © Creative Travel Projects, © Mantikorra, © Suwicha, © Dai Yim, © bluefish_ds, © Artiste2d3d, © CoffeeTime, © U-Design, © Ragemax, © Stakhov Yuriy

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-28178-6V004

www.penguin-verlag.de

»Ich möchte dir ein Liebes schenken,Das dich mir zur Vertrauten macht:Aus meinem Tag ein DeingedenkenUnd einen Traum aus meiner Nacht.«

Rainer Maria Rilke

PROLOG

Meersburg am Bodensee, Juli 1907

Das eingerostete Gartentor klapperte vernehmlich, als Helena sich mit der ganzen Kraft ihrer elf Jahre dagegenwarf, um es aufzudrücken. Diese kleine Plackerei war ihr zum täglichen Ritual geworden, voller Mühe und zugleich voller Vorfreude. Denn sobald das schwere Holz ihren Bemühungen mit einem vertrauten Quietschen Anerkennung zollte, gab es den Weg frei in ihr Paradies.

Eine alte Mauer aus großen rechteckigen Steinen umgab den verwilderten Garten, der neben dem Gasthaus ihrer Eltern lag. Das Sommerlicht ließ die bunten Tupfen der Wildrosensträucher und anderer Blumen leuchten, deren Namen Helena nicht kannte. Rot und rosa, gelb und orange, blau und violett duckten sie sich ins Juligrün und verschmolzen mit Gras und Blattwerk zu einer wahren Farbenflut. Der knorrige, schief gewachsene Apfelbaum, dessen heranwachsende Früchte sich um diese Jahreszeit noch verschämt hinter den schützenden Blättern verbargen, markierte die Mitte. Helena war überzeugt davon, dass er bereits seit dem Tag hier stand, an dem Gott Himmel und Erde erschaffen hatte. Diese ergreifende Geschichte vom Garten Eden erzählte der Pfarrer in der Kirche immer so gerne. Es musste – davon war Helena überzeugt – ganz bestimmt dieser Apfelbaum gewesen sein, von dem Adam damals die verbotene Frucht gegessen hatte. Deshalb achtete sie stets darauf, dass keine Schlange in den Zweigen saß, wenn sie die Früchte pflückte – denn eine Vertreibung aus ihrem Garten wollte sie auf keinen Fall riskieren.

Helena wartete, bis ihre jüngeren Schwestern Lilly und Katharina durch die efeubewachsene Pforte gegangen waren. Dann verschloss sie sorgfältig den Durchschlupf.

»Was möchtest du uns denn zeigen?«, fragte Katharina, während sie den von Gras und Unkräutern überwucherten Trampelpfad entlangliefen, der steil bergauf zu einem baufälligen Gewächshaus führte.

»Eine Überraschung!«

»Das behauptest du immer, wenn du uns hierher in deinen Urwald holst, Helena.« Lilly klang eine Spur herablassend. »Und dann ist es doch irgendetwas Komisches.«

»Hast du wieder Schnecken gesammelt?«, fragte Katharina mit ihrer glockenhellen Stimme.

»Nein, keine Schnecken.« Helena lächelte Katharina an.

»Vielleicht ein paar neue Mäuse?« Lilly lachte und zeigte dabei ihre Zahnlücke. Gestern erst hatte der rechte Schneidezahn den Kampf gegen Lillys rüttelnde Finger endgültig verloren. Nun ruhte er unter ihrem Kopfkissen in der Hoffnung, dass die Gute Fee ihn in eine Münze verwandeln werde. Heute Morgen hatte er allerdings noch unverändert an seinem Platz gelegen. Lillys Enttäuschung darüber war so groß gewesen, dass Helena sie mit einer Zuckerstange hatte trösten müssen. Bestimmt war die Gute Fee zu beschäftigt gewesen, und ganz gewiss käme sie in der nächsten Nacht. Daraufhin hatte Lilly beschlossen, wach zu bleiben, um ein ernstes Wörtchen mit der Fee zu reden. Helena war gespannt, wie lange ihre Schwester sich heute Nacht des Schlafes würde erwehren können. Sie selbst jedenfalls hatte die Gute Fee noch nie zu Gesicht bekommen – trotz zahlreicher Versuche, ihr aufzulauern.

Die drei Mädchen waren beinahe am oberen Plateau des steilen Hanges angekommen. Dort, wo das Grundstück sich ein wenig weitete und in eine von Brombeerhecken und Himbeersträuchern eingehegte terrassierte Fläche überging, stolperte Katharina plötzlich über eine Wurzel und fiel der Länge nach hin. Wimmernd hielt sie sich das Knie, das nun großflächig eine wüste Schramme zierte.

Helena war sofort bei ihr, zog ein Taschentuch aus ihrer Schürzentasche und wischte vorsichtig Dreck und Blut ab.

»Tut es arg weh?«

Katharina schüttelte den Kopf, aber die Tränen in ihren Augen zeugten vom Gegenteil. Sie war immer so tapfer, obwohl sie erst sechs Jahre alt war. Wenn Lilly sich verletzte, dann war das Geschrei groß. Und Lilly war schon sieben.

Helena half ihrer Schwester aufzustehen. »Komm, Katharina! Die Überraschung wird dich trösten.« Sie reichte ihr die eine und Lilly die andere Hand, und gemeinsam gingen sie die letzten Schritte bis zum Gewächshaus, das sich selbstvergessen in eine Ecke des Wiesengrunds schmiegte.

Ihrem Glashaus, wie Helena es nannte, gab ein Gerüst aus Eisen Gestalt, das zahlreiche Fensterscheiben hielt. Viele von ihnen trugen stolz die Zeichen der Zeit, Risse und Sprünge, die eigene Geschichten erzählten. Doch das wackelige Äußere kümmerte Helena nicht. Denn hinter dem von Staub und Spinnweben blinden Glas verbarg sich ihr heimliches Reich.

»Ist es dort drin?«, erkundigte sich Katharina. Die Neugier hatte Schreck und Schmerz verdrängt, auch wenn ihre Stimme noch zaghaft klang.

»Nein«, entgegnete Helena. »Es ist dort drüben.« Sie zeigte auf eine Stelle, die ein gutes Stück vom Gewächshaus entfernt war.

Lilly machte gleich einen Schritt in die angegebene Richtung, aber Helena hielt sie am Arm zurück und machte ein bedeutungsvolles Gesicht. »Erst mal müsst ihr hier warten.«

Ungeduldig blieben Lilly und Katharina draußen stehen, während Helena den Draht der Holztür löste, die das Glashaus provisorisch verschloss.

Gedämpftes Nachmittagslicht lag über der kargen Möblierung, die Helenas Schätze barg: schiefe Regale mit Farben, Pinseln, Steinen, einigen Papierbogen, einem Kerzenhalter, Streichhölzern, Stoffresten. Ihrem Lieblingsmärchenbuch.

An der Glaswand gegenüber stand eine Bank aus morschem Holz, in der einige Holzwürmer lebten. Manchmal, wenn es ganz still war, konnte man hören, wie sie sich schabend durch ihre Leibspeise fraßen.

Auf dieser Bank, unter einer Tischdecke aus blau-weißem Leinen, hatte Helena eine kleine Porzellandose deponiert. Sie wischte den Staub beiseite, der sich auf der Sitzfläche breitgemacht hatte, und beobachtete fasziniert, wie sich die aufstiebende zartgraue Wolke durch die schräg einfallenden Sonnenstrahlen in einen geheimnisvollen Glitzernebel verwandelte. Dann zog sie die Dose hervor, hob den Deckel und warf einen Blick hinein. Der Zucker darin schimmerte weißlich, und außer einem kleinen Käfer hatte sich auch kein Ungeziefer darin breitgemacht. Helena fischte das Tierchen heraus und ging dann zurück nach draußen. »Kommt!«, sagte sie im Vorbeigehen zu ihren Schwestern.

Sie führte die beiden zu einem sonnenhellen Streifen des Gartens, an welchem die wilde Wiesenlandschaft einem kleinen Stückchen selbst geschaffenen Gartenlandes wich. Darauf standen einige niedrig wachsende Pflanzen, zwischen deren dreiteiligen Blättern es rot schimmerte.

Helena bückte sich, zupfte einige der Früchte ab und legte sie in die Zuckerschale.

»Erdbeeren!«, rief Lilly glücklich. »Oh, und mit Zucker!« Ohne Zögern griff sie zu.

Katharina beäugte die Früchte zunächst unentschlossen, aber auch sie konnte dem verlockenden Glanz nicht lange widerstehen. Als sie schließlich in die köstliche Frucht biss, liefen einige Tropfen roten Erdbeersafts über ihr Kinn und fanden zielsicher den Weg auf das weiße Spitzenkleid, das sie trug.

»Das wird Mutter gar nicht gefallen!«, stellte Lilly besorgt fest, und auch Helena hatte die Strafpredigt schon bildlich vor Augen, die vor allem sie selbst treffen würde, da sie nicht gut genug auf die Kleinste achtgegeben hatte.

Katharina stopfte sich erschrocken den Rest der Erdbeere in den Mund. Im Versuch, das Malheur ungeschehen zu machen, strich sie mit beiden Händen über den feinen Stoff ihres Kleides, sodass sich zu den unregelmäßig verteilten roten Tropfen noch einige erdbeerfarbene Fingerspuren gesellten. Im Kniebereich zeugten grüne und braune Flecken ohnehin vom vorangegangenen Sturz.

»Ach herrje«, entfuhr es Helena, als ihr das Ausmaß des Schadens bewusst wurde. »Ich werde es auswaschen«, bot sie gleich an und strich ihrer Schwester tröstend über das Haar. »Noch bevor Mutter es sieht.«

Katharina sah sie vertrauensvoll an und setzte sich erleichtert ins Gras.

»Ab heute helfen wir dir hier«, verkündete Lilly derweil. Auch ihr Kleid, ebenso hell wie Katharinas, war zur Leinwand der Natur geworden. »Und dann backen wir Erdbeerkuchen und kochen Marmelade.«

Helena schob sich selbst eine der Sommerbeeren in den Mund. Die Idee mit der Marmelade war gar nicht so schlecht. Die könnte sie vielleicht verkaufen, sonntags, wenn die Leute am Seeufer spazieren gingen. Über eine besonders leckere Torte aus Erdbeeren dachte sie ohnehin schon eine Weile nach. Eine riesige, wunderbare Erdbeertorte, die noch schöner sein würde als Käthes Erdbeerkuchen, den jeder sehr gerne mochte – auch sie selbst.

Von fern erklang ein Ruf.

»Mutter!«, sagten Lilly und Katharina wie aus einem Munde.

Helena spürte die Unruhe ihrer Schwestern. »Ich gehe vor und lenke sie ab. Ihr nehmt die Hintertür, zieht in eurem Zimmer die Kleider aus und versteckt sie im Schrank. Ich werde sie waschen, sobald es geht.«

Die Schwestern nickten und blieben dicht hinter Helena, als sie den Weg zurück zum Haus gingen. Bevor Helena das Gartentor verschloss, warf sie einen letzten Blick auf ihr Refugium, in dem sie der strengen Aufsicht ihrer Stiefmutter wenigstens für eine Weile entkam. Sie konnte diesen abgelegenen Teil des großen Gemüsegartens, den die Familie Lindner bewirtschaftete, für sich nutzen, weil er für den Anbau von Karotten, Zwiebeln und Kartoffeln zu steil war. Hier war es so herrlich wild und unordentlich, und an klaren Tagen konnte man über den See bis in die Schweiz sehen. Es war ein verzauberter Ort, der über den Dingen stand. Der Geheimnisse bewahrte. An dem man Luftschlösser bauen konnte. Und der hin und wieder ganz leise von der Zukunft erzählte.

TEIL 1STÜRMISCHE ZEITEN

November 1917 bis Februar 1918

1. KAPITEL

Meersburg, zehn Jahre später, Mitte November 1917

Helena Lindner hatte den großen Weidenkorb ins Gras gestellt und suchte unter dem alten Apfelbaum nach dem restlichen Fallobst dieses Herbstes. Ein intensiver Duft stieg vom Boden auf, fruchtig und erdig, und kitzelte sie in der Nase, während sie mit flinken Händen die verstreut liegenden Äpfel einsammelte. Die meisten waren angefault, sie würde recht viel ausschneiden müssen, aber für den Apfelkuchen, den Käthe daraus backen wollte, lohnte die Mühe allemal.

Ihr Korb füllte sich rasch, und nachdem sie die letzten Früchte hineingelegt hatte, betrachtete sie glücklich ihre Ausbeute. Es war mehr als erwartet und würde nicht nur für einen Apfelkuchen reichen, sondern für eine gute Portion Apfelmus obendrein. Sie richtete sich auf und packte den Korb am Henkel.

Während sie den schmalen Pfad zum Gartentor entlangging, vorbei an abgeernteten Beeten und Obstbäumen, wurde ihr einmal mehr bewusst, dass dieses Stück Land die Familie vor schlimmerem Elend bewahrte. Denn selbst hier, in dieser fruchtbaren Gegend am See, war der einstige Überfluss karger Not gewichen.

Schuld daran war dieser unsägliche Krieg, der einfach kein Ende nehmen wollte.

Helena seufzte, als sie durch das erbärmlich quietschende Gartentürchen schritt, es hinter sich schloss und anschließend den Weg zum Haus einschlug. Ein blasses Farbenspiel aus Rot, Gelb und Orangetönen überzog die rebenbestandenen Hänge rings um Meersburg, und Helena war bewusst, dass in der kühlen Schönheit dieser letzten Herbsttage bereits die Unausweichlichkeit des kommenden Winters lag. Und mit ihm würde alles noch schlimmer werden.

Als wolle sie einen Gegenakzent zu Helenas schweren Gedanken setzen, streichelte die tief stehende Spätnachmittagssonne die großzügige Architektur des Lindenhofs, und Helena hielt einen Moment inne. Mein Zuhause.

Der zweiflügelige Bau mit seinen Brüstungen und Balkonen, den schmalen Säulen seitlich des Eingangs und den hohen Fenstern mit weißen Sprossen machte einen feudalen Eindruck. Betrachtete man das hellgelb gestrichene Gebäude allerdings näher, waren deutliche Spuren des Verfalls zu erkennen.

Helenas Vater hatte das heruntergekommene, uralte Adelsgut einst geerbt. Bis heute stand die schlechte Bausubstanz im Kontrast zum hübschen Äußeren, und so galt der Lindenhof als einfache Herberge, die es trotz ihrer Lage am Ortsrand unweit des Seeufers nie mit den alteingesessenen Wirtschaften wie dem Bären, dem Schiff, dem Ochsen oder dem Wilden Mann hatte aufnehmen können.

Für Helena aber war es der schönste Platz der Welt. Auch die vielen Maler, die einst regelmäßig über die Sommermonate bei ihnen abgestiegen waren, hatten das Besondere hier gespürt. Dieses Haus besaß eine eigene Seele – und obwohl seit Kriegsbeginn die Gäste nur noch spärlich kamen und sie täglich um ihre Existenz kämpfen mussten, fühlte sie mit der ganzen Gewissheit ihrer einundzwanzig Jahre, dass hier ihr Platz war.

Sie ging die letzten Schritte und stieg die steinernen Stufen der Freitreppe hinauf, die vor ein mit Ziersäulen bestandenes Portal führte. Dort drehte sie sich noch einmal um und genoss den wunderschönen Blick über den breiten, von Linden flankierten Kiesweg bis hin zum See, dessen Wasser blaugrau herüberschimmerte. Schließlich wandte sie sich der weiß gestrichenen Doppeltür unter dem halbrunden Oberlicht zu, drückte mit dem Ellenbogen des freien Armes die Klinke herunter und trat ein.

Die Eingangshalle, die sie empfing, wirkte auf den ersten Blick zwar herrschaftlich, aber die grob gezimmerte Rezeption mit dem abgenutzten Mobiliar revidierte den Eindruck sofort. Dieser Widerspruch schmerzte Helena. Die besondere Architektur und die einzigartige Lage am See prädestinierten den Lindenhof für Großes: In Helenas Vorstellung entstand anstelle des zweitklassigen Gasthofs bereits ein luxuriöses Hotel – dann, wenn der Krieg endlich einmal vorüber war.

Doch außer ihr schien niemand diese Möglichkeiten zu erkennen. Für Elisabeth, ihre Stiefmutter, war das Haus eine einzige Last, und Helenas Schwestern beschwerten sich ständig, weil es hie und da hereinregnete und selbst ein Kaminfeuer im Winter nie ganz die Kälte zu verdrängen vermochte. Zudem hatten sie weder elektrisches Licht noch fließendes Wasser, außer in der Küche, und der Abort befand sich hinter dem Haus. Einer der Flügel des Hauses war so marode, dass er nicht mehr benutzt werden konnte, im anderen war der schlichte Speisesaal des Gasthauses untergebracht. Aber wenn man alles neu herrichten würde …

Helena packte den Korb fester und machte sich auf den Weg in die Küchenräume im Souterrain. Als sie den langen, in einem schwarz-weißen Schachbrettmuster gefliesten Gang entlangging, sah sie vor ihrem inneren Auge bereits nobel gekleidete Gäste aus aller Welt durch die geschmackvoll eingerichteten Räume flanieren.

»Stellen Sie die Äpfel auf den Tisch«, sagte Käthe, als Helena in die weitläufige Küche kam, die einst ein großes Haus versorgt hatte und deshalb gut ausgestattet war. Die hochgewachsene Köchin war vom ersten Tag an Teil des Gasthof-Personals gewesen, inzwischen war sie die Einzige, die noch ihre Stellung innehatte. Den Kellner, die Spülhilfe, das Zimmermädchen – sie alle hatte ihre Stiefmutter in den letzten Jahren entlassen, weil sie sie nicht mehr bezahlen konnte.

Helena tat wie ihr geheißen und wuchtete den Korb auf den großen Tisch aus massivem Holz. Käthe wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab und machte sich sofort daran, den Inhalt zu begutachten. Trotz ihrer rauen Art hatte sie das Herz auf dem rechten Fleck. Vor allem aber konnte sie unsagbar gut kochen und backen, und schon seit Helena ein Kind war, versuchten sie sich zusammen an fantasievollen Kuchen und Torten.

Käthe holte ein weißes Tuch aus Leinen. Gemeinsam breiteten sie die Äpfel darauf aus und begannen, die wurmstichigen und faulen Stellen zu entfernen.

Sie hatten sich durch etwa die Hälfte der Früchte gearbeitet, als die Tür aufging und Katharina hereinkam, Helenas jüngste Schwester.

»Bekomme ich einen Kaffee, Käthe?«, fragte sie.

Käthe nickte und legte ihr Messer hin. Während die Köchin zum Herd ging, sah Katharina Helena über die Schulter. »Du warst im Garten! Kocht ihr Apfelmus ein?«

»Wir machen Apfelkuchen«, erwiderte Helena. »Und wenn etwas übrig bleibt, auch Apfelmus.«

»Apfelkuchen?« Katharinas Stimme nahm einen schwärmerischen Klang an. »Das gab es schon lange nicht mehr!«

»Ja, ein Luxus in diesen Tagen. Es war schwer genug, alles zu organisieren.« Helena nahm sich den nächsten Apfel. »Aber die Hühner hatten so viele Eier gelegt, dass ich welche gegen Zucker und Mehl eintauschen konnte. Und etwas Butter.« Mit einem schabenden Geräusch glitt die Klinge durch das Fruchtfleisch.

»Mhm. Wann kann man denn ein Stück vom Kuchen versuchen?«, fragte Katharina.

Käthe füllte einen blau bemalten Becher mit heißem Wasser und rührte Getreidekaffee hinein, den sie in einer hellen Porzellandose aufbewahrte. »Wir servieren ihn heute Abend als Nachtisch«, sagte sie und drückte Katharina den Kaffeebecher in die Hand.

»Danke, Käthe!« Katharina blies vorsichtig in die dampfende Flüssigkeit, bevor sie daran nippte.

Der würzige Duft schmeichelte Helenas Nase. Als habe Käthe es geahnt, machte sie eine weitere Tasse fertig und stellte sie vor Helena hin.

»Sie sind die Beste!« Helena lächelte Käthe an, die mit den Vorbereitungen für den Apfelkuchen fortfuhr.

Katharina hatte sich derweil auf die schmale Bank gesetzt, die unter einem der Fenster an der Wand stand. Helena fand, dass sie abgekämpft aussah. Seit Katharina im Meersburger Spital arbeitete, war sie ständig im Einsatz, tagsüber und auch in der Nacht. Häufig kam sie nur für ein paar Stunden nach Hause.

»Was gibt es denn zum Abendessen?«, fragte Katharina in diesem Moment.

»Eier und Kartoffeln«, antwortete Käthe. »Und Kotelett von Steckrüben.«

Katharina verzog das Gesicht, und Helena teilte ihre Abneigung. Steckrüben gab es seit dem letzten Winter viel zu oft, und auch wenn Käthe das knollige Gemüse recht schmackhaft zubereitete, wünschten sich alle endlich wieder einmal ein richtiges Stück Fleisch.

Die Äpfel waren fertig geschnitten. Helena gab etwas geschmolzene Butter in eine Backschüssel aus weißer Keramik und ließ Zucker dazu rieseln. Während sie beides mit einem Schneebesen schaumig rührte, verquirlte Käthe vier Eier und schüttete sie hinein. Helena schlug alles kräftig durch, bis eine feine Creme entstand, und als sie sah, dass Käthe die Waage einstellte, um Mehl abzuwiegen, tauchte sie rasch einen Finger in die Mischung.

»Ach, Fräulein Helena, das sollten Sie doch nicht tun!«, rügte Käthe prompt.

»Ohne Naschen macht das Backen nur halb so viel Spaß«, rechtfertigte sich Helena lächelnd.

Käthe schnaubte, schmunzelte zugleich aber wissend, denn Helena kostete seit ihrer Kindheit jeden Kuchenteig.

Feiner weißer Staub legte sich auf die hellgelbe Masse in Helenas Schüssel, als Käthe das abgewogene und mit etwas Natron gemischte Mehl darübersiebte. Mit geübten Bewegungen verarbeitete Helena die Zutaten zu einem glatten, zähflüssigen Teig.

Käthe hatte bereits die Kuchenform vorbereitet und knackte nun einige Walnüsse. Helena gab den Teig in die Form, ritzte die Apfelviertel ein und setzte sie vorsichtig darauf.

Käthe nickte anerkennend. »Sehr schön!«

»Eine süße Abwechslung in diesen Zeiten«, erwiderte Helena und wusch sich die Hände.

Während Käthe die Walnüsse über die Äpfel streute und den Kuchen ins Rohr schob, nahm Helena ihren Becher und setzte sich zu ihrer Schwester auf die Bank. »Musst du noch einmal ins Spital?«

»Nein«, antwortete Katharina. »Aber morgen habe ich in aller Frühe wieder Dienst.«

»So kannst du nicht weitermachen, Katharina. Du wirst irgendwann zusammenbrechen.«

»Was soll ich denn tun? Wir sind überbelegt. Eigentlich bräuchten wir dringend mehr Zimmer. Und auch mehr Personal.«

Helena drang nicht weiter in sie. Seit sie denken konnte, half ihre Schwester Kranken und Verletzten. Als Kind hatte sich Katharinas Wirkungsbereich auf Hunde, Katzen und anderes Getier erstreckt, später um die Familienmitglieder erweitert. An ihrem sechzehnten Geburtstag im April hatte sie sich schließlich als Hilfsschwester im Spital gemeldet. Das bisschen Lohn, das sie für die Schinderei dort bekam, musste sie zu Hause abgeben.

Aber so war Katharina. Die Medizin war ihre Leidenschaft, dafür ging sie an ihre Grenzen. Ganz im Gegensatz zu Lilly, der mittleren der Schwestern, die sich Aufgaben gern entzog. Mit siebzehn Jahren könnte man von ihr eine gewisse Reife erwarten, aber ihre Welt bestand aus Tanz, Büchern und allem, was mit Schönheit zu tun hatte.

Helena schloss einen Moment die Augen und trank von ihrem warmen Getreidekaffee. »Es werden nicht weniger Verletzte werden«, sagte sie dann zu Katharina. »Mich wundert, dass sie überhaupt noch genügend Soldaten an der Front haben.«

»Mich wundert vor allem, dass die Versehrten sich wieder ins Feld schicken lassen, wenn sie einigermaßen einsatzfähig sind«, entgegnete Katharina. »Man sieht die Angst in den Gesichtern, wenn sie sich von uns verabschieden.«

»Sie haben keine Wahl. Auf Desertieren steht die Todesstrafe.«

»Ich würde mich verstecken. Da bekäme mich keiner hin.« Katharina seufzte. »Weißt du, ich frage mich jeden Tag, wozu dieser Krieg gut sein soll. Die Männer werden abgeschlachtet, und zu Hause sterben ihre Kinder. Das ist doch grausam und sinnlos!«

Helena nickte und sah ihre Schwester von der Seite an. Katharinas fein geschnittenes Gesicht war blass, ihre grünen Augen mit dem feinen Bernsteinring um die Iris blickten müde. Einige hellblonde Strähnen hatten sich aus ihrem geflochtenen Knoten gelöst und stahlen sich unter der weißen Schwesternhaube hervor. Unwillkürlich strich sich Helena eine ihrer schweren, dunklen Locken aus dem Gesicht. »Wir können es nicht ändern.«

»Nur bet’n«, rief eine wohltönende, tiefe Stimme.

»Pater Fidelis!«, rief Helena und stand auf, um den korpulenten Zisterzienser-Mönch in seinem weiß-schwarzen Habit zu begrüßen. »Ihr seid pünktlich. Es dauert nicht mehr lange bis zum Abendessen.«

»Aufs Abendessen im Lindenhof freu ich mich jed’n Tag!« Obwohl er ursprünglich aus München stammte, gehörte Pater Fidelis dem Kloster Mehrerau bei Bregenz an und hatte sich auf Geheiß seines Ordens nun für längere Zeit im Lindenhof eingemietet, um die nahe gelegene Wallfahrtskirche Birnau genauer in Augenschein zu nehmen.

Helena sah, wie ein kurzes Lächeln über das Gesicht der Köchin glitt. »Zum Nachtisch gibt es heute frischen Apfelkuchen!«, erklärte Käthe, und ein wenig Stolz schwang in ihrer Stimme mit.

»Dann lass ich die Hauptspeis ausfallen!« Pater Fidelis schnupperte. »Des riecht schon guat!« Derzeit war er der einzige Gast im Lindenhof und mit seiner hilfsbereiten und fröhlichen Art schon vom ersten Tag an in die Familie aufgenommen worden.

»Wie war Euer Besuch in der Basilika, Pater Fidelis?«, fragte Helena.

»Omne initium difficile est«, rezitierte er nun. »Und ein Anfang is noch net mal g’macht. Bis dort’n wieder dem Höchsten g’huldigt wird – des dauert!« Das säkularisierte und schon lange nicht mehr als Gotteshaus genutzte Gebäude sollte in die Hände der katholischen Kirche zurückgeholt werden, und Pater Fidelis war auserkoren, seinen Erhaltungszustand zu dokumentieren.

»Ist es denn so schlimm?«, wollte Helena wissen.

»Furchtbar ist es! Man hat dort’n den Heiligen Raum als Ziegenstall hergenommen.« Er schüttelte den Kopf. »Auch wenn die Ziegen gewiss im Garten des Herrn weiden dürfen, glaub ich net, dass die Viecherl so recht zu würdigen wussten, dass sie in einer Kirche fressen und ihr G’schäft verrichten durften.«

»Wer weiß? Vielleicht haben sie deshalb eine ganz besonders gute Milch gegeben?«

Pater Fidelis lachte. Laut, tief und freundlich klang es durch den Raum. »Der war guat, Fräulein Helena!« Er hustete. »Na, des wird scho. Hauptsache, des Gnadenbild wird bald zurückgebracht von Salem und die Muttergottes endlich wieder an den Platz gestellt, wo’s hingehört.«

»Ich würde es Euch wünschen, Pater Fidelis«, erwiderte Helena. »Darf ich Euch einen Getreidekaffee anbieten? Es gibt ja leider keinen echten …«

»Ich mag des Gebräu schon, was ihr da habt«, erwiderte Pater Fidelis, dann hielt er inne. »Eh … warten S’.« Er zog einen aufgerissenen, zerknitterten Briefumschlag aus seiner Kutte. »Des ist von der Frau Elisabeth. Sie hat’s mir aufm Flur mitgeb’n.«

Verwundert nahm Helena den Brief entgegen. Als sie las, wer der Absender war, begann ihre Hand zu zittern. Zu lange hatten sie nichts von ihm gehört.

»Was ist denn, Helena? Von wem ist er?«

»Von Vater«, antwortete Helena tonlos.

»Was schreibt er denn?«, drängte Katharina.

Helena zog den Briefbogen aus dem Umschlag, entfaltete ihn und las die wenigen Zeilen. »Gütiger Gott …« Sie schlug die Hand vor den Mund.

Käthe hob den Kopf, Pater Fidelis sah sie aufmerksam an. Katharina stand auf und trat neben sie. »Bitte, Helena, sag!«

»Er lebt.« Sie lächelte und schloss einen Moment lang die Augen. »Und er kommt nach Hause.«

Katharina stieß einen jubelnden Laut aus.

»Dem Herrn sei’s gedankt!«, rief Pater Fidelis und machte das Kreuzzeichen.

»Aber … er … ist verwundet.« Helena hatte weitergelesen. »Er schreibt, dass die Verletzung schwer ist. Eine Granate.« Sie griff nach der Hand ihrer Schwester. »Aber … wir werden ihn einfach wieder gesund pflegen, nicht wahr, Katharina? Das Wichtigste ist doch, dass wir ihn endlich wieder daheim haben!«

2. KAPITEL

Petrograd, 20. November 1917

Nachts kamen die Schatten. Bedrohlich, unausweichlich. Sie drängten sich in seine Träume, nahmen ihm die Luft zum Atmen und jagten ihn aus dem Bett – immer um dieselbe Stunde.

Schweißgebadet fand er sich am Fenster der fremden Datscha wieder, in der er in der Hoffnung untergekrochen war, dass ihn hier niemand aufstöberte. Er riss einen Flügel auf und atmete hinaus in die bitterkalte Winternacht. In der Ferne leuchteten die Lichter der Stadt.

Obwohl er mehrere Kleiderschichten übereinander trug, begann er rasch zu frösteln. Der russische Winter war unerbittlich.

Eigentlich hatte er diese Jahreszeit immer gemocht, wenn der Schnee sich meterhoch türmte und die Flüsse und Seen so fest zufroren, dass man darauf Schlittschuh laufen konnte. Doch die Tage, da er nach einer herrlichen Schlittenpartie mit Lidia und den Kindern am Kaminfeuer gesessen und eine Geschichte von Väterchen Frost erzählt hatte, schienen nicht nur Ewigkeiten fort zu sein, sondern aus einem anderen Leben zu stammen.

Dabei war noch nicht einmal ein Jahr vergangen, seit er mit den Buben das letzte Mal ein Schneehaus gebaut und ein Lagerfeuer darin entfacht hatte. Noch immer vermeinte er die Stimmen und das Lachen der Kleinen zu hören, zu fühlen, wie sich ihre Ärmchen um seinen Hals schlangen – mit geröteten Wangen und stolz auf das, was sie gemeinsam geschaffen hatten.

Nachts begegnete er Lidia in seinen Träumen. Sah sie mit den Buben spielen und die Kleine wiegen, fing ihr Lächeln auf, das Wärme und Licht brachte – und das jedes Mal in Blut, verzweifelten Schreien und Dunkelheit erstarb.

Sie waren tot.

Er stützte sich mit dem Unterarm an dem rauen hölzernen Fensterrahmen ab, lehnte seine Stirn dagegen und schloss die Augen. Unerträgliche Trauer flutete seine Seele, gepaart mit dem nagenden Schuldgefühl, die Seinen nicht beschützt haben zu können.

Wer hatte ihnen das angetan?

Einzig der unermessliche Drang, Antworten zu finden, ließ ihn jeden Morgen aufstehen. Er brauchte Klarheit, wollte die Schuldigen finden, ihnen ihr Dasein so unerträglich machen, wie ihm das seine war.

Als die Kälte zu tief in seine Knochen kroch, schloss er das Fenster, nahm eine kleine irdene Schale und ging hinaus, um sie mit Schnee zu füllen. Anschließend entzündete er ein paar Kerzenstummel, hielt zunächst seine Hände über die spärlichen Flammen und dann die Schale. Nachdem das weiße Häufchen darin zu lauwarmem Wasser geworden war, stellte er das Gefäß auf einer hohen Kommode ab. In langsamen Bewegungen tauchte er eine Hand hinein und benetzte sein Gesicht, tat es wieder und wieder, bis er das Gefühl hatte, den Dreck ein wenig abgewaschen zu haben, der sich darauf festgesetzt hatte.

Dann sah er auf und blickte in einen kleinen Spiegel, der über der Kommode angebracht war.

Eine rosa Narbe zog sich von seinem rechten Ohr bis zum Mundwinkel, eine zweite quer über die Stirn. Die Hiebe hätten ihn töten sollen wie Lidia und die Kinder – doch er hatte überlebt. Mit dem Finger fuhr er vorsichtig die unregelmäßigen, empfindlichen Erhebungen nach, dann ließ er die Hand sinken und wandte sich ab. Er erkannte sich nicht in dem Mann im Spiegel, dessen dunkles Haar lockig in die Stirn hing, dessen Bart an den eines Popen erinnerte und dessen Augen leblos in einem Gesicht standen, das durch die Hiebe eines Bajonetts grausam entstellt worden war. Der so viel älter wirkte als die dreißig Jahre, die er zählte.

Er nahm seine Pelzmütze und zog sie auf, dann stopfte er die wenigen Habseligkeiten, die er noch besaß, in seinen Rucksack. Noch bevor der Morgen graute, hatte er den Rest des Wassers getrunken, die Kerzen gelöscht und sämtliche Spuren seiner Anwesenheit beseitigt. Schließlich zog er seinen Mantel an und machte sich auf in die mondhelle Nacht.

3. KAPITEL

Meersburg, in jenen Novembertagen

Elisabeth Lindner breitete eine weiße Tischdecke über der schweren Platte aus Eichenholz aus und strich sie glatt. Dann verteilte sie Teller und Besteck, stellte Krüge mit Wasser und einen Korb mit Brot dazu. Im großen Speisesaal des Gasthauses wirkte der einzige gedeckte Tisch verwaist. Außer zwei alten Männern, die am Tresen beim Bier saßen und sich unterhielten, waren heute Abend keine Gäste da. Gleich würde sich der Raum wenigstens ein wenig beleben, wenn sich alle um den langen Tisch versammelten.

Während sie äußerlich ruhig ihre Arbeit tat, kreisten ihre Gedanken um Gustavs Brief. Ihr Mann kam heim. Bald sogar. Für viele Ehefrauen war dies ein Grund zur Freude – nicht aber für sie. Nachdem schon seit vielen Monaten kein Lebenszeichen mehr von ihm eingetroffen war, hatte sie insgeheim gehofft, dass er gar nicht mehr zurückkehren würde. Das klang gewiss hartherzig, doch wie sollte sie sich einen Mann nach Hause wünschen, für den sie noch nie tiefe Gefühle gehegt hatte? Die Heirat mit ihm war eine Gelegenheit gewesen, ihr von Armut und Trunksucht geprägtes Elternhaus hinter sich zu lassen. Gustav wiederum hatte eine Mutter für seine kleine Tochter gesucht, und so hatten sie beide profitiert. Helena, das musste Elisabeth zugeben, war ein anständiges Kind gewesen, und Elisabeth hatte sie versorgt, genauso wie ihre eigenen Töchter, die kurze Zeit später geboren worden waren. Gustav dagegen war ihr mehr und mehr zur Last geworden. Elisabeth hatte bei ihrer Heirat auf ein Leben an der Seite eines erfolgreichen Gastwirts gehofft. Diese Hoffnung war im Laufe der Jahre ebenso gestorben wie ihr Respekt für Gustav, der es nicht geschafft hatte, das Gasthaus zur Blüte zu bringen. Hinzu kam die ungewöhnlich enge Bindung, die er zu Helena hatte. Seine älteste Tochter schien die Einzige zu sein, der er irgendetwas zutraute. Bei seinem letzten Fronturlaub hatte er dann überraschend verkündet, dass Helena einmal den Lindenhof übernehmen würde. Beim Gedanken daran verkrampfte sich jedes Mal Elisabeths Magen. Er hatte sie einfach übergangen und damit um ihr Lebenswerk betrogen. Helena würde sie bestimmt nicht des Hauses verweisen, aber von ihrer Stieftochter abhängig zu sein, das konnte Elisabeth sich nicht vorstellen. Damals war ihr klar geworden, dass ihr nichts anderes übrig blieb, als ihr eigenes Spiel zu spielen, wenn sie ihre Interessen wahren wollte.

Sie hatte lange nachgedacht. Fast ein ganzes Jahr. Hatte heimlich Gelder abgezweigt, um sich finanziell abzusichern. Doch der Kampf ums wirtschaftliche Überleben war inzwischen so hart geworden, dass es in ihren Augen nur noch eine Möglichkeit gab: Sie musste den Lindenhof verkaufen – und zwar bevor Helena darüber mitbestimmen konnte. Seit Kurzem hatte sie endlich einen möglichen Käufer, und er gefiel ihr gleich in mehrerlei Hinsicht gut …

Elisabeth verteilte ein paar Kerzen im Raum und zündete sie an. Ihr Flackern warf unruhige Schatten an die leeren, rissigen Wände.

Nun war er also auf dem Heimweg, der Gustav, und auf einmal drängte die Zeit. Wollte sie nicht alles verlieren, musste sie die Dinge beschleunigen.

Helena fiel Elisabeths geistige Abwesenheit während des Abendessens auf, aber sie dachte sich weiter nichts dabei. Eigentlich war es angenehm, wenn ihre Stiefmutter nicht ständig mit Unmutsäußerungen und Tadel die Stimmung verdarb. Vielleicht war es ja auch die Anwesenheit von Pater Fidelis, die sie zurückhaltend bleiben ließ.

Der unterhielt derweil alle mit Anekdoten aus seiner Kindheit, und Helena wunderte sich, wie ein so frecher Rotzbengel sich für ein Leben im Kloster hatte entscheiden können.

Pater Fidelis schien ihr diese Frage an der Nasenspitze anzusehen und antwortete unaufgefordert: »Des Bier, Fräulein Helena, des Bier! Wenn i des hab, brauch i nix anders mehr! Und im Kloster gibt’s halt des beste Bier!« Er hielt kurz inne. »Aber einen Wein – den würd ich mir auch g’fallen lassen!«

Als alle Teller und Schüsseln geleert waren, trug Käthe zur Freude aller den Apfelkuchen auf. Er schmeckte fein und fruchtig, und Helenas Gedanken wanderten zu einer Idee, die schon seit Kindertagen in ihrem Kopf herumspukte: eine außergewöhnliche Torte zu kreieren, passend zum Meersburger Schloss, königlich und festlich. Sie sah sie schon vor sich, doch angesichts des Mangels an Zutaten kam sie damit nicht recht weiter. Außerdem hatte sie sich darin verstiegen, dass diese unbedingt mit Erdbeeren gefüllt sein sollte, und die gab es im Winter nun einmal nicht. Obwohl – sie hatten noch Erdbeermarmelade vom Sommer, vielleicht war das eine Möglichkeit?

Kaum war die letzte Schüssel geleert, hob Elisabeth die Tafel auf und verabschiedete sich. Helena wunderte sich. Hatte ihre Stiefmutter noch etwas vor?

Sie fragte Käthe, während sie mit ihr zusammen das Geschirr abwusch und aufräumte.

»Ich weiß es nicht«, antwortete Käthe. »Aber es wäre nicht das erste Mal, dass sie nachts noch aus dem Haus geht.«

»Sie macht das öfter?« Helena war überrascht.

Käthe nickte. »Es ist mir schon ein paar Mal aufgefallen. Ich hab mir bisher nicht viel dabei gedacht. Aber inzwischen …«

»Warum haben Sie mir das nicht gesagt?«

»Ach, Fräulein Helena. Das geht mich ja nichts an.«

Helena stellte die letzten sauberen Teller ins Regal. »Wenn sie es wieder tut, Käthe, geben Sie mir bitte Bescheid.«

»Wenn ich es bemerke«, antwortete Käthe ausweichend.

»Bitte, Käthe …«

Käthe nickte müde. Sie hatte einen langen Tag hinter sich.

Helena hängte das Abtrockentuch auf und wünschte ihr eine gute Nacht.

Auf dem Weg in ihr Zimmer dachte sie darüber nach, weshalb es ihre Stiefmutter so spät noch hinaustrieb. Sie konnte es sich kaum vorstellen, aber – hatte Elisabeth am Ende einen Liebhaber?

4. KAPITEL

Meersburg, Ende November 1917

Ungestüm peitschte der Sturm über den wolkenverhangenen Bodensee und wiegelte das graue Wasser zu unruhigen Wellen auf, deren Kraft sich mit hartem Schlag an der Hafenmauer brach. Die aufspritzende Gischt benetzte Helenas Gesicht, nässte ihr Haar, durchfeuchtete ihre Kleidung und verstärkte die Kälte dieses Novembertags, der die Sonne wohl nicht zu sehen bekommen würde. Ohnehin drangen deren Strahlen nur selten durch den winterlichen Dunst, der sich während der Wintermonate wie eine Glocke über den See und die Orte an seinem Ufer legte, um mitunter tagelang nicht zu weichen.

Fröstelnd zog Helena das wollene Tuch enger, das sie um die Schultern gelegt hatte, und richtete ihren Blick über den Hafen hinweg auf das trübe Nichts, das die vertraute Silhouette des gegenüberliegenden Ufers verschluckt hatte.

»Ob sie werden anlegen können?« Katharina trat neben sie. Der Wind zerrte an den Zipfeln des dunklen Umhangs, den sie über ihrer hellen Rot-Kreuz-Schwesterntracht trug.

»Ich denke schon«, antwortete Helena, hielt ihren Blick aber auf den See gerichtet. »Der Sturm hat nachgelassen.«

»Er ist noch immer stark genug, um ein Boot kentern zu …« Katharinas Worte gingen im lang gezogenen Tuten eines Schiffshorns unter.

Kurz darauf zeichnete sich ein stattlicher dunkler Umriss in der diesigen Wolkenwand ab. Die Kaiser Wilhelm war angekommen.

Helena und Katharina wichen auf die Promenade zurück, als der Kapitän mehrere Versuche unternahm, sein Schiff trotz des widrigen Wetters an die Anlegestelle zu manövrieren.

»Ich hab es ja gesagt«, sagte Katharina. »Das wird schwierig heute.«

»Er schafft es.« Helena beobachtete den Schiffsrumpf, der mehrmals gegen den Steg tanzte, und auf einmal stand ihr das Bild heller Sommertage vor Augen, an denen unter den fröhlichen Klängen eines Blasorchesters elegant gekleidete Ausflügler von Bord des Salondampfers gingen – die Herren mit Strohhut, die Damen mit Sonnenschirm. Fast glaubte sie, ihr unbeschwertes Scherzen und Lachen zu hören, doch die harten Kommandos der Männer um sie herum holten sie unbarmherzig in die Wirklichkeit zurück. Der Schiffsanbinder hatte die ihm zugeworfene Leine zu fassen bekommen und vertäute den Dampfer fest am Poller.

Als die ersten Männer an Land gingen, legte sich eine schwere Beklommenheit auf Helenas Brust. Mehr als drei Jahre waren vergangen, seit ihr Vater die feldgraue Uniform angezogen, den Tornister mit dem Kochgeschirr auf den Rücken geschnallt und das Gewehr geschultert hatte, um für den Kaiser ins Feld zu ziehen. Auf die Blume im Lauf hatte er verzichtet.

»Das wird kein Spaziergang«, hatte Gustav Lindner zu Helena gesagt. »Das wird ein Gewaltmarsch.«

Inzwischen wusste Helena, dass er recht gehabt hatte. Jeder der ausgemergelten, teilweise furchtbar verstümmelten Körper, die sich in diesem Augenblick wenige Meter von ihnen entfernt über die Planken schleppten, erzählte vom Grauen der Schlachtfelder.

»Gut, dass Lilly nicht mitgekommen ist«, sagte Katharina. »Sie hätte diesen Anblick womöglich schlecht verkraftet.«

»Es gibt Situationen, in denen man die eigenen Befindlichkeiten hintanstellen muss«, erwiderte Helena. »Keiner dieser Männer hat sich sein Schicksal ausgesucht.«

Am Hafen herrschte Hochbetrieb. Verletzte wurden von Rot-Kreuz-Schwestern empfangen und anschließend auf Fuhrwerke verteilt, die sie ins Spital in der Oberstadt bringen würden. Wer noch gut genug zu Fuß war, musste den steilen Weg aus eigener Kraft bewältigen. Wenigstens regnete es jetzt nicht mehr.

Helena vermochte nicht, ihren Vater in dem Pulk an Männern auszumachen, der die Anlegestelle flutete. Es waren unzählige, und die Helfer versperrten die Sicht zusätzlich.

Schließlich spürte sie ein Zupfen am Ärmel. »Ich glaube, dort ist er!«, sagte Katharina und deutete in Richtung des Gredhauses.

Helenas Augen glitten über die Menschenmenge, bis sie den einzelnen Mann sah, der erschöpft an der Mauer des einstigen Kornhauses mit den markanten Treppengiebeln lehnte. Ein Rucksack stand zu seinen Füßen, mit gesenktem Kopf stützte er sich auf einer Krücke ab.

»Du hast recht. Das könnte er sein.« Helena machte sich sofort auf den Weg zu ihm, drängelte sich durch die Hektik des Hafens, wich einem Wagen aus und war ein bisschen außer Atem, als sie wenige Minuten später das Gredhaus erreichte. »Papa?«

Der Mann hob den Kopf. Das Haar unter seiner Kappe war schlohweiß geworden, seine grünen Augen wirkten abwesend.

»Du bist wieder zu Hause!« Sie hätte ihn gerne in den Arm genommen, war sich aber nicht sicher, wie er reagieren würde. Fast hatte sie das Gefühl, einem Fremden gegenüberzustehen.

»Helena«, sagte er so leise, dass sie es kaum hören konnte.

»Ja, Papa …«

Eine Weile standen sie voreinander, suchten vorsichtig den Blick des anderen, brauchten Zeit, um das Wiedersehen zu realisieren.

»Lass uns erst einmal nach Hause gehen«, schlug Helena schließlich vor. »Ich helfe dir mit dem Gepäck.«

Sie bückte sich und wollte gerade nach seinem Rucksack greifen, als ihr Blick an seinem Holzbein hängen blieb.

»Ist es … das?« Sie sah zu ihm auf.

»Ja.« Er wich ihrem Blick aus. »Die Wunde wurde brandig. Da haben sie es abgenommen.«

»Papa …«

»Ich bin ein Krüppel, Helena. Ohne dieses Ding«, er deutete mit dem Kinn auf die Krücke, »kann ich nicht mehr gehen.«

Helena rang um eine Antwort. »Du wirst wieder …«

»Nichts wird wieder«, unterbrach er sie barsch. »Wenn Gott gnädig gewesen wäre, hätte er mich im Feld verrecken lassen.«

Seine Hoffnungslosigkeit erschütterte Helena. Aber sie verstand.

Er, der vor Kraft gestrotzt hatte, an Körper und an Geist, war nur noch ein Schatten seiner selbst. Nicht nur sein Körper war gezeichnet, sondern auch seine Seele.

Wut stieg in ihr auf. Übermächtige, unbändige Wut. Auf diejenigen, die einen Krieg befahlen, der zu nichts taugte, als aus gesunden Männern Invaliden zu machen. Der unendlich viel Leid ausschüttete über einem Vaterland, das vorgeblich geschützt und bewahrt werden sollte. Ein Krieg, von dem niemand wusste, wann er endlich zu Ende gehen würde.

»Du bist kein Krüppel, Papa«, sagte sie energisch und schulterte den Rucksack. »Das bist du nur dann, wenn du dich dazu machen lässt.«

»Ach, Kind.« Er lachte bitter. Dann richtete er sich mühsam auf und verlagerte das Gewicht. »Lass uns gehen.«

Helena nickte und sah sich nach Katharina um, die sie noch in der Nähe wähnte. Doch von ihrer Schwester war nichts mehr zu sehen.

»Katharina hat sich eines blinden Soldaten angenommen«, erklärte ihr Vater, der ihre Geste offenbar bemerkt hatte. »Ich habe gesehen, wie sie ihm geholfen hat, auf eines der Fuhrwerke zu steigen.«

»Ah! Na gut.« Helena verstand zwar nicht, warum Katharina den Vater nicht wenigstens begrüßt hatte, wollte aber keine Missstimmung aufkommen lassen. »Sie arbeitet im Spital als Hilfsschwester«, sagte sie deshalb entschuldigend.

»Ist schon recht. Da hat sie heute alle Hände voll zu tun.« Er tat einige Schritte. »Komm, Helena.«

Schweigend machten sie sich auf den Heimweg. Das dumpfe Klopfen des Holzbeins auf dem Pflaster tat ihr in der Seele weh. Bei aller Freude, die sie empfand, wurde ihr schmerzlich bewusst, dass das Leben nie wieder so sein würde wie vor dem großen Krieg.

Kirchturmhoch türmten sich die Wellen vor Meersburg, drohten, den kleinen Ort zu verschlingen. Schiffe voller Soldaten kämpften gegen einen See, dessen unbändige Wut keine Gnade kannte. Helena wollte weglaufen, kam aber keinen Meter voran. Es war, als hindere eine unsichtbare Kraft sie daran, ihre Beine zu bewegen, während die Situation immer bedrohlicher wurde. In das Tosen der Wassermassen mischten sich Stimmen, die einer Frau, kurz darauf auch die eines Mannes …

Die Szenerie verschwamm und machte einigen zusammenhanglosen Bildern Platz. Nur die Stimmen waren noch da, mal lauter, mal kaum zu vernehmen, und sie blieben auch dann, als Helena den Fängen ihres Albtraums entkam. Es hörte sich an, als ob jemand stritt.

Helena setzte sich im Bett auf und horchte in die Dunkelheit, doch mit einem Mal war es still. Vermutlich hatte sie sich alles nur eingebildet, eine Nachwirkung der im Traum ausgestandenen Angst. Auch ihr Herz schlug noch viel zu schnell.

Als es weiterhin ruhig blieb und auch ihr Puls wieder zum gewohnten Rhythmus zurückgefunden hatte, legte sie sich zurück in ihr Kissen. Doch der Schlaf wollte nicht wiederkommen. Eine Weile lang lauschte sie den regelmäßigen Atemzügen ihrer Schwestern, deren Betten an der gegenüberliegenden Wand des Mansardenzimmers standen, das sie miteinander teilten – dann schob sie die Bettdecke zurück, nahm ein Wolltuch, zündete die Kerze in einer kleinen Laterne an und verließ damit das Zimmer. Ein Glas angewärmte Milch würde ihr das Einschlafen leichter machen.

Über die breite Treppe aus Marmor ging Helena ins Erdgeschoss und weiter zu den Küchenräumen. Käthe schlief in einer Kammer im Souterrain, damit sie ihr Refugium im Blick behielt. Deshalb bemühte sich Helena, möglichst leise zu sein, als sie die Laterne abstellte und einen Topf auf den holzbefeuerten gusseisernen Herd setzte, der noch etwas Restwärme ausstrahlte. Anschließend gab sie aus einer hellblauen Emaillekanne Milch hinein, die sie mit Wasser streckte.

Während sie darauf wartete, dass sich die Flüssigkeit erwärmte, nahm sie einen Becher vom Holzregal an der Wand – und hielt inne, als sie wieder Stimmen vernahm. Diese kamen aus dem Speisesaal. Hatte sie vorhin doch nicht geträumt?

Sie stellte den Becher zurück, zog den Topf vom Herd und ging auf Zehenspitzen zur Tür, die in den Speisesaal führte. Diese war nur angelehnt.

»Du wagst es, mir Vorwürfe zu machen?«, keifte Elisabeth in diesem Augenblick.

Die Eltern stritten.

»Du weckst das ganze Haus auf, wenn du weiterhin so schreist.« Die Stimme ihres Vaters klang müde.

Er tat Helena leid, genauso wie sie Elisabeths Art wütend machte. Schon als Kind hatte Helena sich geweigert, sie Mutter zu nennen, denn anstelle mütterlicher Wärme strahlte sie eine abweisende Strenge aus. Das lag nicht nur an ihrem hageren, scharf geschnittenen Gesicht mit dem zu einem straffen Knoten zusammengenommenen, früh ergrauten Haar. Ihren blassgrünen Augen fehlte jede Herzlichkeit. Ein Lächeln konnte sie sich nur selten abringen. Nun war Elisabeth Helenas Stiefmutter, aber selbst im Umgang mit Lilly und Katharina gab es wenig Liebevolles – und die beiden waren ihre leiblichen Töchter.

»Verbiete du mir nicht das Wort!«, hob Elisabeth wieder an.

Der Vater antwortete nicht.

»Wie sollen wir das schaffen?«, fuhr sie fort, wenn auch gedämpfter. »Ich brauche einen ganzen Mann, wenn wir hier überleben wollen, verstehst du, Gustav? Keinen … ach …«

»Ich verstehe dich durchaus, Elisabeth. Dennoch werde ich den Lindenhof nicht verkaufen. Er ist mein Leben … und unsere Existenz.«

Der verzweifelte Unterton, der in seinen Worten lag, schmerzte Helena.

»Mit diesem Geld könnte man woanders neu beginnen«, erwiderte Elisabeth hartnäckig.

»Ich sage Nein. Und die Summe, die du genannt hast, ist lächerlich gering noch dazu.«

»Du vergisst, welche Zeiten wir haben!«

»Wie könnte ich je vergessen, welche Zeiten wir haben!« Nun fuhr der Vater auf.

»Du wirst sehen, was du davon hast«, fauchte Elisabeth. »Das Angebot ist gut. Ein besseres werden wir nicht bekommen! Außerdem haben wir fast kein Geld mehr. Ein oder zwei Monate reicht es noch. Dann ist Schluss.«

»Lass es mich erst einmal durchrechnen!«

»Ich habe es hundertmal durchgerechnet, ach was, tausendmal!«

»Es hat keinen Zweck zu diskutieren, Elisabeth. Ich weiß, wie wenig dir der Lindenhof bedeutet.«

»Hast du dich jemals gefragt, warum das so ist?« Elisabeths Stimme bebte. »Wir leben in einer Ruine. Und du hast es so weit kommen lassen. Wundere dich deshalb nicht über die Folgen.«

Helena hatte mit wachsendem Entsetzen zugehört. Elisabeth wollte den Lindenhof verkaufen. Ihren Lindenhof. Denn Helena wusste, dass ihr Vater sie – trotz ihrer erst einundzwanzig Jahre – als die Erbin seines Lebenswerks betrachtete. Das hatte er bereits vor allen verlautbart. Stand nun plötzlich alles auf Messers Schneide?

Wie betäubt schlich Helena zurück in ihr Zimmer. An Schlaf war in dieser Nacht nicht mehr zu denken. Ihre Gedanken suchten fieberhaft nach Wegen, die drohende Pleite des Lindenhofs abzuwenden. Als der Morgen graute, zeichnete sich eine Möglichkeit ab, noch vage und voller Fragezeichen, aber immerhin eine Idee. Allerdings würde nicht nur sie selbst ihre ganze Kraft investieren müssen – auch ihrem Umfeld würde die Umsetzung alles abverlangen.

5. KAPITEL

Moskau, 28. November 1917

Der Moskauer Nikolaibahnhof katapultierte Maxim Baranow in eine Welt zwischen den Zeiten. Das letzte Mal, da er hier gewesen war, hatte er Lidia am Arm geführt, die ihm schon lange das Versprechen abgerungen hatte, mit ihr im Bolschoi-Theater Salambo anzusehen. Er hatte ihre unbekümmerte Vorfreude auf die Ballettaufführung damals genossen, und fast war ihm, als würde ihr glockenhelles Lachen noch in der Luft schweben und ihr zartes Parfum seine Sinne locken. Doch während er den Bahnsteig entlangging, schob sich die Wirklichkeit erbarmungslos vor alle Erinnerungen. Die Alte Welt war in der Revolution untergegangen, und ihre Erben kämpften ums nackte Überleben.

Er zog seine Fellmütze tief ins Gesicht. Die Welle der Mitreisenden spülte ihn durch die prächtige Eingangshalle bis zum Platz vor dem Bahnhof. Von dort aus machte er sich zu Fuß auf den Weg in die Stadt.

Der Schnee trug eine graue Patina und knirschte unter seinen Stiefeln, während er die Straßen entlangging. Eine unterschwellige Aggressivität lag in der Luft, begleitete jeden seiner Schritte. Ihm, der sich niemals vor etwas gefürchtet hatte, saß am helllichten Tag die Angst im Nacken.

Unwillkürlich ballte Maxim die Fäuste. Was war aus Russland geworden? Wohin trieb das riesige Reich, das in den vergangenen Monaten seiner Identität beraubt und mit dem Blut so vieler Unschuldiger besudelt worden war? Maxim und viele seiner Freunde hatten wohl gesehen, dass sich im russischen Volk über Jahre und Jahrzehnte einiges angestaut hatte – und die Wut der einfachen Menschen durchaus verstanden, die immer vehementer nach längst überfälligen Reformen verlangt hatten: mehr Rechte für die unterdrückten und ausgebeuteten Bauern, bessere Bedingungen für die Arbeiter, weniger Privilegien für den Adel.

Doch dass sich alles mit einer solch vernichtenden Eruption Bahn brechen würde, war unvorstellbar gewesen.

Vielleicht wäre alles anders gekommen ohne diesen Krieg, der seit drei Jahren bitterste Not und unerträglichen Hunger über das Land brachte. Der die Menschen im letzten Februar zunächst in einen verzweifelten Streik und anschließend auf die Straßen Petrograds getrieben hatte, um ihren Forderungen nach Brot und Frieden Nachdruck zu verleihen. Vielleicht wäre eine Eskalation zu vermeiden gewesen, hätte der Zar nicht versucht, die anwachsende revolutionäre Massenbewegung gewaltsam niederzuschlagen – viele der dabei eingesetzten Soldaten waren zu den Aufständischen übergelaufen. Das Zarentum hatte dem Sturm schließlich nichts mehr entgegenzusetzen gehabt und nach dreihundert Jahren mit der Abdankung von Nikolaus II. Mitte März sein Ende gefunden.

Damals hatte Maxim noch Hoffnung gehabt, dass die gemäßigten Kräfte ihre Chance nutzen könnten, eine Demokratie in Russland zu etablieren – doch der Versuch war letzten Endes an der Schwäche der eingesetzten Provisorischen Regierung in Petrograd gescheitert. Lenin und die Bolschewiki hatten die Gunst der Stunde erkannt und genutzt: Vor drei Wochen war der Sitz der Regierung im Winterpalast gestürmt und im Anschluss an den Staatsstreich die Sozialistische Sowjetrepublik ausgerufen worden. Nun versuchten die Bolschewiki, ihre Macht zu sichern. Und das taten sie mit roher Gewalt.

Maxim packte die Riemen seines Rucksacks fester.

Schon vor einiger Zeit hatte er seinen Diener Boris nach Moskau vorausgeschickt mit dem Auftrag, verschiedene Möglichkeiten zu suchen, um dort unerkannt unterzutauchen. Dieses Gefühl, nicht allein zu sein, gab Maxim Halt. Denn Boris war an seiner Seite geblieben, als sämtliche Dienstboten das Stadtpalais der Baranows in Sankt Petersburg von einem Tag auf den anderen verlassen und sich der neuen Bewegung angeschlossen hatten. Er war es gewesen, der Maxim in der Nacht des Überfalls schwer verletzt gefunden und zum Landgut der Familie gebracht hatte, drei Reitstunden von der Stadt entfernt. Der bei ihm geblieben war und seine Wunden versorgt hatte, bis feststand, dass Maxim mit dem Leben davonkommen würde. Der dafür gesorgt hatte, dass Lidia und die Kinder dort ihre letzte Ruhe finden konnten. Und der ihm nun von Moskau aus die lang ersehnte, verschlüsselte Nachricht hatte zukommen lassen, dass er die Stadt wohlbehalten erreicht und einen Unterschlupf für sie beide gefunden hatte.

Aus einer Seitenstraße kam eine größere Gruppe Männer. Sie führten rote Flaggen mit sich und sangen die russische Version der Marseillaise »Lasst uns der Alten Welt abschwören«.

Unwillkürlich zügelte Maxim seinen Schritt, wich an die Hauswand zurück und vergrub das Kinn im Kragen seines zerschlissenen Mantels. Er vernahm ihre Parolen: »Fort mit dem Krieg! Fort mit den Blutsaugern!«, die sich in die Melodie des französischen Revolutionslieds mischten. Das hasserfüllte Brüllen kroch ihm bis ins Mark.

Als einer von ihnen ausscherte und auf ihn zukam, jagte ein Schauer über seinen Rücken.

»Komm mit uns, Genosse«, forderte der Mann ihn auf, »Es gibt eine Kundgebung!«

»Ich warte noch auf die anderen Genossen.« Maxim nuschelte absichtlich, um sich nicht über seine Sprache als Angehöriger der einstigen Adelsklasse zu verraten. »Wir kommen nach.«

»Warte nicht zu lang!« Der Mann sah ihm eindringlich in die Augen, wandte sich dann ab und schloss sich wieder dem Zug der Revolutionäre an.

Maxim atmete auf.

Unter seinem ungepflegten Äußeren vermutete niemand einen Angehörigen der burschui, der Bourgeois, die den aufgestachelten Massen so verhasst war wie alles, was kultiviert und vornehm wirkte. Inzwischen reichte ein gepflegtes Äußeres, um die Wut des Pöbels auf sich zu ziehen. Maxim wollte gern an das Gute in den Menschen glauben, ihre Motive und ihr Handeln verstehen – doch nach all dem, was er erlebt hatte und was er täglich erfuhr, war es ihm nahezu unmöglich.

Es begann zu schneien.

Die weißen Flocken trugen eine schlichte Reinheit in sich, die sie verloren, sobald sie sich mit dem schmutzigen Straßenschnee vereinten. Moskau wirkte steif und abweisend, vor allem jetzt, im Winter, und mit jedem Meter, den er weiterging, verstärkte sich die innere Kälte, die er seit Monaten in sich trug. Lange Zeit hatten ihn seine Geschäfte in der Stahlindustrie regelmäßig hergeführt, zudem die eine oder andere politische Angelegenheit. Doch schon immer war er froh gewesen, wenn ihn der Zug mit gleichmäßigem Rattern die sechshundertfünfzig Kilometer zurück ins prächtige, verspielte Sankt Petersburg geschaukelt hatte, bequem im Schlafwagen, mit allem Komfort, und voller Vorfreude auf zu Hause.

Maxim rief sich zur Ordnung. Es hatte keinen Sinn, einer Vergangenheit nachzuhängen, die es nie mehr geben würde. Aus Sankt Petersburg war schon vor Jahren Petrograd geworden. Für Maxim hatte die Stadt damit ihre Seele verloren. Inzwischen waren in ihr Antlitz tiefe Wunden geschlagen worden, so, wie in sein Gesicht. Schmerzhaft. Verstümmelnd. Wunden, die niemals ganz heilen würden.

6. KAPITEL

Meersburg, das Spital, zwei Tage später

»Schwester Katharina?«

Katharina legte vorsichtig eines der Skalpelle zum übrigen Operationsbesteck in eine der bereitstehenden Schimmelbuschtrommeln, damit sie später über heißem Wasserdampf sterilisiert werden konnten. Dann wandte sie sich zur Oberschwester um, die in der Tür stand. »Haben Sie eine andere Aufgabe für mich? Ich bin noch nicht fertig …«

»Unten ist Besuch für Sie«, erwiderte die Oberschwester.

»Besuch?« Katharina war überrascht.

»Eine junge Frau.« Die Oberschwester nahm Katharina den Sterilisationsbehälter ab. »Gehen Sie nur. Ich kümmere mich in der Zwischenzeit hierum. Aber halten Sie sich nicht zu lange auf. Wir erwarten wieder Neuzugänge.«

»Natürlich nicht.« Katharina trat an eines der Waschbecken an der Wand und wusch sich gründlich die Hände. Dann nahm sie die weiße Schürze ab, die sie über ihrer Schwesterntracht trug.

»Ich beeile mich!« Sie nickte der Oberschwester zu.

Der eindringliche Geruch nach Lysol begleitete ihren Weg vom Operationssaal über die Gänge und Treppen bis zum Eingangsbereich des Krankenhauses. Zu ihrer Verwunderung sah sie dort ihre Schwester stehen.

»Helena! Was machst du hier? Ist zu Hause etwas passiert?«

»Nein, Katharina.« Helena nahm sie kurz in den Arm. »Aber es gibt etwas, das ich unbedingt mit dir besprechen muss.«

»Und das hat nicht Zeit, bis ich nach Hause komme?«, fragte Katharina.

Helena schüttelte den Kopf.

»Dann komm.« Katharina ging ihrer Schwester voraus in ein schmales Zimmer, in dem frische Wäsche aufbewahrt wurde. »Hier sind wir ungestört. Ich habe nur wenig Zeit. Wir erwarten einen Transport.«

»Dann ist es umso wichtiger.« Helena sah sie ernst an. »Ich habe Papa und Elisabeth belauscht. Vorgestern Nacht.«

»Belauscht?«

»Durch Zufall. Ich war in der Küche und habe mir eine Milch angewärmt.« Helena legte ihren Zeigefinger auf die Unterlippe, eine typische Geste, wenn sie etwas beschäftigte. »Stell dir vor, Elisabeth möchte den Lindenhof verkaufen.«

»Wirklich? Wer kauft denn in diesen Zeiten ein altes Haus?«

»Es ist mehr als ein altes Haus.« Helena wirkte getroffen. »Es ist … Es hat eine Seele.«

Katharina schüttelte unmerklich den Kopf. »Mir war gar nicht bewusst, dass du ein so inniges Verhältnis dazu hast.« Sie legte Helena eine Hand auf die Schulter. »Aber auch ich hänge daran. An unserem Lindenhof und unserem Garten mit dem Glashaus. Es ist unsere Kindheit.«

Für einen Augenblick hingen beide still ihren Gedanken nach. »Helena«, hob Katharina schließlich wieder an und ließ ihre Hand von Helenas Schulter gleiten, »bist du deshalb eigens heraufgekommen? Um mir das zu erzählen?«

»Nicht nur. Elisabeth setzt Vater unter Druck. Angeblich haben wir kein Geld mehr. Deshalb sei ein Verkauf nicht zu umgehen. Und sie hat wohl schon einen Käufer.« Helena seufzte. »Papa wehrt sich, so gut er kann. Rechnet die Situation immer wieder durch.«

»Ohne sein Einverständnis kann sie bestimmt nicht verkaufen«, stellte Katharina fest. »Und das würde sie auch nicht. Mutter ist schwierig, aber nicht betrügerisch.«

»Aber sie ist einfach viel stärker als Papa, jedenfalls im Moment. Er braucht Ruhe, und ich habe das Gefühl, sie möchte ihn zermürben.« Helena nestelte an ihrem Wolltuch. »Deshalb habe ich nachgedacht.«

»Und? Hast du eine Lösung gefunden?«

»Zumindest habe ich eine Idee. Aber dafür brauche ich deine Unterstützung.«

»Erzähl!«

»Wenn wir Verwundete von hier, vom Spital aufnehmen würden … dann könnten wir damit vielleicht genügend verdienen, um die nächsten Monate zu überstehen.«

»Du möchtest ein Lazarett im Lindenhof einrichten?« Katharina sah ihre Schwester verblüfft an.

»Ganz genau.«

»Bist du dir im Klaren darüber, was das bedeutet?«

»Vielleicht nicht ganz – aber ich habe schon von einigen Hotels gelesen, die zu Lazarettbetrieben umfunktioniert wurden.«

»Mhm.« Katharina dachte nach. »Wir sind wirklich überbelegt«, sagte sie schließlich. »Und ständig schicken sie weitere Soldaten her. Die Zimmer hier im Spital reichen schon lange nicht mehr.«

»Dann findest du meine Idee überlegenswert?«

»Habe ich jemals eine deiner Ideen nicht überlegenswert gefunden?« Katharina lächelte. »Allerdings habe ich keine Ahnung, ob Doktor Zimmermann sich darauf einlassen wird. Es bedeutet zunächst einen unglaublich großen Aufwand. Für das Spital und für euch.«

»Das ist mir bewusst, Katharina. Ich habe schon nachgedacht, wie wir den Lindenhof am besten für die Kranken vorbereiten können.«

Katharina sah sie zweifelnd an. »Du weißt nicht, was da alles auf dich zukommt, Helena. Aber lass uns zum Doktor gehen und deinen Vorschlag unterbreiten. Mehr als ablehnen kann er nicht.«

»Darauf hatte ich gehofft!« Helena wirkte erleichtert. »Meinst du, er empfängt uns vielleicht jetzt sofort?«

»Zeit hat er ohnehin kaum. Also versuchen wir es.« Katharina hielt bereits die Türklinke in der Hand. »Allerdings müssen wir uns beeilen. Wenn nachher das Schiff ankommt, wird es hier hektisch!«

Die beiden Schwestern machten sich auf den Weg zum Arbeitszimmer des Chefarztes. Vor der Tür strich Katharina ihren Rock glatt und drückte anschließend die Hand ihrer Schwester.

»Also – du bist dir sicher?«

Als Helena nickte, hob Katharina die Hand und klopfte.

Am Abend desselben Tages

Ungeduldig hatte Elisabeth das Abendessen abgewartet und sich anschließend so rasch wie möglich zurückgezogen. Schon seit zwei Jahren bewohnte sie einen Schlafraum in einem der leer stehenden Gastzimmer. Andere hätten ihn wohl als karg bezeichnet, aber Elisabeth brauchte nicht mehr. Ein Eisenbett, ein schmaler Schrank und ein Nachtkästchen reichten ihr aus. Jeder Nippes war ihr zuwider, sie bevorzugte eine schlichte Ordnung, in der sie niemals den Überblick verlor.

Während sie ihre Kleider wechselte, sammelte Elisabeth ihre Gedanken. Seit Gustavs Ankunft hatte sie sich nicht mehr wegstehlen können, ohne dass es aufgefallen wäre. Heute Abend musste sie unbedingt los, denn Gustavs Reaktion auf ihren Vorschlag mit dem Verkauf war wenig ermutigend gewesen. Sie hatte einiges zu besprechen.

In ihrem Nachtkästchen befand sich eine Flasche mit selbst gebranntem Rübenschnaps, von dem sie einige kräftige Schlucke nahm, bevor sie ihren Wintermantel vom Haken neben der Tür nahm und sich auf den Weg machte.

Wie immer ging sie leise über die Treppe nach unten. Im Haus war alles ruhig. Katharina tat Dienst im Spital, Helena und Lilly waren auf ihrem Zimmer, und Gustav hatte sich in eine kleine Kammer im Küchentrakt zurückgezogen, die er seit seiner Heimkehr bewohnte, damit er sich mit seinem Holzbein hindernisfrei bewegen konnte.

Während sie durch die Eingangshalle lief, überkam Elisabeth plötzlich das unerklärliche Gefühl, nicht allein zu sein. Sie blieb stehen und lauschte, konnte aber nichts Ungewöhnliches feststellen. Alles war ruhig.

Als sie die Tür öffnete, strich eine der Katzen um ihre Beine. Elisabeth atmete auf und verließ das Haus.

Auf der Steigstraße begann es zu schneien, der Schnee war schwer und nass und verwandelte den mit den Hinterlassenschaften von Ochsen- und Pferdefuhrwerken verschmutzten steilen Weg in eine Rutschpartie. Elisabeth hatte Mühe voranzukommen, denn die Sohlen der schweren Halbschuhe, die sie trug, waren abgelaufen und boten ihr auf dem schlüpfrigen Untergrund kaum Halt. Sie kämpfte sich hinauf und lief weiter in Richtung Obertor.

Als sie endlich ihr Ziel erreicht hatte, blickte sie sich kurz um. Es war besser, wenn man sie hier nicht sah. Aber bei diesem Wetter war ohnehin niemand unterwegs, also stieß sie das schmale Tor zum Wirtsgarten des Ochsen auf, überquerte den Rasen und gelangte durch eine Seitentür ins Haus. »Otto?«

»Nicht so laut«, raunte eine Stimme im Dunkeln. »Du weißt, dass meine Else um diese Zeit in der Küche steht.« Er kam mit schweren Schritten näher. »Wir hatten ausgemacht, dass du nicht unangekündigt zu uns ins Haus kommst.«

»Ich habe dir etwas mitzuteilen«, erwiderte Elisabeth ungerührt. Sie kannte seine schroffe Art. Und sie wusste um seine lungenkranke Ehefrau, die sich jeden Tag in die Gasthausküche schleppte, weil er keine Köchin einstellen wollte.

»So?« Er stand jetzt unmittelbar vor ihr, ein großer, breiter Mann, wohlgenährt trotz der mageren Zeiten.

»Gustav hat das Angebot abgelehnt.«

»Hast du ihm gesagt, dass es von mir war?«

»Nein.«

Am anderen Ende des Flurs klapperte Geschirr. Jemand hustete.

Otto sah sich nervös um. »Komm mit.«

Er nahm sie am Oberarm und führte sie über eine steinerne Wendeltreppe hinunter in das Kellergewölbe. Entlang eines schmalen Ganges lagen vier schwere Holztüren. Er öffnete eine davon und drängte Elisabeth in die dahinterliegende Vorratskammer. »Erzähl mir mehr!« Er entzündete eine Laterne.