Tod an der Hase - Heinrich-Stefan Noelke - E-Book

Tod an der Hase E-Book

Heinrich-Stefan Noelke

3,9

Beschreibung

Die Osnabrücker Polizei tappt im Dunkeln, als ein stadtbekannter Unternehmer eines Morgens nackt am Ufer der Hase gefunden wird. Die Leute hatten den Tod des Unsympathen diskutiert – fand sich nun tatsächlich jemand, der die grausame Aufgabe übernahm? Eine junge Frau gerät ins Visier der Ermittlungen, aber Hero Dyk glaubt an ihre Unschuld. Als erfolgreicher Autor kennt er sich aus mit Recherchen und beginnt, auf eigene Faust zu ermitteln. Doch selbst seine Phantasie reicht nicht aus, der Strategie des Mörders zu folgen.

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Heinrich-Stefan Noelke wurde 1955 in Versmold in Ostwestfalen geboren und erlernte zunächst den Beruf des Metzgers. Es folgte ein Studium der Betriebswirtschaft, unter anderem in England und Frankreich. Als Unternehmer war Heinrich-Stefan Noelke in der Fleischwarenbranche tätig, längere Zeit davon in Spanien. Er wohnt seit drei Jahren mit seiner Familie in Osnabrück. »Tod an der Hase« ist sein erster Kriminalroman im Emons Verlag.www.hsnoelke.de

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig. Vieles kommt dem Autor sehr bekannt vor, aber wie in jeder guten Geschichte ist nichts davon wirklich geschehen. Die Livemusik in dem Kulturcafé Erdbeerblau hat mich zu vielen Ideen inspiriert, die in diesem Roman eine Rolle spielen. Das Café musste zum 31.12.

© 2014 Hermann-Josef Emons Verlag Alle Rechte vorbehalten Umschlagfoto: Lena Gartner Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-86358-709-3 Niedersachsen Krimi Originalausgabe

Die im Text aufgeführten Zitate von Rainer Maria Rilke entstammen dessen Duineser Elegien (erste, dritte, sechste und siebte Elegie; Reclam 1997).

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MONTAG

Tondokument von Montagnachmittag, dem 1.Januar

Niederschrift durch Kommissar Karl Heeger

Der Zeitstempel der Datei markiert den Beginn der Aufnahme um 16.56Uhr. Zunächst ist zaghaftes, leises Atmen zu hören. Entfernte Stimmen im Hintergrund, unverständlich.

Mein Mädchen.

Pause. Ein paar Sekunden Stille, dann ruhiges Atmen.

Mein Mädchen,

ich schlafe jetzt etwas besser und beruhige mich ab und zu. Die Tabletten nehme ich nicht mehr, denn zunehmend lehne ich es ab, solche Hilfe zu akzeptieren.

Eine Frau im Hintergrund ruft laut: »Kaffee kommt gleich!« Lachen. Ein Stuhl wird energisch zurückgestoßen. Schritte entfernen sich vom Mikrofon. Eine Tür wird zugeworfen. Die Stimme klingt jetzt ärgerlich und weiter weg, nähert sich aber sofort wieder. Jemand geht hin und her. Ein leichter Hall liegt über dem Ton, wie aus einem kahlen Raum.

Ich fürchte oft, verrückt zu werden, aber das sind sicher die Jahre. Nur die Angst bleibt ständig bei mir. Erinnerst du dich an meine Angst? Ich stecke voller Furcht. Und Wut natürlich, diese blinde Wut, die mir viel besser gefällt. Sie hat schwarze Segel, die man setzen und in den Wind zerren kann. Furcht und Wut sind nun ein fester Teil meines Wesens. Nur manchmal noch spüre ich eine halb verschüttete Freude.

Die Person nimmt offenbar Platz am Tisch, auf dem das Tonband steht: lautes Rumpeln und Räuspern.

Sie benötigt stets einen Anlass, diese Freude, um sich bemerkbar zu machen. Das entlarvt sie als falsch. Aufgesetzt. Es fällt mir schwer, fröhlich zu sein. Die Furcht dagegen braucht nie einen Grund. Ich kann sie spüren wie ein Sediment, das stets in mir treibt.

Ich wünsche dir ein frohes neues Jahr.

Die Stimme klingt zunächst zögernd, dann flüssig, fast hastig.

Heute Nachmittag hielt vor mir das Auto einer Sozialstation an einer Ampel. Das sind die, die die Alten und Kranken pflegen. Sie sind auch an Neujahr im Dienst, das macht man sich gar nicht klar. Das Firmenlogo fiel mir auf: In der Mitte sieht man eine aufrechte Person, die beide Arme ausstreckt. Ihre Rechte reicht sie jemandem, der im Rollstuhl sitzt. Die Linke stützt einen anderen Menschen, der sich voller Dankbarkeit verneigt. Das Bild gibt mir Orientierung. So jemand weiß, wohin er gehört.

Mit diesem Eindruck beginnt für mich das neue Jahr. Hast du jemals Rilke gelesen? In den Duineser Elegien zeigt er Engel, aber wir können nichts mit ihnen anfangen. Sie strahlen viel zu hell. Es macht mich traurig, so nutzlos zu sein.

Im Hintergrund ist deutlich das Schlagen einer Turmuhr zu hören. Fünf Schläge.

Ich muss aufbrechen, hörst du? Aufbrechen. Aber nicht ohne meine Tochter.

Dieser Reporter bat mich, seinem Forum beizutreten, weil ich wertvoll sei für die Gemeinschaft dort. Stell dir vor, man ruft nach mir! Ein ganz neuer Horizont. Ich kann einen Computer bedienen, man kennt mich jetzt als »Pocahontas«. Wie gefällt dir der Name? Ist mir eingefallen. So hieß die Tochter eines Indianerhäuptlings, die sich im sechzehnten Jahrhundert schützend vor einen englischen Kapitän warf. Man hat sie nach England entführt, wo sie elend starb. Es sind gute Menschen, von denen ich im Netz erfahre, und es sind so viele. Sie zeigen sich empört über die Mächtigen dieser Stadt und das mit Recht. Manche Geschäfte machen schon zu, weil die Leute kein Geld mehr verdienen. Es heißt, dass man sich wehren soll. Kohn will seine Fabriken schließen, da man ihn verärgert hat. Er schmollt, stell dir vor. Wenn ich an all die Arbeitsplätze denke, über die er herrscht, und die vielen Tiere, die er schlachtet.

Mein Gott, wie sehr ich mich fürchte! Aber ich habe verstanden! Ich bin ruhiger geworden, glaub es mir. Nur wehren will ich mich.

Bei Rilke las ich Folgendes: »Ach, wen vermögen wir denn zu brauchen? Engel nicht, Menschen nicht, und die findigen Tiere merken es schon, dass wir nicht sehr verlässlich zu Hause sind in der gedeuteten Welt.«

Klingt das nicht herrlich? Die gedeutete Welt. Man müsste wissen, was gemeint ist! Ich höre dich rufen, mein Kind. Ich lasse nicht los!

Laut Zeitstempel wurde die Aufnahme um 17.05Uhr gestoppt.

***

Das neue Jahr begann an einem Montag, und der Tag war fast vorüber, als Gerda Lottenburger sich durch den Osnabrücker Bürgerpark schlich. Sie hielt ihre blutende Hand und sah sich mit weit geöffneten Augen um, dabei stolperte sie mehr, als dass sie ging. Ihre leichten Schuhe fanden auf dem gefrorenen Rasen keinen Halt, das helle Blouson war blutverschmiert und viel zu dünn für die Nacht. Sie sah entsetzlich aus, das Gesicht stark aufgedunsen. Auf Nase und Wangen ließen rote Kapillaren auf Alkohol schließen. Ihre Haare hingen strähnig und verklebt bis auf die Schultern.

Gerda Lottenburger wirkte nicht wie eine routinierte Obdachlose. Die Auflösung ging über das übliche Maß hinaus, an das man sich gewöhnt hat. Aus Versehen schien sie in eine falsche Ordnung geraten zu sein, mit der sie nicht zurechtkam.

Der Bürgerpark liegt oben auf dem Gertrudenberg. Man hat ihn allen Bewohnern der Stadt gleichermaßen gewidmet, den guten wie den schlechten. An seinem Rand stehen die uralten Gebäude des Niedersächsischen Landeskrankenhauses. Von dort war sie entkommen, aus der Aufnahme in die Psychiatrie. Die geschlossene Abteilung ist weit offener, als man meint. Es handelt sich nicht um ein Gefängnis. Gerda entkam, noch bevor sie registriert werden konnte, weshalb ihre Flucht zunächst nicht auffiel.

Sie wurde gehetzt von einer Angst, die sie selbst kaum begriff. Man hatte ihr helfen wollen, aber das ließ sie nicht zu. Brave Menschen aus Osnabrück fanden sie am späten Nachmittag in den Straßen nahe beim Bahnhof. Sie hatte sich an den Scherben geschnitten, in denen sie lag, wehrte sich, als man ihr helfen wollte, ein völliger Absturz.

Wohin sollte sie sich nun wenden? Sie kannte mal ein Haus, gar nicht weit weg und älter selbst als das Krankenhaus. Sie wusste noch, wo das war!

Gerda stolperte zu Tal, geriet bald aus dem Park hinaus, drückte sich an Steinmauern vorbei und fand sich schließlich im Norden des Geländes wieder. Sonnenhügel wird das Viertel genannt. Die Nässe der vergangenen Tage war tiefgefroren. Es hatte aufgeklart, der Himmel lag offen und zeigte seine funkelnden Sterne. Einzelne Schneeflocken hingen in der Luft, obwohl es kaum Wolken gab. Es war die Art Flocken, nach denen man gerne lachend schnappt. Kalte Hauswände reflektierten das Schaben ihrer Schritte.

Gerda blieb stehen und sah sich um. Sie sollte sich links halten, nach links, dann wären es nur ein paar Schritte. Doch sie zögerte. Man durfte sie nicht finden. Gerda ging nur selten noch den geraden Weg.

Um diese Zeit waren kaum andere Leute unterwegs. Erst zehn Uhr am Abend, doch wenig Verkehr in den dunklen Gassen. Ein lachendes Paar, beide etwas jünger als Gerda. Sie gingen vorbei, drehten sich zwar um, neugierig, ließen sich aber nicht lange stören.

Gerda spannte ihren dürren Körper und schien neuen Mut zu fassen. Sie staunte über ihre blutende Hand, als ob sie nicht wüsste, wo sie sich verletzt hatte.

Es gellte ein Pfiff durch die Nacht, als sie die Ziegelstraße erreichte. Köpfe drehten sich im Dunkeln, jemand sprang auf die Füße. Mit knappen Gesten lösten sich einzelne Gestalten aus dem Dunkel heraus. Junge Leute trafen sich hier. Selbst im Winter scheint das attraktiver zu sein, als zu Hause zu hocken.

Gerda schreckte zurück und duckte sich in den Schatten einer Mauer. Sie kannte das junge Mädchen dort, das ganz in Weiß gekleidet war. Es stand breitbeinig mitten auf der Straße und wartete, dass man ihr den Grund für den Pfiff nannte. Einer der Jungen informierte sie flüsternd, das Mädchen nickte kurz und entließ ihn. Sie sah sich um, fast protzend mit dem Weiß ihrer Kleidung in der dunklen Nacht, dann nickte sie erneut, und die Jugendlichen um sie herum entspannten sich.

Gerdas Zähne schlugen unkontrolliert aufeinander, als spürte sie jetzt erst, wie kalt es war. Sie zog sich zurück und schlich einen Weg entlang, der außerhalb der alten Klostermauern verlief. Ein Umweg durch die Schrebergärten. Links biegt nach hundert Metern ein weiterer Weg ab, der zu Terrassen hinunterführt, über die sie die Ziegelstraße von der nordwestlichen Seite her erreichte.

Hübsche alte Häuser gibt es dort am Hang, vor allem die mit dem Gesicht zur Stadt. Die auf der anderen Straßenseite wirken weit weniger ansprechend, man hatte die meisten von ihnen nach dem letzten Krieg neu bauen müssen. Gerda sah zu den hell erleuchteten Fenstern hoch und zu der Wärme, die sie versprachen. Da saßen Menschen an Kaminen und lasen in Büchern. Sie füllten Lottoscheine aus, redeten miteinander und liebten sich lauthals, geschützt von all dem Licht um sie herum, von Fensterscheiben, die das Dunkel fernhielten. Die Welt dort drinnen lässt sich von außen nur ahnen. Das Leben hält sich nachts gern in solch hellen Löchern auf. Die im Dunkeln sehen zu.

Gerda machte sich klein vor Angst und schlich einen dunklen Feldweg hinunter, dann über ein brachliegendes Gelände hinter dem Hasetor-Bahnhof. Über den Nonnenpfad, eine helle, breite Straße, wollte sie den Gertrudenberg wieder hinaufgelangen, in weitem Bogen um die Jugendlichen herum, bis zu dem Haus, das sie suchte.

Sie hatte das Licht noch nicht wieder erreicht, als von oben, von dort, woher sie kam, der Pfiff gellte, den sie schon kannte. Auch hier lagen die Posten der Lumpen, auf Zerstreuung lauernd, auf einen Zeitvertreib. Der Zufall hatte die Aufmerksamkeit auf Gerda gelenkt. Zwei der Jugendlichen, halbe Kinder noch, hatten gesehen, dass jemand den dunklen Weg nahm. Sie riefen nur zum Spaß die anderen herbei, man könnte ihnen dafür kaum eine böse Absicht unterstellen.

***

Die kleine schwarze Frau lag auf dem Sofa und schlief. Sie schnarchte leise, was seltsam beherrscht klang. Sie hatte sich in eine Wolldecke eingewickelt, der Fernseher lief. Er war auf einen spanischen Satellitenkanal eingestellt, der vornehmlich Berichte aus der besseren Gesellschaft brachte, Familienserien und Liebesfilme, Glanz, Glamour und Dramen, Softpornos für die weiblichen Zuschauer, vierundzwanzig Stunden am Tag und auch an Neujahr.

Die kleine schwarze Frau hätte nie öffentlich zugegeben, dass sie gerne solche Sendungen sah. Sie hieß Francisca Dyk und war zweiundsiebzig Jahre alt. Ewig kalte Füße plagten sie, und ihr kräftiges Haar war ergraut, ansonsten konnte sie über ihre Gesundheit nicht klagen. Klar im Kopf, auch wenn sie ab und zu etwas eigenartig wirkte, fremd. Ihr Körper erreichte selten mehr als die Temperatur einer Leiche, und ihre Haut war bleich wie Elfenbein. Früher, als ihr Haar noch schwarz glänzte, hatte sie ausgesehen wie Schneewittchen.

Mit einem dezenten Grunzen wurde sie plötzlich wach, so als ob es jetzt Zeit sei auf ihrer inneren Uhr. Sie blickte sich verwirrt um, starrte auf den Bildschirm, setzte sich langsam auf, ganz gerade, begriff resignierend, sammelte sich, blieb noch einen Moment so sitzen und griff sich schließlich mit der Motorik eines antiken Roboters ein Tablett, das auf dem Beistelltisch stand, um es in die Küche zu tragen.

Die Spülmaschine war voll, also musste sie sie leeren, da sie sonst die eine schmutzige Tasse nicht wegstellen konnte, die auf dem Tablett stand. Es schien undenkbar, dass sie die Tasse bis zum folgenden Morgen stehen ließ. Nicht vom Verstand getrieben, sondern von eisernem Willen und jahrelanger Übung, stellte sie alles an seinen Platz und löschte das Licht. Sie ging ins Wohnzimmer zurück, schlug die Kissen aus, auf denen sie geruht hatte, faltete die Decke zusammen und knipste auch hier Licht und Fernseher aus.

Dann zog sie mithilfe zweier Kordeln die Vorhänge vor dem Panoramafenster auf, welches die gesamte Hausfront zum See hin einnahm. So blieb sie einen Moment stehen und sah in die Dunkelheit, schließlich zog sie die Vorhänge wieder zu. Ihr Haus war aus Holz gebaut und nicht sehr groß, aber es stand in einer exklusiven Lage in Lembruch am Dümmer See, genau dort, wo die Lohne herausfließt, sich kurz teilt, eine Insel bildet und hinterher wieder zusammenfindet, als sei alles nur ein verzeihlicher Scherz gewesen. An einer im Winter kahlen Trauerweide vorbei kann man von hier die Lohne entlangsehen bis zum See. Rechts und links der verwilderten Flussufer hat ein Segelklub vorsichtig Stege aus Holz und einen kleinen Hafen in das Schutzgebiet gebaut. Von den Stegen bleiben im Winter nur Gerüste übrig, alles andere wird weggepackt.

Doña Francisca hätte niemals zugelassen, dass das Haus so blau gestrichen wurde, wie es nun einmal war. Sie hatte es nach der Scheidung zugesprochen bekommen, und da war es bereits blau gewesen. Ihr Mann, ein strohblonder Arzt aus Bramsche, der als junger Mann in den Gassen ihrer Heimatstadt um sie warb, hatte schon als Kind mit seinen Eltern die Ferien hier verbracht. Für ihn hatte das Haus Bedeutung gehabt, jetzt gehörte es Doña Francisca. Sie lebte seit dreißig Jahren am Dümmer, im Winter meist allein, da die Nachbarn während der kalten Monate woanders wohnten. Der Ort war ein schaler Ersatz für die Sandbuchten der spanischen Nordküste, an denen Doña Francisca aufgewachsen war. Santillana del Mar, so heißt der Ort, an dem sie zur Welt kam. Die Häuser dort sind aus Holz gebaut, ähnlich wie die am Dümmer. Auch dort sind die Bäume im Winter schwarz vor Nässe. Hier wie dort gibt es Segelboote wie auf jedem Wasser, obwohl sie das nicht interessierte, denn Doña Francisca würde nie eines betreten.

Die Häuser am Dümmer See erinnern an Vogelnester. Sie sind klein und versteckt. Im Winter kann man sie durch die kahlen Hecken sehen, im Sommer gleichen sie Inseln. Zuflucht oder Gefängnis, wie man es nimmt. Wie die Vögel kehren die Leute im Frühling zurück und machen erst einmal alles sauber.

Doña Francisca gab einen missbilligenden Laut von sich, eine Art Brummen, das allumfassend gehalten war, und nahm sich einen Wischmopp aus dem Schrank im Flur. Rückwärts zur Treppe in die oberen Räume gehend, wischte sie hinter sich her in dem Versuch, ein Ende zu finden. Die Welt mit ihrer Unordnung anzuhalten, und sei es für einen Augenblick.

Oben öffnete sie die Tür zum Zimmer ihres Sohnes. Hier pflegte er zu arbeiten. Er schrieb Bücher, die sie nicht mochte. Tagelang trieb er sich in der Gegend umher, sah den Leuten zu und schrieb Geschichten über sie. Sein Vater hatte das nicht verstehen wollen, daran war die Ehe gescheitert, denn sie hielt zu ihrem Sohn.

Sie hatte ihm den Blick auf den Seglerhafen gelassen, da sie selbst sich meist im Wohnzimmer aufhielt. Doña Francisca hatte aufgeräumt, so gut sie es vermochte, als Hero nach Osnabrück gezogen war. Auf den Schreibtisch hatte sie ein Foto von sich selbst gestellt, denn all die anderen Fotos und Bilder, auch die schmutzigen, hatte ihr Sohn mitgenommen.

Ein Lächeln zog drohend über ihr Gesicht, als sie den alten Wäschekorb sah. Dort hatte Hero oft nackt und rührend verschämt vor ihr gestanden, wenn sie an Waschtagen auch die Unterwäsche von ihm verlangte, die er am Leib trug, denn da sie sich darum kümmerte, sollte alles… wirklich alles… sauber sein. Ausschließlich in solchen Augenblicken, wenn all die Arbeit getan war, gelang es ihr, sich völlig zu entspannen.

Wieder ließ sie dieses Brummen hören, dann zog sie die Tür zu. Es war kalt, und der Junge wohnte nicht mehr hier. Er lebte jetzt in Osnabrück. Doña Francisca seufzte, obwohl es ihr eigener Wunsch gewesen war, dass er ging. Sie hatte ihn vor die Tür gesetzt. Freiwillig wäre er nie gegangen.

Auf wackligen Beinen stehend streifte sie sorgfältig ihre Kleider ab, löste den Haarknoten und putzte sich die Zähne. Sie zog ein weißes Nachthemd an, füllte eine Wärmflasche mit heißem Wasser aus dem Hahn, legte sie ins Bett, schlüpfte selbst dazu und lag schließlich wach bis zum Morgen, denn schlafen konnte sie nur vor dem Fernseher.

***

Hero Dyk war ein stattlicher Mann mit heftigen, ausladenden Bewegungen, die dennoch etwas Ungelenkes und Verschämtes an sich hatten, wie man es oft bei großen Menschen findet oder bei solchen mit schlechten Zähnen. Trotz der kalten Jahreszeit war er braun gebrannt, seine Gestalt lang und sehnig, der Kopf etwas zu groß für den schmalen Körper, das Gesicht zu klein. Sein Schädel wirkte fast kahl geschoren, so kurz trug er die Haare. Sehnsucht lag in seinen ernsten Augen, der Mund war verkniffen und schmal.

Er hatte zu viel getrunken und befand sich auf dem Weg nach Hause. Ein guter Freund begleitete ihn, Karl Heeger, Kommissar der hiesigen Polizei. Sie hatten sich dicke Mäntel angezogen. Der, den Hero Dyk trug, war lila, mit Daunen gefüttert und reichte ihm bis zu den Waden. Eine braune Bommelmütze wärmte seinen Kopf, den von Heeger zierte ein schwarzer Hut. Die beiden kamen aus dem Erdbeerblau, einer Musikkneipe in der Wachsbleiche. Es gibt mehrere solcher Lokale in der Stadt. An festen Wochentagen stehen die Bühnen offen für jeden, der ein Instrument beherrscht.

Sie gingen an den großen Plakatwänden vorbei, die in der Bahnunterführung zum Nonnenpfad hängen. Manche davon waren ungenutzt. Weißes Papier. Jemand hatte etwas daraufgeschrieben.

»Siehst du, was dort steht?«, fragte Hero Dyk.

»Was?«

»Yes we’re able to go without those stupid capitalists!«, las Hero Dyk lallend vor. »Das steht da auf Englisch.«

»Wieso auf Englisch?«

»Was?«

»Warum steht das da auf Englisch?«

»Man könne auf die Kapitalisten verzichten, steht da.«

»Das ist Aufruf zum Mord«, schimpfte Karl Heeger. »Man sollte es herunterreißen.«

»Dann schreiben sie es neu.«

»Wieder runterreißen. Immer wieder runterreißen.« Heeger begann, kleine Fetzen Papier abzuziehen, bis er genug hatte. Dem Plakat konnte er keinen ernsthaften Schaden zufügen.

»Lass das doch«, nuschelte Hero Dyk und hielt sich an seinem spindeldürren Freund fest. Die letzten Jahre seiner Schulzeit hatte er am Dümmer verbracht und mit Karl Heeger zusammen das Gymnasium besucht, so lernten sie sich kennen. Täglich gemeinsam mit dem Zug nach Diepholz und zurück, so wurden sie Freunde. Der eine wuchs ohne Vater in einem Ferienhaus auf, der andere stammte aus einer ortsansässigen Großfamilie. Hero Dyk bildete einen Farbklecks in der ländlichen Gegend, den Heeger in die örtlichen Jugendcliquen zu integrieren wusste, bis man den Fremden annahm, ohne dass er sich ständig erklären musste. Man lernte Mädchen kennen und vergaß einige von ihnen wieder, andere nicht. Heeger hatte geheiratet und eine Familie gegründet. Seine Frau Lena hatte drei Kinder bekommen.

Heeger blieb stehen, nahm Hero Dyks Gesicht in beide Hände und küsste ihn auf die Wange. »Schön«, sagte er. »Sehr schön, dass du so hässlich bist.«

Hero Dyk wies ihn von sich. »Mann«, rief er. »Lass das.« Aber er lachte dazu. Dann wurde er ganz plötzlich ernst. »Mutter, weißt du«, sagte er. »Die macht mir schon Sorgen. Sie ist immer noch fremd hier. Ich vermisse die Seifenopern im Fernsehen, die wir uns zusammen angesehen haben.«

»Mann«, sagte Heeger, »du bist wirklich der einzige Kerl, den ich kenne, der Seifenopern mag. Sie hat dich vor die Tür gesetzt.«

Das gab ihnen Anlass, sich auszuschütten vor Lachen und sich gegenseitig auf die Schultern zu klopfen. Sie stiegen den Berg hoch. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite saßen zwei junge Leute auf dem Zaun eines Spielplatzes. Sie rauchten und schwatzten und tranken Alkohol im Schein einer Straßenlaterne. Teenager. Ein Halbstarker und ein Backfisch. Sie waren viel zu leicht gekleidet. Das Mädchen trug eine dunkle Jacke und einen türkisfarbenen Rock, der zu kurz war, um ihre bleichen Beine zu schützen. Schwarze Haare betonten den fahlen Ausdruck ihres Gesichtes.

»Sicher gehen sie gleich in eine Diskothek, wo es warm ist«, sagte Hero Dyk mit ernstem Ton. »Man möchte ihr direkt heißen Tee bringen.« Er machte sich Sorgen um das Paar.

Heeger lachte. »Grog«, sagte er. »Den würde sie wohl nehmen. Die beiden trinken sich warm. Kälte scheint nicht ihr Problem zu sein.«

Die Jugendlichen unterbrachen jetzt ihr Gespräch und sahen böse zu ihnen rüber. Das Mädchen machte eine obszöne Geste in ihre Richtung. Früher waren es die Jungen, die so reagierten, aber die Mädchen haben sich stark emanzipiert.

Mit der Autorität des Polizisten verscheuchte Heeger die beiden mühelos, sie würden sich einen anderen Platz suchen müssen. Der Kommissar urinierte auf die Stelle, an der die beiden gesessen hatten.

Von Beruf war Hero Dyk Autor und als solcher außergewöhnlich erfolgreich. Ein zweites seiner Bücher sollte verfilmt werden. Von den Honoraren hatte er sich ein Haus kaufen können, als seine Mutter ihn vor die Tür setzte. Er besaß eine der herrlichen Stadtvillen aus Sandstein, die den letzten Krieg überstanden haben. Nur ein paar Meter weiter die Straße hinunter.

»Ich gäb ihr eine Decke, wenn sie nur wollte«, sagte Hero Dyk.

»Sie würde nicht wollen«, antwortete Heeger. »Da bin ich sicher.«

»Das ist unwichtig, ob sie will oder nicht.« Hero Dyk nickte nachdrücklich mit dem Kopf und ließ sich von Heeger weiterziehen. »Ich wollte es aus tiefstem Herzen. Ich muss ein guter Mensch sein.«

Sie lachten still vor sich hin, bis sie das Haus erreichten. Eine kleine stämmige Frau kam ihnen auf dem Bürgersteig entgegen und öffnete vor ihnen die Eisenpforte zu Hero Dyks Besitz. Sie stieg entschlossen die Stufen hoch und schellte an seiner Haustür. Hinter ihr schalteten sich zwei Strahler ein und warfen ihren Schatten riesig an die Hauswand.

»Hallo«, rief Hero Dyk und winkte. »Ich bin hier unten.«

Die Frau drehte sich um und kam wieder zu ihnen herunter.

»Ich bin Svetlana«, sagte sie. Eine sehr tiefe Stimme mit östlichem Akzent. »Ich möchte putzen. Annonce in der Zeitung. Am Samstag. Sie wissen?«

»Ja, ich suche eine Putzfrau«, sagte Hero Dyk und sah verwundert auf seine Uhr. »Aber es ist spät. Und es ist Neujahr.«

»Ich bin nicht müde«, sprach Svetlana tief aus der Kehle heraus.

»Zeigen Sie mal Ihren Ausweis«, lallte Heeger, um Svetlana zu erschrecken.

»Mann«, rief Hero Dyk und hielt ihn zurück. »Verschwinde!« Zu der Frau sagte er: »Dann kommen Sie mal herein.« Er zog ein Schlüsselbund aus der Tasche und klimperte fröhlich damit wie ein kleines Kind, bis er es endlich schaffte, die Tür zu öffnen.

Karl Heeger wollte mit ins Haus, aber Hero Dyk schickte ihn nach Hause. »Das kann ich jetzt allein«, sagte er. »Ruf dir eine Streife oder geh zu Fuß nach Haus.«

»Mensch«, rief der Kommissar. »Das werd ich Lena erzählen!« Dann trollte er sich schimpfend.

Svetlana war älter als Hero Dyk, Ende vierzig vielleicht. Sie roch nach frischer Wäsche und ein wenig nach Alkohol. Ein mürrisches Gesicht, drall, die Mundwinkel zog sie leicht herab, aber lustige Augen hatte sie. Sie trug einen Hut, an dem eine Blume steckte, ein graues Wollkostüm unter ihrem Mantel und Pumps an den Füßen, dazu einen Schal um den Hals gewickelt. Es war kalt, also bat er sie schnell herein.

Sie musterte ihn streng, bis ihre Miene sich schließlich erhellte.

»Svetlana also?«, fragte Hero Dyk. Auch er lächelte nun und wurde ein wenig nüchtern. Sie gefiel ihm.

»Ja.«

»Wie haben Sie den Weg gefunden? Ach, sicher haben Sie nach mir gefragt. Man kennt mich in der Stadt. Mein Gott, ist das kalt.«

»Ja. Ich habe gefunden.«

Hero Dyk nahm ihr den Mantel ab, bevor er seinen auszog. Umzugskartons standen herum. Vieles hatte er schon ausgeräumt, aber einige seiner Sachen waren noch eingepackt.

»Ich bin sehr überstürzt umgezogen«, sagte er.

Svetlana blieb vor einer Radierung stehen, die gerahmt im Flur hing. Ein Akt. Sie zeigte den Hausherrn hockend von der Seite, sein Blick einem Punkt im Raum zugewandt, der im Bildhintergrund durch Striche nur angedeutet war. Ein Fenster vielleicht. Das Bild war der Grund, weshalb Doña Francisca ihn aus dem Haus gewiesen hatte. Eine Künstlerin hatte ihn gemalt, weil sie seine Bücher mochte. Hero Dyk hatte das Werk seiner Mutter schenken wollen, aber die hatte abgelehnt. Ihr fehlte der Sinn für Kunst, aber anders als sein Vater hatte sie zu ihm gehalten. Ihr in Silber gerahmtes Foto stand nun direkt unter dem Akt. Hero Dyk korrigierte seinen Stand mit einem kurzen Griff.

Svetlana sah amüsiert vom Bild zu Hero Dyk.

»Es fördert die Verdauung, wenn ich es ansehe«, sagte er.

»Ist gut«, sagte Svetlana. »Gefällt.«

»Woher kommen Sie?«

»Weißrussland. Ist groosses Haus.« Sie war beeindruckt. »Sehr grooss. Viel putzen.«

Hero Dyk musste lachen. »Ja, ich mag es auch«, sagte er. »Eine Perle, wirklich. So etwas muss man erst einmal finden. Kommen Sie, ich zeige Ihnen die Küche. Ist es zu groß für Sie?«

»Ist gut. Sie leben allein.« Sie machte am Ende des Satzes einen deutlichen Punkt, sodass es nicht wie eine Frage klang.

»Ja«, sagte Hero Dyk. »Ganz allein.«

Sie sah sich in der geräumigen Diele um, die auf geradem Wege durch das Haus zum Hof führte. Über eine Holztreppe erreichte man die oberen Etagen, über Steine den Keller. Rechts ging es in die Küche und das Esszimmer, links in ein Wohnzimmer mit Blick auf die Straße sowie in einen herrlichen Patio, der jetzt im Dunkeln lag.

»Ich bin Schriftsteller«, sagte Hero Dyk. »Ich arbeite viel zu Hause.«

»Ich weiß«, sagte Svetlana. »Sie sind berühmt. Da war ein Bild in der Zeitung. Sie wohnen neu in der Stadt.«

»Ach… Haben Sie eines meiner Bücher gelesen?« Das hätte ihr ohne Umschweife die Stelle gesichert.

»Ich putze«, sagte Svetlana.

»Ah… es sind Romane. Geschichten, die ich erfinde. Sie verkaufen sich gut. Man kann sie lesen. Ich habe das Haus davon gekauft.«

»Haben Sie Kaffee? Ich trinke Kaffee.«

Das half ebenfalls. Hero Dyk besaß eine neue Kaffeemaschine. Er war es gewohnt, Unmengen an Koffein zu sich zu nehmen, kam jedoch mit dem neuen Apparat nicht zurecht. Die Maschine war recht eigensinnig, und der Kaffee schmeckte anders, als er es mochte.

»Bitte füllen Sie Wasser nach«, forderte stur das Display. Die Maschine weigerte sich andernfalls, die Bohnen zu mahlen, wie es ihre Aufgabe war. Als Hero Dyk Wasser nachgefüllt hatte, forderte die Maschine frische Bohnen.

»Sehen Sie«, sagte Hero Dyk, »das tut sie ständig. Mich ärgert das. Es lenkt vom Schreiben ab. Es ist ein Aufstand der Maschinen.«

»Lassen Sie«, sagte Svetlana und legte die Jacke ihres Wollkostüms ab. Darunter trug sie ein weißes Hemd mit Rüschen. »Wo sind Bohnen?«

Sie wusste, was zu tun war, und bald breitete sich der warme Duft nach Kaffee in der Küche aus. Sie tranken reichlich Eierlikör dazu, wie ihn auch Doña Francisca gerne trank.

»Haben Sie sich auf andere Stellen beworben?«, wollte Hero Dyk wissen.

Svetlana nickte, blies in ihren Kaffee, nippte daran und sagte: »Zwei Männer. Ich soll nackt putzen.«

»Nackt!«, rief Hero Dyk überrascht. »Ja, geht das denn?«

»Geht schon«, lachte Svetlana. »Wenn ich will.«

Er schüttelte interessiert den Kopf und staunte: »Nackt!« Eine Fülle neuer Möglichkeiten eröffnete sich. »Sie können hier wohnen. Das stand in der Anzeige. Die ganze obere Etage ist frei. Es gibt eine kleine Küche und ein Badezimmer.«

»Zeigen«, sagte Svetlana.

Sie stieg hinter Hero Dyk die Treppe hinauf und ließ sich durch das Haus führen. Der leichte Geruch nach Farbe hing noch in den Räumen, und der nach geöltem Holz drang aus dem Parkett. Das Geschehen auf der Straße betrachtete man von hier wie von einer Loge herab. Als Zuschauer. Die Mauern bestanden aus dem dicken, gelblichen Stein, der vor den Toren der Stadt im Piesberg abgebaut wird. Die Fensterscheiben aus Dreifachverglasung ließen keinen Lärm durch, auch morgens und abends nicht, wenn der Verkehr laut wird. Mucksmäuschenstill war es, bis auf das Knarren der Dielenbretter, über die sie gingen. Svetlana schnalzte anerkennend mit der Zunge und Hero Dyk freute sich darüber, denn sie war die erste Fremde, der er das Haus zeigte.

»Hier können Sie wohnen«, sagte er mit ausladender Geste, als sie den zweiten Stock erreichten. Es gab mehr als genug Platz für Svetlana, die sich von der kleinen Küche entzücken ließ.

»Sie schreiben!«, sagte sie, als Hero Dyk ihr das Wohnzimmer im Erdgeschoss zeigte.

»Schreiben, ja. Wissen Sie, es ist nicht das Problem, dass mir nichts einfiele. Es ist– die Auswahl. Meist ist es harte Arbeit…«

»Sie schreiben, ich putze«, unterbrach ihn Svetlana und nickte heftig, als es an der Tür läutete.

»Ein Fan vielleicht«, rief Hero Dyk lachend. »Man ruft mich. Nicht weggehen.«

***

Zwei Jungen stiegen Gerda flüsternd nach. Sie kannte dieses Tuscheln, es sollte ihr Angst machen. Das Spiel begann. Nur sechs oder sieben waren es an diesem Abend, die sich trotz der Kälte nachts auf der Straße trafen.

Die arme Frau erschrak tatsächlich. Man würde sie nicht angreifen, davon konnte sie ausgehen. Die Wege lagen voller Papier von den Knallkörpern, die man gestern verbrannt hatte. Schnipsel, die sich in der Nässe des Tages zu einer roten Masse aufgelöst hatten, die jetzt festfror, was den Müllmännern die Arbeit erschweren würde. An Silvester hatte der Nebel so dicht in der Stadt gelegen, dass man die Raketen in der Luft nicht explodieren sah. Gerda hatte keinen Grund gehabt, mit all den Menschen zu feiern, aber das war nicht die Ursache für ihren Absturz. Für sie hatte sich die letzte Nacht kaum von all den anderen unterschieden, die sie erlebte. Die Tage zwischen den Nächten nahm sie noch viel weniger wahr.

Sie trieben sie zischelnd vor sich her. Manchmal kicherten die Jungen vor Spaß. Unten am Nonnenpfad verbarg das Licht der Laternen mehr, als es zeigte, aber das weiße Mädchen, das dort mit den anderen wartete, fiel trotzdem auf. Sie trug eine Daunenweste, die trotz der Kälte die Bauch- und Nierenregion frei ließ, so als ob diese Blöße jedes Gesundheitsrisiko wert sei. Das übliche Piercing, ein kurzer Rock, kaum breiter als ein Gürtel. Die dünnen Beine steckten in Wollstrumpfhosen und weißen Stiefeln. Sie trug gestrickte Pulswärmer aus Wolle, die bis zum Ellenbogen reichten, und einen dicken Schal. Der blonde Pferdeschwanz fiel auf, ebenso die leicht schräg stehenden Augen in ihrem Gesicht, das weich und weiblich wäre, wenn nicht so harte Schatten darauf lägen. Auf den rechten Wangenknochen hatte sie eine kleine Spinne tätowieren lassen, mit der sie sich bis ans Ende ihres Lebens festgelegt hatte. Sie war kaum achtzehn und hatte zu lange Arme. Fast wie ein Affe sah das aus.

Gerda war fast dreißig Jahre älter als diese junge Frau, aber sie wusste sich nicht zu wehren. Was immer kam, sie würde es geschehen lassen. Sie besaß keine Kraft mehr und blieb stehen. Das Mädchen reagierte mit Wut darauf. Sie näherte sich, kam Gerda sehr nah, betrachtete sie und sagte: »Sieh an!« Ihre Kumpane ließen ihr den Spaß und bildeten einen Kreis um die beiden.

»Lilly«, sagte Gerda, senkte den Kopf und verdrehte ihren Körper, um sich noch kleiner zu machen. Unauffälliger. Sie schien in sich zusammenfallen zu wollen.

Lilly spuckte vor ihr auf den Boden. »Ich hörte, dass du nicht tot bist«, sagte sie und sprach leise, direkt in Gerdas Ohr.

Eines der anderen Mädchen fragte, was Lilly gesagt habe, aber niemand antwortete ihr.

»Fast habe ich dich vermisst. Wo warst du die ganze Zeit? Du siehst scheiße aus. Du kennst ja meine Jungs.« Sie deutete in die Runde.

Gerda antwortete nicht, richtete sich aber etwas auf und sah Lilly an, als erkenne sie sie erst jetzt. Sie nickte, zog die Brauen hoch, seufzte, steckte die Hände in ihre Jackentasche, schob den Kopf noch tiefer zwischen die Schultern, verschloss sich auf diese Weise vollkommen und ging auf die Jugendlichen zu, die ihr gegenüberstanden.

Tatsächlich öffnete sich der Kreis.

»Das ist Gerda!«, rief Lilly den anderen zu und wies auf die Frau. Die Jugendlichen, ihre »Jungs«, zischelten zur Bestätigung. »Erinnert ihr euch an Gerda? Sie hatte mal ein Auto. Wisst ihr noch?«

Lilly ging Gerda hinterher, steckte die Hände in die Taschen ihrer Weste, richtete sich jedoch anders als die Ältere hoch auf und wiegte sich in ihrem Schritt, was etwas linkisch aussah.

Da streckte sich auch Gerda und konnte sich für einen Moment mit Lilly messen. Sie zog den Kopf zwischen den Schultern hervor, die Brauen noch etwas höher und sagte: »Ich wohne hier nicht mehr!«

Sie ging den Nonnenpfad hoch und ließ jetzt einen alten Stolz erahnen, nur war sie lange noch nicht nüchtern. Die Bande folgte ihr begeistert im Paradeschritt und gab Rap-Rhythmen von sich. Lilly blieb stehen und pfiff auf den Fingern, um ihre Jungs zur Ordnung zu rufen.

Man hörte sie nicht. »Mario!«, rief sie.

Einer der älteren Jungen drehte sich um und rief: »Wollten wir nicht Spaß haben?«

Das Licht der breiten Straße schien der verletzten Frau weiteren Mut zu geben. »Lass doch!«, krächzte sie.

»Wir sind noch nicht fertig«, schrie Lilly zurück und eilte ihren Jungs hinterher. »Ob es dir passt oder nicht.« Sie fiel in den Rhythmus ein, den die anderen vorgaben, erhöhte die Lautstärke ihres Gesangs und übernahm so wieder die Führung. Gerda stolzierte den Gertrudenberg hoch, den sie gerade heruntergekommen war, überquerte schließlich den Nonnenpfad und erreichte die Klosterstraße, die Bande hinter sich herziehend.

Dort standen vier alte Villen aus Naturstein. Zwischen der ersten und der zweiten führte eine enge Auffahrt hoch zu einem geteerten Hof, der hinter den Gebäuden lag, mehrere Meter über Straßenniveau. Das zweite Haus war drei Stockwerke hoch, das dritte lehnte sich an das zweite an, besaß aber nur eine einzige Etage und das Dach. Ein Kotten aus Sandstein, der sich hinter einer übermannshohen Mauer mit Stacheldraht verbarg. Das vierte schließlich stand wieder allein und war das prächtigste von allen. Dort öffnete Gerda eine schmiedeeiserne Gartentür und stieg die Stufen hoch. Die Kinder würden ihr nicht folgen, sie mussten warten. Gerda klingelte. Der Gong klang so laut, dass sie erschrak.

»Bfff…«, machte sie, als die Haustür langsam aufschwang, und hielt sich mit der blutenden Hand an der Laibung aus hellem Naturstein aufrecht.

Hero Dyk wich zurück, als er die Haustür öffnete, denn eine völlig verdreckte Frau stand im hellen Licht. Dann jedoch obsiegte die ihm eigene freundliche Gesinnung.

»Bitte«, rief Gerda Lottenburger mit gehetztem Blick, »bitte, lassen Sie mich herein. Sie sind hinter mir her!«

»Aber wer denn?«, fragte Hero Dyk. Er sah auf die Straße hinunter, da war niemand. Die Frau blutete stark aus einer Schnittwunde am Handgelenk, man musste ihr helfen.

»Sie sehen aus wie Kinder«, sagte Gerda. »Sie sehen aus wie Kinder.«

Hero Dyk wusste sich nicht anders zu helfen und ließ sie eintreten. Man wird auf so eine Situation nicht vorbereitet. Seine Mutter hätte sich zu wehren gewusst.

Gerda Lottenburger gelangte an Hero Dyk vorbei in das Haus, sah sich kurz um, zog ihr Windblouson aus und reichte es Svetlana, damit die es an einen Haken hänge, so als sei es das Natürlichste auf der Welt, über Dienstboten zu verfügen.

»Sie sollten in ein Krankenhaus gehen«, sagte Hero Dyk mit Blick auf ihre verletzte Hand. »Das muss genäht werden.«

»Da war ich gerade«, sagte Gerda.

»Soll ich für Sie anrufen?«

Sie antwortete nicht, sondern sah sich um. »Ich kenne das Haus!« Sie stellte sich zitternd vor die Haustür, ohne sie zu öffnen. »Sind sie weg?«, fragte sie zur Tür gewandt.

Hero Dyk versuchte, so gut es ging, ihr auszuweichen, sie nicht zu berühren, als er nachsah. Sobald er die Tür öffnete, drang gedämpft das Rauschen der Stadt herein. Die Sirene eines Einsatzfahrzeugs heulte in erschreckender Nähe. Auf der Straße jedoch war niemand zu sehen, was nicht viel besagte, da die Häuser erhöht lagen und sich durch Steinmauern vom Bürgersteig abgrenzten, hinter denen sich ein Übeltäter leicht verstecken konnte. An der Laibung der Tür war deutlich der Abdruck der blutigen Hand zu sehen, es erinnerte an alte spanische Steinmauern, die mit dem Blut getöteter Stiere bemalt werden.

»Da ist niemand«, sagte Hero Dyk. »Hören Sie, ich muss das Krankenhaus anrufen. Was ist denn passiert? Wieso kommen Sie zu mir?«

»Ich bin weggelaufen«, sagte Gerda Lottenburger. »Sie haben nicht aufgepasst.«

»Aber wer denn? Wer hat nicht aufgepasst?«

»Darf ich Ihr Klo benutzen?«

Sie stieg die Treppe hinunter, ohne auf Antwort zu warten. Die Gästetoilette in diesem Haus lag im Keller, wie konnte sie das wissen?

»Ich gehe ihr nach«, sagte Svetlana. »Alles ist gut. Sie rufen Krankenhaus.«

Hero Dyk tat wie ihm geheißen. Die Nummer fand er im Telefonbuch. »Hören Sie«, sagte er, als sich eine Schwester meldete, »bei mir ist eine Frau im Haus, die sagt, dass sie aus Ihrem Krankenhaus entlaufen sei.«

»Ach, bei Ihnen ist sie«, sagte die Schwester.

»Nicht! Nein!« Gerda Lottenburger hatte ihn sprechen gehört. Sie stürmte die Treppe aus dem Keller hoch, die Augen unnatürlich groß, Svetlana kam ihr nach.

»Legen Sie nicht auf«, sagte die Schwester. »Ich brauche Ihren Namen und die Adresse.«

»Klosterstraße167«, sagte Hero Dyk und verriet, wie er hieß. »Hören Sie«, fuhr er fort, »bei mir ist alles voll mit ihrem Blut. Können Sie mir sagen, ob das ein Problem ist? Ist sie krank? Ich muss das wissen.«

»Das darf ich Ihnen nicht verraten«, schloss die Krankenschwester und legte auf.

»Ich muss weiter«, rief Gerda Lottenburger. Sie stürmte an Hero Dyk vorbei und riss die Haustür auf, ohne nach ihrer Jacke zu fragen.

»So warten Sie!«, rief Hero Dyk, aber Svetlana hielt ihn zurück. In der Ferne war die Sirene eines weiteren Einsatzwagens zu hören. »Was hat Sie zu mir getrieben? Ich muss das wissen. Aus solchen Zufällen werden Geschichten gemacht.«

Aber Gerda Lottenburger hörte nicht mehr zu.