Tod aus der Luft - Dietmar Süß - E-Book

Tod aus der Luft E-Book

Dietmar Süß

4,8
23,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Der Luftkrieg und der Kampf um die Erinnerung

Der Luftkrieg gehört zu den zentralen Erfahrungen der Gewaltgeschichte im 20. Jahrhundert. Noch heute wird der Streit über Schuld und Verbrechen hoch emotional geführt. Das Buch von Dietmar Süß zeigt erstmals im Vergleich, welche Folgen der Bombenkrieg für Deutschland und England hatte und auf welche Weise Diktatur und Demokratie die Militarisierung der Bevölkerung betrieben.

Mit dem Zweiten Weltkrieg radikalisierte sich der Luftkrieg zur massenhaften Zerstörung von Städten und Militäranlagen. Er verband technische Modernität mit staatlicher Disziplinierung. Sirenen bestimmten seit 1939 den Kriegsalltag der Bevölkerung und ihre Kriegsmoral galt beiden Nationen als gesellschaftlicher Kitt. Doch was war gemeint, wenn von »guter« oder »schlechter« Kriegsmoral, von »Gemeinschaft« und vom »Durchhalten« die Rede war?

Dietmar Süß untersucht den Umgang mit dem »Tod aus der Luft« und geht der Frage nach, wie beide Nationen den Einsatz von Massentötungswaffen ethisch, religiös und politisch legitimierten. Welche Rolle spielten dabei die christlichen Kirchen, die Themen Vergeltung und »gerechter Krieg«? Das Buch zeigt, wie sehr solche Fragen auch nach 1945 immer wieder Wunden aufrissen und wie die Erinnerung an den Bombenkrieg noch bis in unsere Gegenwart hineinragt.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 1274

Bewertungen
4,8 (16 Bewertungen)
13
2
1
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis

Einleitung
Krieg aus der LuftDer Kampf um die Kriegsmoral – Methoden und PerspektivenLuftkrieg, Volksgemeinschaft und People’s War – Probleme der Forschung
Kapitel I - DER KRIEG DER ZUKUNFT 1900 – 1939
Der London-SchockLuftkriegsvisionenLuftschutz und Volk
Deutschland
Lernen aus Guernica
England
Kapitel II - BOMBENKRIEG, ÖFFENTLICHKEIT UND KRIEGSMORAL
Kampf um Vertrauen und Moral
Mass-Observation und KriegsmoralLuftschutzgemeinschaft
Gerüchtepolitik und staatliche Repräsentation
Abkehr vom Schweigen
Evakuierungen und Gerüchte
Evakuierungen im »Dritten Reich«
Bild und Gedächtnis des Krieges
Visualisierung des »Blitz«
Britische Öffentlichkeit und die Bombardierung DeutschlandsVergeltung, Mundpropaganda und der Kampf um die verlorene Öffentlichkeit
Kapitel III - DIE ORGANISATION DER NOTSTANDSGESELLSCHAFT
Institutionen der Krisenbewältigung
Führerentscheide und Sonderbehörden
Staat und »Notstand«
Entinstitutionalisierung und »Führerunmittelbarkeit«
Recht und Repression
Plündern und Bestrafen in England
Kriegsschäden und Kriegsmoral
Das deutsche Kriegsschädenrecht
Kapitel IV - STADT UND KRIEG
Vorbereitung auf den Ernstfall
Kommune und Staat in England»Kämpfende Volksgemeinschaft« und Luftschutz
Raub und Hilfe
Kommunale Krisenbewältigung in England
Schadensbilanz und interregionale Krisenbewältigung
»Große Würfe« für die moderne britische Stadt
Kapitel V - DIE KIRCHEN UND DER LUFTKRIEG
Gerechter Krieg, gerechte Bombardierung?Warum wir? Kriegstheologie und die Zerstörung der »Heimat«Religiöser Alltag und pastorale Praxis
Seelsorge in England
Christliche Ikonografie und ökumenische Erfahrung
Ökumenische Praxis im NS-Deutschland
Verlust, Schuld und Wiederaufbau
Kapitel VI - ANGST UND ORDNUNG: BUNKERLEBEN
Sicherheit und Unruhe
Festung und VolksgemeinschaftUnderground
Organisation der AngstRassen, Klassen, Geschlechterkonflikte
Orte des Schutzes, Orte der Herrschaft, Orte der Gewalt
Ikonografie der UnterweltKrankheit und Gesundheit
Bunkerkrankheiten
Kapitel VII - LUFTKRIEGSERFAHRUNGEN
Kriegsmoral als Forschungsobjekt
Krieg und Krankheit in Deutschland
Reden und SchweigenDie Stunde der Gefühle
Alarm im AlltagBedrohung durch WunderwaffenGewöhnung und GewaltGelenkte ErinnerungMännliche und weibliche GefühleWeiterarbeiten
Kinder im Luftkrieg
Angst und DisziplinKinder und ihre Lehrer
Kapitel VIII - TOD IM LUFTKRIEG
PlanspieleLeichenbergung
Lernen aus den Katastrophen
Tod und Trauer
Tod und Trauer in England
Rituale des Todes
Völkische Totenfeste
Kapitel IX - ERINNERUNGEN AN DEN BOMBENKRIEG IN DER FRÜHEN NACHKRIEGSZEIT
Belastete SiegerOpfer des LuftkriegesSeelische Schäden, Psychiatrie und Kriegserfahrung
England
Kirche, Stadt und Neubeginn
Kapitel X - LEHREN DES LUFTKRIEGES
Die Politik der VersöhnungCoventry und DresdenMonumentalisierung und Zeitzeugenschaft»Tabu« und »Traumatisierung«Das Ende des Good War
Schluss
Ordnung des KriegesBunkergesellschaft und KrisenbewältigungSterben, Trauern, GlaubenErinnerungskämpfe nach 1945
AnhangDankAnmerkungen
EinleitungKapitel IKapitel IIKapitel IIIKapitel IVKapitel VKapitel VIKapitel VIIKapitel VIIIKapitel IXKapitel XSchluss
AbkürzungsverzeichnisQuellen und Literatur
ArchivalienGedruckte QuellenZeitungenLiteratur
Personen- und OrtsregisterBildnachweisCopyright

Einleitung

Die Stiefel, an die kann sich Ludwig Mankowski noch immer erinnern. Einer war bei der Flucht vor den Flammen im Asphalt stecken geblieben. Den anderen konnte er retten. Und auch im Jahr 2006, mehr als sechzig Jahre nach den Luftangriffen auf Hamburg, bewahrte er das alte Stück in seiner Nähe: »Den hab ich noch heute, ja, das ist jetzt mein Spartopf«.1

Der Luftkrieg hat bis heute seine Spuren hinterlassen: mal als Bauruine, mal als Werbeträger für britische Bierflaschen oder als Erinnerungsstück der Familiengeschichte. Das können Schuhe, Kerzenständer, Tischdecken oder auch ein paar Sektgläser sein, die sich mit den Erinnerungen an den Krieg verbinden und die immer wieder bei Festlichkeiten hervorgeholt werden und Anlass bieten, Kindern und Enkeln von »früher« zu erzählen. Die Erinnerung an den Luftkrieg war und ist so immer ein Stück Gegenwart, Teil familiärer Identitätssuche und politische Projektionsfläche gegenwärtiger Konflikte um Krieg und Gewalt wie zuletzt in Afghanistan und im Irak.

Als das Zweite Deutsche Fernsehen vor einigen Jahren »Dresden« zeigte, die kitschige Liebesgeschichte von einer deutschen Krankenschwester und einem abgeschossenen britischen Piloten im Inferno des Bombenkrieges, war dies auch der Versuch, eine abendprogrammtaugliche Antwort darauf zu geben, wie Gewalt wirken und wie 60 Jahre nach Kriegsende deutsch-englische »Versöhnung« aussehen kann. Eine deutsch-englische Geschichte des Luftkrieges enthält das erinnerungskulturelle Gepäck beider Länder, und in gewisser Weise ist sie auch Teil einer noch nicht abgeschlossenen historischen Suchbewegung, die mit der Frage beginnt, welcher Ausschnitt der Geschichte erzählt werden soll und welche Begriffe dafür verwendet werden.

Krieg aus der Luft

Über eines dürfte es zumindest keinen Zweifel geben: dass der Einsatz von Flugzeugen seit Beginn des 20. Jahrhunderts die Art der Kriegführung grundlegend veränderte. Zwischenstaatliche Konflikte wurden fortan zu Lande, zu Wasser und in der Luft ausgetragen. Das Flugzeug eröffnete neue Möglichkeiten der Zerstörung und neue Formen des Tötens. Am Beginn des Ersten Weltkriegs waren die Ziele der Bombardierungen angesichts begrenzter technischer Möglichkeiten noch weitgehend dem Zufall überlassen. Das änderte sich bis zum Zweiten Weltkrieg: Flächenbombardements richteten sich gegen Städte und ihre Einwohner, wobei der Tod hunderttausender Zivilisten einkalkuliert war. In diesem Buch wird es um die Folgen dieser Angriffe, um die »Kriegsmoral« der bombardierten Gesellschaften in Deutschland und England und ihren Umgang damit nach 1945 gehen.

Dass der Luftkrieg gegen die Zivilbevölkerung geführt werden würde, war bei Kriegsausbruch 1939 noch nicht entschieden.2 Die Staatsmänner von Berlin bis Washington hatten sich sogar dafür ausgesprochen, von Angriffen gegen das zivile Hinterland abzusehen. Doch die Strategen erwarteten den Luftkrieg. Für sie ging es vor allem darum, vor der Weltöffentlichkeit nicht mit dem Stigma des Kriegsverbrechers gebrandmarkt zu werden. Stärker noch als in Deutschland war in England die Einschätzung verbreitet, dass es lediglich eines Anlasses bedürfe, um Angriffe gegen Ziele zu fliegen, die auch in dicht besiedelten Gebieten lagen. Weniger Skrupel als taktische Überlegungen ließen Hitler und die deutsche Luftwaffe vor einer Strategie zurückschrecken, die die Zivilbevölkerung zum Ziel von »Terrorangriffen«, wie es damals hieß, machte. Dahinter stand – nach dem Sieg im Westen über Frankreich und der chaotischen Flucht der britischen Expeditionsarmee bei Dünkirchen im Frühjahr 1940 – immer noch die Hoffnung des »Führers«, England für einen Friedensvertrag gewinnen zu können.

Entgegen Hitlers Kalkül schwenkte Winston Churchill, seit dem 10. Mai 1940 Premierminister,3 nicht auf eine Politik der Annäherung ein. Von Anfang an machte er deutlich, dass er mit aller Macht gegen die nationalsozialistische Tyrannei kämpfen wollte. Der deutsche Luftangriff auf Rotterdam am 14. Mai 1940, bei dem über 800 Menschen ums Leben kamen, war für London nur das letzte Beweisstück in einer langen Indizienkette, die den verkommenen Charakter der deutschen Kriegführung offenbarte.4 Die britische Propaganda schlachtete diesen Angriff weidlich aus, und nur einen Tag später erteilte Churchill dem Bomber Command den Befehl zum Angriff auf die deutsche »Heimatfront«.

Auf der anderen Seite des Kanals liefen seit Mitte Juni 1940 die Vorbereitungen für eine Invasion der Insel. Die »Luftschlacht um England« begann im Juli 1940 mit Angriffen auf Konvois im Ärmelkanal und in der Themsemündung; am 13. August setzten Großangriffe gegen Stützpunkte der Royal Air Force (RAF) an der englischen Südwestküste ein, Angriffe gegen den Norden Englands und die Midlands folgten, und seit dem 7. September 1940 flog die Luftwaffe auch am Tag Angriffe gegen London – als »Vergeltung« für einen Angriff der Royal Air Force auf Berlin. Die verlustreichen Attacken auf die britische Hauptstadt wurden im Oktober, dem vorläufigen Ende der Battle of Britain, zwar wieder eingestellt, die Nachtangriffe aber noch bis Mai 1941 fortgeführt – erst dann endete die Periode, die gemeinhin als Blitz bezeichnet wird.

Seit der verlorenen Luftschlacht setzte die Luftwaffe darauf, die Städte im Norden und in den Midlands anzugreifen, um das Zentrum der britischen Rüstungsindustrie zu treffen; einer der schwersten Angriffe traf die Stadt Coventry am 14. November 1940. Wenn die Schäden in Großbritannien auch geringer ausfielen als in Deutschland, so waren sie doch beträchtlich: Insgesamt waren alleine in London rund 20 000 Tote zu beklagen, und es wurden neben der Hauptstadt und Coventry auch zahlreiche andere britische Städte erheblich getroffen.5

Die deutsche Planung für die Invasion und die Eroberung der Luftherrschaft über England waren improvisiert und abenteuerlich; die Angriffe waren weder sorgfältig vorbereitet noch Teil einer umfassenden Strategie. Die Luftwaffe unterschätzte ihren Gegner, während sie die eigene Leistungsfähigkeit eklatant überschätzte.6 Anfänglich waren die deutschen Angriffe strategisch noch nicht als reine »Terrorangriffe« gegen die Zivilbevölkerung, sondern als Operationen gegen Militär- und Wirtschaftsziele konzipiert.7

Die Bombardierten fragten aber nicht nach den strategischen Motiven der Angreifer, wenn ihre Häuser brannten und ihre Stadtviertel zerstört wurden – und es traf in England im Herbst/Winter 1940 viele Stadtviertel. Das Bomber Command setzte im Gegenzug auf Angriffe gegen militärische und industrielle Ziele vor allem im Westen des Deutschen Reiches und – als Nadelstiche – auf Berlin. Nun konnte es der Linie folgen, auf die es seit Kriegsbeginn gesetzt hatte.

Doch die Ergebnisse waren zunächst alles andere als zufriedenstellend, im Gegenteil: Der Butt Report, ein Regierungsbericht aus dem Sommer 1941, belegte, dass kaum eines der Flugzeuge sich seinem eigentlichen Ziel präzise hatte nähern können. Die Trefferquote war erschreckend gering.8 Doch für Churchill gab es zum Luftkrieg keine Alternative, und so setzte er sich über kritische Stimmen aus den eigenen Reihen hinweg, die die hohen Kosten des Luftkrieges beklagten. Diese Kosten resultierten aus der schlechten technischen Qualität der Bomber wie aus der schlagkräftigen deutsche Luftverteidigung, die den britischen Angreifern 1941 erhebliche Verluste zufügte.9

Die Entscheidung, die deutsche Kriegsmoral ins Fadenkreuz zu nehmen, wird gerne mit dem Namen Arthur Harris in Verbindung gebracht, der im Februar 1942 zum Chef des Bomber Command ernannt wurde. Doch die Strategie der Flächenbombardements hatte sich bereits vorher durchgesetzt und versprach wenigstens einen Funken Hoffnung im Kampf gegen das nationalsozialistische Regime, das inzwischen seine Ressourcen verlagert hatte, indem es seine Energien ganz auf den Vernichtungskrieg im Osten richtete.

Harris war nicht der blutrünstige Schlächter, als den ihn die deutsche Propaganda gerne darstellte. Ihm war durchaus bewusst, dass die deutsche »Moral« kein klar definiertes Zielobjekt war und sich nicht leicht würde brechen lassen. Doch das war nach seiner Einschätzung nötig, wollte man die »materielle Kriegsfähigkeit« 10 der Deutschen zerstören. Industrielle Zentren, Arbeiterwohnviertel, Fabriken, das alles galt es zu treffen, bevor man eine alliierte Invasion wagte.

Der massenhafte Tod der Zivilbevölkerung wurde damit nicht zum Ziel sui generis, aber er war auch keine unerwünschte Begleiterscheinung, kein Kollateralschaden, sondern ein wichtiger Bestandteil der Kriegführung. Harris und dem Bomber Command kam seit 1942 zugute, dass einige der technischen Innovationen endlich in Serienproduktion gehen konnten.11 Darüber hinaus verbesserte Harris die Ausbildung der Bomberstaffeln und die Organisation der Bombergeschwader. Diese verfügten inzwischen über »Pathfinder«, die den Bombern den Weg zum Ziel wiesen.

Mit dem Kriegseintritt der USA im Dezember 1941 wurden die Kräfteverhältnisse im Luftkrieg neu gewichtet. Die Angriffe der Royal Aire Force auf Lübeck und Rostock im folgenden Frühjahr und auf Köln Ende Mai 1942 folgten auch schon der neuen Strategie der Flächenangriffe, doch die Verluste waren nach wie vor immens. Die deutsche Antwort, die in England als »Baedeker Raids« bezeichneten Angriffe auf Exeter, Bath, Norwich und York im April/Mai 1942, waren dagegen kaum mehr als verzweifelte Vergeltungsversuche, sorgten auf der Insel aber dennoch für erhebliche Unruhe.

Im Januar 1943, als sich Churchill und Roosevelt mit ihren jeweiligen Stabschefs in Casablanca trafen, stand daher nicht nur die Frage auf der Tagesordnung, wann eine zweite Front eröffnet werden sollte, sondern auch die Entwicklung einer gemeinsamen Luftkriegsstrategie. Die entsprechende Direktive vom 21. Januar 1943 fasste die Ziele klar zusammen: Der Luftkrieg werde geführt, um die militärische, ökonomische und industrielle Infrastruktur des Deutschen Reiches zu zerstören und die Moral der Bevölkerung zu unterminieren, bis der Widerstand gebrochen sei.

Die Combined Bomber Offensive sah britische Nacht- und amerikanische Tagangriffe vor. Letztere sollten sich als »precision bombing« gegen strategische Ziele richten.12 Mochten sich in der Theorie und in der Wahrnehmung der Bevölkerung die britische und amerikanische Luftkriegspolitik auch unterscheiden, so lagen die strategischen Grundannahmen doch weniger weit auseinander, als nach dem Krieg gerne behauptet wurde. Churchill wie Roosevelt und mit ihnen ihre obersten Befehlshaber teilten die Einschätzung, dass sich die Angriffe gegen die feindlichen »Kraftquellen«, gegen Industrie und Zivilbevölkerung richten müssten, um möglichst viel Schaden anzurichten und das angestrebte Ziel zu erreichen: den vollständigen Kollaps der Diktatur.

Als 1943 die gemeinsame alliierte Luftoffensive gegen Deutschland unter dem Codename »Pointblank« begann, war die Ausgangssituation für die RAF und die United States Army Air Force keineswegs günstig, denn die deutsche Luftverteidigung hatte allen Angreifern bisher schwere Verluste zugefügt. Die Briten hatten sich dabei seit Frühjahr 1942 auf das Rhein-Ruhr-Gebiet konzentriert, seit Frühjahr 1943 flogen Briten und Amerikaner gemeinsam Angriffe gegen Ziele im Westen des Reiches. Ausgestattet waren sie dabei mit neuester Radar-und Zielfindungstechnik, und die Reichweite und Bombenlast ihrer viermotorigen Langstreckenbomber war ungleich größer als zu Beginn des Krieges.

Zwischen März und Juli 1943 intensivierte das Bomber Command seine Angriffe. Die Battle of the Ruhr richtete sich zunächst gegen Essen und die Kruppwerke, aber auch zahlreiche andere Städte erlitten erhebliche Schäden. Während das Bomber Command die niedrigsten Verlustquoten des Jahres melden und die massiven Angriffe als große Erfolge feiern konnte, erlebten die Deutschen eine Katastrophe: Rund 34 000 Menschen kamen bei der »Operation Gomorrha« (den Angriffen auf Hamburg Ende Juli 1943) ums Leben.13

Seit September 1943 richtete sich das Interesse des Bomber Command zunehmend auf die Reichshauptstadt, doch der im Vergleich zu Hamburg weitere und gefährlichere Anflug sowie die Reorganisation der deutschen Luftverteidigung führten dazu, dass die Angreifer wie zu Beginn des Jahres wieder zahlreiche Flugzeuge verloren. Auch die US-Luftflotte eilte zunächst keineswegs von Sieg zu Sieg, im Gegenteil: Bei den Angriffen auf Flugzeugwerke und Industrieanlagen musste sie im Laufe des Jahres 1943 herbe Verluste einstecken. Seit Frühjahr 1944 hatte die deutsche Luftwaffe der beginnenden Materialschlacht mit den USA aber immer weniger entgegenzusetzen, und so mussten die Alliierten am Himmel über Deutschland kaum noch Gegenwehr fürchten. Die Bomberoffensive erreichte ihre größte Durchschlagskraft und konnte beinahe nach Belieben Städte, Fabriken und Infrastruktureinrichtungen des »Dritten Reiches« zerstören.

Neben dem Ruhrgebiet erlebten nun auch Städte im Süden, Südwesten und Osten Deutschlands ihre bis dahin schlimmsten Angriffe.14 Die Schäden an den deutschen Produktionsstandorten waren immens und konnten immer weniger durch Betriebsverlagerungen oder den brutalen Einsatz von Zwangsarbeitern kompensiert werden. Besonders die schweren Beschädigungen der Ölraffinerien und Hydrierwerke, die das Rückgrat der deutschen Kriegsmaschinerie bildeten, schwächten die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft und beeinträchtigten damit den Vernichtungskrieg im Osten.15

Die alliierten Luftangriffe wirkten sich direkt und indirekt aus: Sie zwangen die deutsche Industrie, ihre Produktion an Bombern zu drosseln und stattdessen Jäger herzustellen, die für die Verteidigung des Reichsgebietes benötigt wurden. Damit geriet die Wehrmacht im Westen in die Defensive und verlor im Osten ein Kampfmittel, mit dem sie den sowjetischen Truppen schwere Schläge zugefügt und deren Verteidigung nachhaltig geschwächt hatte. Der Zusammenbruch des Reiches erfolgte dennoch deutlich langsamer, als die Führungsstäbe in Washington und London erwartet hatten, und vor allem in England fürchtete man weiterhin, Hitler könne noch ein Ass im Ärmel haben und mit dem Einsatz von Giftgas oder eine »Wunderwaffe« zu einem Gegenschlag ausholen. Das war einer der Gründe dafür, dass die alliierten Streitkräfte an ihrer Strategie des Flächenbombardements festhielten und sich Alternativen dazu nicht durchsetzen konnten.

Im Januar 1945 erlebten so unter anderen Nürnberg und Magdeburg ihre schlimmsten Bombennächte mit der größten Zahl an Opfern. Von Februar an erweiterte sich der Kreis der Städte: Nicht nur das ohnehin schon schwer gezeichnete Berlin traf es mehrfach, sondern auch Städte und Regionen, die bis dahin vom Luftkrieg weitgehend verschont geblieben waren, allen voran Dresden, das in der Nacht vom 13. auf den 14. Februar bombardiert wurde. Dort kamen bei den Angriffen zwischen 18 000 und 25 000 Menschen ums Leben.16

Das Ende des Bombenkrieges war damit noch immer nicht erreicht, obwohl selbst in England die Stimmen lauter wurden, die Zweifel an der strategischen und militärischen Notwendigkeit des Bombenkrieges anmeldeten. Auf der anderen Seite kämpften Wehrmacht und NS-Führung den aussichtslosen Krieg weiter und trieben den Preis der Niederlage damit in die Höhe. Es war vor allem diese letzte Kriegsphase von Herbst 1944 bis April 1945, die aus dem Deutschen Reich eine Trümmerlandschaft machte: Würzburg war zu 85 Prozent zerstört, Köln, Dortmund, Hamburg und Leipzig hatten bis zu 70 Prozent ihres Wohnraums verloren.

Nach offiziellen Schätzungen starben auf dem Gebiet des Deutschen Reiches in den Grenzen von 1937 durch Luftangriffe rund 410 000 Zivilisten, 32 000 »Ausländer und Kriegsgefangene« sowie 23 000 Angehörige von Polizei und Wehrmacht - insgesamt also 465 000 Menschen.17 Für das Deutsche Reich in den Grenzen von 1942 schätzte das Statistische Bundesamt die Zahl der Bombenkriegstoten auf 635 000, wobei die Opfer unter den Flüchtlingen mitgezählt sind. Die alliierten Stäbe kamen auf der Grundlage eigener Berechnungen und der Auswertung statistischer Materialen der Reichsregierung im Oktober 1945 zu einem davon abweichenden Ergebnis: Sie sprachen von mindestens 422 000 deutschen Luftkriegstoten, wobei sie davon ausgingen, dass es eine Dunkelziffer von nicht geborgenen Opfern gebe und eine halbe Million Tote realistisch seien.18 Neuere Berechnungen schätzen die Zahl der Luftkriegstoten auf etwa 380 000.19 Für Großbritannien lassen sich die Zahlen mit größerer Zuverlässigkeit ermitteln: Hier geht man übereinstimmend von rund 60 000 zivilen Toten des Luftkrieges und der V1- und V2-Angriffe aus.20

Der Kampf um die Kriegsmoral – Methoden und Perspektiven

Die Kontroverse, ob der alliierte Luftkrieg ein »Kriegsverbrechen« sei, geht bis in die Kriegsjahre zurück. Schon die nationalsozialistische Propaganda machte den Begriff zu einem wichtigen Topos ihrer Agitation im In- und Ausland, um von der eigenen Gewaltpolitik abzulenken. Der Verweis auf das Völkerrecht sollte die Deutschen zu »anerkannten« Opfern des Krieges machen und damit die deutsche Expansions- und Vernichtungspolitik zur »Notwehr« stilisieren – eine wichtige Voraussetzung für die deutschen Opfermythen nach 1945. Schon der Begriff »Kriegsverbrechen« war alles andere als eindeutig, denn dahinter verbargen sich sehr unterschiedliche Interessen und Bedeutungen. Dazu trug nicht zuletzt das Völkerrecht bei, das verschiedene Interpretationen des Luftkrieges zugelassen hatte.21

Klare, von allen Kriegsparteien ratifizierte Regeln gab es bei Kriegsbeginn zwar nicht, aber das Gewohnheitsrecht des Krieges schloss eine Bombardierung von Zivilisten aus, so dass sich alle der Grenzüberschreitungen bewusst waren. So machten sich beispielsweise schon im Oktober 1939 die Völkerrechtsexperten des Oberkommandos der Wehrmacht (OKW) darüber Gedanken, wie die durch deutsche oder feindliche Truppen verursachten Verstöße gegen das Völkerrecht propagandistisch behandelt werden sollten.22 Dabei rechneten sie auch mit dem Bombenkrieg. Alle völkerrechtlichen Bedenken waren zu diesem Zeitpunkt noch nicht über Bord geworfen. Die Experten erläuterten aber in ihren Kommentaren, dass trotz des Verbotes Bombenangriffe oder Gaseinsätze gerechtfertigt sein könnten, sobald sie der Gegner einsetze. Offenkundig kalkulierte das OKW bereits zu diesem frühen Zeitpunkt völkerrechtliche Verstöße ein und öffnete sich damit neuen Gewaltprojektionen, die Regelverletzungen zur » Kriegsnotwendigkeit« machten.

Auf beiden Seiten des Kanals setzte man darauf, dass der Gegner die Grenzen überschreiten würde. In England hegte man keinerlei Zweifel, dass die Deutschen dazu bereit waren. Was konnte ein vages Kriegsvölkerrecht überhaupt angesichts der nationalsozialistischen Kriegführung bedeuten? Für den britischen Generalstab gab es jedenfalls angesichts der militärischen Bedrohung Wichtigeres, als sich um unklare internationale Vorschriften zu kümmern. Dass eine Strategie, die auf die Bombardierung von Städten und Zivilisten setzte, ein erhebliches ethisches Problem darstellte, blieb freilich ein Dilemma.

Die Frage, ob der Luftkrieg als Kriegsverbrechen zu werten ist, führt in vielerlei Hinsicht in eine Sackgasse, reproduziert sie doch die Schlachten der einstigen Kriegsgegner und ihre gegenseitigen Vorwürfe. In diesem Buch wird ein anderer Weg eingeschlagen. Beim Luftkrieg handelt es sich um eine spezifische Form von Gewalt moderner Gesellschaften im 20. Jahrhundert. Die Geschichte des Luftkrieges sollte sich daher stärker als bisher mit dem »Krieg als Gesellschaftszustand«23 und damit mit der herrschafts-, kultur- und erfahrungsgeschichtlichen Bewältigung der Bombardierung in Deutschland und England beschäftigen. In ihrem Mittelpunkt stehen zwei unterschiedlich verfasste politische Systeme - britische Demokratie und nationalsozialistische Diktatur.

Wenn in diesem Sinne von Kriegsgesellschaften gesprochen wird, dann richtet sich der Blick auf die Dynamik des sozialen, kulturellen und politischen Transformationsprozesses von der Friedens- zur Kriegsgesellschaft und auf die Folgen, die dieser Übergang für soziale Beziehungen, für Herrschaftsformen, gesellschaftliche Teilhabe und Gewalterfahrungen besaß.24 Der Krieg verwandelte die Gesellschaften nicht notgedrungen in »Schicksals«- oder »Notgemeinschaften« – Begriffe, die Joseph Goebbels gerne benutzte, um den »Abwehrkampf« der »Volksgemeinschaft« zu beschreiben.25

Schon vor 1939 vermittelten militärische und publizistische Horrorszenarien eine Vorahnung davon, was künftig auch dem Hinterland im Krieg blühen würde. Tatsächlich mobilisierte der Luftkrieg auf bis dahin unvorstellbare Weise alle gesellschaftlichen Ressourcen. Er verband ökonomische und technische Modernität mit staatlicher Disziplinierung und wurde damit zu einem Höhepunkt industrieller Kriegführung im »Zeitalter der Extreme« (Eric Hobsbawm). Die Bomben sollten die moralische Widerstandsfähigkeit der Bevölkerung, ihre »Standhaftigkeit«, testen. Die Kriegsmoral war der Kitt, den beide Nationen, England und Deutschland, zu benötigen glaubten, um den Krieg zu einem erfolgreichen Ende führen zu können. Eine schwindende Moral konnte, so schien es, zur Schwachstelle industrieller Gesellschaften werden, und das galt es sich für die Kriegführung zunutze zu machen. Eine bröckelnde Heimatfront, das war der Albtraum aller Politiker und Militärs der Zwischenkriegszeit.

Was den Zweiten Weltkrieg »total« machte, war nicht primär die gesellschaftliche Mobilisierung, sondern die zunehmende Missachtung der Unversehrtheit der Nichtkombattanten26 und damit die Entgrenzung der Gewalt, was nicht nur die Kriegführung nach außen, sondern auch die Politik der Krisenbewältigung, die Politik der Kriegsmoral bestimmte. In den Kontroversen um den Luftkrieg und die Folgen der alliierten Bombardierung gewann der Begriff » Kriegsmoral« zentrale Bedeutung: Die Heimatfront, so die Bilanz nach 1945, sei unter den Bomben stabil geblieben und die deutsche wie die britische Bevölkerung erst durch die Angriffe aus der Luft richtig zusammengerückt.

Unbeachtet blieben hingegen die Fallstricke, die mit den Begriffen Kriegsmoral oder »morale in warfare« verbunden sind. Dazu gehört die Annahme, es ließe sich so etwas wie ein verbindliches Verhaltensmuster der Zivilbevölkerung im Luftkrieg bestimmen. Ein solches Deutungsmuster trägt eine Fülle an zeitgenössischem Ballast mit sich, steht doch dahinter eine sich seit dem Ersten Weltkrieg entwickelnde Annahme, dass mit der Verschmelzung von Front und Heimat die Bevölkerung zu »Civilians in the frontline« geworden seien.27

Oft blieb in Deutschland die Auseinandersetzung um das Für und Wider des Luftkrieges bei der Feststellung stehen, dass die Angriffe gescheitert seien, weil die Alliierten ihr Ziel verfehlt hätten, die Moral der Bevölkerung zu schwächen. Doch genau hier beginnen die eigentlichen Fragen: Was war gemeint, wenn von Moral die Rede war, von »guter« und »schlechter« Kriegsmoral, von »Gemeinschaft« und vom »Durchhalten«? Gab es einen system- und länderübergreifenden Kanon, der Gefühle und Verhalten im Luftkrieg am Grad der Loyalität der Bevölkerung zum Staat maß?28 Und: wie dicht lagen in dieser Hinsicht Deutschland und England, Diktatur und Demokratie, beisammen? In Wahrheit waren die Reaktionen ambivalent und die Folgen der Luftangriffe so widersprüchlich, dass sie sich einfachen Formeln wie der Vorstellung eines gesellschaftlichen »Zusammenrückens« entziehen. Insbesondere die Suche nach »Stabilität« und »Haltung« im Krieg war Teil zeitgenössischer Konflikte um die innere Ordnung beider Kriegsgesellschaften. Kriegsmoral stand also immer für vieles zugleich: Sie war zeitgenössisches wissenschaftliches Untersuchungsobjekt, propagandistischer Kampfbegriff, militärisches Ziel und schließlich, nach 1945, historiografischer Bezugspunkt und Blaupause künftiger Kriegführung.29

Wenn man in Deutschland oder England über Kriegsmoral, über »Stimmung« und »Haltung« redete oder sie analysierte, geschah das aufgrund spezifischer Vorannahmen, die wesentlich in der Auseinandersetzung mit den Folgen des Ersten Weltkrieges entstanden waren. Die Geschichte ihrer »Erfindung«, die Politik der Kriegsmoral, weist auf unterschiedliche gesellschaftliche Erfahrungen, Krisenszenarien und Prognosen von Demokratie und Diktatur im Zeichen äußerster Bedrohung hin; sie lenkt den Blick auf die soziale Konstruktion von Wirklichkeit und die soziale Praxis im Krieg, und sie hilft, das Spannungsfeld von individueller Kriegserfahrung und kollektiver Selbstdeutung zu vermessen.

Den Schwerpunkt der Untersuchung bilden die Jahre 1939 bis 1945. Um die Kontinuitätslinien, Brüche und Widersprüche in der kulturellen, sozialen und politischen Bewältigung und Aneignung der Luftkriegsfolgen in beiden Ländern angemessen erklären zu können, werden aber sowohl Vor- als auch Nachgeschichte und damit die erinnerungskulturellen Konjunkturen seit 1945 bis in die unmittelbare Gegenwart untersucht.

Ein solcher Vergleich lässt sich aus verschiedenen Perspektiven anstellen. Hier sollen nicht militärische Luftkriegsdoktrinen, operative Entscheidungsabläufe, die Geschichte der Waffentechnik oder der Luftwaffe und ihr Personal in den Blick gerückt werden, denn dies alles wurde an anderer Stelle bereits gut erforscht.30 Der kontrastierende Vergleich von Demokratie und Diktatur zielt vielmehr darauf ab, die unterschiedlichen Krisenlösungsstrategien31 und Formen der Vergesellschaftung im und durch den Krieg auszuloten.32

Mit Deutschland und England werden zwei hoch industrialisierte Länder untersucht, die bereits im Ersten Weltkrieg die neuen militärischen Möglichkeiten genutzt und Bomben auf feindliche Städte abgeworfen hatten. Systemübergreifende Vergleiche standen in der Tradition der historisch-vergleichenden Methode und insbesondere in der Zeitgeschichte über lange Zeit abseits und im Schatten der theoretischen Schlachten des Kalten Krieges um die Tragfähigkeit des Totalitarismuskonzepts.33 Wenn überhaupt, dann waren es Faschismus34 und Kommunismus,35 die als Vergleichsfolien bei der Analyse totalitärer Herrschaft dienten, nicht aber Demokratien wie England, Schweden oder die USA.

Erst seit den späten 1970er Jahren hat es Versuche gegeben, den Nationalsozialismus als Teil der Krisengeschichte der Moderne mit liberalen Demokratien zu vergleichen36 – nicht in relativierender Absicht, sondern um Konvergenzen, Unterschiede und die widersprüchlichen Potenziale moderner Gesellschaften herauszuarbeiten; um also das Spezifische der nationalsozialistischen Kriegs- und Gewaltgesellschaft zu zeigen, aber auch die Anfälligkeiten, inneren Konflikte und Formen der inneren Stabilität demokratischer Gesellschaften in der Auseinandersetzung mit einem Gegner, dem man (zu Recht) jede Aggression zutraute.37 Die Vorzüge des Vergleichs bestehen denn auch genau darin: Hinweise auf das innere Ordnungsgefüge von Diktatur und Demokratie im permanenten Ausnahmezustand zu erhalten.38 Es geht also nicht wie in anderen komparativ angelegten Arbeiten um die Analyse für die Ursachen des Scheiterns demokratischer Gesellschaftsordnungen. In den Blick genommen wird die Bewältigung des Krieges selbst durch unterschiedliche politische Systeme – wobei die Historisierung der Kriegsmoral das tertium comparationis ist, der vergleichende Testfall.

Diese Geschichte des Luftkrieges versteht sich als Teil einer vergleichenden Sozial- und Kulturgeschichte des Krieges,39 die nach den Belastungsgrenzen und Problemlösungsfähigkeiten industrieller Gesellschaften fragt. Der Luftkrieg ist das grenzüberschreitende Ereignis, dessen Folgen sowohl Teil einer deutschbritischen Beziehungsgeschichte als auch diachroner, national sehr eigenständiger Erfahrungen waren. Der Vergleich dieser Erfahrungen soll punktuell ergänzt werden durch eine Transfer- und Wahrnehmungsgeschichte beider Kriegs- und Nachkriegsgesellschaften, um die Wechselwirkungen, die Formen der Abgrenzung, fremd- und gesellschaftlicher Selbstbeobachtung präziser hervorheben zu können. Das erlaubt, den Luftkrieg als europäisches Phänomen und Teil der Epoche totaler Kriegführung über die Epochengrenzen hinaus zu analysieren, ohne dabei den zeitgenössischen, bis in die Gegenwart führenden Spurrillen deutsch-britischer Kontroversen um die politisch-moralische »Schuldfrage« des »Bombenkrieges« folgen zu müssen.40

Darüber hinaus sind durch den Vergleich Antworten auf die Frage zu erwarten, was den Kern der »Volksgemeinschaft« im Krieg ausmachte, denn im Seitenblick auf England zeigt sich das spezifische Mischungsverhältnis aus nationalsozialistischer Integration und Gewalt, aus Mobilisierung und Terror. Nicht zuletzt kann man nach systemspezifischen und systemunabhängigen Antworten suchen auf die Fragen, die sich durch die Bedrohung aus der Luft ergeben: War die Organisation von Luftschutz und Bunkerleben, von kommunaler Krisenbewältigung und Totenkult etwas spezifisch »Nationalsozialistisches«? Wiesen die Strategien und Deutungsmuster, Rituale und Mythen der Vergemeinschaftung in anderen industriellen Gesellschaften in eine ähnliche Richtung, waren sie also parallele Antworten auf die Bedrohung aus der Luft? Gab es eine von der politischen Verfasstheit unabhängige Vorstellung darüber, wie im Krieg die Zivilbevölkerung zu schützen und die gegnerische Moral zu zerstören sei? Damit ist diese Arbeit ein Plädoyer dafür, die Geschichte der britischen Kriegsgesellschaft und des Nationalsozialismus gleichermaßen zu internationalisieren und vergleichend zu konzipieren.41

Im Wesentlichen geht es in diesem Buch um die unterschiedlichen deutschbritischen Formen der Krisenbewältigung, Sinndeutung und erinnerungskulturellen Aneignung nach 1945,42 also um Herrschaft als soziale Praxis, um die Mechanismen von politischer und sozialer Inklusion und Exklusion, um Tod, Sterben und den schon während des Krieges einsetzenden Kampf um die Luftkriegserinnerung in beiden Gesellschaften, der mit dem Krieg nicht beendet war.

Besonderes Augenmerk gilt dabei dem Verhältnis von Öffentlichkeit und Meinungslenkung im Krieg. Wenn in diesem Zusammenhang unterschiedliche Formen von Öffentlichkeit in Demokratie und Diktatur untersucht werden, so ist das nur scheinbar ein Widerspruch. Lange Zeit galt der Begriff »Öffentlichkeit« als normativ besetztes Kernelement einer zivilen, bürgerlich-aufgeklärten Gesellschaft.43 Aber auch Diktaturen wie der Nationalsozialismus kannten Räume und (teil-)öffentliche Sphären, die mehr waren als die Summe parteiamtlicher Presseanweisungen oder inszenierter Massenkundgebungen.44 Insbesondere der Luftkrieg schuf solche neuen Zonen »informeller Öffentlichkeiten«45, in denen um Herrschaft und Repräsentation gerungen wurde und die für die Stabilität des Regimes von entscheidender Bedeutung waren. Das konnten die Amtsstuben der Kriegsschädenämter sein, in denen die Geschädigten ihre Ansprüche einforderten und wo – anders als in der NS-Presse – kein Zweifel an der Schadensbilanz der Luftangriffe gelassen wurde; das konnten Bunkeranlagen sein, die Raum für soziale Kommunikation wie für Informationsaustausch boten und zugleich Gerüchtebörse waren, die das Regime zwar zu reglementieren versuchte, nicht aber unterdrücken konnte.

Die Veränderung dieser Räume wird ebenso ein Gegenstand der Arbeit sein wie die Frage nach dem Zusammenhang von Kriegsmoral und Gewalt.46 Gewalt ist in dieser Hinsicht kein abstrakter Begriff, sondern meint die körperlichen Verletzungen, den Schmerz und die Gefühle der Angst, die unterschiedliche Bevölkerungsgruppen angesichts fortdauernder oder drohender Bombardierung empfanden und die den Luftkrieg zu einer sinnlich-gewalttätigen Erfahrung machten.47 Die Bedeutung und Auswirkungen dieser Ereignisse, deren Folgen weit über das Jahr 1945 hinausreichen, suchten zahlreiche medizinische und psychologische Experten in Deutschland wie England bereits während des Krieges zu ergründen.48

Neben vielen Vorzügen birgt ein solcher Ansatz auch einige methodische Probleme. Der Grad der Zerstörung unterschied sich nämlich erheblich in beiden Ländern, und auch die Phasen der Angriffe verliefen nicht synchron. So erreichte der Luftkrieg über England 1940/41 seinen Höhepunkt, es folgten die Angriffe im Frühsommer 1942 und schließlich der Beschuss durch die V1 und V2 1944/45. Die Verluste waren in Deutschland ungleich größer als in England, und allein die Bombardierung Hamburgs erreichte ein Ausmaß, das die Angriffe auf die meisten britischen Städte zusammengenommen übertraf. Das alleine könnte gegen einen Vergleich sprechen. Doch der Blick allein auf die Quantität ist trügerisch. Denn für die britische Führung blieb die Angst vor Angriffen aus der Luft und vor deutschen Vergeltungswaffen bis in die letzten Kriegsmonate bestehen und ein politischer Faktor erster Ordnung. Auch wenn England keine Angriffswelle erlitt, die mit dem vergleichbar war, was Deutschland seit dem Sommer 1944 erlebte und was in seiner Intensität die britischen Zerstörungserfahrungen bei Weitem überstieg, schwand die Furcht vor Hitlers letzter Trumpfkarte nie. Diese Angst macht deutlich, dass der Luftkrieg nicht nur als reale, sondern auch als imaginierte Gefahr bis zum Schluss eine wichtige Rolle spielte.

Doch mochten auch nicht so viele Städte zerstört worden sein wie in Deutschland, die Verluste an Wohneigentum und Menschenleben waren nicht nur in London, sondern auch in zahlreichen Küsten- und Industriestädten gravierend, sodass sich Probleme, die sich aus dem städtischen Ausnahmezustand ergaben, in Deutschland und England durchaus ähneln konnten. Gerade diese regionalen und zeitlichen Verdichtungen eignen sich besonders für den Vergleich, verweisen sie doch auf beides: auf Ähnlichkeiten wie unterschiedliche Erfahrungsräume und Bewältigungsstrategien, die sich aus der Eskalation des Luftkrieges ergaben.

Nicht alle Fragen können in vergleichbarem Umfang für alle Regionen Englands und Deutschlands bearbeitet werden. Das hängt mit der Überlieferung und der Art der Quellen zusammen, hat aber noch einen weiteren wichtigen Grund. Schließlich kann es nicht darum gehen, alle denkbaren städtischen oder konfessionellen Differenzen, Strukturen und Probleme im Detail nachzuzeichnen. Der Vergleich zwingt zur Systematisierung. In Deutschland folgte die Auswahl der Regionen dem Verlauf des Bombenkrieges. Untersucht werden sowohl Städte im Norden und Westen des Reiches, die bereits frühzeitig und über einen langen Zeitraum hinweg bombardiert wurden, als auch Städte im Süden, die erst in der zweiten Kriegshälfte angegriffen wurden, wobei man auf den Wissens-und Erfahrungsschatz anderer Regionen zurückgreifen konnte. So kommen neben Rostock, Berlin, Hamburg, Kiel, Köln und Düsseldorf auch Stuttgart, Nürnberg und München in den Blick. Für England argumentiert die Arbeit auf der Basis der überwiegenden Mehrheit der bombardierten britischen Großstädte. Neben London sind dies unter anderem Southampton und Plymouth, Bristol und Exeter, Coventry, Manchester und Hull.

So groß die Chancen sind, die ein solcher Vergleich bietet, es sind auch Grenzen zu beachten. Das gilt erstens für die Auswahl der Untersuchungsregionen: Die Studie richtet den Fokus primär auf städtische Gesellschaften und (im deutschen Fall) damit vor allem auf bombardierte Regionen im Altreich. An verschiedenen Stellen soll diese Verengung durchbrochen werden, wenn gezeigt wird, wie der Luftkrieg Öffentlichkeiten in beiden Gesellschaften veränderte und wie die Bomben selbst zu einer Entgrenzung zwischen Stadt und Land beitrugen.

Zweitens besteht die Gefahr, dass Vergleiche von Diktaturen und Demokratien unmerklich die Tendenz entfalten, die verfassungsrechtlichen Unterschiede beider Gesellschaften durch funktionale Vergleichsanordnungen aufzuheben. Umso wichtiger ist es deshalb, längerfristige Prägungen und gesellschaftliche Strukturmerkmale, die über die Kriegszeit hinausgehen, in die Analyse einzubeziehen und die Formen der Vergesellschaftung im Krieg über das Kriegsende hinaus weiterzuverfolgen.

Drittens ist Zurückhaltung geboten: Aus einer spezifischen sozialen Praxis, aus (relativ) erfolgreicher Krisenbewältigung, staatlichen Angeboten und Inszenierungen lässt sich nicht unmittelbar auf individuelles Vertrauen zum und Loyalität verschiedener Bevölkerungsgruppen gegenüber dem Regime schließen.

Luftkrieg, Volksgemeinschaft und People’s War – Probleme der Forschung

Die Auswirkungen der Bombenangriffe auf die »Volksgemeinschaft« haben schon während des Krieges das Interesse amerikanischer und britischer Sozialforscher auf sich gezogen. Sozialwissenschaftler des United States Strategic Bombing Survey zogen bereits im Frühjahr 1945 durch die deutschen Städte, befragten Entscheidungsträger und NSDAP-Mitglieder und sammelten alles nur Erdenkliche, was ihnen an Material in die Finger kam. Das Ergebnis ihrer Untersuchungen war jedoch in vielerlei Hinsicht ernüchternd: Es sei nicht gelungen, die Kriegsmoral zu brechen. Zwar verwies man auf die Bilanz der ökonomischen Zerstörung durch die Angriffe, doch das strategische Ziel, die Zermürbung der gegnerischen Zivilbevölkerung, habe keine Seite erreicht.49

In den 1950er und 1960er Jahren begannen in Deutschland ehemalige Luftschutzaktivisten des NS-Staates sowie Lokalhistoriker, Archivare und Völkerrechtler damit, die Geschichte des Luftkrieges zu schreiben, und knüpften dabei in erheblichem Maße an Deutungsmuster und Begriffe der NS-Zeit an, nach denen das Deutsche Reich zum wehrlosen Objekt alliierter »Luftgangster« geworden sei. Es sollte noch bis weit in die 1970er Jahre dauern, bis die deutsche Militärgeschichtsschreibung mit dem Militärgeschichtlichen Forschungsamt (MGFA) an der Spitze sich der Untersuchung des Luftkrieges gegen Deutschland zuwandte. Das Augenmerk richtete sich dabei vornehmlich auf die Voraussetzungen, die strategische Planung und die operative Durchführung des Luftkrieges, mithin also auf die Geschichte der Luftwaffe im internationalen Vergleich. Zwangsläufig ging es dabei immer wieder um die – gerade auch in Großbritannien – heftig umstrittene Frage, welches Land mit dem Flächenbombardement begonnen habe und wer damit die Schuld für die Eskalation des Luftkrieges trage. Gerungen wurde um die Verhältnismäßigkeit der Mittel sowie um alliierte »Kriegsverbrechen«, nach den Auswirkungen der Luftangriffe auf die deutsche Gesellschaft wurde dagegen kaum gefragt.50

Es waren die Stadt- und Lokalhistoriker, die – oftmals anlässlich der Jahrestage der Bombardierungen – in ihren Arbeiten einer anderen Perspektive folgten. Bis weit in die 1980er Jahre blieben solche Studien aber methodisch kaum reflektiert.51 Das hat sich in den vergangenen Jahren geändert: So hat Neil Gregor am Beispiel Nürnbergs gezeigt, in welchem Maße die Bombardierung der Stadt zu einer Auflösung sozialer Bindekräfte und zu einer wachsenden Bedeutung lokaler und familiärer Netzwerke unabhängig von Partei und Staat geführt hat.52 Andere Lokalstudien belegten, wie zentral die Kommunen für die Stabilität des NS-Herrschaftssystems, die Krisenbewältigung des Luftkrieges und die Exklusionspolitik des »Dritten Reiches« waren.53

Obwohl der Krieg zu den konstitutiven Elementen der nationalsozialistischen Diktatur zählte,54 fehlt es bisher an Überlegungen, die seinen Stellenwert als Teil der zunehmend radikalisierten nationalsozialistischen Gesellschaftspolitik analysieren.55 Gerade die allgemeine, sozialgeschichtlich orientierte NS-Geschichte hat lange gebraucht, die Bedeutung des Luftkrieges für das Herrschaftssystem des Nationalsozialismus zu begreifen,56 weshalb der Krieg und die Rückwirkung auf die »Heimatfront« eine interpretatorische Leerstelle blieb, die erst langsam geschlossen wird.57 Den Versuch einer Synthese bilden die Beiträge, die der Band neun der Reihe »Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg« versammelt. 58

Größere, qualitativ anspruchsvolle Gesamtdarstellungen der Geschichte des Luftkrieges liegen mittlerweile aus der Hand von Richard Overy,59 Horst Boog, Rolf-Dieter Müller und Olaf Groehler vor. Sie alle haben ihre Vorzüge, doch Groehlers Arbeit ist nach wie vor die einzige, die, bei allen Kritikpunkten im Detail, der Sozialgeschichte des Luftkrieges einen breiteren Raum einräumt. So gilt wohl noch immer, was Jeremy Noakes schon vor vielen Jahren beklagte: Eine umfassende Sozial- und Kulturgeschichte des Luftkrieges steht noch aus.60

Dazu muss die Geschichte des Luftkrieges mit neueren Diskussionen der NS-Geschichte verbunden werden, müssen insbesondere die Prägekraft und die Wandlungen der »Volksgemeinschaft« erkundet werden.61 Erst dann kann man »zum Kern des Problems«62 vorstoßen, nämlich zu der Frage nach dem inneren Ordnungsgefüge der deutschen Gesellschaft im Krieg, den Bindekräften des Regimes und den Formen von Inklusion und Exklusion. Den Begriff als bloße Propagandakeule der Nationalsozialisten abzutun, führt dagegen nicht weiter, schließlich knüpfte die »Volksgemeinschaft« an sehr unterschiedliche – und nicht allein völkische – Gesellschaftsentwürfe an, in deren Mittelpunkt die Harmonisierung sozialer Konflikte stand, was unterschiedlichen Gruppen die Teilhabe im NS-Staat ermöglichte.63 Für die »Volksgemeinschaft« konnte sich auch engagieren, wer sich als Gegner der Nationalsozialisten verstand.

Verwirrend ist vor allem, dass in der Kontroverse unterschiedliche Begriffsebenen zusammenfließen: nationalsozialistische Ordnungsentwürfe einer neuen Gesellschaft, Formen der sozialen Praxis, in der die »Volksgemeinschaft« hergestellt werden sollte und die zugleich auch Arenen gesellschaftlicher Selbstmobilisierung und Disziplinierung waren, sowie die Sozialstruktur des »Dritten Reiches«. 64 Der Versuch, den Begriff der Volksgemeinschaft als Werkzeug dafür zu benutzen, um nach den Bindekräften des Regimes, nach Attraktivität und (auch das ist entscheidend) Ausgrenzung zu fragen, darf man nicht verwechseln mit einem irgendwie gearteten »Konzept«. Worum es geht, ist, in vergleichender Perspektive für die Kriegsgesellschaften nach den Mechanismen von Gewalt und Zustimmung zu fragen – im Grunde eine sehr alte Frage der NS-Forschung, die allerdings nichts von ihrer Aktualität verloren hat und für die es mit Blick auf die zentrale Phase des Krieges auch noch keine überzeugenden Erklärungsansätze gibt.

Einen Ausweg aus den begrifflichen Verwirrungen bietet der hier vorgeschlagene Versuch, die »Volksgemeinschaft« mit unterschiedlichen gesellschaftlichen Ordnungsentwürfen anderer europäischer Länder (in diesem Fall England) zu vergleichen.65 Auch liberale Demokratien wie Schweden und England kannten als Reaktion auf die Krisen der Zwischenkriegszeit Entwürfe kollektiver Ordnung und der Vergemeinschaftung.66 Der Begriff des People’s War in England war in dieser Hinsicht Antwort und Gegenentwurf zur nationalsozialistischen »Volksgemeinschaft«. Er umschrieb, im Rückgriff auf das frühe 19. Jahrhundert, einen Abwehrkampf des gesamten Volkes, der Klassengrenzen überwand und einen ganz besonderen »community spirit« schuf.67 Der People’s War meinte zunächst eine neue Form ziviler, demokratischer Selbstorganisation von Milizen im Kampf gegen britische Söldner.68

Kriege waren für England zunächst koloniale Kriege gewesen, und anders als in Frankreich und Deutschland hatte es bis zum Ersten Weltkrieg kaum Debatten um Nationen- oder Volkskriege gegeben. Das änderte sich mit der Angst vor der deutschen Invasion um 1890 und schließlich mit dem Jahr 1914. Bellizistische Nationenvorstellungen gewannen an Einfluss, und damit auch der People’s War als Vision einer zivilen Gesellschaft in Waffen, die in den Munitionsfabriken und gemeinsamen Schützengräben kämpfte. Der People’s War, der die Vorstellungen seit 1939 dominierte, schien in den U-Bahnschächten geboren; ein nationales Projekt der Vergemeinschaftung, das nicht nur das moralische Rüstzeug für den Kampf gegen den Nationalsozialismus bot, sondern zugleich das Versprechen enthielt, dass am Ende dieses Krieges der Aufbau einer neuen, wohlfahrtsstaatlich organisierten Gesellschaft stehen würde.69

Die britische Zeitgeschichte hat ihren Blick, ähnlich wie die deutsche, stark auf ihre nationalen Narrative konzentriert,70 weshalb es bisher kaum empirisch abgesicherte Vergleichsstudien gibt.71 Früher als in Deutschland erschienen in England die ersten aktengestützten, offiziellen Geschichtsdarstellungen des Zweiten Weltkrieges. Bereits 1961 publizierten Noble Frankland und Charles Webster ihre Geschichte des Air Command,72 die bis heute ein Referenzpunkt zahlreicher Arbeiten über die Militärgeschichte des Luftkrieges ist, zu deren produktivsten Vertretern Richard Overy gehört.73 Ihr Blick war indes ganz auf Ausbildung und Produktion, Strategie und Wirkungskraft gerichtet, weniger auf die gesellschaftlichen Folgen.

Für die britische Geschichtsschreibung der Home Front lassen sich – grob formuliert – zwei unterschiedliche, freilich miteinander verwobene Diskussionsstränge unterscheiden:74 erstens das Verhältnis von Krieg und sozialem Wandel. Hatte der Krieg die staatliche Sensibilität für die gravierenden Probleme der Unterschichten erhöht? War es am Ende die Erfahrung des Krieges, die zum Aufbau des britischen Wohlfahrtsstaates führte?75 Damit ist – neben der Sozialpolitik – ein zweites Fragenbündel verbunden, das den People’s War in den Mittelpunkt stellte und der Frage nachging, ob der Krieg und insbesondere der Blitz76 einen neuen britischen »Gemeinschaftssinn« geschaffen habe. Zahlreiche Arbeiten, die zwischen der unmittelbaren Nachkriegszeit bis in die sechziger Jahre entstanden, waren von dieser Vorstellung getragen.77

Prägend und bis heute die wohl einflussreichste Studie zur Sozialgeschichte der Kriegszeit ist Angus Calders monumentaler People’s War.78 Seine bahnbrechende Arbeit nutzte erstmals die Bestände der Mass-Observation und rückte die Alltags- und Erfahrungswelt »kleiner Leute« während des Blitz in den Mittelpunkt. Es ging nun nicht mehr ausschließlich um militärische Erfolge, sondern um die Probleme des Alltags im Krieg, um administrative Versäumnisse und individuelle Ängste, über die bis dahin kaum etwas bekannt geworden war.

Bemerkenswert war zudem, wie sehr sich in der Rezeption des Buches der Mythos des People’s War fortschrieb und verselbständigte, sodass seit den 1980er Jahren eine wahre Flut an Studien entstand, die die Sozial- und Politikgeschichte des Krieges zu einem heftig umkämpften Schlachtfeld machten. Die Frontlinien verliefen – grob verkürzt – zwischen denen, die im Krieg einen wichtigen Motor sozialen Wandels und mithin den Wohlfahrtsstaat als ein wesentliches Produkt des Kriegskonsenses sahen, und anderen, die – nicht zuletzt aus Genderperspektive 79 – die starren Strukturen sozialer Ungleichheit, die unterschiedlichen politischen Ziele der Kriegskoalitionspartner, die weiterhin vorhandenen Einkommensdifferenzen zwischen Männer- und Frauenarbeit, die Dominanz patriarchalischer Rollenmuster und die Langlebigkeit der Klassenstruktur betonten.80

Während es eine lange Tradition der Sozial- und Politikgeschichte für die Jahre zwischen 1939 und 1945 gibt und sich die Forschung – schneller als in Deutschland - zunehmend kulturgeschichtlichen Ansätzen geöffnet hat, ist es erstaunlich, wie wenig Resonanz diese Debatten in der britischen Stadt- und Regionalgeschichte der Kriegszeit fanden. Eine vergleichbar starke Tradition der politischen Sozialgeschichte kleiner Räume, wie sie beispielsweise für die NS-Geschichte seit den 1980er Jahren prägend ist, fehlt in England.81 Vielfach geht es ausschließlich um London, und oft enden die Studien dann im Jahr 1941 – womit die Wirkungsgeschichte und die Verbindung von Krieg und Nachkrieg aus dem Blick geraten.82

Die unterschiedlichen nationalen und lokalen Erinnerungskulturen nach 1945 in Deutschland und England werden deshalb den Abschluss dieses Buches bilden.83 Es geht dabei um die Anpassung und Veränderung von zeitgenössischen Narrativen des Luftkrieges, ihre Verformung und politische Instrumentalisierung bis hin zur Debatte um den »Brand«, Jörg Friedrichs Geschichte des Bombenkrieges, die 2002 die Kontroverse über »Tabu« und »Traumatisierung« der Deutschen auslöste und den Luftkrieg bis auf die Titelseiten der Boulevardpresse brachte – eine Debatte, die (wenngleich unter verschiedenen Vorzeichen) auf beiden Seiten des Kanals eine lebhafte Diskussion um Kriegsmoral und Kriegsverbrechen, um die Legitimation und Notwendigkeit von Gewalt im Kampf gegen die Diktatoren der Welt und die »neue« deutsche Opfergeschichte des Zweiten Weltkrieges auslöste. Ein Ende hat diese Geschichte nicht, nur viele verschlungene Pfade, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Krieges miteinander verbinden.

Kapitel I

DER KRIEG DER ZUKUNFT 1900 – 1939

Der London-Schock

Als der Luftkrieg zu Ende war, lag New York City in Trümmern. Die globale Schlacht hatte aus Menschen Barbaren und aus Zivilisationen gewalttätige Feudalgesellschaften gemacht. Es war ein blutiges, apokalyptisches Kriegsgemälde, das der junge britische Science-Fiction-Autor H. G. Wells in seinem 1908 erschienenen Roman The War in the Air1 entwarf. An dessen Ende lagen die Städte Europas und die amerikanische Metropole am Hudson River in Trümmern. Deutschland war, neben den aufstrebenden asiatischen Mächten, der gefährliche Kriegstreiber, der nach Weltmacht strebte und dessen Flugzeuge Tod und Vernichtung brachten. Der Terror aus der Luft versetzte die Menschen in Angst und Panik und läutete das Ende der Zeiten ein.

Am Beginn des Jahrhunderts war der Luftkrieg eine Sache für Romanautoren und Futurologen. Und noch trieb der Traum vom Fliegen die Pioniere der jungen Technik an – eine Technik, die von Beginn an auf großes Interesse in den Generalstäben Europas stieß, boten doch Luftschiffe und Flugzeuge die Chance, die Form der Kriegführung zu revolutionieren, den Feind im Hinterland zu treffen und über gegnerische Truppenbewegung zu informieren. Zivile Technikbegeisterung und militärstrategische Planspiele über die Zukunft der Kriegführung gingen Hand in Hand und sollten schon vor dem Ersten Weltkrieg in Europa und den USA das militärisch Denk- und Machbare erweitern. Doch trotz erster spanischer, dann italienischer Versuche, bei denen 1911/1912 im Krieg gegen die Türkei Bomben per Hand aus dem Flugzeug abgeworfen wurden, gab es weder in London und Paris noch in Berlin genaue Vorstellungen darüber, was eigentlich ein solcher Krieg in der – neben Land und Wasser – »dritten Dimension« bedeutete.

Das Deutsche Reich hatte zunächst auf Luftschiffe gesetzt und andere Optionen vernachlässigt, während Frankreich bereits am Beginn des Ersten Weltkrieges eine erste Bombergruppe geschaffen hatte, die den verfeindeten Nachbarn auf heimischem Boden attackieren konnte. Auch England verfügte mit seinen Marinefliegern des Royal Navy Air Service über eine Waffe, die im Herbst und Winter 1914 erstmals gegen Köln und Düsseldorf und auch gegen die Luftschiffhäfen in Friedrichshafen und Cuxhaven zum Einsatz kam.2 Als die Stellungskriege der Westfront den deutschen Vormarsch stoppten und der britische Blockadekrieg seine erste Wirkung zeigte, begannen in Berlin die Suche nach Alternativen und der Versuch, verlorenes Terrain auf dem Gebiet der Flugzeugproduktion zurückzuerobern. Unter massivem Material- und Finanzeinsatz erhöhte das Deutsche Reich die Produktion. Es setzte, neben den Zeppelinen, auf neue Flugzeugtypen, die wie die Gotha-IV-Bomber zwar weniger Bomben laden, sich dafür aber besser verteidigen konnten und über eine höhere Leistungskraft verfügten.

Den alliierten Vorsprung vermochten sie jedoch nicht aufzuholen. Am Ende des Ersten Weltkrieges verfügten die Kriegsgegner schließlich über die ersten Bomber, die genügend Munition und Treibstoff an Bord hatten, um Industrieanlagen und Häfen anzugreifen. Noch war der Kampf um die Luftherrschaft weit davon entfernt, kriegsentscheidend zu sein, und doch hatte die strategische Bedeutung, die dem Flugzeug beigemessen wurde, von Monat zu Monat zugenommen. In den Stäben des britischen Luftfahrtministeriums existierten dafür seit 1918 die ersten Listen mit detaillierten Angaben über potenzielle Ziele im Norden und Westen des Reiches, allen voran für Berlin und das Ruhrgebiet. Die Rüstungsproduktionsstätten galten als vorrangiges Ziel, und die Hoffnung war groß, mithilfe der neuen Bombertypen die Industrieanlagen und die U-Boot-Produktion lahmlegen zu können.3 Doch noch fehlte die nötige Technik, noch mangelte es an präzisen Navigationsinstrumenten und qualifiziertem Personal, das in der Lage gewesen wäre, mehr als nur einige Zufallstreffer zu erzielen. Die tatsächlichen infrastrukturellen Schäden und auch die Zahl der Opfer der ersten militärischen Luftoperationen blieben deshalb begrenzt:4 Das Kaiserreich zählte bis Kriegsende 729 Tote, die Rüstungsindustrie war nicht einmal in Ansätzen geschädigt worden, ganz zu schweigen von den Plänen, Berlin zu bombardieren;5 in Großbritannien kamen 1414 Menschen ums Leben, 3416 wurden verletzt.

Dennoch täuschen die auf den ersten Blick niedrigen Zahlen. Denn insbesondere für Großbritannien erschöpfte sich die Bedeutung der deutschen Angriffe nicht auf die verhältnismäßig geringen Verluste. Erstmals seit Jahrhunderten war das Königreich auf heimischem Territorium attackiert worden. London, das Herz des Empires, war getroffen, und man war nicht in der Lage gewesen, die Bevölkerung zu schützen. Ende Mai 1915 hatten deutsche Zeppeline die britische Hauptstadt angegriffen, 1916 sollten weitere 123 Einsätze folgen, bis schließlich 1917 die ersten Bomber die britische Hauptstadt attackierten. Beim schwersten dieser Angriffe, am 13. Juni 1917, kamen 162 Menschen ums Leben. Die Berichte über Unzufriedenheit, Angst, ja Panik in einigen bombardierten Londoner Stadtteilen häuften sich. Effektive Frühwarnsysteme fehlten, und schon ein einfaches Gerücht, so berichteten deutsche Beobachter, reichte oft aus, dass sich viele Londoner in die U-Bahn-Schächte flüchteten. Besonders nächtliche Angriffe schienen nachhaltige Wirkung zu haben: Vor allem Frauen schrien dann hysterisch, überall gebe es »Gebrüll und Gehaste« – ein Zustand »von völliger Verrücktheit«, wie ein deutscher Kaufmann Anfang Dezember 1917 an den deutschen Admiralstab schrieb.6

Der Chef des Imperial General Staff bemerkte im Anschluss an die Angriffe, viele hätten gedacht, »das Ende der Welt sei gekommen«.7 Londoner Polizisten berichteten, wie Menschen um einen sicheren Platz in den Tube-Schächten kämpften und nur mit Mühe zur Räson gebracht werden konnten; und es war vor allem das neuartige Gefühl des Ausgeliefertseins, der Schutzlosigkeit, das viele Menschen »nervös« werden ließ.8

Das klang vielfach nach einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Schon H.G. Wells hatte die Menschen vor dem Madison Square Garden und auf der Brooklyn Bridge in Panik flüchten und ihren Nebenmann dabei erdrücken sehen. Dass in Angst versetzte Menschenmassen ihre humanen Verhaltensweisen verlören, sich zu einem gewalttätigen Mob und beinahe zu Tieren verwandelten, war unter den seit der Jahrhundertwende expandierenden Sozialpsychologen und Militärtheoretikern eine verbreitete Annahme, deren Grundlage Beobachtungen menschlichen Verhaltens während gewaltiger Naturkatastrophen waren oder ganz auf anthropologischem Räsonieren basierte.9

Klar schien, dass Zivilisten in Extremsituationen, gerade Einwohner der urbanen Metropolen, besonders anfällig für alle Formen von Furcht, Nervenschwäche und Panik seien und dass insbesondere in Kriegszeiten der »kollektive Verstand« fragil reagiere.10 Gerade der moderne urbane Mensch, der in der Masse aufgehende Proletarier, galt manchem Vertreter der noch jungen Soziologie als besonders gefährdet, im Ernstfall des Krieges nicht angemessen zu reagieren. Während auf dem Land noch alte Bindungen soziale Strukturen zusammenhielten, galten Großstädte als Dschungel, in denen Bomben ihre verheerende Wirkung erst richtig entfalten konnten.11 Das Journal of the Royal United Service Institute warnte bereits 1914 vor den desaströsen Folgen eines feindlichen Angriffs auf die Insel: gut möglich, dass ein massiver Schlag des Gegners nicht nur zu Panik, sondern gar zu Aufständen der Massen führen und die Regierung dazu zwingen könnte, einen aufgezwungenen Frieden zu akzeptieren.12 Und auch unter Medizinern und Psychologen schien es allenfalls eine Frage der Zeit, bis das schwächliche Rückgrat der Heimatfront zerbrechen und die Nerven der Menschen erkranken würden;13 und das nicht zuletzt deshalb, weil die moderne Art der Kriegführung ein völlig neues Vernichtungspotenzial geschaffen habe.

Luftkriegsvisionen

Doch welche Konsequenz sollte das haben? Die Pläne, die der Chef der britischen Bomberflotte, Brigadegeneral Hugh Trenchard, 1915 für die Bombardierung Deutschlands vorgesehen hatte, sahen vor allem Angriffe gegen die Infrastruktur vor, die die Front im Westen mit dem Reich verband. Hinzu kamen – neben dem Ruhrgebiet – auch die Industrieanlagen Elsass-Lothringens. Es war vor allem der Schock der Zeppelin- und Gotha-Bomber-Angriffe auf London, der zu einer intensiven Debatte über die künftige Luftkriegsstrategie und die Auswahl möglicher Ziele führte.14 Sollte den Deutschen mit gleicher Münze heimgezahlt werden? Und welche moralische Grenze gab es? In der britischen Öffentlichkeit war nach den Angriffen vom Sommer 1917 der Ruf nach Vergeltung immer lauter geworden. Political bombing, die vermeintliche Strategie der Deutschen, ohne Rücksichtnahme auf zivile Opfer – dies galt nun als teutonisches Markenzeichen und ausreichende Legitimation für jede Form der Vergeltung15 – ganz unabhängig davon, dass die Treffgenauigkeit der deutschen Luftwaffe weit davon entfernt war, besonders furchterregend zu sein. Insbesondere, als bei einem Angriff Mitte Juni 1917 mehr als hundert Schulkinder ums Leben kamen, schlug die Empörung über die Art der Kriegführung in offene Wut und massive Vergeltungsforderungen um.16

Während Großbritannien nach wie vor einen »ritterlichen« Krieg führe und sich bei seinen Bombardierungen auf militärische Ziele konzentriere,17 seien die deutschen Luftangriffe gegen Unschuldige »grausam« und »unmenschlich«. Ausführlich schilderte die Times jedes Detail der Spurensuche nach den Überresten toter Kinderkörper. Sie verwies dabei auf die fehlenden Frühwarnsysteme, die, wären sie installiert gewesen, möglicherweise das Leben der Kinder gerettet hätten.18 Der Moral der Briten hätten die Angriffe jedenfalls nichts anhaben können, erklärte Kriegsminister Lord Derby im Oktober 1917. Zwar habe tatsächlich ein beträchtlicher Teil der Betroffenen aus Furcht vor Angriffen Schutz in den U-Bahn-Stationen gesucht. Doch die meisten Stimmen derer, die da Zuflucht gesucht hätten, habe man kaum verstehen können, oder anders gesagt: Nur ängstliche Ausländer hatten Reißaus genommen, nicht aber Briten.19

Neben der Dämonisierung des Feindes, vorsichtiger Kritik an defensiven Vorkehrungen und der Beschwörung der britischen Kriegsmoral begann nun in der propagandistischen Abwehrschlacht gegen Deutschland eine neuartige Diskussion, die zwischen »gerechtfertigten« und »unberechtigten«, zwischen »zivilen« und »militärischen« Bombardierungen unterschied, ohne dass dafür die Grenzlinien klar markiert gewesen wären. Eine Trennung beider Ziele gab es – trotz aller Beteuerungen – nicht. Im Juni 1918 informierte Hugh Trenchard das Kriegskabinett über die künftigen Ziele seiner Bomberstaffeln: Deutschland sollte niedergerungen werden, indem in die physischen und psychischen Zentren eingebrochen würde – und das hieß: systematische Bombardierung der dicht besiedelten Industriereviere.20 Dahinter stand die Annahme, dass, angesichts der schon länger andauernden Seeblockade, die deutsche Moral insgesamt bereits schwach sei und Luftangriffe dem Feind den Rest geben würden.

Diese Argumentation war durchaus gefährlich, weil sich spätestens seit den Londoner Angriffen in der britischen Öffentlichkeit und in weiten Teilen des Militärs die Einschätzung durchgesetzt hatte, dass dem deutschen Kaiserreich letztlich jede Form der Ritterlichkeit fehlte und sich die deutsche Aggression primär gegen die zivile Heimatfront, gegen schwächliche Frauen und die Arbeiterschaft richten würde. Für England schien es deshalb nicht nur strategisch notwendig, sondern auch in moralischer und kriegsrechtlicher Hinsicht legitim, es den deutschen mit gleicher Münze heimzuzahlen. Und das hieß: Angriffe waren auch gegen zivile Ziele gerechtfertigt, galten sie doch als die eigentliche Schwachstelle des Gegners. Allerdings – und das war eine wichtige Einschränkung, die die Kontroversen über die britische Luftkriegsstrategie bis in den Zweiten Weltkrieg hinein bestimmten sollte:21 Ein terror bombing, einen lediglich auf die Vernichtung der Zivilbevölkerung abzielenden Bombereinsatz, lehnte Trenchard ab. Dagegen befürwortete er vehement die Bombardierung von Fabriken und ihren Arbeitern, um den sozialen Unfrieden zu schüren und die feindliche Regierung zum Frieden zu zwingen.22 Fabriken galten als legitimes Ziel, schließlich würden sie, so vermutete er, aus Angst vor weiteren Angriffen die Betriebe verlassen und damit die Rüstungsproduktion einschränken.23

Die Faszination über die Möglichkeiten der neuen Technik, die Annahme moralischer Skrupellosigkeit aufseiten der Deutschen zusammen mit der vermeintlichen Lernerfahrung des Sommers 1917 und der schwankenden Zivilbevölkerung ließ die Euphorie für den umfassenden Einsatz der Luftflotte deutlich anwachsen und wurde zunächst lediglich durch das Ende des Krieges und die Kapitulation des Kaiserreiches unterbrochen, an dem die Bomben aus der Luft allerdings einen verschwindend kleinen Anteil hatten. Das freilich, so die Hoffnung, würde sich in Konflikten erheblich ändern. Jedenfalls war das die lautstark vertretene Meinung führender Luftkriegstheoretiker nach dem Krieg – eine Einschätzung, die vonseiten anderer Streitkräfte indes nicht unwidersprochen blieb, die allenfalls den unterstützenden Charakter der Luftwaffe für Boden- und Seeoperationen betonten. Während der kurze Aufschwung der deutschen Luftflotte durch den Versailler Vertrag zunächst beendet und noch unklar geblieben war, wie angesichts der neuen Beschränkungen trotzdem auf dem Feld der Luftfahrtindustrie Schritt gehalten werden konnte, galt es vor allem unter amerikanischen und britischen Luftkriegsstrategen als ausgemachte Sache, dass Bomben das neue Wundermittel des Krieges sein würden – und Piloten ihre neuen Kreuzritter. Als kommende Vollstrecker des »totalen Krieges« waren sie es, die über Berge und Seen fliegen konnten, um das Herz des Feindes zu treffen.

Doch diese Art der Kriegführung entsprach gerade nicht dem Selbstverständnis, das deutsche und britische Piloten von sich selbst hatten: »Ritter der Lüfte« wie Manfred von Richthofen sahen den Luftkrieg viel eher als sportliches Duell, als Kampf Mann gegen Mann, ähnlich einem Turnier, in dem der Beste und Mutigste gewinnt. Während in den Stellungskriegen des Ersten Weltkrieges die Gewalt der Maschinengewehre aufeinanderprallte, schienen der Luftkrieg und die Schlachten der Piloten gleichsam als letzter Akt der Ritterlichkeit, den es in einem industriellen Krieg noch gab – und die Flieger damit als eine besondere, ebenso heldenmütige wie sportlich faire Klasse, die weniger Soldaten als Individualisten waren und einen »sauberen« Krieg fochten.24

Der Luftkrieg wirkte eher, wie es der Pilot Cecil Lewis in seiner Autobiografie formulierte, als noble Auseinandersetzung, als Kontrast zu den blutigen Schlachtfeldern, die sie unter sich beobachten konnten. Dieser Kult des ehrbaren Ritters der Lüfte war auf beiden Seiten des Ärmelkanals so stark, dass die Alliierten eine Abordnung nach Deutschland schickten, um im November 1925 zusammen mit Reichspräsident Paul von Hindenburg dem toten Fliegerstar des Ersten Weltkrieges, Manfred von Richthofen, die letzte Ehre zu erweisen, als seine Gebeine von Frankreich nach Deutschland umgebettet und in einem Staatsakt zu Grabe getragen wurden.25 Gleichzeitig erreichten die Autobiografien deutscher Kampfflieger nicht nur in Deutschland, sondern auch in England ein Massenpublikum und sorgten damit für eine weite Verbreitung der mythischen Fliegerverklärung.

In den Flugzeugen saßen damit keine Mörder, sondern Männer, deren maskulin-heldenhafter Einsatz im Gegensatz zum industriellen Krieg und seinem anonymen Massentod stand.26 Der Gegentyp zum »Ritter der Lüfte« war in der britischen Propaganda noch während des Krieges entstanden – und saß am Steuer der Zeppeline und deutschen Bomber, tötete feige und ohne Rücksicht Frauen und Kinder und trat den Sportsgeist der Auseinandersetzung mit Füßen.27

Vom »Sportsgeist« war der neue Fliegertyp, von dem beispielsweise Ernst Jünger träumte, in der Tat ein gutes Stück entfernt. Was Jünger und andere besangen, war ein durch den Klang und das Räderwerk der Maschinen gestählter, harter und unnachgiebiger Mann mit eisernen Nerven, der nicht davor zurückschreckte, gemeinsam mit anderen Piloten seines Geschwaders den Feind zu attackieren, und sich dabei nicht von übertriebenen Gefühlen leiten ließ.28 Krieg und industrielles Zeitalter erforderten einen neuen Mann und Krieger, der mit kühlem Blut und totaler Kontrolle seinen Auftrag erfüllte. In einem solchen Krieg starben die Kameraden, und der Tod war kalkulierte Routine. Doch davon ließ sich der Flieger nicht beirren, zu sehr war er erfüllt von Disziplin und eisernem Willen – den Charakterzügen berühmter Fliegerasse wie Oswald Boelcke und von Richthofen, die ein »moderner Krieg« und ein völkischer Patriotismus, wie Jünger meinte, mehr brauchte als übertriebenen (britischen) Sportsgeist.29

Der Krieg in der dritten Dimension veränderte also den »Krieger« selbst. Doch was bedeuteten die neuen Technologien für die Art, wie künftig Kriege geplant und erfolgreich geführt würden? Und was war das überhaupt für eine Kategorie, die Einzug gehalten hatte in die militärischen Doktrinen: das »Volk«? Die radikalste dieser Luftkriegsvisionen vertrat der italienische General Giulio Douhet, dessen Erfahrungen aus dem Einsatz in Nordafrika in sein Buch über die »Luftherrschaft«30 eingingen. Mehr als alle anderen Luftkriegstheoretiker der Zwischenkriegszeit beschwor Douhet die Omnipotenz der Bomberflotten, deren Einsatz er für effizienter und kostengünstiger einschätzte als etwa den Bau von Luftabwehr oder den Versuch, über viele Jahre die Landstreitkräfte auszubauen. Mit den Bombern hatte sich die Kriegführung revolutioniert, und das hieß auch, dass es nun möglich war, mit voller Kraft den Gegner an seiner schwächsten Stelle anzugreifen und damit den Vorteil der Geschwindigkeit und der totalen Mobilisierung zu nutzen. Gegen diese neuen Waffen und den bedingungslosen Gas-Luftkrieg, so war er sicher, gab es kein Rezept, und nur, wer sich ganz darauf einließ, konnte die Wirkungen vollends in einem »totalen Krieg« für sich nutzen.

Luftherrschaft war also das, worum es in künftigen Kriegen gehen würde. Denn die neuen Herrschaftsverhältnisse in den Wolken machten möglich, wovon viele Militärstrategen träumten: den Gegner nicht an der Front, sondern in der Heimat zu Fall zu bringen. Und dafür war es nicht nur erlaubt, sondern geradezu geboten, die Moral des Gegners anzugreifen – mit Bomben oder auch mit Giftgas, damit zum einen das eigene Risiko minimiert und zum anderen der Schaden des Feindes maximiert würde.

So weit wie Douhet ging indes kaum ein anderer Luftkriegsstratege. In England blickte man überdies kaum ins Ausland und befasste sich vor allem mit der inneren Diskussion um den Stellenwert der RAF im militärischen Gesamtgefüge. So blieb der Einfluss Douhets in den 1920er Jahren gering: In Deutschland nahm ihn zunächst kaum jemand zur Kenntnis, und eine Übersetzung seines Buches kam schließlich erst 1935 zustande.31 In England war es nicht viel anders: Kaum jemand hatte das Buch in den Jahren nach seinem Erscheinen gelesen; und wenn doch, dann fand es allenfalls am Rande Beachtung;32 ändern sollte sich dies erst Mitte der 1930er Jahre, als wesentliche Teile der theoretischen Debatten in Deutschland und England bereits geführt waren und Douhet gleichsam rückwirkend als wegweisender Kriegsprognostiker gewürdigt wurde.33

Die Skepsis gegenüber diesen radikalen Plänen war überall in Europa spürbar, in Deutschland, aber auch in Frankreich und in England. Das lag, abgesehen von erheblichen Bedenken gegenüber dem Einsatz von Giftgas und den möglichen Eskalationsfolgen, vor allem an der Abwertung des Heers und der Marine, für die in Douhets Konzept kein Platz blieb und die ganz der Luftwaffe hätten untergeordnet werden sollen. Gleichwohl gab es in den militärischen Führungsstäben kaum einen Zweifel, dass die Luftwaffe den nächsten Krieg von Grund auf verändern würde. Denn den Krieg der Zukunft entschied nicht mehr alleine der Sieg über die gegnerische Streitmacht. Sieger würde das Land mit der größten militärischen, ökonomischen und zivilen Kraft werden – und das konnte nur dasjenige sein, welches die Kraftquellen des Feindes in dessen Hinterland auszuschalten vermochte.