Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Tod an den Stufen ist eine Kriminalgeschichte, die in Ulm, dem absoluten Zentrum der Milchstraße, spielt. Orte und Akteure: Der Sedelhof - Raum für eine noble Einkaufsmeile, gierige Finanz-Investoren, lokale Widersacher und schwäbische Provinz-Ermittler.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 90
Veröffentlichungsjahr: 2017
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Morgengrauen
Steifer Nacken
Die Stiegen am Rubikon
Der Chef
Schweinelendchen
Das Auge im Schatten
Der Kommissar
In früheren Zeiten
Der Knetmeister
Im Rheinischen
Münchner Straße
Am Eselsberg
Überschneidungen
Von Ehrlichen und Lügnern
Mit Augenmaß
Letzte Dinge
Als Guy Lafarge erwachte, hatte er einen pelzigen Geschmack im Mund. Im Dunkeln tastete er nach dem Lichtschalter, knipste das Licht an und sah sich im Raum um. Ein Hotelzimmer im Gasthof “Zur Laugenstange” in Ulm: verschlissener Teppich, altbackene Polstermöbel, ein Flachbildschirm. Er setzte sich im Bett auf und steckte sich eine Zigarette an. Sein Blick fiel auf die halbvolle Flasche Jack Daniels auf dem Tisch. Er massierte seine Schläfen.
Gestern Abend war er angekommen. Sein Chef Ralf Maatmann hatte ihn wegen eines Bauprojekts nach Ulm geschickt. Sedelhöfe. Er hatte nicht alles verstanden, aber er hatte gemerkt, dass Maatmann gereizt war. Seine Firma baute Einkaufszentren in deutschen Innenstädten, aber zuletzt lief das Geschäft schleppend. Eine Firma aus Hannover war billiger und schneller. Das setzte Maatmann unter Druck. Die Sedelhöfe mussten kommen und zwar bald, sonst würde seine Firma in ernste Schwierigkeiten geraten.
Es gab allerdings ein Problem mit den Sedelhöfen, und um das sollte sich jetzt Lafarge kümmern: Silke Grunwald, eine 76-jährige Rentnerin, der ein Grundstück und das darauf gebaute Haus auf dem künftigen Gelände der Sedelhöfe gehörte. Doch sie wollte nicht verkaufen. „Die Hexe macht uns
das Projekt noch kaputt“, hatte Maatmann zu ihm gesagt. Ohne dieses Grundstück würde Maatmann nicht bauen können oder nur sehr abgespeckt, neue Pläne müssten her und der Gemeinderat erneut abstimmen. Das Projekt würde sich deutlich verzögern. Bis dahin wäre der Maatmann Project CE längst die Luft ausgegangen. Das hatte sein Chef zwar so nicht gesagt, aber Lafarge kannte die Zahlen.
„Lafarge!“, hatte Maatmann mit rotem Kopf zu ihm gesagt, „Sie müssen jeden Stein umdrehen, finden Sie was, damit wir die Hexe zum Verkauf bringen. Egal was! Sie fahren morgen nach Ulm!“
Lafarge drückte die Zigarette auf einem Teller auf seinem Nachtkästchen aus. Die Luft war stickig. Er versuchte nachzudenken, doch er war noch benommen vom Alkohol. Sein Kopf hämmerte.
Klar war, dass sein Job auf dem Spiel stand, denn ohne die Maatmann Project CE stünde er auf der Straße, und das musste er um jeden Preis verhindern. Kaum jemand würde ihm noch mal etwas anbieten, er war 54, hatte Schulden, weil er mit der Zockerei nicht aufhören konnte. Er musste Unterhalt für seinen Sohn Pascal zahlen. Und es gab eine
Vorstrafe wegen nicht bezahlter Rechnungen und gepfändeter Gegenstände. Nicht gerade ein Traumbewerber auf eine neue Stelle.
Er musste also etwas finden, womit er Grunwald zum Verkauf zwingen könnte. Dann würden die Sedelhöfe kommen, er könnte seine Schulden abbezahlen und endlich eine Therapie beginnen, um von der Spielsucht loszukommen. Das erste Mal an diesem Tag kam etwas wie Zuversicht in ihm auf. „Jeder hat eine Leiche im Keller“, dachte er sich. Er würde bei der Oma schon was finden.
Heute wollte er sich zunächst ihr Haus ansehen und dann schauen, was die alte Frau den Tag über so trieb. In einer Woche würde Maatmann nach Ulm kommen und mit der Stadtspitze das weitere Vorgehen besprechen. Bis dahin müsste er etwas in den Händen halten.
Sein Handy vibrierte. Es war eine SMS von Mona, seiner Ex. „Wo ist das Geld? Wenn du bis morgen nicht zahlst, schalte ich den Anwalt ein.“ Lafarge seufzte und steckte sich die nächste Zigarette an. Sein Magen war flau. Er sah auf die Uhr. 8:30 Uhr. „Frühstügg hend mer dahanna bis Zehne“, hatte der Mann an der Rezeption gesagt. Lafarge war sich nicht sicher, ob er alles verstanden hatte, vermutete jedoch, dass er bis zehn Uhr etwas zu essen bekommen würde.
Langsam schälte er sich aus seiner Decke und schlurfte zum Fenster. Er zog den Vorhang zurück. Fahles Licht fiel in sein Hotelzimmer. Rauchend stand er am Fenster. Vom riesigen Kirchturm, den er am Abend zuvor noch bemerkt hatte, war nichts mehr zu sehen. Zäher Nebel lag über der Stadt.
Lafarge drückte seine Zigarette aus und ging ins Bad. Er blickte in den Spiegel. Seine Augen waren rot, darunter waren deutlich die Tränensäcke zu erkennen. Einzig sein dichtes schwarzes Haar ließ erahnen, dass es bessere Zeiten in seinem Leben gegeben hatte. Er schluckte zwei Aspirin und spritzte sich etwas Wasser ins Gesicht. Dann steckte er zwei Schuhüberzüge aus Polyethylen, Lederhandschuhe und einen Bund mit Dietrichen in seinen grünen Mantel und verließ das Zimmer.
Im Frühstücksraum plärrte das Radio, aus der Küche hörte man Geschirr klappern. Lafarge angelte sich ein Laugengebäck aus dem Brotkorb, nahm sich eine Tasse Kaffee und setzte sich in eine dunkle Ecke. „Schmeckt gar nicht mal so schlecht, dieses Brezelzeug“, dachte er sich. Er griff nach der Zeitung, die auf dem Tisch lag und sah sich den Lokalteil an. Lafarge überflog einen Artikel über einen Überfall in einem Bordell in der Blaubeurer Straße. „Von unserem Polizeireporter Jürgen Raumann“ stand darüber. Der Bericht war ziemlicher Humbug, wilde Spekulationen, kaum Fakten.
Einige Seiten weiter stieß er auf einen Artikel über den Schwimm- und Sportverein Ulm 1618. Da war von einer chronischen Geldnot die Rede. Außerdem kam ein gewisser Gerd Riedle zu Wort, der 1. Vorsitzende des Vereins. „Wir müssen jetzt eng beisammen stehen“, wurde er zitiert. Der Abstieg der Handballer in die Fünftklassigkeit habe den Verein eben jede Menge Geld gekostet, und auch das Schwimmbad zu erhalten sei nicht ganz billig. Lafarge legte die Zeitung beiseite, stand auf und verließ das Hotel.
So dichten Nebel hatte Lafarge selten gesehen. In Köln, seiner Heimat, war es auch mal diesig. Aber das hier war ohne Vergleich. So war also der November in Ulm. Die Gesichter der Menschen, die an ihm vorbeihuschten, waren ebenso grau wie der Schleier, der über der Stadt lag. Lafarge schüttelte den Kopf und stapfte los Richtung Bahnhof.
Als er ankam, verstand er das erste Mal, warum Grunwalds Haus so eine Bedeutung für die Sedelhöfe hatte. In einem Umkreis von einigen hundert Metern war nichts zu sehen außer Bauzäunen, Geröll und ein paar Baggern. Hier und da waren tiefe Löcher im Boden, vermutlich von Kellern oder einer Tiefgarage. Und mittendrin in dieser Brache stand ein einziges Haus. Gelb getüncht, drei Stockwerke mit Giebeldach. Ein schmaler Weg, links und rechts von Bauzaun abgegrenzt, führte zum Haus. Lafarge folgte dem Weg zum Haus und studierte die Klingeln am Eingang. Im ersten und zweiten Stock schien keiner mehr zu wohnen, einzig der Name Grunwald stand auf der Klingel im dritten Stock. Lafarge drückte sanft gegen die Eingangstür. Sie gab nach. Im Treppenhaus roch es muffig. Lafarge warf einen Blick zu den Briefkästen, auch hier war lediglich der Name Grunwald zu lesen.
Plötzlich hörte er, wie sich weiter oben eine Tür öffnete. Rasch duckte er sich hinter den Treppenabgang und wartete. Er hörte ein Stöhnen, das sich langsam die Treppen hinunterbewegte. Dann erschien eine kleine Frau mit Dauerwellen, vom Alter schon ein wenig gebeugt. Lafarge schätzte sie auf etwas zwischen 70 und 80 Jahren. Aus seinem Versteck beobachtete er, wie sie zum zum Briefkasten ging und einen Schlüssel hineinsteckte. Sie nahm einen Brief heraus. „Scho wiedr was von dr Stadt“, hörte Lafarge sie brummen. Dann trat sie zur Tür und verschwand im Nebel.
Lafarge straffte sich. Er streifte sich die Handschuhe über, nahm die Dietriche aus der Jacke und eilte die Treppe hinauf. Ein Blick auf das Schloss ließ ihn schmunzeln. So leichtes Spiel hatte er selten gehabt. Lafarge benötigte gerade mal zwei Minuten, um die Tür zu öffnen. Er zog die Polyethylen-Überzüge über seine Stiefel. Dann betrat er die Wohnung. Die Tür ließ er angelehnt. So würde er hören, wenn die Alte zurückkäme. Im Flur fiel sein Blick als erstes auf eine Pinnwand. Physiotherapie über den Dächern Ulms stand darauf. Der Dienstag und der Donnerstag waren eingekreist und 19 Uhr war zu lesen. Lafarge fotografierte den Zettel mit seinem Handy, dann ging er ins Wohnzimmer. Es sah aus, wie er es von einer Frau diesen Alters erwartet hätte. Alte Polstermöbel, Berge von Illustrierten, ausgeschnittene Backrezepte, alte Zeitungen.
Auf dem Tisch lag ein Ordner, den die alte Frau mit „Sedelhöfe“ beschriftet hatte. Lafarge klappte den Ordner auf und blätterte durch die Papiere. Zeitungsausschnitte über das Bauprojekt, Briefe der Stadt, in denen immer höhere Summen angeboten wurden, wenn sie bereit wäre zu verkaufen.
Er las häufiger den Namen des Baubürgermeisters Gerd Riedle am Ende der Briefe.
Das waren Unterlagen, die Lafarge erwartet hatte, die ihm aber nicht wirklich weiter halfen. Er musste etwas anderes finden. Er öffnete eine Schrankwand und sah einen blauen Hefter, der mit einer roten Schnur zugebunden war. Vorsichtig öffnete Lafarge die Schleife. Was er da in den Händen hielt, war zweifelsohne das gemeinsame Testament der Grunwalds. Es umfasste nur zwei Seiten, war mit Schreibmaschine verfasst und unten von einem Notar gestempelt und unterzeichnet.
“Da uns keine Kinder vergönnt waren, soll unser Besitz im Todesfall an den SSV Ulm 1618 e.V. übergehen, dem wir in langjähriger Treue ergeben sind”, stand darin. Lafarge fotografierte die beiden Seiten mit seinem Smartphone ab. Dann band er den Hefter wieder zu, stellte ihn zurück in den Schrank und verließ die Wohnung.
unruhiger Darm und auch Belastungsdyspnoe
„Ja, guten Abend, Frau Grunwald, dass Sie bei dem Nebel überhaupt hergefunden haben.“ Mike Lenders stemmte sich, heute selbst schon etwas hüftsteif, von seinem Drehstuhl hoch, bedenkend, dass dies immerhin die letzte Patientin für diesen Tag sei und dass er nun nach einem sehr, sehr langen und auch trüben Tag in der Praxis bald selbst am Stock ginge.
„Ja, ja, den Weg kenn ich doch auswendig, Herr Lenders. Wie gut, dass Sie es heute noch einrichten konnten, es ist wieder gaaanz schlimm mit dem Nacken!“
„Ist doch sinnlos“, dachte der Therapeut bei sich. „Wenn Sie mir bitte unauffällig folgen wollen, werte Frau Grunwald“, bücklingte Lenders. „Dann wollen wir mal sehen, wo’s diesmal wieder klemmt.“
Die beiden verschwanden in einem Therapiezimmer.
Grunwald kam nun schon seit mehr als sieben Jahren zu Lenders. Dauerpatientin, 76 Jahre. Krankheitsbilder aus dem geriatrischen Formenkreis (also alles außer Schwangerschaft) und woanders stimmte es wohl auch nicht so ganz. Wer sonst würde wohl in aufzieh-äffchenhafter Regelmäßigkeit die wöchentlichen Strapazen von Arzt- und Therapeutenbesuchen auf sich nehmen. So zumindest dachte Lenders, auch wenn er auf solche Menschen angewiesen war. Zweimal die Woche, in Akutfällen auch häufiger.
Hatte eben keine Verwandtschaft, der sie ihr Elend klagen konnte. Bis die Alte nur halb aus den Klamotten war, war die von der Krankenkasse veranschlagte Behandlungszeit schon fast vorbei. „Lassen Sie sich nur ruhig Zeit, Frau Grunwald, rasant wär’ uncharmant!“
Mit allen Dauerpatienten entwickelte sich im Lauf der Jahre ein gewisses personalisiertes Ritual.