Sieben Stunden Licht - Heinrich-Stefan Noelke - E-Book

Sieben Stunden Licht E-Book

Heinrich-Stefan Noelke

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  • Herausgeber: epubli
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2019
Beschreibung

Max ist finanziell ruiniert und nutzt die Gelegenheit eines Winterurlaubs, um sich seinem Sohn zu erklären. Sein Vater, der alte Achnitz, schickt ihm einen Anwalt hinterher, dem jedes Mittel recht ist, um den Verkauf des Familienunternehmens zu verhindern. Max und der junge Paul ziehen mit dem Hundeschlitten durch die eisigen Berge Norwegens. Sie treffen auf Sarah, die Unternehmerin. Eine mächtige, sehr erfolgreiche Frau, aber einsam. Eines Morgens ist der Guide verschwunden und sie können die Hunde nicht lenken. Paul ist verletzt und es ist zu kalt, um länger zu warten.

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Seitenzahl: 291

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Heinrich-Stefan Noelke

Sieben Stunden Licht

Heinrich-Stefan Noelke wurde 1955 im westfälischen Versmold geboren. Er ist gelernter Metzger, studierter Betriebswirt, hat in Frankreich, England und Spanien gearbeitet und später in Deutschland die Geschäfte eines Wurst- und Fleischverarbeiters geleitet.

Seit 2008 lebt er mit seiner Familie in Osnabrück und widmet sich dem Schreiben.

Mehr Information zum Autor unter www.hsnoelke.de.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen wären rein zufällig. Vieles kommt dem Autor sehr bekannt vor, aber wie in jeder guten Geschichte ist nichts davon tatsächlich geschehen.

Sieben Stunden Licht

Ein Abenteuerroman

mit Schlittenhunden

Heinrich-Stefan Noelke

Montag, den 5. Februar 2001

Sonnenaufgang 9:16 h; Sonnenuntergang 14:40 h; Höchsttemperatur –20,5 °C, weiter fallend in der Nacht; dichte Wolken; Wind bis 62,5 km/h

- 01 -

Falls man sich am Nordpol flach auf den Rücken legt, nachts vor allem, wenn oben eine maßlos übertriebene Menge an Sternen leuchtet, dann fühlt man den Schwindel. Unser Planet dreht sich im Norden langsamer als anderswo. Dennoch ist gerade hier das Schwanken zu spüren. Es ist die Angst, die Welt gleite weg und ziehe die Füße mit. Die Erde ist eine Scholle, auf der man leicht ins Rutschen kommt.

Manche Menschen geraten in Panik, wenn sie eine derart weite Ebene überqueren. Sie zittern und schwitzen und lassen sich auf alle Viere nieder, um an den Rand zu kriechen, wo sie Halt suchen. Später meiden sie derlei Orte.

Andere sind reinweg unempfindlich und langweilen sich.

Sobald Maximilian von Achnitz auf dem Beifahrersitz die Tür öffnete und sein Gewicht verlagerte, neigte der greise Bulli sich ächzend auf die Seite. Vorsichtig tastend mit spitzem Fuß prüfte Max die Standsicherheit der Schneedecke. Er saß in einem verrosteten Kastenwagen. VW-LT in Rot mit Doppelkabine. Hinten drauf bot ein hölzerner Aufbau mit Zwingern Platz für viele Hunde. Oben auf dem Dach hatte jemand fünf Tourenschlitten festgezurrt. Der Wind fing sich in den Riemen, er ließ ein Brummen hören. Eine Frau saß am Steuer, die Max nicht kannte.

„Is’ nicht glatt“, sagte er zu seinem Sohn Paul, der hinten saß.

Damit hatte Max nicht gerechnet, dass sich die Dämmerung derart auf das Gemüt legen würde. Es war erst sechzehn Uhr. Vor einer Stunde war das Flugzeug im norwegischen Bardufoss gelandet. Von zu Hause aus betrachtet lag der Nordpol zum Greifen nah. Max war hier bereits auf halbem Wege. In der Luft hatte er links die Lofoten wie Hütchen im Meer treiben gesehen und rechts die kahl gefegten Berge.

Es war nicht die Dunkelheit, die ihn erdrückte, sondern der endlose Weg dahin. Die stundenlange Dämmerung, die vorausging. Das bisschen Licht würde den Tag nicht lohnen, der dazwischen lag. Die Flamme des Feuerzeuges vor dem Wind schützend, zündete er sich eine Zigarette an. Die hintere Tür des Bullis öffnete sich.

Sein Sohn stieg aus. Hier draußen war es zu kalt für den Jungen. Max zog ihm den Reißverschluss an der Daunenjacke hoch.

„Jetzt lass mich“, maulte Paul.

„Es ist zu kalt“, sagte Max. „Der Wind ist zu stark.“ Max hatte es nicht erwarten können, einen ersten Schritt aus der Behaglichkeit des Bullis heraus zu tun. Er hatte sich umsehen wollen. Einen Moment nur den Sturm hören und die eiskalte Luft schmecken.

Groß und breit war er. Ein kräftiger Schnauzbart und dichte Augenbrauen. Jeder Anzug an ihm sah grob aus, deshalb vermied er solche Kleidung. Lieber trug er seine weite braune Cordhose und einen dunklen Pullover. Hemden mochte er nicht. Die schoben sich ihm nach einer Weile unweigerlich hinten aus der Hose heraus und ließen eine haarige Pospalte sehen, falls er sich bückte. Das zog ihm den Rücken hinauf bis zu den Haaren, die einem braunen Fell glichen.

„Jetzt mach schon“, sagte Paul. „Es ist kalt.“ Der Junge wurde bald sechzehn.

Max nahm zwei, drei schnelle Züge und warf die Zigarette mit dem Wind in den Wald hinein. Sie stiegen zu der Frau ins Auto zurück, die sie am Flughafen abgeholt hatte.

Sie fuhr schnell und sicher, doch sprach sie kein Wort. Als ob es ihr lästig sei. Sie hatte sich nicht vorgestellt und nichts gefragt. Touristen schien es hier kaum zu geben. Das Flugzeug war voller Soldaten gewesen, die zu einem Manöver eingeflogen wurden. Die wenigen Zivilisten an Bord hatten sich wenig um das Schwanken gekümmert, als der Sturm das landende Flugzeug verriss.

Paul und Max hatten ihr Gepäck hinten in einem der Käfige verstaut. Die Frau hatte ihnen nagelneue rote Daunenparkas mitgebracht, die sie überzogen. Sie selbst hatte ihre Pudelmütze aufbehalten und fuhr mit Handschuhen. Sie war groß gewachsen, hatte blondes Haar und mochte recht hübsch sein.

Der Wind blies durch unzählige Rostlöcher herein, doch der Wagen bot einen gewissen Schutz. Auf dem Weg trat das blanke Eis frei hervor, sodass der Bulli in der Spurrinne hin und her rutschte. Eben noch, zwischen Bardufoss und Setermoen, hatte sich eine breite Straße durch das Land gezogen. Über Narvik führte sie an den Fjorden vorbei Richtung Süden bis Oslo, wo man eine Fähre zurück nach Dänemark nehmen konnte. Da war man fast wieder zu Hause. Die Frau jedoch war hinter Setermoen nach links in ein enges Tal abgebogen und folgte einem Wasserlauf, bis Max um den kurzen Halt bat.

Es lag wenig Schnee. Rechts sah man zwischen den Bäumen den gefrorenen Fluss.

„Können Sie bitte langsamer fahren?”, fragte Max, als sie über eine Brücke rutschten. Die Frau schaute zu ihm herüber und nickte, ohne vom Gas zu gehen.

„Die fahren hier mit Spikes“, sagte Max nach hinten zu seinem Sohn. Wolken stoben am Himmel vorbei und ein fast voller Mond ließ den Schnee blau leuchten. Auf den Bergen konnte man Skipisten sehen. Sie hingen die Hügel hinunter und verschwanden im Wald. Zum Greifen nah, so schien es.

„Siehst du die Pisten?”, fragte er.

„Ja“, sagte Paul.

„Wie hingehängt“, bemerkte Max. „So, als habe man sie auf den Berg genäht.“

Er wähnte sich als übergroßen Skifahrer dort straucheln und hielt sich am Bulli fest. Das Stürzen war nicht so erschreckend, doch das Fallen machte ihm Angst.

Sie waren unterwegs nach Innset am Rande des norwegischen Dividal-Parkes, um dort zehn Tage lang mit Hundeschlitten zu reisen. Max hatte sich sehr spontan entschlossen und seinen Freund Holdin Rose gebeten, mitzufahren. Er hatte ihn vorausgeschickt, um die nötige Ausrüstung zu kaufen. Max besaß eine Schnapsbrennerei im Emsland. Achnitzer Torfbrand. Holdin arbeitete als Buchhalter für Max. Er war der Pate seines Sohnes und sie spielten zusammen Golf. Er war es vermutlich, der die dicken roten Parka geschickt hatte, die sie jetzt trugen. Statt wie beabsichtigt, Paul in den Skiferien nach Hause zu holen, war Max gestern gen Süddeutschland gefahren, um seinen Sohn im Internat zu überraschen, in dem er lebte. Die beiden waren sehr hastig nach Norwegen aufgebrochen.

„Du wirst im Anschluss an die Sommerferien bei mir in Großbeesen bleiben und dort zur Schule gehen“, sagte Max nach hinten und fand, dass das jetzt ein geeigneter Moment für diese Nachricht war.

„Wieso?“

„Die Firma läuft nicht gut. Wir sprechen darüber.“

„Wartet Holdin auf uns?“

Selbst das Hundefutter würden sie mitschleppen müssen. In Innset am Rande des Sees Altevatn lag die Hundefarm von Torben Haag, einem Deutschen, der vor Jahren hierher ausgewandert war. Er würde nicht ihr Guide sein, denn er war längst ausgebucht. Sie wollten mit einem Norweger fahren, der mit Torben zusammenarbeitete. Pentti Aalto hieß der Mann, mehr wusste Max nicht. Es interessierte ihn nicht.

Max hatte keine Ahnung, wer die Frau war, die fuhr, doch sie hatte nicht gezögert, als sie in den Bulli einstiegen. Vermutlich sprach sie Deutsch, wollte nur nicht.

Eine Gestalt tauchte im Scheinwerferlicht auf. Mitten im Wald dem Wind und dem Wetter trotzend schob jemand einen Kinderwagen auf Kufen die Straße entlang. Rechts und links standen jetzt Häuser zwischen den Birken. Ein einsamer Ort, doch es schien eine Siedlung zu sein. Die Wege waren vom Schnee geräumt. Unter einer Laterne am Straßenrand verbreiterte sich die Fahrbahn zu einem Parkplatz.

Dort hielten sie rutschend an. Ein Schaufenster war zu sehen, das vor Monaten schon verhängt worden war. Max fiel ein Schild auf, das den Platz zur Bushaltestelle erklärte. Das Haus schien bewohnt zu sein. In der Mitte führten drei Stufen hoch. Daneben stand ein Mann und schaute von der Arbeit auf, als sie hielten. Er hackte Holz und hatte bereits einen ansehnlichen Stoß unter dem Schaufenster gestapelt. Auf dem Kopf trug er eine Fellmütze mit Ohrenklappen, die er jetzt mit dem Handrücken zurecht schob.

„Sehe keine Hunde“, sagte Paul.

„Vielleicht hinter dem Haus“, antwortete Max. „Das scheint ein Laden zu sein.“

„Bleiben Sie sitzen“, sagte die Frau, aber Max war schon ausgestiegen. Es genügte jetzt.

Sie knallte die Wagentür zu und ging ohne Gruß in das Gebäude. Paul stieg ebenfalls aus. Der Mann kam auf Max zu und reichte die Hand.

„Pentti?”, fragte Max. „Pentti Aalto?“ Der Mann lächelte ein wenig schief. Ihm fehlten der kleine und der Ringfinger an der rechten Hand, sodass man sie nicht richtig greifen.

„Welcome!”, sagte Pentti. Er sprach es „welcum“ aus. „Cum in.“

„Denk daran“, sagte Max zu Paul, „dass wir hier zu Gast sind.“

- 02 -

„Kennel is away“, sagte Pentti und wies die Straße hinunter. Gleich dort sei die Hundefarm. Er ging ins Haus und knipste im Laden ein Licht an, das von den braunen Holzregalen fast vollständig verschluckt wurde. Neben der Treppe stand ein Besen, mit dem sie sich die Schuhe reinigten, bevor sie eintraten. Im Vorraum hing Winterkleidung zum Trocknen. Die Regale waren halb leer. Ein Geruch nach Staub, Schmierfett und Ruß empfing Max. Da lagen Eisbohrer und Eisangeln herum. Es gab Filzmützen, Filzschuhe, derbe Overalls aus dunkelblauem Cordura, Konserven und andere haltbare Lebensmittel. Gepökelten Fisch, Schneeschaufeln, Schneefräsen und Defrostermittel in Fünfliter-Kanistern. Ein Plakat wies auf einen Skilanglauf hin, ein anderes auf eine Rallye, die im letzten Sommer ausgetragen worden war. Ganz im Hintergrund ein Verkaufstresen, davor ein Tisch mit zwei Bänken. Kinderzeichnungen von Engeln und Teufeln. Eine Kreidetafel hing an der Wand. Die Frau saß dort. Sie hatte von irgendwo her eine dampfende Tasse Kaffee geholt und schaute ihnen zu.

In einer Ecke stand Ausrüstung zusammengestellt.

„Take“, sagte Pentti und deutete auf zwei Boxen aus Styropor, die Max und Paul sich nahmen. Die Frau sagte etwas auf Norwegisch, was unhöflich klang. Pentti antwortete nicht, sondern ging mit einer dritten Box voraus nach draußen.

Sie schoben die Kästen in einen der Käfige auf dem Bulli. Pentti hieß sie einsteigen und startete den Wagen. Die Frau trat aus der Tür und Max sah zum ersten Mal ihre Augen. Sie waren blau. Ihr langes blondes Haar trug zu einem dicken Zopf geflochten, der ihr in den Rücken hing. Sie wich seinem Blick aus und stieß mit einem Fuß gegen den Holzstoß, den Pentti aufgeschichtet hatte. Der Stoß kam ins Rutschen und fiel in sich zusammen. Sie kümmerte sich nicht darum.

„Is wife“, sagte Pentti, gab Gas und ließ seine Frau im Dunkeln stehen. Er lachte sein schiefes Lachen und zeigte die Zähne. „Is Grete aus Deutschland. Must stay home.“ Rückwärts fuhr Pentti aus dem Licht heraus.

Max schätze ihn auf Anfang vierzig. Dann wären sie gleichaltrig. „Das kommt vor“, sagte er zu seinem Sohn nach hinten. „Manchmal streiten sich Mann und Frau.“

„Aha“, sagte Paul und Max verstand nicht, was er damit meinte.

Die Farm lag nur ein paar hundert Meter die Straße entlang, die jetzt leicht bergan stieg. Eine Rampe führte auf einen Hof, der von drei Gebäuden umschlossen wurde. Ein großer Zwinger begrenzte die offene Seite, der in der Dämmerung kaum auffiel.

Rechts lag ein zweistöckiges Blockhaus. Über der Haustür in der Mitte der Langseite brannte eine Glühbirne und darunter leuchtete gelb ein schmales Fenster.

Alle anderen Gebäude waren dunkel. Pentti fuhr quer über den Platz und hielt vor einem Klafterschuppen.

„Hütte“, sagte er auf Deutsch und zeigte auf das Licht. Max und Paul stiegen aus, der Wind riss ihnen die Autotüren aus den Händen. Pentti kümmerte sich nicht weiter um sie, sondern machte sich an einem Schneemobil zu schaffen, das im Schuppen stand.

„Was sollte das denn?”, fragte Max, ohne eine Antwort zu erwarten.

Ihr ganzes Gepäck war in zwei kleinen Taschen verstaut. Max verließ sich auf Holdin. Nur eine Art grünen Köcher hatte er noch mitgenommen, der kaum Platz bot für ein paar Skistöcke. Die Taschen trugen sie zum Blockhaus, hinter der Tür fand sich eine Diele, wo sie sie abstellten. Eine Stiege führte hoch in die Wohnräume.

„Lass mir noch ein paar Minuten“, sagte Max und zündete sich eine Zigarette an. „Geh zu Holdin. Er müsste oben sein.“ Murrend verschwand Paul hinter der Holztür.

Max nahm einen Zug aus der hohlen Hand und stellte sich in die Mitte des unebenen Platzes. Der Sturm fegte brüllend durch ein Tal, das ihm kaum Widerstand bot. Die Kälte biss Max in die Wangen und klebte in den Nasenlöchern. Der Wind war so stark, dass man sich auf ihn legen wollte. Er zog die Kapuze mit dem Fellrand über den Kopf. Jetzt drangen alle Geräusche von vorn zu ihm. Ihre Richtung ließ sich nicht mehr deuten. Max spürte die lächerliche Angst, die ihn seit einiger Zeit quälte, und die er immer wieder suchte wie eine Wunde, die man ständig betastet. Er hörte knirschende Schritte und drehte sich um, doch da war niemand.

Der Sturm schmeckte wie ein Kupferpfennig, an dem man lutscht. Max’ Kopf dröhnte. Kälte ist Leere und scheinbar wollte ihm der Schädel in diese Ödnis bersten … aber es war auszuhalten und ging vorbei.

Manchmal wäre er gerne tot. Das kam so über ihn in der letzten Zeit. Wie Sodbrennen kam der Gedanke immer wieder hoch.

Das zweite Blockhaus war größer. Das musste das Haus von Torben sein. Im Schuppen startete Pentti im Licht einer Stirnlampe das Schneemobil und fuhr davon. Max ging mit dem Wind auf den Zwinger zu. Der war innen in neun kleinere Käfige unterteilt. Zwischen ihnen lag ein Gang in der Form eines liegenden T. In den einzelnen Verschlägen standen mehrere Hundehütten im Schnee. Die Hunde schlugen nicht an, als Max näher kam. Die meisten hatten sich wohl in den Hütten verkrochen, denn nur wenige liefen unruhig hin und her oder hockten stumm im Wind und schauten zu ihm herüber. Das Rasseln von Ketten machte ihn auf einen umzäunten Auslauf links vom Zwinger aufmerksam. Hier gab es eine ganze Reihe weiterer Hütten, diese in Form eines einfachen Zeltes. Davor war jeweils ein Hund angekettet. Max lockte sie pfeifend. Ein fast völlig schwarzes Tier erhob sich, streckte sich und bemerkte ihn, gähnte in den Wind hinein und jaulte ganz kurz auf. Es schnüffelte die Hütte entlang, hob ein Bein, kam zurück, schüttelte rasselnd sein Halsband und legte sich schnaufend wieder in den Schnee.

Die Hände in die Taschen des neuen Parkas gestopft breitete Max die Arme aus wie Flügel und ließ sich vom Wind an den Zwingern vorbei treiben. Hier ging es zu dem Fluss hinunter, der das Tal gegraben hatte. Eis und Schnee schimmerten blau in der Ferne und legten eine leere Landschaft bloß. Das Tal lag weit offen, es schien viel breiter zu sein, als es ihm während der Fahrt vorkam. Südöstlich war der See Altevatn gestaut. Den Damm konnte Max nicht sehen, doch er wusste, wo er lag.

Die Daunenjacke hielt den Wind ab, die dünne Hose ließ die Kälte durch. Max spitzte die Lippen erneut, um zu pfeifen, wie man es im Wald tun soll. Es gelang ihm nicht, der Wind riss jeden Laut mit sich. Aus dem Schutz der Gebäude heraus war er noch stärker geworden. Er stellte sich vor, wie er zu Hause in Großbeesen durch den Ort lief und die Leute sich wegdrehten. So ließ er sich treiben und bald verloren die Schuhe auf dem frei gefegten Eis jeden Halt.

Da klingelte und vibrierte es in seiner Hosentasche. Wütend kramte er unter all der Kleidung das Handy hervor. Sein Vater, sagte das Display. Der alte Achnitz.

„Nicht jetzt!“, schrie Max das Telefon an und warf es in hohem Bogen in die Dunkelheit. Er fiel hinten über, so wild hatte er geworfen … und rutschte weiter, bis ein Fuß eine Wurzel fand, die ihn stützte.

Das Handy klingelt noch eine Weile.

Max atmet zu kurz. Schweiß bricht ihm aus und der Magen will sich umdrehen. Er bekommt keine Luft. Der Wind weht ihm die Kapuze vom Kopf. Es bläst ihm mehr in den Mund hinein, als er ausatmen kann. Ruhig bleiben ... obwohl das schier unmöglich ist. Er wird wütend und verliert zu viel Kraft. Nichts, um sich daran festzuhalten.

Da ging oben am Blockhaus ein Licht an. Eine Frau erschien am Fenster. Schwarzes Haar. Mittellang. Ein bleiches, rundes Gesicht. Sie hob eine Hand an die Stirn gegen die Spiegelung und starrte ins Dunkle, als hätte sie etwas gehört.

Max rief und winkte, aber sie sah ihn nicht. Er kroch auf allen Vieren auf sie zu und wollte sie festhalten ... als sich ihm plötzlich ein Handschuh entgegenstreckte.

Da standen Schneeschuhe vor ihm. Eine schwarze Thermohose, ein vermummter Kopf unter einer Fellmütze.

Die Frau am Fenster tauchte kurz ab, richtete sich wieder auf und verschwand. Das Licht ging aus. Einer der Hunde fing zu heulen an und alle anderen folgten ihm, als ob es ein großer Spaß sei, bis der Lärm schließlich abebbte.

„Kommen Sie“, rief eine männliche Stimme.

Max ergriff die Hand und richtete sich auf. Der Mann war groß und hager, schien aber sehr kräftig zu sein. Er griff Max unter die Achsel und stützte ihn, als er erneut stolperte.

„Danke“, sagte Max, als sie den Windschatten des Blockhauses erreichten. „Ich stehe in Ihrer Schuld.“

Der Mann zog sich die Maske vom Kopf. Er war strohblond und hatte ein bleiches und weiches Gesicht. Blaue Augen.

„Wollen Sie Morgen mit auf Tour gehen?”, fragte er.

„Ja“, sagte Max. „Ich heiße Maximilian von Achnitz.“

„Kurt Henkelmann. Hören Sie“, antwortete Kurt, „ich werde die nächsten Tage nicht auf Sie aufpassen können. Verstehen Sie?“

„Das wird nicht nötig sein.“

Endlich betrat Max das Blockhaus. Da war zunächst die Diele, um Schuhe und Überkleidung auszuziehen. Die Stiege führte hoch in den Wohnbereich. Max nahm seine Taschen mit, während Kurt sich noch auszog.

- 03 -

Sie saß mit Paul und Holdin an einem grob gehauenen Tisch und schaute neugierig herüber. Die Möbel waren aus massivem Birkenholz gefertigt, ebenso die Täfelung des gesamten Raumes. Hinten hingen zwei dunkle Fenster in der Wand. Rechts und links trennten mehrere Türen die Schlafkammern ab.

„Mein Vater“, sagte Paul frech grinsend zu der Frau mit den schwarzen Haaren. Sie erhob sich.

In der Mitte des Raumes stand ein Kanonenofen, um den herum an drei Seiten ein mannshohes Holzgestell gebaut war. Max roch das brennende Holz und hörte das Bullern des Ofens und sofort wurde ihm warm. An dem Gestell hingen Socken, Unterwäsche, Handschuhe, Mützen, Jacken und Hosen zum Trocknen. Handtücher. Die Filzeinsätze für die dicken Winterstiefel hatte man mit Wäscheklammern an Leinen aufgehängt. In den Geruch des Rauches mischte sich der sehr intime nach Schweiß. Drei Tische mit den zugehörigen Bänken umlagerten den Ofen.

Sie hatte grüne Augen und war ganz in Schwarz gekleidet. Strumpfhosen, die mehr verrieten, als sie verhüllten. An den Füßen warme Puschen, ein weiter Wollpullover mit V-Ausschnitt. Darunter trug sie einen weißen BH. Vollschlank. Auf der Gesichtshaut und am Halsansatz hatten Sonnenstudios erste Spuren hinterlassen. Unter der Bräune waren Sommersprossen zu erkennen. Sie roch nach Creme und ihr Gesicht glänzte leicht.

„Sarah“, sagte Holdin, „das ist Maximilian von Achnitz. Max, das ist Sarah Schmitt.“

Ihre ernsten Augen hatten ihn blitzschnell gemustert. Das fiel auf. Ihr Händedruck war so fest, wie sein eigener. Dann lächelte Sarah und Max fühlte sich geborgen. Er hätte ihr auf der Stelle das ganze Leben erzählt, wenn sie es nur verlangen würde. Paul war sitzen geblieben und schaute ihnen zu. Sein Parka trocknete auf dem Holzgestell.

Kurt kam die Treppe hoch und grüßte kaum. Seine Winterkleidung hatte er unten gelassen und trug stattdessen eine dunkelgrüne Hose mit Taschen an den Beinen. Er zog den Kopf zwischen die mageren Schultern, zwängte sich an Max’ Koffern und an Sarah vorbei, die sich kaum Mühe machte, ihm Platz zu lassen, nahm sich ein Buch, das auf dem Tisch lag und setzte sich in eine hintere Ecke des Raumes. Niemand stellte ihn vor.

Max und Holdin umarmten sich zur Begrüßung, wie Jungen es tun, denen etwas gut gelungen ist. Sie klopften sich auf die Schultern, während Sarah sich setzte.

„Komm“, sagte Holdin, „mach es dir bequem. Ich hole uns ein Bier.“

Max zog wie alle anderen die Schuhe aus und brachte die Taschen in eine der Kammern, die Paul ihm zeigte. Zwei Etagenbetten mit vier Schlafplätzen standen dort drin. Keine weiteren Möbel. Auf den Betten ausgebreitet lag die Ausrüstung, die Holdin gekauft hatte.

Max setzte sich zu den anderen. „Kurt dort ...“, sagte er und wies mit dem Kopf in die Ecke, „habe ich schon kennengelernt. Er hat mir das Leben gerettet. Mein Gott, ich bin fast erfroren! Ich wollte einen Blick hinter das Haus werfen. Der Wind hat mich umgeworfen. Dich, Sarah …“ er prostete ihr zu, „habe ich kurz oben am Fenster gesehen. Kurt hat mir aufgeholfen.“ Er nickte ihm in seiner Ecke zu und spürte eine deutliche Spannung im Raum. „Ich danke dir!“

Kurt brummte irgendetwas, vergrub sich tiefer in sein Buch und erschrak jäh. Unten ging die Tür auf und schlug wieder zu. Der Wind stieß einen Schwall kalter Luft nach oben. Grete kam die Stufen hochgestiegen und Kurt senkte den Blick. Sie trug eine der Styroporboxen aus dem Bulli. Max und Holdin sprangen auf, um ihr zu helfen. Neben der Treppe befand sich eine Kochnische.

„Danke“, sagte Grete. Sie schien ständig wütend zu sein und kümmerte sich nicht um ihre Gäste. Max setzte sich, während sie Lebensmittel aus der Box in Schränken verstaute. Links neben der Küche sah er zwei Türen mit den Aufschriften „Badezimmer“ und „Toilette“. Alles war in Deutsch beschriftet. Ein Wandregal hielt deutsche Bücher und Zeitschriften bereit.

Sarah beugte sich zu Max herüber, während Grete in der Küche lärmte. „Sie ist wütend, weil sie allein zurückbleiben muss“, flüsterte sie. „Es ist sehr einsam hier.“

„Sie könnte mitfahren“, schlug Max vor. Sarah zuckte mit den Schultern.

Der blonde Kurt legte jetzt das Buch auf den Tisch. Er trug dicke Ringe aus Silber an beiden kleinen Fingern. Die glatten Haare hingen ihm ins Gesicht. Seine hellen Augen lagen im Schatten tiefer Höhlen und um den Hals hatte er sich einen dunkelroten Seidenschal geschlungen. Er rieb sich die dünnen Hände und wirkte rastlos. Wie quer im Leben stehend.

Jetzt erhob er sich aus seiner Ecke und ging zur Küche.

„Schau!”, sagte Sarah mit Blick auf Kurt. „Pentti hat ihn gestern von der Abendmaschine abgeholt. Er spricht kaum und ist den ganzen Tag draußen.“

Grete schien ihn nicht zu bemerken. Kurt war vor der Kochnische stehen geblieben.

Dann drehte sie sich um. Sie tat das sehr langsam und wie mit dunkler Ahnung. Die stolze Wut verschwand, sie wurde bleich vor Schreck.

„Oh mein Gott!”, sagte sie und ließ ein Messer in die Spüle fallen.

„Hallo Grete“, sagte Kurt.

„Was willst du hier?“ Das Blut schoss ihr ins Gesicht zurück. Die anderen schauten in ihre Gläser und taten uninteressiert. Wohin hätten sie sich verkriechen sollen? Es gab nur diesen einen Raum, in dem jeder seine Wäsche an den Ofen hing.

„Reg dich nicht auf“, sagte Kurt. Er hob die leeren Hände, um zu zeigen, dass er nichts Böses wolle. „Ich will nur mit ihm reden, hörst du? Ich will helfen.“

Grete hielt sich an der Arbeitsplatte fest, wich dann tiefer in die Nische zurück. Schließlich fuhr sie fort, die Lebensmittel einzuräumen, so fasste sie sich. Kurt trat zu ihr und nahm das Messer aus der Spüle, um es in einem Block in Sicherheit zu bringen. Er steckte seine Hände in die Hosentaschen, ließ jedoch die beringten kleinen Finger außen aufliegen.

„Ich brauche keine Hilfe“, sagte Grete. „Es hat sich alles geregelt. Wir haben uns zusammengerauft. Du hast mir schon geholfen.“

„Ich kann mehr für dich tun“, sagte Kurt. „Ich will nur reden mit ihm.“

„Das ist nicht nötig, verdammt. Wirst du mit ihm auf Tour gehen?“

„Da kann er nicht weglaufen“, bestätigte Kurt.

„Aber ich will bei ihm bleiben.“

„Er hat dich geschlagen.“

„Das geht niemanden etwas an. Was fabulierst du da?“ Grete schien jetzt ihre Gäste zu bemerken, die gespannt lauschten. „Er ist gut zu mir! Es geht mir gut!“

„Man darf das nicht hinnehmen“, sagte Kurt.

„Aber ... er war doch betrunken.“

„Lass mich dir helfen“, sagte er. „Ich weiß, dass ihr den Laden aufgeben müsst. Torben hat es mir erzählt.“

„Du informierst dich?“ Grete schaute zum Tisch herüber. „Mein Gott“, rief sie, wischte sich die Hände trocken und floh dann die Treppe hinunter aus dem Haus.

„Wir waren mal verheiratet, Grete und ich“, sagte Kurt in das folgende Schweigen hinein, ohne sich zu setzen. Er zündete sich eine selbst gedrehte Zigarette an, die hinter seinem rechten Ohr gesteckt hatte.

„Wo kommst du her?“, wollte Max wissen.

„Schwarzwald“, sagte Kurt. „Kirchzarten im Breisgau. Grete und ich waren seit der Schulzeit zusammen.“

„Ich gehe auf ein Internat im Schwarzwald“, sagte Paul.

„In Kirchzarten kenne ich einen Oliver Risto“, sagte Max. „Er führt Skitouren und hat selbst Hunde. Er hat mich hierher vermittelt.“

„Das ist ein Freund von uns“, sagte Kurt und meinte damit Grete und sich selbst. „Er arbeitet mit Torben zusammen.“

„Könntest du draußen rauchen?“, bat Sarah.

Die beiden starrten sich einen Augenblick lang an, dann ließ Kurt nach und erhob sich vom Tisch.

„He!“, rief Sarah ihm hinterher. „Weiß Pentti, was da läuft?“

„Nein“, sagte Kurt und blieb stehen, ohne sich umzudrehen. „Er weiß es nicht.“

„Aber wir wissen es jetzt“, sagte Sarah mit ruhiger Stimme. „Und ich mag nicht dein Komplize sein.“ Damit schickte sie ihn zum Rauchen vor die Tür. Paul und Holdin lachten in ihre Gläser. Mächtige Sarah!, dachte Max.

„Wo kommst du her?“, wollte er wissen.

„Datteln“, sagte sie. „Ruhrgebiet. Ich betreibe Sprachschulen. Und ihr?“

„Emsland“, sagte Max. „Großbeesen.“

„Was macht ihr dort?“

Darauf wusste Max nicht zu antworten. Was tat er? Kaufmann, der kein Geld mehr hat. Geschäftsführer, der keine Geschäfte führt. Sohn, der dem alten Achnitz die Rente nicht zahlt und Vater des jungen Achnitz, dessen Erbe er verspielt.

„Max und ich“, sagte Holdin, „wir brennen Schnaps.“ Er war kleiner als Max. Er war auch schlanker und weniger grob gebaut. Er lief gern und war gut in Form.

Sarah lachte. „Getrunken wird immer.“

„Holdin“, sagte Paul so leise, dass Max ihn kaum hören konnte, „er sagt, ich soll vom Internat runter.“

„Das erkläre ich dir später“, erwiderte Holdin.

„Ich bin gekommen“, sagte Sarah und lachte kehlig, „weil ich zu dick werde. Zu viele Süßigkeiten den ganzen Tag. Das macht mir Sorgen. Damit muss ich aufhören.“

„Es steht dir gut“, sagte Max voll ehrlicher Bewunderung.

„Unsinn“, lachte sie. „Ich brauche Zuschauer beim Fasten, das ist alles. Man soll mich bewundern, wenn ich hungere.“

Damit ging sie zur Küche hinüber, um aus Gretes Vorräten das Abendessen zu kochen.

„Sie isst fast nichts“, sagte Holdin.

Max stand auf und betrachtete ein Thermometer am Fenster, das über ein Kabel die Außentemperatur maß. Es zeigte zwanzig Grad unter null an. Holdin kam zu ihm herüber und deutete auf das Thermometer.

„Du musst den Wind dazurechnen“, sagte er. „Pentti hat uns erklärt, dass der Windchill bei minus neunundfünfzig Grad liegt. Das ist zu kalt, um Morgen zu starten.“ Das Fenster schien ein paar Schattierungen dunkler zu werden.

„Pentti glaubt, dass der Wind sich legt. Wir sollen gleich die Hunde mit ihm füttern.“ Es war genau achtzehn Uhr.

- 04 -

Nicht weit von Großbeesen entfernt stand wartend Hans Wagner auf einem Golfplatz und suchte Schutz vor dem Regen unter einem Baum. Er kannte den Mann nicht, den er treffen sollte, doch er wusste sehr wohl, wer das war: Hermann von Achnitz. Der große alte Schnapsbrenner. Der Mann, der den Achnitzer Torfbrand verkörperte und der jetzt als Wohltäter in allen Zeitungen genannt wurde. Er unterstütze Kinder in Rumänien, war dort zu lesen, und er bohre nach Brunnen in Afrika.

„Fahren Sie zum Golfklub Kattenmoorer Land“, hatte man Wagner in seiner Bremer Kanzlei gesagt. „Treffen Sie sich um Punkt achtzehn Uhr mit einem Klienten. Sie finden ihn auf der Driving Range.“ Das sei die Übungswiese, hatte man ihm erklärt, so als ob er das nicht wüsste. Der Klient werde allein dort sein und Wagner solle dessen Anweisungen entgegennehmen und befolgen. Ein paar Tage Abwesenheit und ... ein Augenzwinkern: Warme Unterwäsche mitnehmen. Das war alles.

Wagner war achtunddreißig Jahre alt, rund, dick und stand auf viel zu kurzen Beinen. In seinen schwarzen Dreiteilern hätte er vertrauenswürdig aussehen sollen, doch er wirkte plump. Die feisten Backen und das dünne Haar ließen ihn drollig wirken. Das hatte seiner Karriere als Rechtsanwalt fast so sehr geschadet wie die Tatsache, dass er niemanden kannte, der ihn hätte protegieren wollen. Die Kollegen in der Wirtschaftskanzlei schätzten und fürchteten seine Machenschaften zugleich und nur wenige Klienten vertrauten ihm persönlich ihre Vertretung an. Meist arbeitete er deshalb seinen Partnern zu.

Hohe Bäume umgaben die Driving Range, das Flutlicht verlor sich im kalten Nebel, der auf der Wiese lag, die in etwa die Ausmaße eines Fußballfeldes besaß. Wagner ging an einem durchwühlten Sandbunker vorbei auf eine Abschlaghütte am Ursprung des Lichtkegels zu. Fächerförmig von diesem Verschlag ausgehend lagen auf der Wiese verstreut weiße Bälle herum, die eifrige Golfer im Laufe des Tages dort hingeschlagen hatten. Im hintersten Drittel des Rasens zog ein Elektrokart seine Runden und bot ein lohnendes Ziel. Auf dem Dach blinkte ein gelbes Licht. Das Gerät war zu groß, um ein Aufsitzmäher zu sein, und zu klein für einen Traktor. Der Fahrersitz war von einem Drahtkäfig umgeben, der vor Golfbällen schützte. Wie Schnee sammelte es die Bälle ein, die auf dem Boden lagen.

Ein mechanischer ‚Klick’ drang aus der Hütte, wenn die Spielgeräte geschlagen wurden … und manchmal ein trockenes Scheppern, falls ein Ball als sein Ziel das Fahrzeug traf. Wagner lachte still beim Zuschauen. Er hatte schon eine Weile gewartet und sich die Füße vertreten. Sie steckten in warmen Schuhen aus Kalbsfell.

Es war genau achtzehn Uhr, als er schließlich vorsichtig um die Ecke schaute und in das Licht trat.

Die Hütte war in drei Boxen unterteilt, doch nur die erste davon wurde genutzt. Hermann von Achnitz schien Wagner nicht bemerkt zu haben … oder er ignorierte ihn. Er war groß, Anfang siebzig und hatte schneeweißes Haar, das früher sehr dicht gewesen sein musste, jetzt jedoch zurückging. Ein Schnauzbart und die fleischigen Falten unter dem Kinn gaben ihm etwas von einem Walross, zu dem die Hornbrille nicht passen wollte.

„Spielen Sie Golf, Herr Wagner?“ Von Achnitz sprach, ohne aufzublicken. Seine mit Nägeln bespickten Schuhe sahen so teuer aus wie die in allen Farben karierten Hosen und der schimmernde graue Rollkragenpullover. Der Golfschläger wirkte zierlich in seinen Händen. Ein Baseballschläger hätte besser dort hineingepasst. Wagner schwieg, während von Achnitz etwas hüftsteif ausholte und den Ball schlug, der in einer langen Kurve nach rechts flog.

„Es interessiert mich“, sagte Wagner mit ehrlichem Gefallen in der Stimme.

„Golf lehrt Sie Demut“, sagte von Achnitz und fügte ‚Mein Junge’ hinzu. Wagner war achtunddreißig Jahre alt, und bald würde es zu spät sein, um seine Karriere vorwärts zu bringen. Wenn Demut ein Maß für golferische Fähigkeiten war, dann wies die Stimme des Mannes auf deutliche Mängel hin, denn sie war zu laut.

„Demut!“, wiederholte er drohend. „Sobald Sie meinen, Sie hätten verstanden, worum es geht, entzieht sich das Spiel und Sie fangen ganz unten wieder an. Der Ball, den ich eben geschlagen habe, ist geradeaus gestartet und hat sich dann nach rechts vom Ziel entfernt. Das nennt man einen Slice. Er ist mein größtes Problem. Derselbe Schlag, von einem Könner geschnitten, heißt Fade. So jemand schlägt einen Ball mit Absicht nach links und lässt ihn zurück ins Ziel drehen. Ich kann das nicht. Im Prinzip ist es die gleiche Flugbahn … nur, dass der eine Schlag einem Willen folgt, und der andere nicht. Man benutzt den Fade, um Hindernisse zu umspielen oder um eine bessere Landerichtung für den Ball zu finden. Wussten Sie das?“

Von Achnitz dampfte in der feuchten Kälte. Er keuchte, als er sich bückte, um neue Munition auf der Matte zurechtzulegen.

Wagner wartete, bis er geschlagen hatte. „Nein“, sagte er dann.

„Wissen Sie, wer ich bin?“

„Hermann von Achnitz. Achnitzer Torfbrand hier in Großbeesen. Sie haben das Unternehmen groß gemacht, das jetzt von Ihrem Sohn geleitet wird. Sie sind Kunde unserer Kanzlei.“

„Das bin ich in der Tat.“ Von Achnitz lachte. „Dann wissen Sie auch, dass es dem Unternehmen nicht gut geht.“

„Es steht in der Zeitung.“ Wagner war vorsichtig geworden, während von Achnitz ruhig weiter schlug. „Ihr Sohn möchte verkaufen.“

„Richtig. Mein Sohn hat mir vor Jahren meine Anteile abgekauft und das Geld nie verdient, das er mir gab. Er steht vor dem Ruin, während es mir gut geht. Sie sollen ihn finden. Ich will meinen Betrieb zurück.“

Der alte Mann hackte wütend in die Matte, sodass der Golfball quer durch die Hütte flog und Wagner nur knapp verfehlte.

„Wie kann ich helfen?“, fragte der Rechtsanwalt.

„Er ist in Norwegen“, sagte von Achnitz. „Zusammen mit meinem Enkel und einem Buchhalter, mit dem er befreundet ist. Niemand weiß, wo genau er in Norwegen steckt. Weder seine Sekretärin, noch irgendein Reisebüro. Meine Anrufe beantwortet er nicht. Sie wurden mir als diskreter Ermittler empfohlen.“

„Meist finde ich, was ich suche“, sagte Wagner.

„Finden Sie meinen Sohn Maximilian“, fuhr Hermann von Achnitz fort. „Er will nicht hören. Hat noch nie hören wollen. Sagen Sie ihm, dass ich den Betrieb zurückkaufe.“

Er zögerte, stützte sich wütend auf den Golfschläger.

„Es ist nicht zu glauben, was der Junge zu tun gedenkt“, sagte er kopfschüttelnd. „Ich kann ihn nicht erreichen. Er will die Firma an einen Investor verkaufen. Der wartet nur auf den Anruf von meinem Sohn, dann ist der Betrieb weg. Es ist alles vorbereitet.“ Von Achnitz griff in seine Gesäßtasche, um ein Portemonnaie hervorzuholen, dem er eine American Express Platin-Karte entnahm. Er reichte sie Wagner und schaute ihn forschend an.

„Sie müssen hinten unterschreiben. Sie ist auf Ihren Namen ausgestellt und hat kein Limit. Sie nutzen sie für Ihre Ausgaben und suchen meinen Sohn. Er muss mir das Unternehmen zurückgeben. Wenn er es nicht will, dann soll es mein Neffe haben. Bitte … finden Sie die beiden. Gehen Sie jetzt.“

Von Achnitz schien ihn augenblicklich zu vergessen und fuhr fort, Bälle zu schlagen. Wagner drehte sich um. Er trug eine schwere Lammfelljacke und einen Schal. Beides lag ihm schwer auf dem dicken Bauch. Er schwitzte.

„Sie berichten an ihre Kanzlei“, rief ihm von Achnitz nach. „Dort liegen die Verträge bereit. Und … Wagner!“

Wagner drehte sich um.