Tod auf Heaven's Gate - Franziska Steinhauer - E-Book

Tod auf Heaven's Gate E-Book

Franziska Steinhauer

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Beschreibung

Als die Familie MacMilster das Herrenhaus Heaven´s Gate erbt, beschließt sie ihr neues Zuhause mit einem Fest einzuweihen. Doch was als Neuanfang mit einem großen Empfang für die Gesellschaft von Bath gedacht war, nimmt eine dramatische Wendung. Ein mysteriöser Tod am Pranger. Eine verschwundene Schwiegermutter. Blutige Spuren an einer Leiter. Und ein brutaler Überfall, der Fragen aufwirft. Was verbirgt sich hinter der idyllischen Fassade von Heaven's Gate? Ethel Blossom, eine Freundin der Familie, kommt zur Hilfe. Doch je tiefer sie in die Geheimnisse des Anwesens eintaucht, desto deutlicher wird: Hinter der gepflegten Parkanlage und den eleganten Mauern verbergen sich menschliche Gier und Niedertracht. Und ihre Suche nach der Wahrheit könnte sie das Leben kosten...

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Seitenzahl: 466

Veröffentlichungsjahr: 2025

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FRANZISKA STEINHAUER

TOD AUF HEAVEN'S GATE

FRRANKZISKA STEINHAUER

TOD AUFHEAVEN'S GATE

EIN KRIMI AUS SÜDENGLAND

Franziska Steinhauer: Der Tote auf Heaven's Gate

Ein Krimi aus Südengland.

Hamburg Dryas Verlag 2025

1. Auflage 2025

ISBN: 978-3-98672-091-9

Dieses Buch ist auch als Print erhältlich und kann über den Handel oder den Verlag bezogen werden.

ePub-eBook: 978-3-98672-091-9

Lektorat: Andrea Simon, Flörsheim

Korrektorat: Joachim Schwend, Leipzig

Umschlaggestaltung: © Christl Glatz | Guter Punkt, München unter Verwendung von Motiven von iStock/Getty Images Plus

Umschlagabbildungen: © gyn9038/iStock/Getty Images Plus;

© elcabron/iStock/Getty Images Plus; © Chris Mansfield/iStock/

Getty Images Plus; © vpopovic/iStock/Getty Images Plus;

© yunmi park/iStock/Getty Images Plus;

© powerofforever/iStock/Getty Images Plus

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Der Dryas Verlag ist ein Imprint der Bedey und Thoms Media GmbH,

Hermannstal 119k, 22119 Hamburg

[email protected]

© Dryas Verlag, Hamburg 2025

Alle Rechte vorbehalten.

https://www.dryas.de

INHALT

Prolog

2019

2024

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Prolog

2019

Steve MacMilster starrte den Computerausdruck an.

Verblüfft.

Seine zuckende Mimik schien sich nicht entscheiden zu können, ob sie ungläubiges Staunen oder unbändige Freude widerspiegeln sollte.

Beide Hände begannen zu zittern.

Eine Welle der Euphorie spülte über ihn hinweg.

Seine Gedanken überschlugen sich. »Es funktioniert! Das ist die Lösung. Der Schritt in die absolute Freiheit!« Nach einer kurzen Pause setzte er ehrfurchtsvoll flüsternd hinzu: »Der Nobelpreis! An mir können die nicht vorbei!«

Die schmalen, gepflegten Hände legten den Ausdruck beinahe zärtlich auf den Arbeitstisch zurück. MacMilster fuhr mit den Fingern über sein Gesicht.

Wow! Niemals hatte er ein solch deutliches Ergebnis erwartet.

Der Schlüssel zu einer grenzenlosen Freiheit für alle – in seiner Hand.

Seine Entdeckung: Eine Revolution, die die gesamte Welt verändern könnte.

Was nun folgen müsste, war klar.

Das übliche wissenschaftliche Prozedere. Er würde nun sein Wissen publik machen, andere könnten seine Ergebnisse bestätigen und er … würde berühmt, bekäme den Nobelpreis!

Schade nur, dass sein Vater diesen Moment des Ruhms nicht würde miterleben können.

Im Gegensatz zum Rest der Familie hatte er immer an seinen Sohn geglaubt.

MacMilster keuchte.

Grandiose Aussichten.

Wären es – theoretisch.

Doch als er an Marjorie dachte, verfinsterte sich sein Gesichtsausdruck. Gewitterwolken zogen durch sein Hirn.

Er landete unsanft in der Realität.

Seit seiner Kindheit hatte er ein schwieriges Verhältnis zu Frauen.

Besonders zu denen, die deutlich älter waren als er selbst.

Begonnen hatte es schon mit der ersten Frau, der er in seinem Leben begegnet war: Seiner Mutter.

2024

1

Das Herrenhaus in der Umgebung des Ortes Bath war weit über die Grafschaft hinaus für die Architektur und seine idyllische Lage berühmt. Bath, das in Somerset natürlich jeder kannte, hatte sich weltweit als berühmtes touristisches Ziel etabliert. Heaven's Gate, das beeindruckende, architektonische Schmuckstück mitten in einem weitläufigen Park, lag ein wenig versteckt in der Nähe eines kleinen Waldgebiets, umgeben von grünen Wiesen und Weiden.

Türmchen an den Seiten des Anwesens, das durchaus Ähnlichkeit mit einem Schloss hatte, natürlich alles in dem Gelbton gehalten, der für die Gebäude in Bath typisch war. Ein idyllischer Wohnsitz, der Steve MacMilster kürzlich von einer Verwandten als Erbe hinterlassen worden war. Die Dame hatte ein beinahe biblisches Alter von 98 Jahren erreicht. Bei Steve überwog die Freude über das Erbe – die sonderbare Alte, namens Adele, hatte er kaum gekannt, seine Trauer hielt sich daher in engen Grenzen. Aus sentimentaler Tradition hatte sie den Familiensitz in England nie veräußern wollen, und so ging das wunderbare Haus mit allen Liegenschaften an ihn über.

Steve MacMilster empfand diesen Park mit repräsentativem Herrenhaus durchaus als angemessenen Wohnsitz.

Kurz nach der Testamentseröffnung entschied er daher, die Familie werde nun endgültig nach Somerset umsiedeln. Familie war ein großes Wort dafür, dass dieser Umzug nur drei Menschen betreffen würde: seine Frau Erika, deren Mutter Marjorie und ihn selbst.

Seit Wochen schon vom neuen Herrn über Haus und Liegenschaften geplant, würde nach dem Einzug ein großes Fest ausgerichtet werden. Die Gelegenheit zum gegenseitigen Beschnuppern der neuen Nachbarn und allgemeinem Kennenlernen für alle.

Passend zu seinem Beruf als Wissenschaftler, schwebte MacMilster eine Darstellung der Errungenschaften des Regency vor.

Stolz sollten die Menschen auf all die Entdeckungen und Erfindungen dieser Zeit sein.

Während er nach der Beisetzung Adeles, im Familiengrab in Bath, durch die hohen Räume von Heaven's Gate streifte und den beeindruckenden Park inspizierte, entwarf er einen Ablauf für das Fest. Viele Ideen hatte er schon und wusste, welche Themen aufgegriffen werden sollten.

Forschung und Entwicklung in allen denkbaren Bereichen standen natürlich an erster Stelle.

Allerdings hatte er den Widerstand von Marjorie und Erikas Zweifel daran, dass ein solcher Umzug wirklich notwendig sei, deutlich unterschätzt.

»Du wirst dieses grässliche alte Gemäuer doch wohl schnell verkaufen?«, war der erste Kommentar seiner Schwiegermutter gewesen, als sie die Fotos sah, die er von einer ersten Besichtigung mitgebracht hatte. Dabei hatte sie einen giftigen Ton in die Stimme gelegt, ihn aus ihren grauen Augen wütend angefunkelt und ihren kurzgeschnittenen, rotgefärbten Kurzhaarschnitt mit den Händen durchgestrubbelt, um ihrer Aussage mehr Bedeutung zu verleihen.

»Aber nein! Dieses Herrenaus ist ein Pfeiler der Familiengeschichte. Deshalb hat Adele dieses unglaubliche Anwesen nie verkauft. Obwohl sie schon lange nur noch im Erdgeschoss wohnen konnte; es war selbstverständlich nicht für Rollstuhlfahrer erbaut worden.«

»Ja, die Altvorderen gingen nicht davon aus, dass Gebrechlichkeit sie je erreichen würde. Wahrscheinlich hielten deine Vorfahren es für selbstverständlich, bei bester Gesundheit und körperlicher Fitness steinalt zu werden. Für Siechtum war in ihrer Vorstellung kein Platz. Und für den unwahrscheinlichen Fall, dass doch eine Betreuung notwendig werden würde, stünde genug Geld für Pflegepersonal zur Verfügung.« Die alte Dame streckte den Rücken durch und zischte den Schwiegersohn zornig an. »Du glaubst doch nicht im Ernst, dass Erika und ich dort einziehen werden?«

Steve hatte selbstverständlich mit einigem Protest gerechnet.

Er lächelte garstig zurück. »Nein. Wenn du nicht willst, kannst du für dich eine andere Lösung finden. Erika hat sich schon entschieden, mich zu begleiten. Dieses Haus hier wird bereits zum nächsten Quartal auf dem Immobilienmarkt angeboten. Es steht dir also frei, es erneut zu mieten oder zu erwerben – wobei der Preis sicher hoch sein wird – oder in eine andere Bleibe umzuziehen. Ansonsten würde ich dir raten, mit dem Packen zu beginnen, damit wir den Umzug ohne Hürden bewältigen können.«

Er legte eine Packung farbenfroher Klebestreifen auf den Tisch. »Die grünen kommen an die Dinge, die mit uns umziehen werden. Die gelben an die, bei denen wir noch nicht sicher sind, ob wir sie behalten wollen und die roten an alles, von dem wir uns trennen werden. Personen natürlich ausgeschlossen.« Dabei sah er die Schwiegermutter mit einem taxierenden Blick an, als überlege er, wo genau er den roten Streifen befestigen sollte, damit sie nicht versehentlich mit dem Umzugsgut verladen würde.

Erika, die diese Szene bisher ruhig beobachtet hatte, mahnte tadelnd: »Also wirklich Steve!«

Dann nestelte sie nervös an ihrem Rock herum und zog den Saum züchtig über die Knie. »Ich möchte auch nicht unbedingt ausziehen, dennoch habe ich zugestimmt. Hier habe ich meine Freundinnen, mein Umfeld, kenne mich aus. Ich müsste soziale Kontakte völlig neu knüpfen! Und du weißt ganz genau, dass man uns gegenüber dort zurückhaltend sein wird. Unser Name ist schließlich schottisch. Vielleicht werde ich sehr einsam sein.« Sie sah ihn fragend an, ihre blauen Augen waren weit aufgerissen und ihre schmalen Hände huschten unruhig auf dem Schoß hin und her. Es war nicht zu übersehen, dass sie sich in dieser Situation unwohl fühlte.

Steve überlegte einen Moment, wer hier eigentlich die größeren Ressentiments hatte.

»Aber Erika, wir waren uns doch einig. Das wunderbare Anwesen gehört schon seit vielen Generationen der Familie MacMilster! Niemand hat irgendwelche negativen Vorurteile – im Gegenteil. Man freut sich, dass die Familie wieder einzieht, erwartet positive Impulse von uns. Adele war bei den Menschen sehr beliebt. Soziales Engagement war ihr von jeher ein Anliegen. Wir werden sicher mit offenen Armen aufgenommen«, behauptete der sportliche Mann selbstbewusst und legte seine starken Arme um seine Ehefrau, die sich fest an ihn kuschelte. Er war sich des Wahrheitsgehalts seiner Aussage allerdings nicht wirklich sicher. Aber, dachte er, wenn es negative Einstellungen gab, wäre es an ihnen, diese auszuräumen.

Und am besten funktionierte so etwas mit einem grandiosen Fest, an das man sich vielleicht auch Jahre später erinnern und noch nachfolgenden Generationen davon erzählen würde. Das wusste er genau.

Am liebsten wäre ihm ein Termin direkt nach dem Einzug der MacMilsters.

Damit wäre aufkeimendem Gerede in der Gegend jede Chance genommen.

George Winter war überrascht.

Hatte er das wirklich richtig verstanden?

Rasch entfaltete der Verwalter den Brief zum x-ten Mal, strich mit dem plumpen Endglied des rechten Zeigefingers unter den getippten Worten entlang, wobei er sich den Brief erneut laut vorlas.

»Wow! Wenn man in Bath davon erfährt, wird die Freude groß sein.« Gut, vielleicht eben auch nicht, räumte er nach dem ersten Hochgefühl mit aufkeimender Besorgnis ein.

Die MacMilsters waren in dieser Gegend nicht bei Jedermann beliebt.

Die alte Adele, die zuletzt hier gewohnt hatte, war schließlich unbestreitbar eine Hexe gewesen.

Das behauptete nicht nur Mary, seine Frau, sondern auch viele geachtete und gebildete Menschen in Bath.

Man erzählte sich die unglaublichsten Geschichten über Ereignisse, die im alten Herrenhaus stattgefunden haben sollen.

»Alles nur eitles und dummes Gerede«, hatte er immer geantwortet. »Geschwätz, wie es beim Einkaufen oder im Friseursalon ausgetauscht wird.« Doch alle Versuche, seiner Frau zu erklären, dass er, der ja im Herrenhaus arbeite, doch etwas von diesen geheimnisvollen Vorgängen hätte bemerken müssen, nichts davon sei wahr, das Getuschel sei bösartig und gemein, denn die alte Dame habe so gar nichts Hexisches an sich – konnten das Gerede nicht stoppen. »Sie ist eine alte Dame, ein bisschen vergesslich, etwas wunderlich«, war er bereit einzuräumen, mehr aber nicht!

Und nun hatte Adele doch tatsächlich dafür gesorgt, dass der Clan wieder hierherziehen würde!

Immerhin war sie noch in der Lage gewesen, ein paar Regelungen zu treffen, die nicht nur das Anwesen erhalten würden, sondern auch Georges eigenen Job bis an sein Lebensende sicherten.

Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. Adele fehlte ihm schon jetzt, ihre Freundlichkeit, ihre Schusseligkeit, ihre liebevolle Art mit Menschen umzugehen. Er seufzte tief. Mit ihr war all das verschwunden. Und Steve MacMilster, das wusste er seit der Testamentseröffnung, war ein ganz anderes Kaliber.

Herrisch. Bestimmend. Eitel.

Nun, sie würden sich zusammenraufen müssen, hatte der Notar unmissverständlich klargemacht. Das Testament habe alles eindeutig geregelt und er, der Notar, habe den Auftrag erhalten, zu überwachen, dass dieser letzte Wille eins zu eins umgesetzt würde.

Als George wenig später seiner Frau beim Tee von den Plänen des neuen Chefs im Herrenhaus erzählte, wirkte Mary überrascht.

Nachdenklich nickte sie.

Hoffte sehr, es werde alles nicht so unangenehm, wie es sich im Moment anhörte.

»Aha. Was genau plant er denn für das Fest?«, erkundigte sie sich.

»Regency. Er will originalgetreue Nachbildungen von Erfindungen dieser Epoche zeigen. Alles benutzbar. Ein großer Spaß für alle.«

»Oh, Lustbarkeiten der besonderen Art. Boxkämpfe? Pferderennen? « Mary verzog angewidert das Gesicht, fummelte ein Taschentuch aus dem Hosenbund, hauchte einen nebligen Film auf die Gläser ihrer Brille und wischte mit dem Baumwolltuch nach.

Als sie die Brille wieder aufgesetzt hatte, fragte sie: »Kutschenrennen? Wenn er über so etwas nachdenkt, brauchen wir auf jeden Fall Sanitäter vor Ort.«

»Möglicherweise denkt er auch an solche Dinge. Aber ein besonderes Augenmerk liegt auf den technischen Errungenschaften dieser Zeit, auf wissenschaftlichen Erkenntnissen. Deshalb hat er einen Nachbau des originalen ersten Omnibusses aufgetrieben und ihn schon auf den Weg zu uns gebracht. Er hat mir erklärt, er wolle daran erinnern, dass wir allen Grund haben, stolz auf uns, unsere Geschichte und unsere Wissenschaftler zu sein.«

»Es geht darum, die Leute in der Umgebung einzuwickeln? Oh, da wäre es sicher eine gute Idee, er käme vorbei und würde das Anwesen besichtigen. Die Menschen lassen sich von einem MacMilster eher keinen Honig ums Maul schmieren«, erklärte Mary entschieden und nahm einen großen Schluck aus der Teetasse. »Du solltest ihm zu verstehen geben, dass man heute völlig andere Gesprächsthemen hat. Politische Debatten an allen Orten, sogar im Pub und beim Friseur!«

»Ich werde ihm vorschlagen, das Anwesen vorab noch einmal zu besuchen. Ist eine gute Idee von dir.« George schlug sich mit beiden Händen auf die Oberschenkel. »Im Grunde haben wir das schon kurz besprochen. Muss ja alles koordiniert werden, Auszug, Umzug, Einzug … da darf nichts daneben gehen. Und die Lage vorab zu sondieren, ist sicher gut, hilft bei der Planung des Festes und gießt die allgemeinen Überlegungen zu Was und Wie in eine Form. Er muss bei der Umsetzung natürlich die Gegebenheiten vor Ort berücksichtigen.«

»Vielleicht bringt er seine Frau mit? Er hat doch vor einigen Jahren geheiratet. Oder irre ich mich?«

»Ob er sie zum Kurzbesuch mitbringt, kann ich nicht sagen. Umziehen werden er, seine Frau und deren Mutter. Jedenfalls habe ich das so verstanden.

»Ach wirklich?«, staunte Mary, »Adele hat mir vor wenigen Monaten erzählt, er komme mit seiner Schwiegermutter gar nicht gut aus. Er habe ihr beim letzten Telefongespräch sein Leid geklagt. Sie sei ein zänkisches Weib, mische sich ständig in die ehelichen Angelegenheiten der Tochter ein, hetze gegen ihn. Und diese Frau bringt er mit? Wie dumm kann ein Mann sein?«

2

Das Verpacken der Habe dauerte.

Steve verstand nicht, wie man so lange über die Frage diskutieren konnte, welche Schuhe, Kleidungsstücke, Bücher, Möbel und anderes mitgenommen werden sollten.

Er selbst hatte nicht einmal zwei Tage benötigt, um die bunten Aufkleber zu verteilen.

Und diese ewige Streiterei!

Er war schon vor dem Umzug restlos bedient.

Seine Frau konnte sich von jeher schwer entscheiden. Schon beim Frühstück geriet sie bei der Frage welcher Belag aufs Brötchen sollte in Stress. Anstrengend genug, doch nun diskutierte auch noch Marjorie sinnlos über das Mitnehmen von Dingen, die man im Zweifel ohne Schwierigkeiten ersetzen konnte, sollten sie im neuen Alltag tatsächlich fehlen.

Er seufzte.

Streit und Gezeter in jeder Minute.

»Ich fahre nach Heaven‘s Gate. George hat noch Fragen zur Organisation des Festes. Übermorgen bin ich zurück. Bis dahin müssen alle Entscheidungen zum Gepäck getroffen sein. Mit mir rückt das Transportunternehmen an, schließlich müssen der Stauraum berechnet und der Platzbedarf gut geplant werden. Was nicht verpackt und gekennzeichnet ist, bleibt hier.«

Als er in seinem schnittigen dunkelblauen Aston Martin unterwegs war, spürte er die Erleichterung mit jedem Kilometer, den er sich vom bisherigen Heim entfernte, wachsen. Es war, als lösten sich dunkle, dräuende Gewitterwolken in ein belangloses Nichts auf.

»Wie konnte ich nur zustimmen, diese Schabracke bei uns einziehen zu lassen? Ich Idiot!«, schimpfte er laut vor sich hin. »Ich hoffe, sie will letztendlich doch nicht mit uns umziehen! Wie wunderbar könnte alles ohne diese Frau sein!«

Die Landschaft, die er in den nächsten Stunden durchfuhr, wirkte auch ohne umherschweifende Orks wie ein Teil von Tolkiens Mittelerde. Man wäre nicht überrascht gewesen, wenn Gandalf auf seinem weißen Pferd am Horizont zu sehen gewesen wäre – inmitten einer Gruppe Hobbits. Geheimnisvoll, verwunschen, geschichtsträchtig.

Sanfte Hügel, hohe Berge, menschenleer.

Je mehr er sich Bath näherte, desto deutlicher änderte sich die Umgebung. Es kam ihm vor, als öffne sich ein Tor zu einer anderen Welt.

Bath selbst war ohnehin einzigartig.

Traditionell waren alle Gebäude im selben Beigeton gehalten, der ihn stets an von der Sonne beschienenen Sand erinnerte. Unkundigen Besuchern kam das in der Regel befremdlich vor – aber für die Menschen der Gegend machte genau das den Charme der Stadt aus.

Entspannt ließ er das Fenster auf der Fahrerseite runter und atmete zufrieden den Duft der Stadt und der Gegend ein.

»Hallo, ich bin zurück. Ab jetzt gehört Heaven‘s Gate mir – und ich werde es berühmt machen. Ihr könnt schon bald sehen, was meine Rückkehr für euch bedeutet! Ich weiß, ihr werdet mir dankbar sein!«, sang er vor sich hin.

Die Straße zum Herrenhaus führte an duftenden Wiesen und Feldern vorbei.

Schafe grasten am Rand der Zufahrtstrecke und sorgten durch ihre schiere Existenz und Anwesenheit für Entspannung und Behaglichkeit.

Steve winkte ihnen fröhlich zu.

War selbst davon überrascht, wie schnell sich seine Laune gebessert hatte.

Der Anblick des Herrenhauses erteilte der Leichtigkeit jedoch einen deutlichen Dämpfer.

»Oh, George, ich denke, da ist mehr als nur ein Topf Farbe notwendig.«

Sollte er halten und schon vorab allein über das Gelände schlendern?

Er entschied sich dagegen. Vielleicht wäre George über solch einen Vorabcheck verärgert, könnte das als Vertrauensbruch werten und so würde die zukünftige Zusammenarbeit mit dem »Verwalter auf Lebenszeit« belastet, bevor sie richtig begonnen hatte.

George Winter erwartete ihn vor dem Häuschen, das fest mit dem Job des Verwalters verknüpft war.

»Welcome, Steve!«, begrüßte er den neuen Herrn von Heaven‘s Gate. »Ich hoffe, du konntest schon einen längeren und intensiveren Blick auf das Gebäude werfen?«

»Nur kurz. Im Vorbeifahren. Ich hoffe, du gönnst mir eine Führung! Ist eine ganze Weile her, dass ich zu Besuch hier war.« Er schüttelte dem Verwalter freundschaftlich die Hand.

»Klar, beim letzten Termin bot sich keine Gelegenheit für eine ausführliche Parktour. Das holen wir nach. Ist natürlich wichtig, schon um die einzelnen Stationen für das Begrüßungsevent festzulegen und sinnvoll auf dem Gelände zu verorten.« George machte mit den Armen eine raumgreifende Bewegung. »Wie geht es denn den beiden Damen mit deiner Entscheidung, in unsere Gegend zu ziehen?«

»Ich denke, die beiden werden sich rasch eingewöhnen. Sie sind sehr aufgeregt, packen eifrig. Muss ja bis in ein paar Wochen alles fertig geregelt sein«, log er dann.

George lachte leise. »Wird schon werden. Die Leute in der Gegend brauchen noch ein bisschen Zeit, um sich mit der Vorstellung anzufreunden, dass wieder MacMilsters im Herrenhaus wohnen werden.«

Steve zog die linke Augenbraue hoch. »Ist das so? Ja?« Dann setzte er hinzu: »Nun, sie werden sich daran gewöhnen müssen. Adele Sands war auch eine geborene Mac-Milster, das haben die Leute nur vergessen, denn man nannte sie immer nur Lady Adele. Es war ihr ausdrücklicher Wunsch, dass hier wieder MacMilsters leben, die den Namen mit Stolz führen.«

Der Ton versprach Ärger und Probleme für die nahe Zukunft.

George war nicht überrascht.

Die männliche Linie, wusste er, hatte von jeher schwierige Menschen hervorgebracht. Steve war da offensichtlich keine Ausnahme.

»Deshalb das große Fest, nicht wahr?« Der Verwalter warf dem neuen Besitzer einen langen Blick zu. »Die Leute sollen sehen, dass die neue Generation aus netten Menschen besteht.«

»Wenn du es so ausdrücken möchtest: JA. Wir sind auf dem Weg hierher, weil wir bleiben wollen.«

»Prima. Ist eine gute Entscheidung für Heaven‘s Gate«, behauptete George wider besseres Wissen.

Aber das würden die MacMilsters mit der Zeit ganz allein herausfinden.

George überlegte, ob er Steve abraten sollte, sofort mit Sack und Pack umzuziehen – doch wenn er es genau betrachtete, ging ihn das nichts an. Steve hatte seine Entscheidung ohnehin schon getroffen und wirkte nicht so, als sei in dieser Frage noch Diskussionsspielraum vorhanden.

»Erst einen Tee und danach eine Tour über das gesamte Gelände – oder lieber in umgekehrter Reihenfolge?«, erkundigte er sich.

»Erst Tee, dann über das Gelände. Danach müssen wir vor allen anderen Überlegungen die Route festlegen, die der Omnibus nehmen soll. Vorbei an allen Stationen und Attraktionen. Die Reihenfolge der Stände oder Plätze für Aktivitäten verorten wir danach. Sportliche Aktivitäten sollten am besten über das gesamte Areal verstreut werden So erzeugen wir einen Wechsel zwischen Kulinarik, Wissenschaft und allgemeinen Aktivitäten.«

»Gut, ich habe einen Plan vorbereitet, auf dem wir die einzelnen Aktionsorte oder Stände gut verteilen können. So werden wir leicht erkennen, wer am besten neben wem aufgebaut werden soll. Schließlich sollen sich die einzelnen Themenzelte nicht gegenseitig stören oder gar behindern. Außerdem brauchen wir Platz für die Notarztwagen und das Nothilfezelt. Auch die Feuerwehr will präsent sein. Die wünschen sich einen Stand mit Aufklärungsmaterial zur Vorbeugung von Bränden, eine Kennzeichnung der Fluchtwege, Hinweise zum Verhalten im Fall der Fälle.«

»Das habe ich mir schon gedacht. Wir brauchen, neben den Wachleuten der Sicherheitsfirma in Bath, ebenfalls eine zurückhaltend agierende Polizeipräsenz. Taschendiebe, gestohlene Spendenkassen … muss ja nicht sein.« Steve zog die linke Braue hoch.

»Es bleibt bei Regency?«

»Ja. Eine sehr erfolgreiche Zeit des Wandels. Jede Menge Innovation. Wir präsentieren so viel wie möglich davon. Ein Ideenwettbewerb für junge Entwickler im Bereich umweltfreundliche Technologien würde mir ebenfalls gut gefallen. Den Preis stifte natürlich ich. Und vielleicht vergebe ich ihn danach in einem bestimmten Rhythmus – zum Beispiel alle zwei Jahre. Mal sehen.«

»So hoch möchtest du das Fest ansetzen? Als zuverlässig wiederkehrendes Event – du willst nicht nur die Rückkehr der MacMilsters feiern?«

»Aber ja! Und es ist extrem wichtig, alle lokalen Betriebe einzubinden. Brauer, Winzer, Bäcker – Handwerker aller Art. Wer möchte, kann einen Stand bekommen und seine Erzeugnisse und Dienstleistungen anbieten. Kostümierung ist selbstverständlich Bedingung – Regency eben. Wettbewerbe, Spiele und ähnliche Aktionen gehören ebenfalls dazu. Spaß auch für die Jüngeren.«

»Hallo Steve«, begrüßte Mary den Besucher herzlich. »Wie schade, dass du deine Frau nicht mitgebracht hast, damit sie sich alles ansehen kann.«

»Na ja, ist gerade ein bisschen hektisch bei uns.« Der Gast bemühte sich um einen neutralen Ton. »Es wird ein großer Umzug, der braucht gute Vorbereitung.«

»Ich kann mir vorstellen, dass das Packen viel Arbeit macht«, erklärte Mary mitfühlend.

»Zumal meine Frau sich für das bevorstehende Abenteuer nicht so recht begeistern kann«, räumte Steve ehrlich ein. »Ihre Mutter will am liebsten gar nicht umziehen.«

»Ach«, Mary machte eine beschwichtigende Geste. »Das wird schon, wenn sie erstmal hier ist. Und bei Fragen oder Problemen kann sie sich jederzeit an mich wenden.«

Sie hob ein großes Stück Obsttorte auf Steves Teller und schenkte Tee ein.

»Du solltest mich nicht so verwöhnen«, wehrte der Gast lachend ab. »Ich bin kein tobendes, kalorienverbrennendes Kind mehr. Heute findet jede überschüssige Kalorie ein gemütliches Plätzchen an meinem Körper, um sich dort festzukrallen.«

Mary stimmt fröhlich ein.

George dagegen, kämpfte mit Vorahnungen, die so gar nicht in die entspannte und erwartungsvolle Stimmung passen wollten.

»Es ist wirklich schön, wieder hier zu sein«, murmelte Steve mit vollem Mund. »Die Pflaumen sind aus deinem Garten?«

»Ja«, antwortete George. »Mit Liebe gezogen. Das schmeckt man ihnen an.«

Mary meinte: »Du willst ein wirklich großes Fest ausrichten, sobald du eingezogen bist. Bath hat fast kein anderes Gesprächsthema mehr.« Sie klang begeistert, war offensichtlich voller Vorfreude. »Ich hoffe, es wird ein richtig schönes, entspanntes Wochenende.«

Eine Stunde später brachen Steve und George zu ihrer Tour auf.

Nach den ersten Absprachen, wurde langsam erkennbar, wie sich alles aneinanderreihen und zu thematischen Gruppen vereinen könnte. Die Standorte für Feuerwehr- und Notarztzelt waren schnell zu benennen gewesen. Es musste sichergestellt sein, dass die Fahrzeuge barrierefrei in den Park und auch vom Anwesen zurück auf die Straße gelangen konnten.

George war von der Planung beeindruckt, hielt sogar manchmal überrascht den Atem an.

»Ich habe mit dem Museum vereinbart, dass die Replik des wohl weltweit ersten Omnibusses am Mittwoch vor dem Fest geliefert wird. Dieser Bus hält an jeder Station, lässt Gäste aus- und andere einsteigen. Tickets können erworben werden – für den symbolischen Preis von einem Penny. Mit dem Ticket kann man unbegrenzt zu- und aussteigen. Daneben bieten wir Kutschfahrten an. Mit Freisitz oben auf dem Dach. Natürlich alles auf eigene Gefahr. Damals gab es schwere Stürze vom Kutschdach. Die Kutschen werden also sehr langsam über die Parkwege fahren. Sportliche Aktivitäte wie das Rennen gegen die Uhr – sah damals anders aus als heute. Sekunden, Millisekunden? Gab es nicht. Buchdruckverfahren, damals moderne Verfahren zum Plakatdruck. Rechtssystem – Pranger, Tauchstuhl und andere perfide Gerätschaften. Zum Ausprobieren.«

George wiegte nachdenklich den Kopf. Zweifel waren ihm ins Gesicht geschrieben. »Im Zeitalter der neuen leistungsstarken Computer und von KI? Ehrlich gesagt bin ich nicht sicher, dass dieses Konzept die von dir erhoffte Begeisterung auslösen wird. Ich fürchte, die damalige Zugkraft der Neuerungen wird heute nicht mehr überzeugen.«

»Ach was! All unsere aktuellen Errungenschaften, basieren auf den Erkenntnissen unserer Vordenker. Sie schufen die Wurzeln, die unser angenehmes Leben erst möglich machen. Und natürlich werden wir auch neue Technologien vorstellen, Ausblicke bieten. Wie wird KI sich entwickeln? Wie profitiert der Normalbürger davon? Welche Entdeckungen sind in Arbeit? Autonomes Fahren ist auch ein Thema.«

George tat, was er immer machte, wenn er auf Widerstand bei der Herrschaft stieß: Er strich die Segel.

»Bestimmt hast du recht. ›Es ist kein Fehler, sich an die Wurzeln zu erinnern, wenn man die Früchte ernten will‹.«

»Genau«, stimmte Steve zu und beschloss, sich diesen Satz des Verwalters gut einzuprägen. Mit dem konnte man gut punkten. Vielleichte taugte der sogar als Motto für das Fest.

»Dirnen?«, schlug George vor. »Stark geschminkte, aufgebrezelte Damen unter der Parkbeleuchtung? Die gehören doch zum Bild dazu.«

»Hm. Das sorgt gern für Probleme. Die Ehefrauen finden das nicht gut – und bei der momentanen aggressi geführten Diskussion um Gleichberechtigung, sehe ich in dem Thema Zündstoff. Diesen Teil lassen wir besser weg. Aber gut, grell geschminkt und auffällig passt schon zu diesem Event.«

»Ach, na gut. Du willst keinen Ärger.« George nickte verständnisvoll.

»Es kann getanzt werden, manche wollen vielleicht mitsingen. Das muss als Freudentaumel eben reichen. Und für diejenigen, die gern Eindruck machen möchten, habe ich auch schon eine Idee: Wer möchte, kommt im Kostüm und wir engagieren einen Profi-Fotografen, der die Kostümierten aufnimmt und den Dargestellten einen Abzug zukommen lässt«, entschied Steve. »Gern auch Fotos von besonders ausstaffierten Damen. Wenn Kinder fragen, warum die Frau im Gesicht so bunt angemalt ist, so sonderbar guckt und mit dem Po wackelt wird den Eltern schon eine Begründung einfallen. Sowas wie, ›manche Frauen möchten gern besonders auffallen‹.«

Der Kerl hat aber wirklich immer superschnell eine Lösung für Probleme parat, dachte Steve und war ein wenig neidisch.

Vor seinem geistigen Auge konnte er schon die Damen in entsprechenden Roben durch den Park flanieren sehen, am Arm galanter Herren in passendem Outfit.

»Wir prämieren das schönste Kostüm! Uns fällt bestimmt noch viel mehr ein«, freute sich Steve.

»Das glaube ich gern«, gab George zurück und Steve war sich nicht sicher, ob der Verwalter diese Bemerkung ironisch gemeint hatte.

3

»Wie kann dein Mann es wagen?«, fauchte Marjorie und schleuderte eine ihrer Blusen in die neue Kiste für die Sozialstation – diesmal in Bath.

Steve war sich darüber im Klaren, dass die Damen sicher zu viel eingepackt hatten und sich nach der Ankunft im Herrenhaus von einigen Dingen würden trennen wollen. So hatte er dafür gesorgt, dass geeignete Kartons zur Verfügung standen. Schließlich lebte er nicht erst seit gestern mit ihnen im Trio.

»Ihm gehört das Haus. Er kann es verkaufen, wann und an wen er will. Unsere Einwilligung ist nicht notwendig«, gab ihre Tochter achselzuckend zurück, während sie eine kleine Messingteekanne sorgfältig auf Beulen absuchte.

»Wir sollen uns von der Hälfte unserer Habe trennen! Steve ist verrückt geworden!«, schimpfte die Mutter weiter.

»Aber dafür wohnen wir hier auf dem Herrensitz. Schon der Name ist ein Versprechen: Heaven‘s Gate! Drumherum ist ein malerischer Park. Ich denke, man kann sich durchaus wohlfühlen. Man muss es nur wollen.« Erika entschied, die Kanne auszumustern, wickelte sie in Zeitungspapier und legte sie in eine Kiste mit rotem Klebestreifen. »Haushaltswaren« stand mit dickem Filzstift auf dem Deckel geschrieben.

»Dein Mann hat uns aus unserem Zuhause geworfen.« Marjorie zeterte unbeirrt weiter.

»Er hat dir gesagt, wenn du willst, kannst du dortbleiben. Kauf das Haus – und gut.« Erika hatte keine Lust auf diese Endlosschleife. »Er hat fair entschieden – wir wussten Bescheid.«

»Fair?« Die Frage wurde laut und schrill gestellt. »Wie kannst du so ein dummes Zeug reden? Er hat diese Entscheidung trotz unseres Protestes getroffen!«

»Deines«, stellte die Tochter kalt klar.

»Was?«

»Deines Protestes«, wiederholte Erika zuvorkommend. »Ich habe nicht protestiert.«

»Ach!«

»Die meisten Entscheidungen, die Steve getroffen hat, habe ich gern mitgetragen. Gut, die Sache mit dem Kinderkriegen – okay …Aber den Umzug trage ich mit. Für mich ändert sich dadurch nicht viel. Freundinnen, die mir nachtrauern, habe ich nicht, eher lockere Bekanntschaften. Und hier lebe ich in einer wunderbaren Umgebung.« Sie stapfte aus dem Zimmer und wenig später hörte Marjorie, wie der Riegel zu Erikas Zimmer zugeschoben wurde.

Während Marjorie weiter wütend Dinge in die Kisten schleuderte, kam sie zu einer völlig neuen Einschätzung der Lage: Steve wollte sie endgültig loswerden! Klar, spann sie diesen Gedankenfaden weiter, ihre Tochter konnte sich nie widersetzen – also musste sie, als verantwortungsbewusste Mutter, dafür Sorge tragen, dass Erika nicht vollkommen seinem Willen unterworfen war.

Ihr widerlicher Schwiegersohn würde begreifen müssen, dass er sie nicht wie ein lästiges Insekt abstreifen oder aus dem Haus wedeln konnte.

Mit frisch erstarktem Elan setzte sie das Aussortieren fort.

Beinahe schon gut gelaunt.

Um ein Haar hätte sie sogar ein Lied geträllert.

4

Steve hatte sich unter die Gäste des Welcome-Events gemischt.

Zufrieden registrierte er die Begeisterung der Besucher – ihre Neugier, ihren Forscherdrang und ihre Abenteuerlust. Bisher war keiner der wagemutigen Fahrgäste vom Außensitzplatz der Kutsche gestürzt und außer mit kleineren Blessuren, die mit einem Pflaster versorgt werden konnten, hatte sich niemand bei den Sanitätern gemeldet. Die Erfindungen wurden unter großem Hallo ausprobiert, der Boxkampf verlief fair und ohne Blessuren, das Radfahren auf dem alten »Drahtesel« sorgte für gute Laune. Und der Park von Heaven‘s Gate wurde zum Laufsteg: Damen in edlen Roben, Herren im Cut promenierten lässig zwischen den Zelten und Buden umher. Manche der Damen hatten Spitzenschirmchen aufgespannt, trugen Spitzenhandschuhe und grüßten mit verhaltenem Lächeln stolz ins Rund.

Fotografen hielten die Ausstattungen der Promenierer im Bild fest.

Schließlich hatte das schönste Outfit des ersten Tages einen Preis erhalten.

Erfreut hatte Steve gehört, wie begeistert sich die Menschen bei Nachfragen der Pressevertreter über das Fest geäußert hatten. Es würde mit Sicherheit einen sehr positiven Artikel über das Regency-Spektakel auf Heaven's Gate geben.

Besonderen Andrang gab es beim Technikzelt.

Aber auch das damals gängige Bild der Planeten, deren Anordnung und Umlaufbahnen, stieß auf reges Interesse.

Gesellschaftliche Regeln, längst vergessene Gesetzestexte sorgten für lebhafte Diskussionen. Der Tauchstuhl, der dem Angeklagten dabei ›helfen‹« sollte, seine Untat zu gestehen, wurde ausprobiert, der Pranger, die damalige Form von Social-Media, munter genutzt. Aber natürlich wurde nicht mit Steinen geworfen, wie es damals üblich war, sondern mit weichen Schaumstoffbällen – unter lautem Gejohle des versammelten Publikums.

»Die Folterinstrumente und Erklärungen der Methoden sind bei den Gästen gut angekommen«, stellte Steve fest. »Morbides Interesse an Foltermethoden ist weit verbreitet.«

Auch George war zufrieden. »Du hast mit deiner Regency-Idee voll ins Schwarze getroffen. Ich war ja skeptisch, aber nun halte ich in Zukunft wohl eher die Klappe, wenn du etwas vorschlägst«, seufzte er und setzte fort: »Zum Glück halten sich die Besucher an die Wege. Ich war schon ein bisschen besorgt. Lady Adele liebte die fantasievoll angelegten Beetstrukturen und gepflanzten Ornamente.« Er seufzte tief. Sie fehlte ihm sehr, aber das würde er dem neuen Herrn auf Heaven's Gate besser nicht erzählen.

Aufmerksam glitt sein Blick über die Buden und Stände. »Der Putztrupp wird eine Weile brauchen, um hier alles wieder in den ursprünglichen Zustand zu versetzen. Nun stehen schon überall Mülleimer und die Leute werfen dennoch Papier und Verpackungen einfach ins Gebüsch«, knurrte er empört.

Steve grinste und schwieg.

»Hoffentlich gehen jetzt wirklich alle! Und zwar zügig!« George sah sich hektisch um. »Sind noch viele hier.«

»Wir haben ein ›Räumkommando‹ engagiert. Das treibt alle raus, überprüft das gesamte Gelände und verschließt die Zugänge. Meine Schwiegermutter hat behauptet, sie könne sonst kein Auge zu tun. Schließlich sei zu befürchten, dass sich ›finstere Typen‹ hier verstecken, die nachts unbemerkt ins Herrenhaus eindringen, um die neuen Bewohner auszurauben.« Die Stimme des Hausherrn klang frostig.

Die am Tage im Gedränge kaum zu sehende Pferderennbahn lag nun still und leer vor ihnen.

Nur der Staub schien noch hartnäckig in der Luft zu hängen.

Leises Prusten aus dem Stallzelt war zu hören. Es klang, als unterhielten sich die Tiere entspannt über den ereignisreichen Tag.

Steve nieste, putzte sich die Nase und nieste erneut. »Bin allergisch, unter anderem auch gegen Staub und Pferdehaare«, erklärte er und verzog genervt das Gesicht. »Ist aber nicht so tragisch!«, setzte er nach einem Blick in Georges besorgte Miene hinzu.

Bei den Stallungen waren Betreuer im Einsatz, schepperten mit Wassereimern, redeten ruhig und ganz selbstverständlich mit den Tieren, als führten sie einen echten Dialog.

George lachte leise: »Ich wüsste ja gern, was die Tiere tatsächlich antworten. ›Mann, lass uns nach Hause gehen! Hier ist es mir zu voll!‹, wäre ein denkbarer Text.«

»Meist du? Ich hatte den Eindruck, sie sind gern gelaufen. Das Jubeln des Publikums hat ihnen bestimmt gefallen«, Steve schmunzelte, dachte an die Männer und Frauen, die ihre Hüte geschwenkt und ihren Favoriten angefeuert hatten.

»Immerhin war meine Schwiegermutter klug genug, keinen hysterischen Auftritt hinzulegen. Ich hatte beinahe erwartet, dass ihr etwas einfallen würde, um das Fest zu torpedieren«, murmelte er.

Verwundert registrierte George die Nervosität des neuen Hausherrn.

»Bis jetzt hat doch alles bestens geklappt. Der Omnibus kam zwar erst kurz vor knapp – aber noch rechtzeitig. Die Leute genießen das Fest und der Ärger mit Bath ist erstmal verschoben. Nach dem Fest wird es ohnehin keine allzu laute Kritik am Einzug der MacMilsters mehr geben«, behauptete er standhaft, versuchte, die Stimmung wieder zu heben.

»Nun warten wir gespannt auf die Presse und die Berichte im lokalen Fernsehsender oder dem Radio.« MacMilster klang unzufrieden. »Die Zeitungen werden das prämierte Paar in seiner perfekten Kostümierung abdrucken. Läuft!«, erklärte er schmunzelnd, doch der gereizte Unterton blieb.

George ahnte auch, warum das so war. Eigentlich hatte der neue Eigentümer darauf gehofft, er könne heute dem versammelten Publikum berichten, er sei für den Nobelpreis im Bereich Biologie vorgeschlagenen worden und würde nun damit ausgezeichnet, weil er die Teleportation in den Bereich des Machbaren gehievt hatte. Doch der Anruf des Gremiums, das die endgültige Entscheidung traf, war ausgeblieben. Allerdings hatte er auch nicht gehört, ein anderer habe die Auszeichnung bekommen, oder sei in der engeren Wahl.

Natürlich, entschied der Verwalter, würde er dieses heikle Thema besser nicht ansprechen. Offiziell wusste er gar nichts von diesem Plan.

Stattdessen schlug er vor: »Ich mache noch eine weitere Tour durch die Zelte, scheuche alle auf, die nach meiner ersten Aufforderung dort noch unterwegs sind. Danach sorge ich dafür, dass vor der Grundstücksmauer auf dem Pop-Up-Campingplatz Ruhe herrscht und wir nicht mit bösen Überraschungen rechnen müssen. Die Camper dort hatten großes Glück. Die Polizei hat sie nicht vertrieben, nur darauf verwiesen, dass bis morgen Abend der Platz sauber und vollständig beräumt verlassen werden muss. Gegröle und alkoholische Ausfälle sorgen nur für Ärger. Muss ja nicht sein, dass dieses friedliche Fest so was nach sich zieht.«

Steve schwieg.

Verwundert wandte George den Kopf in die Blickrichtung des Hausherrn.

»Was zum Henker ist denn nun schon wieder…«, fluchte er dann.

MacMilster keuchte entsetzt. »Rettungswagen! Polizei«, entschied Steve. »Sofort. Die sollen ein Team schicken!«

Er richtete den Strahl der Taschenlampe auf den Pranger.

Fluchte erneut und rannte los.

George folgte ihm ratlos.

Erst als er neben MacMilster stand, wurde ihm der Grund der Aufregung klar. »Herrje, wie hat er denn das geschafft?« Er begann wild an der Konstruktion zu ruckeln. »Wir müssen ihn da rausholen! Lebt der noch?«

»Nein, das glaube ich nicht.« Steve griff nach dem Arm des Mannes, suchte den Puls am Handgelenk. »Nein, da ist nichts mehr. Wie konnte das passieren? Jeder kann das Ding ganz einfach öffnen und sich ›befreien‹« Steve führte den Lichtstrahl über die gesamte Vorrichtung, versuchte hektisch, das obere Teil der Konstruktion mit großer Kraft anzuheben, murmelte schließlich fassungslos: »Das kriegst du nicht auf! Jemand hat den Mechanismus manipuliert.«

George pfiff leise: »Willst du mir damit zu verstehen geben, dass der arme Kerl sich gar nicht befreien konnte?«

»Genau!« Steves Stimme klang rau. »Genau das. Und wir kriegen ihn da auch nicht raus.«

George nickte langsam, trat zur Seite und telefonierte mit der Polizei in Bath. Einige Fetzen des Gesprächs wehten zu MacMilster hinüber.

»Weiß ich doch auch nicht! Das müssen Ihre Leute schon selbst herausfinden! Ja! Dazu müssen sie wohl herkommen! Herrgott noch mal!«

Es entstand eine Pause. »Woher soll ich das wissen?«, hörte er die gereizte Stimme von George, während er selbst in die Hocke ging und versuchte, dem Toten ins Gesicht zu sehen. »Nein, ich weiß nicht, wer das ist!«, polterte George erbost. »Ihre Leute werden wohl oder übel herkommen müssen!«

Steve schüttelte den Kopf, leuchtete dem Opfer ins Gesicht.

Ächzte.

Er war jung, sehr jung.

Warum hatte jemand es für eine gute Idee gehalten, ihn ausgerechnet bei diesem Fest auf Heaven‘s Gate zu ermorden? Und warum stand, oder zutreffender, hing, er im Pranger?

Es dauerte gar nicht lang, und es wimmelte von Polizei im Park.

»Und es ist niemandem aufgefallen, dass dort am Pranger noch jemand stand?«, erkundigte sich der dunkelhaarige, wie für den Laufsteg eines Modelabels gekleidete Ermittler, der sich als DI Nicolas Carmichael vorgestellt hatte.

»Offensichtlich nicht. Sonst wären die Bobbies vor Ort sicher darauf angesprochen worden. Schließlich waren die hier, um das Gelände zu sichern.«

Steve merkte, wie seine Hände, die er in die Jackentasche gesteckt hatte, zitterten und kalt gegen den Körper drückten.

»Was wurde denn hier gefeiert?«, erkundigte sich Emely Bright, die Kollegin Carmichaels, leise, als fürchte sie, jemanden zu erschrecken. Dabei strich sie ihre roten, lockigen Haare hinter die Ohren, wo sie aber nicht bleiben wollten und ihr wieder ins Gesicht fielen.

»Der Einzug der Familie ins Herrenhaus. Eine Party mit dem Schwerpunkt Regency.« Auch George war der Schock anzuhören.

»Erfindungen aus dieser Zeit, wissenschaftliche Erkenntnisse, Fahrzeuge, damals spektakuläre Erkenntnisse über den Weltraum neben aktuellem Wissen … solche Dinge. Kostüme wurden prämiert. Wettkämpfe ausgetragen.« Steves Stimme verdorrte, wurde heiser, schließlich fast tonlos.

»Ein Fest für jedermann?«, hakte die Ermittlerin nach, die sich als DI Emely Bright vorgestellt hatte.

»Ja«, antwortete Steve. »Für jedermann bei freiem Eintritt. Für einen Penny konnte man im allerersten Omnibus fahren. Die Fahrkarte war als Souvenir gedacht, das die Menschen an dieses Fest erinnern würde.«

»Aber den Toten haben Sie erst vor etwa einer Stunde gefunden?« Carmichael zog seinen Tweedmantel fester um die Mitte, als friere er, und schob das schwarze Gestell seiner großen, viereckigen Brille auf der Nase etwas höher.

»Ja. Wir haben sofort die Polizei verständigt. Die Schließvorrichtung des Prangers ist im Grunde kinderleicht zu öffnen – darauf haben wir geachtet, damit jeder das Gestell verlassen konnte, wann er wollte. Die meisten haben sich ohnehin nur für einen Schnappschuss reingeklemmt«, erklärte George kopfschüttelnd. »Jemand muss den Mechanismus manipuliert haben.«

Ein anderer Mann schob sich eilig an den Kriminalkommissaren vorbei.

»Rechtsmedizin«, erklärte Carmichael, der dem fragenden Blick Steves begegnet war. »Doktor Peter Collins.«

»Haben Sie auch in den anderen Zelten nachgesehen, ob es vielleicht noch mehr Opfer gibt?«, erkundigte sich der Neuankömmling sachlich.

»Nein, nein, nein«, stöhnte George entgeistert. »In den anderen könnten auch Tote liegen?«

»Wir waren auf einer letzten Tour, um nachzusehen, ob sich wirklich alle Gäste auf den Heimweg gemacht hatten. Wenn wir die Tore zusperren, kommt keiner mehr raus. Unsere Alarmanlage ist unüberhörbar.« Steve schüttelte ratlos den Kopf. »Ich verstehe nicht, wie das passieren konnte.«

»Ist noch jemand im Haus?«, schoss DI Bright knapp eine Frage in die Nacht.

»Ja. Meine Frau und meine Schwiegermutter sowie drei Bedienstete. Und Mary, die Frau meines Verwalters, im Nachbarhaus.«

»Phil, Bill, Conrad!«, rief Bright laut über das inzwischen ausgeleuchtete Gelände. »Ihr geht zum Herrenhaus und zum Haus des Verwalters. Seht gründlich nach, ob alles in Ordnung ist und sich dort keiner versteckt hat.«

Die Drei rannten los.

Steve ächzte: »Daran habe ich gar nicht gedacht! Die Leute durften nicht nah ans Haus heran – und schon gar nicht hinein. Alles war abgeschlossen und das Personal angewiesen, sofort Bescheid zu geben, falls jemand versucht, sich Zutritt zu verschaffen. Das galt auch für das Haus des Verwalters. Aber natürlich kann ich nicht ausschließen … mein Gott! Hoffentlich ist niemand …« Steve machte Anstalten, in Richtung Herrenhaus stürmen zu wollen, doch Brights Hand war wie ein Schraubstock, hielt ihn fest an ihrer Seite, während Carmichael George mit einem kalten Blick am Weglaufen hinderte. »Hören Sie, in Ihrem Alter sollten Sie sich nicht auf eine Verfolgungsjagd mit mehreren Polizisten und einigen Hunden einlassen. Sie ziehen den Kürzeren.«

George nickte geschlagen und knurrte giftig: »In meinem Alter, ja? Vorsicht! Ich bin mit Sicherheit kaum älter als Sie!«

Bright erklärte: »Aha, nun habe ich Ihre volle Aufmerksamkeit! Gut: Die Überprüfung ist unsere Aufgabe. Die drei Männer, die wir gerade zum Herrenhaus geschickt haben, sind nicht leicht zu verunsichern. Von Ihnen möchte ich nun wissen, wie Sie die Leiche gefunden haben, welchen Weg sie genommen haben, um am Pranger nachzusehen, was Sie angefasst haben und wo sie sonst noch rumspaziert sind, bevor wir hier waren.« Dabei lächelte sie freundlich – aber entschieden.

Nach wenigen Minuten hatte das Tatortteam die Schuheindruckspuren der beiden Männer gesichert, den Weg der beiden zum Pranger nachvollzogen.

Danach wurden die Eindruckspuren weiterer Besucher gesichert.

Das Opfer selbst war barfuß.

Allerdings konnten auch mit Hilfe der Scheinwerfer keine Spuren von nackten Füßen sichergestellt werden.

DI Bright runzelte die Stirn, und murmelte nachdenklich: »Er wurde getragen? Dann müssten die Spuren des Täters wohl deutlich tiefer sein als die der anderen Besucher auf diesem Weg zum Pranger.«

DI Carmichael erklärte: »Okay, Sie können jetzt zum Herrenhaus gehen. Ein Kollege begleitet Sie und wird auch die Gattin des Verwalters, Mary war der Name, nicht wahr – zu Ihnen ins Herrenhaus bringen. Wenn wir hier fertig sind, haben wir sicher noch einige Fragen an Sie alle.«

Auf dem Weg zum Eingang des Herrenhauses, bog der Polizist, der bei der kleinen Gruppe bleiben würde, zum Seitenflügel ab. Machte eine Geste, die den beiden Männern erklärte, er wolle mal eben die Umgebung sondieren.

Steve und George gingen langsam weiter.

»Glaubst du, die halten uns für Mörder?«, erkundigte sich George besorgt.

»Aber nein! Das glaube ich nicht. Warum sollte einer von uns, oder gar wir beide gemeinsam einen uns unbekannten jungen Mann umbringen? Die Polizei sucht nach einem Motiv – und wo sollte das bei uns wohl zu finden sein?«

»Sie werden danach suchen. Vielleicht finden sie doch einen Punkt, um den Hebel anzusetzen.«

Steve grinste diesmal nicht.

Warf dem Verwalter einen rätselhaften Blick zu.

»Geheimnisse? Ehrlich gesagt mache ich mir eher Gedanken wegen der unglaublich vielen Spuren, die man finden wird. Wie soll man die sortieren? Sich überlagernde Profileindrücke auf den angelegten Wegen werden die Spurensicherer wahrscheinlich gar nicht sichern können – wird ein echtes Problem für das Tatortteam werden.« Steves Stimme klang belegt.

Als der kontrollierende Polizist im Laufschritt um die Hausecke schoss, hektisch in sein Telefon sprach, wurde den beiden Wartenden klar, dass offensichtlich etwas nicht stimmte.

Sie rannten auf ihn zu, hörten, wie er den Kollegen mitteilte, was er entdeckt hatte.

»Am Herrenhaus lehnt eine Leiter zum ersten Obergeschoss!«, hörten sie ihn aufgeregt erklären, »Ich habe mir die Holmen und Stege angesehen. Da ist Blut dran! Ziemlich viel Blut! Ihr solltet besser sofort herkommen!«

Erst nachdem er diese Informationen weitergegeben hatte, sah er auf, erkannte, dass die beiden Männer Zeugen des Telefonats waren und nun versuchten, den Bereich zu erreichen in dem die Leiter stand.

Also japste der gewichtige Mann eilig hinterher.

Der Kollege, den er neben der Leiter zurückgelassen hatte, würde die beiden schon davon abhalten können, das Beweisstück zu berühren oder gar zu bewegen, hoffte er jedenfalls.

Als er atemlos bei der Dreiergruppe ankam, befanden sich die drei Männer dort bereits in einer emotional aufgeheizten Diskussion.

»Ich will sofort in mein Haus! Was bilden Sie sich eigentlich ein?«, brüllte der Hausherr unbeherrscht »Wenn jemand eingedrungen ist, muss ich wissen, ob es meiner Frau gut geht!« Er ballte die Fäuste und knurrte widerwillig. »Und meiner Schwiegermutter.«

»Aha.« Der Polizist straffte seinen Körper, trat drohend beinahe bis zum Körperkontakt an den Besitzer des Herrenhauses heran. »Ihre Schwiegermutter wäre also nicht so wichtig? Ihr Verlust zu verschmerzen?«

»Wie wohl bei den meisten Schwiegermüttern!« Steve wandte sich zum Haus und rief so laut er konnte: »Erika! Erika! Geht es dir gut?«

George zog Steve langsam, aber beharrlich, ein Stück aus der kritischen Nähe zu dem aufgebracht schnaubenden Polizisten auf die Wiese zurück.

Konnte damit immerhin so viel Abstand zwischen die Polizei und den Besitzer des Herrenhauses bringen, dass keiner der Streitenden den anderen etwa mit der Faust erreichen konnte.

Mitten in diese aufgeheizte Situation platzte das Team der Spurensicherung und begann sofort, die eventuellen Blutanhaftungen an der Leiter zu asservieren. Gelegentlich warf einer von ihnen einen irritierten Blick auf die Streitenden.

»Steve«, murmelte George beruhigend, während er ihn weiter zur Seite zog, »das bringt doch nichts. Wenn du dich mit ihm anlegst, wirst du in Schwierigkeiten geraten, die dir und deinem Ansehen in der Gegend schaden. Komm, wir treten etwas zurück und lassen die Polizei ihre Arbeit machen.«

»Aber Erika ist da drin. Vielleicht ist das an der Leiter sogar ihr Blut! Und dieser verdammte Kerl will mich nicht in mein eigenes Haus lassen!«, tobte Steve.

George, der noch immer den Oberarm des anderen umklammert hielt, spürte, wie dessen Körper vor Zorn bebte. Mit sanftem Druck versuchte er, die Distanz zur Polizei zu vergrößern.

Inzwischen waren auch Mitarbeiter des Tatortteams vor Ort, sicherten Proben und als plötzlich das Fenster oberhalb der Leiter geöffnet wurde, konnte Steve erleichtert aufatmen.

Neben seiner Erika war die massige Gestalt eines Polizisten zu erkennen.

»Hier oben ist nichts!«, teilte er den Kollegen auf dem Rasen mit. »Die Frau ist wohlauf! Die andere hat sich offenbar versteckt. Ich gehe mal suchen.« Unaufgeregter konnte eine Stimme gar nicht sein. Offensichtlich war der Mann keinen Augenblick besorgt gewesen.

Steve stürzte zu Boden, rappelte sich mühsam in den Schneidersitz, Keuchte.

Wischte mit beiden Händen über sein Gesicht.

»Sie können jetzt ins Haus, Sir«, informierte ihn einer der Uniformierten. »Der Kollege sucht noch immer nach Ihrer Schwiegermutter. Aber es sieht nicht so aus, als habe sich tatsächlich jemand Zutritt zum Herrenhaus verschafft.«

George half dem Hausherrn auf.

Als sie die ersten Schritte zurück zum Weg gemacht hatten, kam DI Carmichael auf sie zu gerannt.

»Eine Frage: Kennen Sie einen Timothy Carpenter?«

»Klar«, antwortete George verblüfft. »Der Sohn von Walter, meinem verstorbenen Schwager, heißt so. Aber der wird es ja hoffentlich nicht sein. Ist eher kein seltener Name. Warum fragen Sie?«

Schweigen, zäh und dickflüssig wie Haferschleim hing zwischen den drei Männern.

Stockend fragte Steve: »George, ist das nicht auch der Name des jungen Mannes, der im Testament von Adele erwähnt wurde? Sie hatte verfügt, dass wir ihm einen Job anbieten sollen – oder?«

»Ja.« Die Stimme des Verwalters war kaum zu hören. Offensichtlich trat die Schockwirkung auf diese Nachricht erst verzögert ein.

»Sie kennen ihn also? Wir haben in der Nähe des Fundorts eine Jacke gefunden. Ein Namensschild ist eingenäht. Rot der Stoff, grün der Namenszug, wurde von Hand eingenäht.« Der Ermittler sah George auffordernd an, hielt Stift und Notizheft schon bereit, um sich die Adresse zu notieren.

»Timothy Carpenter? Unser Tim?«, schluchzte George auf. »Er ist der Sohn meines verstorbenen Schwagers, der Neffe meiner Frau! Das kann doch nicht wahr sein! Meine Mary hat das Schild gestickt und dann eingenäht.« Er wandte sich zum Gehen. »Ich muss es Mary schonend beibringen, bevor einer ihrer Männer bei uns vor der Tür steht. Der Tod von Tim wird sie schwer treffen, das möchte ich ihr lieber selbst erklären.« Mit gesenktem Kopf schlurfte er los, vornübergebeugt, als trage er einen viel zu schweren Rucksack.

»Die Adresse kriegen Sie von mir«, erklärte Steve. »Lassen Sie ihm Zeit. Und ich will nun endlich zu meiner Frau. Sie wird schreckliche Angst gehabt haben.« Damit lief er mit raumgreifenden Schritten auf den Haupteingang zu. Carmichael blieb nichts anderes übrig, als ihm zügig zu folgen.

»Erika! Erika!« Steve rannte durchs gesamte Erdgeschoss, bog auf die Freitreppe ab und Carmichael konnte hören, wie er Türen aufriss, zuknallte und immer wieder laut nach seiner Frau rief.

»Oh, mein Gott, Erika! Ist dir auch wirklich nichts geschehen?«

Als der Ermittler die ruhige Stimme der Ehefrau hörte, atmete auch er tief durch.

›Was für ein schrecklicher Start in die Zukunft an diesem alten, neuen Ort‹,dachte er kopfschüttelnd.

Langsam und bewusst, ging er die Stufen der Treppe hinauf, traf im Gang auf seinen Polizeimitarbeiter und das eng umschlungene Paar.

»Haben Sie die Schwiegermutter auch gefunden?«, erkundigte er sich.

»Nein, Sir. Ich habe das gesamte Haus durchsucht. Vielleicht hat der Eindringling sie mitgenommen«, wisperte der Polizist und sah besorgt aus.

»Haben Sie hier im Haus auch Blutspuren gefunden?«, erkundigte sich der Ermittler mit ebenfalls gedämpfter Stimme.

»Ja, Sir. Im Keller gibt es einen weiteren Zugang zum Haus. Und dort konnte ich ebenfalls Blut entdecken.«

Damit setzte sich der Uniformierte in Bewegung und Nicolas Carmichael folgte ihm.

»Hier entlang, Sir.«

Die geöffnete Tür gab den Blick in einen niedrigen Kellerraum frei, der über eine schmale, dreistufige Treppe zu erreichen war. Der Polizist beleuchtete die Stufen mit seiner starken Taschenlampe. »Vorsichtig gehen«, mahnte er. »Bücken Sie sich tief. Einzelne Blutspuren sind hier, hier und hier.« Diese Aussage begleitete der Mann mit einem gezielten Schwenk der Lampe. »Frisch«, setzte er unnötigerweise hinzu.

»Anderswo auch?«

»Ja, Sir. In einem der kleinen Abstellräume.« Zügig ging er wieder voraus, öffnete dann eine schwere Metalltür.

Carmichael sog scharf die Luft ein. »Was ist das hier? Ein Luftschutzraum? Stockbetten, vergittertes Fenster. Wenn Sie im oberen Bett liegen, sollte ihnen bis zum nächsten Wachwerden in Erinnerung bleiben, dass zum Aufsetzen kein Platz ist. Licht kommt nicht herein – also wird es wohl abgedeckt sein. Durfte niemand von diesem Raum wissen?«

»Nun, Sir. Meine Familie stammt aus einem Weiler nur wenige Kilometer entfernt. Zu Lady Adele hatten sie wenig Kontakt, aber meine Mutter hat mir unter dem Siegel der Verschwiegenheit von diesem Raum erzählt. Offensichtlich war die Familie nicht daran interessiert, das Umland von diesem Schutzraum wissen zu lassen.«

»Okay. Vielleicht ein Familiengeheimnis – man hatte Sorge, es könnten viele Menschen im Falle einer Bedrohung hier Aufnahme fordern?«

»Käme mir wie ein logischer und nachvollziehbarer Grund vor, Sir.«

»Und hier gibt es auch Blutspuren?« Der Ermittler warf einen kritischen Blick ins Halbdunkel. »Ich sehe nichts.«

Der andere schlug kommentarlos eine der derben Decken zurück.

Ein besorgniserregend großer Blutfleck wurde sichtbar, noch feucht.

»Puh! Verstehe.«

»Nun, Sir, deshalb dachte ich, es ist besser, wenn Sie das hier mit eigenen Augen sehen. Als ich kam, war natürlich niemand mehr hier. Das Bett ordentlich abgedeckt.«

»Es wirft allerdings Fragen auf. Warum ist der Täter mit einer stark blutenden, hilflosen Person oder – im schlimmsten Szenario – mit einer Leiche ins Dachgeschoss gelaufen, um mit ihr auf der Schulter die Leiter hinunterzusteigen. Bis jetzt haben die Kollegen noch keine Blutspuren auf dem Weg nach oben entdeckt. Und wäre er über diesen Weg geflohen nun, dabei hätte er im – aus seiner Sicht schlimmsten Fall – auf mich stoßen können. Außerdem war er auf der Leiter für jedermann sichtbar, der über das Gelände ging. Ja, es war nicht erlaubt. Aber Sie wissen doch selbst, dass das normalerweise niemanden aufhalten kann.«

»Das ist sicher wahr. Aber ich denke, diese Ecke des Parks wurde gut im Auge behalten – tatsächlich waren viele an den neuen Bewohnern des Herrenhauses interessiert. Jemand erzählte mir, man habe die Ehefrau von Steve Mac-Milster bisher nur ein einziges Mal hier gesehen, kurz nach der Hochzeit mit dem inzwischen neuen Hausherrn, also vor vielen Jahren. Man war schlicht neugierig.«

»Niemand wollte den Augenblick verpassen, in dem man einen kurzen Blick auf sie hätte werfen können? Ist das Ihr Ernst? Getue wie um eine prominente Sängerin oder einen Rockstar?«, staunte Carmichael

»So ähnlich, Sir. Viele Leute waren enttäuscht, dass sie sich bei der Eröffnung des Festes nur sehr kurz gezeigt hat. Ihre Mutter hat selbst das nicht getan. Vielleicht hatte der neue Herr im Haus etwas dagegen, dass die Damen mit dem ungebildeten Landvolk in Kontakt kamen«, setzte er augenzwinkernd hinzu.

»Eher nicht. Sie müssen vielleicht an ihrem Bild der MacMilsters arbeiten.« Carmichael grinste schief.

»Möglich« räumte der uniformierte Kollege bereitwillig ein und wandte sich um. »Ich zeige Ihnen noch, welches der Fenster man öffnen kann, Sir. Dann soll das Tatortteam dort nach Spuren suchen.«

Kommentarlos folgte Carmichael dem breiten Rücken des massigen Mannes.

5

DI Bright sprach mit Erika.

Die junge Frau schien ihr recht gefasst, allerdings bemerkte sie, dass sich die Finger der neuen Herrin auf Heaven's Gate immer wieder fest in den Unterarm ihres Gatten krallten.

»Wann haben Sie bemerkt, dass etwas nicht stimmt?«

»Meine Mutter und ich hatten einen heftigen Streit. Wir gingen jeweils in unser Zimmer – und knallten die Türen hinter uns zu. Es dauerte seine Zeit, dann wurde mir bewusst, dass ich nicht so mit meiner Mutter hätte sprechen sollen – ich überlegte, ob ich mich entschuldigen müsse. Natürlich wusste ich, dass ich recht hatte, aber auf der anderen Seite war meine Mutter immer gegen meine Ehe mit Steve gewesen und nun hatte er sie ja letztlich gegen ihren Willen ›umgetopft‹. Und natürlich wartet sie schon lange darauf, dass ein Enkelchen geboren wird. Sie verstehen schon.« Die zarte Frau schluchzte leise auf. Der Arm ihres Gatten schloss sich tröstend etwas fester um ihren Körper.

»Ja, möglicherweise«, räumte Bright ein. »Sie wollten den Ärger aus der Welt schaffen?«

»Genau.« Erika wischte mit einem Taschentuch unter den Augen entlang, putzte sich umständlich die Nase. »Bringt schließlich nur miese Stimmung und schlechte Laune.«

»Aber Sie konnten Ihre Mutter nicht finden?«

»Das war seltsam.« Erika schniefte erneut. »Ich konnte ihr Parfüm noch deutlich riechen – aber sie war nicht mehr in ihrem Zimmer. Erst dachte ich, gut, sie ist vielleicht gar nicht mehr so wütend auf mich, denn ursprünglich hatte sie hörbar abgeschlossen. Ich beschloss nachzusehen, ob sie vielleicht in der Küche sitzt, um ungestört ein paar der leckeren Kekse zu naschen, die unsere Köchin gestern gebacken hatte. Aber dort war sie nicht. Bibliothek, Bad, Fernsehzimmer, Rauchersalon – nirgends. Als ich frustriert wieder nach oben gekommen bin, entdeckte ich die Leiter vor dem Fenster. Es war verriegelt. Seltsam. Es konnte ja nur bedeuten, dass jemand reingekommen sein musste und das Fenster hinter sich geschlossen hatte.« Nun gab es kein Halten mehr und Tränen ließen sich nicht mehr aufhalten, ihr Körper begann sichtbar zu beben.

Steve warf der Ermittlerin einen wütenden Blick zu.

DI Bright blieb unbeeindruckt, nickte bedächtig.

»Das hat Sie erschreckt?«

»Schon ein bisschen,« Erika atmete tief durch und starrte auf ihre Hände, die inzwischen wie leblos in ihrem Schoß lagen. »Denn wir hatten es auf Wunsch des Polizisten mit Beginn des Festes geschlossen wie alle anderen auch – und nicht wieder geöffnet. Es muss also jemand den Eindringling reingelassen haben. Aber wer hätte das gewesen sein können?«

»Natürlich hat das meine Frau schockiert! Sie musste doch davon ausgehen, dass jemand Fremdes ins Haus eingedrungen war!«, mischte sich der Gatte an dieser Stelle ein, legte besitzergreifend seinen Arm um ihre Schultern, zog sie deutlich enger an seinen Brustkorb.

Emely Bright unterdrückte ein Schmunzeln.

Für sie war deutlich erkennbar, dass Erika all diese maskulinen Gesten als Einmischung und partielle Entmündigung empfand.

»Das Fenster war geschlossen – aber tatsächlich habe ich keinen Moment Angst gehabt. Erst dachte ich sogar amüsiert, dass meine Mutter vielleicht heimlich Besuch bekommen hatte. Ihre Vorfahren kamen aus Bayern, das ist eine Region in Deutschland. Dort war das Fensterln früher so etwas wie ein Brauch. Verliebte Männer kamen mit einer Leiter zum Haus der Geliebten, kletterten zu ihrem Kammerfenster hinauf und wurden, wenn die Holde die Liebe erwiderte, eingelassen. Ich habe die Sache nicht ernst genug genommen – das war mein Fehler. Vielleicht hätte ich sofort meinen Mann informieren müssen.«