Tod im Beinhaus - Traudi Schlitt - E-Book

Tod im Beinhaus E-Book

Traudi Schlitt

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Beschreibung

Sommer 2020 in Alsfeld. Während die Stadt sich langsam, aber sicher auf die Feierlichkeiten zum 800. Geburtstag vorbereitet, findet die Buchhändlerin Marianne Reul den Stadtarchivar erschlagen im Beinhaus. Niemand - nicht einmal seine engste Familie - weint ihm eine Träne nach. Mehr oder weniger freiwillig gerät sie gemeinsam mit ihren Freundinnen in die Ermittlungen, die der aus Weimar zurück in seine Heimatstadt gezogene Kommissar Thomas Eisenträger leitet. Als eine zweite prominente Leiche gefunden wird, nimmt das Geschehen Fahrt auf: Was verbindet Mari mit Thomas und dem Hauptverdächtigen? Wie hängen die beiden Fälle zusammen? Und können die Ermittler den Täter schnappen, bevor er erneut zuschlägt? Mit jeder Menge Lokalkolorit, einem Faible für so witzige wie interessante Personen und einer Riesenportion Alsfeld hat dieser Krimi alles, was Alsfeld-Fans und Alsfeld-Gäste mögen werden.

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Seitenzahl: 330

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Für alle, die Alsfeld so mögen wie ich.

Alsfeld!

Klein, aber bunt - hier sind alle Akteurinnen und Akteure!

Maris Frauentruppe:

Yasemin Erdal, Reinigungsfachkraft

Petra Lorenz, Wirtin des märchenhaften B&B

Mari Reul, Buchhändlerin

Tine Waterfeld, freie Journalistin

Olga Winter, Podologin

… in Maris Buchladen:

Jannis Blum, Abiturient, Aushilfe

Klaus Reul, Mitarbeiter, Maris Bruder

Milena Waterfeld, Auszubildende, Tochter von Maris Freundin Tina

Herbert, Maris großer Hund

… rund um die Polizei:

Matthias Alt, Hausmeister

Thomas Eisenträger, Kriminalkommissar

Clara Faust, Staatsanwältin

Nadine Paulsen, Polizeiobermeisterin, Schwiegertochter von Maris Freundin Petra

Daniel Rensch, Kriminaltechniker

Dr. Susanne Weber, Gerichtsmedizinerin

Simon Winter, Polizeiobermeister, Sohn von Maris Freundin Olga

Gabi vom Amtsgericht

… in und um Alsfeld:

Alex Baier, ehemaliger Geschäftsführer eines Autohauses

Helmut Becker, Wirt

Lisa Berger, Wirtin

Fynn Bergmann, Sekretär der Bürgermeisterin

Bettina Bücking, Rechtsanwaltsgehilfin, Ehefrau von Siegfried Bücking

Siegfried Bücking, pensionierter Richter, Stadtarchivar, Ehemann von Bettina Bücking

Alexander, Sebastian und Miriam Bücking, Kinder des Ehepaars Bücking

Manuela Döring, alte Bekannte

Doro Fischer, alte Bekannte

Harald Fischer, alter Bekannter

Rosa Fliege, Ladeninhaberin

Vera Horchler, Studienrätin und Vorsitzende des Geschichts- und Museumsvereins

Frieda Kaiser, ehemalige Verkäuferin

Ingrid Knieling, Mitarbeiterin im Bürgerbüro, Ehefrau von Roman Knieling

Roman Knieling, Lehrer, Ehemann von Ingrid Knieling

Nils Lorenz, Lehrer, Ehemann von Nadine Paulsen, Sohn von Maris Freundin Petra

Frank Mertens, Journalist

Thorsten Michaelsen, Anwalt

Walter Michels, Rentner

Felizitas Müller, Journalistin

Hilde Schmidt, Ladeninhaberin

Xenia Meyerhof, Wirtin

Jonas Schäfer, Mitarbeiter Amazon

Leon Schäfer, Mitarbeiter Amazon

Christian Schaufuß, Zahnarzt und Erster Stadtrat, Ehemann von Corinna Schaufuß

Corinna Schaufuß, Mitarbeiterin im Bürgerbüro, Ehefrau von Christan Schaufuß

Sabine Schlegel, Inhaberin einer Metzgerei, Schwester von Thomas Eisenträger

Rico Schlegel, Metzger, Schwager von Thomas Eisenträger

Luise Schön, Bürgermeisterin

Helga Schultz, Friseurmeisterin

Manuel Schwab, Inhaftierter

Yvonne Schwab, Ladeninhaberin

Laura Siewert, Studentin

Michael Townsend, Psychotherapeut

Britta von der Bäckerei

Schwester Hildegard vom Alsfelder Krankenhaus

Jupp, Obdachloser

Tobi vom Ordnungsamt

… und sonst so:

Bea, Annika und Antonia Eisenträger, Thomas‘ Familie

Erdal, Nesrin und Merve Özlüg

Sonja Reiter, Schulsekretärin

Peter Wiegand, Lehrer

Alfredo, Inhaber der Lieblingspizzeria der Polizei

Antonio, bofrost-Fahrer

Dinesh Sing, Achtsamkeitstrainer

Julian und Marcel aus Bad Hersfeld

Mandy, Verkäuferin, Ralfs Frau

Ralf, Thomas‘ Freund und Kollege aus Weimar, Mandys Mann

Dr. Wehner, Untere Wasserschutzbehörde

Gut zu wissen (wenn man nicht aus Alsfeld ist):

„Schnuggel“ ist oberhessisch und steht für Süßigkeiten.

Das „Schöppchen“ ist ein feines Bier aus dem Vogelsberg.

Und das Beinhaus, das Gebäude, das das Stadtarchiv beherbergt, diente tatsächlich als Beinhaus: In seinem Gewölbe wurden die Gebeine aus dem alten Friedhof aufbewahrt.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Epilog / 13. Juli

1

Dienstagmorgen.

Die Türme des Alsfelder Rathauses ragten in den strahlendblauen Sommerhimmel, der sich wie immer von allen Unbilden unter ihm unbeeindruckt zeigte und seine Bläue selbst an dieses erste Corona-Jahr 2020 verschwendete. Nur der Turm der Walpurgiskirche, die sich seit fünfhundert Jahren in direkter Nachbarschaft zum Rathaus und damit auch stets in Konkurrenz mit dem großbürgerlichen Fachwerkhaus befand, war noch höher als dessen beide Türme – selbst wenn man die Kugelaufsätze mitmaß. Zu Füßen der beiden Bauwerke tat sich eine große Baugrube auf: Die Sanierung des Alsfelder Marktplatzes kurz vor dem achthundertjährigen Stadtjubiläum war und blieb ein Politikum, ein Thema, das die Alsfelderinnen und Alsfelder gerne lang und breit diskutierten.

Marianne Reul, genannt Mari, kannte das zur Genüge. Auch ihr Haus säumte den historischen Platz mit dem schwarzglänzenden Basaltpflaster – es war das älteste Haus in dem viel bewunderten Ensemble. Und nicht selten sammelten sich vor dem Eingang zu ihrem Buchladen „Lesen mit Genuss“ kleine Menschentrauben, die sich ausführlich über die neuesten Funde in den Katakomben ihrer Stadt austauschten. Sie redeten über die Notwendigkeit oder Überflüssigkeit neuer, rutschsicherer Pflastersteine, über die Unfähigkeit der städtischen Bauabteilung oder wahlweise deren Weitsicht. Und sie beschwerten sich über die noch nicht weit genug vorangeschrittenen Planungen zum achthundertjährigen Stadtjubiläum in zwei Jahren. Manchmal gab es auch ein Lob für die Pläne des regen Teams um den Ersten Stadtrat Christian Schaufuß. Selten waren die Menschen hier einer Meinung und wenn es den Anschein hatte, es könne doch vorkommen, dann schwenkte schnell jemand um – wo käme man denn hin, wenn mit einem allseitigen Nicken eine vielversprechende Diskussionsrunde am Morgen bereits nach drei Minuten zu Ende gehen würde! Nur darin, dass das Verhalten von Bürgermeisterin Luise Schön einer solch altehrwürdigen Stadt mehr als unwürdig war, waren sich dann doch fast alle einig. „‘Promiskuitiv‘ heißt das, hat jetzt mein Enkelsohn gemeint“, gab der Rentner Walter Michels zum Besten. Obwohl die meisten in seiner Gesprächsrunde das Wort nicht kannten, wussten sie instinktiv, was gemeint war. „Sexuell freizügig“ war noch das Freundlichste, was die Alsfelder über die privaten Aktivitäten ihrer Bürgermeisterin sagten. Erdrutschartig hatte Luise Schön bei der letzten Kommunalwahl den Platz in einem der schönsten Amtszimmer Hessens gewonnen, die alten Genossen mussten sich mehr als einmal die Augen wischen, als mit ihr eine Frau ins Rathaus einzog, noch dazu eine Grüne – mit der CDU als Koalitionspartner. Was war da nur passiert in ihrer alten, verlässlichen, roten Stadt? Und wie viele Männer mochten wohl für die Frau gestimmt haben, die mit strahlendem Lächeln von ihren Wahlplakaten verkündet hatte „SCHÖN für Alsfeld“. Dass die SPD mit ihren letzten amtierenden Bürgermeistern für ein erhebliches Maß an Frustration selbst bei ihren allertreuesten Wählern gesorgt hatte, lag auf der Hand. Doch jahrzehntelang hatte dies keinerlei Konsequenzen gehabt – warum also jetzt? „Die Zeiten werden als verrückter“, meinte Helga Schultz, Inhaberin eines Friseurgeschäfts in der Obergasse in schönstem Oberhessisch und ergänzte: „Und jetzt mit dem Corona werden alle, die erst schon ein wenig schräg waren, noch schräger.“ Sie wusste, wovon sie sprach, denn in ihrem Friseursalon wurde ja nicht weniger besprochen als vor dem Buchladen, im Eiscafé oder vor Rosa Flieges kleinem Zeitungs- und Schnuggelladen, wo man sich ebenfalls stets gerne auf ein Schwätzchen traf.

Auch heute gab es wieder viel Gesprächsstoff. Mari, die über dem Buchladen wohnte und deren Fenster weit offenstanden, hörte alles unfreiwillig mit an. Während der Bauarbeiten auf dem Marktplatz waren neben einer sehr alten noch nicht zugeordneten Mauer unter dem weggeräumten Pflaster auch Münzen gefunden worden, um die es schon Streit gab, noch bevor Mari ihren Laden aufgeschlossen hatte. „Ich warne Sie, Herr Bücking“, hörte Mari die durchdringende Stimme von Vera Horchler. Die Geschichtslehrerin und Vorsitzende des Alsfelder Geschichts- und Museumsvereins klang stets so, als wäre sie furchtbar aufgeregt. Selbst, wenn es gar keinen Grund für eine Aufregung gab, überschlugen sich die Laute, die sich alle gleichzeitig aus ihrer Kehle zu lösen schienen und sich auf dem Weg von dort zu ihren Lippen nur mühsam zu einem verständlichen Satz sortierten, bis sie daraus hervorpurzelten. Man kann sich denken, dass diese Art zu sprechen nicht nur in ganz Alsfeld bekannt war und imitiert wurde, auch die Schülerinnen und Schüler des Alsfelder Gymnasiums ließen keinen Abiball aus, ohne die durchaus ansehnliche und sehr gebildete Frau nachzuäffen. Vera Horchler hatte sich daran gewöhnt. Kein Sprechtraining, keine Logopädie, nichts hatte ihr geholfen. Schließlich war es ein Coaching bei dem berühmten indischen Achtsamkeitstrainer Dinesh Singh, zu dem sie ein Jahr lang jede Woche für viel Geld nach Frankfurt gefahren war. „Lerne, dich in deiner Ganzheit zu lieben“, hatte er ihr als Mantra mitgegeben und dieses mit gekonnten praktischen Maßnahmen unterstützt, an die Vera Horchler auch jetzt noch gerne zurückdachte. „Ich liebe mich in meiner Ganzheit“, sagte sie sich morgens vor dem Spiegel das erste von siebzehn Malen an einem Tag – es half ihr. Sie fühlte sich zumindest wegen ihres Sprachfehlers nicht mehr antastbar und hatte erfolgreich für den Vereinsvorsitz kandidiert. „Ich warne Sie, Herr Bücking“, schrie also Vera Horchler an diesem Morgen, „wenn Sie glauben, dass Sie nur eine Münze aus diesem Fund zur Begutachtung bekommen, dann sind Sie auf dem Holzweg. Dr. Wehner von der Unteren Denkmalschutzbehörde ist schon unterwegs und wird alles, was wir gefunden haben und hoffentlich noch finden, mitnehmen.“ „Das kann er gar nicht, Sie alte Schnepfe“, konterte der Stadtarchivar gewohnt uncharmant. „Die Münzen gehören der Stadt und weder Ihnen noch dem Amt für Denkmalschutz – Sie sind auf jeden Fall die Allerletzte, die das, was ich für den Schatz vom Silberbul halte, in die Finger bekommt.“ „Ach was, Schatz vom Silberbul“, fauchte Vera Horchler angewidert zurück. „Der ist doch nur eine Erfindung von Brodhäcker. Das weiß doch jedes Kind. Wie können Sie nur auf so einen Unsinn hereinfallen – da sieht man mal, wo ihre geistigen Kapazitäten aufhören.“

Mari pflichte heimlich der Lehrerin bei – als Buchhändlerin und Kind der Stadt kannte sie alle Geschichten des vor wenigen Jahren verstorbenen Lokaljournalisten –, aber sie hatte genug gehört. Sie saß noch am Fenster ihrer Wohnung über dem Buchladen und frühstückte. Unterhaltungen dieser Art brauchte sie dabei gerade heute nicht. Antonio hatte abgesagt, dabei hatte sie sich so auf das Treffen mit ihm gefreut. Er musste eine Tour für einen erkrankten Kollegen übernehmen und kam daher nicht an Alsfeld vorbei. Schade. Sie schloss das Fenster und verdrückte die zweite Hälfte ihres Nutellabrötchens. Wie in ihrer Kindheit leckte sie die überschüssige Nusscreme, in die sich ihre Fingerkuppen gedrückt hatten, ab. Dazu nahm sie einen großen Schluck schwarzen Kaffee aus einer blauglasierten Tasse, die ihr Name zierte, und machte sich mit der aufgefüllten Tasse langsam die alte Treppe hinunter, um ihren Laden aufzuschließen.

„Das wird noch was Schönes geben bei uns“, hörte Mari die Befürchtungen der Morgenrunde jetzt direkt vor der Tür. Die beiden Streithähne waren indes verschwunden. Vera Horchler musste zum Unterricht und schon fehlte Siegfried Bücking die Gegnerin. Kopfschüttelnd hatte er sich auf den Weg ins Marktcafé gemacht. Für den pensionierten Richter war dort stets ein Platz reserviert. Jeden Morgen trank er dort seinen Earl Grey und las dazu ausgiebig die Oberhessische Zeitung. Und zwischendurch hob er mehr als einmal den Kopf: Nichts von dem, was in seiner Stadt vorging, sollte ihm entgehen. „Also, ich glaube nicht, dass die Stadt jetzt schon groß was plant zum Jubiläum – man weiß ja auch gar nicht, wie das mit dem Corona weitergeht“, änderte Frieda Kaiser das Thema. Die ehemalige Verkäuferin war täglich in ihrer Heimatstadt unterwegs und genoss es, dass man sich nun nach Monaten des Lockdowns endlich wieder treffen konnte – so ein Schwätzchen auf dem Marktplatz war für die Zweiundneunzigjährige das reinste Lebenselixier. „Aber in zwei Jahren wird das ja wohl mal vorbei sein“, zeigte sich Alex Baier, ehemaliger Geschäftsführer eines angesehenen Alsfelder Autohauses zuversichtlich. „Ich habe jedenfalls nicht den Eindruck, dass im Rathaus groß was passiert“, warf die Friseurin ein, „zumal der Christian ja seit gestern auf dem Kreuzberg ist.“ „Der Herr Schaufuß“, fragte Walter Michels nach, „auf dem Kreuzberg, bei den Mönchen? Was will er denn da?“ „Einkehrtage“, erwiderte Helga Schultz wissend. Sie hatte das erst gestern in ihrem Salon erfahren, den sie jetzt dringend mal aufsuchen musste. „Wahrscheinlich muss er sich von seiner anstrengenden kommunalpolitischen Arbeit erholen“, mutmaßte Alex Baier und zwinkerte der Friseurin verschwörerisch zu.

Da klackerte es auf dem Marktplatz – ein Geräusch, an das sich alle hier ansässigen Ladeninhaber seit der letzten Wahl im vergangenen Jahr gewöhnt hatten: Bürgermeisterin Luise Schön war auf dem Weg zu ihrem Arbeitsplatz. Niemals würde sie auf ihre High Heels verzichten, die ihre ohnehin schon langen Beine perfekt machten. Mehr gab es dazu nicht zu sagen. Oder doch: Die perfekten Beine steckten in edlen beigen Bouclé-Shorts, zu denen die Bürgermeisterin ein schlichtes Seidenshirt und die passende Jacke trug. Ihre langen Haare fielen in sanften dunkelbraunen Wellen über ihre Schultern und wer konnte, Mann oder Frau, schaute ihr nach. Obwohl sie eine unglaubliche Erscheinung war und ihrem Namen alle Ehre machte, hatte Luise Schön im Wahlkampf mit ihrer Kompetenz bestochen: Sie war nach ihrem Studium der VWL und Ökologie zunächst Trainee bei einem großen Stromanbieter in Norddeutschland geworden, dort aber schnell aufgestiegen und war lange Zeit als Prokuristin die rechte Hand des Geschäftsführers. Mehr und mehr war ihr jedoch klar geworden, dass Ökologie und fossile Energiegewinnung für sie nicht mehr zusammenpassten – auch nicht mehr als Übergang. Sie war den Grünen beigetreten und hatte sich dadurch im Konzern nicht gerade beliebt gemacht, auch wenn sie an vielen Stellen große Sympathien genoss. Diese waren aber mehr persönlicher als geschäftlicher Natur. Luise hatte zwar auch mit ihrem brillanten Verstand und großartigen analytischen Fähigkeiten gepunktet und insgesamt ein gutes Standing, aber als sie vorschlug, dass ihr Stromkonzern bis zum Jahr 2025 CO2-neutral werden sollte, legte man ihr nahe, das Unternehmen zu verlassen. Zeitgleich verstarb ihre Großmutter, die ihr ein kleines Häuschen direkt am Schnepfenhain vermachte – ein Zeichen für die gebürtige Alsfelderin, wieder in ihre Heimatstadt zurückzukommen. Sie bewarb sich bei einem ortsansässigen Unternehmen, das in der Energiebranche tätig war, und arbeitete aktiv bei den Grünen mit. Als die ALA, die Alternative Liste aus Grünen, Unabhängigen und Linken, sich bei der letzten Kommunalwahl traute, eine eigene Kandidatin aufzustellen, war sie die erste Wahl. Trotz ihres guten Auftretens, ihrer Verbindlichkeit und Kompetenz rechnete ihr niemand eine Chance aus. Falsch gedacht. Die Gegenkandidaten von CDU und SPD waren zu schlecht. Die Alsfelder entschieden sich am Ende für eine grüne Frau. SCHÖN für Alsfeld. Ohne auch nur den Anflug eines Zauderns durchschritt Luise die Baustelle, grüßte ihre Untertanen und öffnete die schwere Eichentür am Rathaus, um die fünfundzwanzig, von zahllosen Vorgängern ausgetretenen Stufen, zu ihrem Amtszimmer zu erklimmen.

Der Vormittag in der Buchhandlung verlief schleppend. Kurz vor Beginn der großen Ferien lag die Sommerschwüle wie eine wattierte Decke über der Stadt. Herbert, Maris Hund, lag faul in seiner Ecke im Laden. Klaus, Maris Bruder, der ebenfalls im Laden mitarbeitete, hatte sich an dem gemütlichen Gartentisch vor dem Laden niedergelassen, trank sein Zitronenwasser und verwickelte die Passanten in Gespräche. Klaus war drei Jahre jünger als Marianne und nach dem Unfalltod der Eltern gemeinsam mit Marianne im Buchladen der Großeltern aufgewachsen. Seine geistige Behinderung aufgrund des Down-Syndroms schien ihn kaum zu beeinträchtigten. Sein Leben verlief in einem für ihn perfekten Wechsel zwischen betreutem Wohnen, seinen Runden durch die Stadt und der Arbeit im Buchladen. Hier galt er als unterhaltsamer Berater: Wann immer Zeit war, sprach Mari ihm die Titel, die Zielgruppe und die Klappentexte von Büchern auf sein Handy. Er konnte viele von ihnen auswendig, und da er zumindest die Buchtitel anhand ihrer Gestaltung und ihrer Titel, die er fast immer entziffern konnte, erkannte, konnte er stets das eine oder andere Buch empfehlen. Damit verblüffte er insbesondere die vielen Touristen, die sich zunächst nach einer richtigen Buchhändlerin umgeschaut hatten. Milena, die Auszubildende, hatte heute Berufsschule, doch gleich würde Jannis Blum kommen. Er war ein pickliger, nickelbebrillter Oberstufenschüler, Deutsch-LK, angehender Germanistikstudent, der nach dem Vorbild zahlloser erfolgreicher Autoren (und erfolgloser auch, doch dieses kleine Detail ignorierte er gerne) auch Buchhändler sein wollte, und half, so oft es sein Stundenplan gestattete, in der Mittagszeit im Laden aus. Klaus bestand nämlich auf seiner Stunde Mittagspause, die er im gegenüberliegenden Marktcafé verbrachte. Auch wenn Klaus den Laden seiner Meinung nach ganz gut alleine schmiss, nutzte Mari Jannis‘ Anwesenheit gerne, um mit Herbert eine Runde zu drehen, kleine Besorgungen zu machen oder sich mit Antonio zu treffen. Heute wartete sie schon auf Jannis, der sich verspätete. Sie hatte das Gefühl, Herbert, der schon bei Jahren war, könne sich mit seinen allzu menschlichen Bedürfnissen nicht mehr lange zurückhalten. Bald müsste sie ihn in den kleinen Innenhof lassen, damit er sich seiner Last entledigen konnte. Aber Herbert war ein großer Hund und entsprechend groß waren seine Hinterlassenschaften. Auf jeden Fall zu groß für einen kleinen Altstadt-Innenhof. Und den Gestank mochte Marianne ehrlich gesagt auch nicht. Lieber ließ sie Herbert auf den benachbarten Kirchplatz hinter der Walpurgiskirche seine Notdurft verrichten, wo sie dann auch die Doggybag, mit der sie Herberts Würste aufnahm, gleich in den Abfallbehälter warf. Nicht, dass sie etwas gegen die Kirche gehabt hätte, aber es war ihr einfach lieber, dass es dort stank als bei ihr.

Gerade als sie schon gehen wollte, merkte sie, dass im Beinhaus, dem Stadtarchiv auf der anderen Seite des Kirchplatzes, die Tür offenstand. „Prima“, sagte sie zu sich selbst, „wenn jemand da ist, bringe ich gleich noch die Bestellung hin.“ Sie ging zurück in den Laden, wo Jannis sich in die Graphic-Novel-Ecke verkrochen hatte, die Milena in der Buchhandlung eingerichtet hatte. Er schwärmte – wie er glaubte, heimlich – für das stets missgelaunte junge Mädchen, das es hasste zu lesen und nur deshalb eine Ausbildung zur Buchhändlerin machte, weil ihre Mutter Tine mit Mari befreundet war. Außerdem mochte sie den Laden und die Leute darin, was sie natürlich niemals zugegeben hätte.

Mari zeigte Jannis Milenas neueste Erwerbung, das schön gebundene Buch „Habibi“, für das sie sich selbst überraschenderweise sehr begeistert hatte, und schnappte sich die Bestellung für das Beinhaus – zwei dicke Bücher zum Thema „Zukunftsperspektiven in mittelalterlichen Städten“ – und machte sich noch einmal auf den kurzen Weg zum Stadtarchiv. Beinahe wäre sie mit Corinna Schaufuß zusammengestoßen, die offenbar vom Parkplatz an der katholischen Kirche auf dem Weg zu ihrer Arbeit im Bürgerbüro am anderen Ende des Marktplatzes war. Die beiden grüßten sich kurz und jede ging ihrer Wege. Auf dem Kirchplatz herrschte ein reges Treiben. Die Menschen schienen einfach nur vor die Tür zu wollen und sich zu treffen, wo und wann immer es ging. Die Tür zum Stadtarchiv war jetzt geschlossen, aber Mari konnte sie leicht aufdrücken. Sie ging den kurzen Weg an dem gewaltigen Zeitungsarchiv vorbei und wollte gerade zum Schreibtisch von Siegfried Bücking gehen, als sie über den Stadtarchivar stolperte. Er lag in seinem Blut, mit verrenkten Gliedmaßen und weit aufgerissenen Augen, die aus dem schwer demolierten Gesicht hervorzuragen schienen. Ungläubig starrte er Mari an. Und sie starrte genauso ungläubig zurück.

2

Dienstagmittag.

Als Kriminalkommissar Thomas Eisenträger auf dem Kirchplatz eintraf, hatten die Kollegen von der Bereitschaftspolizei den Bereich schon großflächig abgesperrt. Mari, die so gut wie nie ein Handy bei sich trug, hatte nach dem ersten Schock geistesgegenwärtig reagiert, die Tür zum Beinhaus wieder geschlossen und war zügig zum Laden gelaufen. Von dort hatte sie direkt bei der Polizei angerufen, auf die sie dann vor ihrem Laden wartete. Jannis hatte von all dem nichts mitbekommen, so sehr war er in das neue Buch vertieft. Mari kannte diesen Zustand zwar auch von sich, allerdings fragte sie sich angesichts der völligen geistigen Abwesenheit ihrer Aushilfe, ob nicht vielleicht doch Klaus verlässlicher war. Dieser verfolgte den Polizeibesuch in der Buchhandlung vom gegenüberliegenden Marktcafé, wo er nach dem Essen genüsslich eine Zigarette rauchte. Klaus schien sich zunächst nicht zu wundern, denn Simon Winter und Nadine Paulsen, die beiden Polizisten, kamen öfter im Laden vorbei. Simons Mutter und Nadines Schwiegermutter gehörten zu Maris legendärem Freundinnenkreis und man verstand sich gut. Dennoch sah man ihn unruhig werden: Offenbar spürte er, dass dieses Mal irgendetwas Besonderes vor sich ging. Allerdings hatte er wohl noch nicht bezahlt und konnte nicht einfach gehen. Nach und nach blieben die Passanten stehen, ohne genau zu wissen, was los war: Der Tatort lag zwar abgeschirmt vom Marktplatz hinter der Walpurgiskirche, aber dass etwas in der Luft lag, war nun deutlich spürbar. In der Eisdiele an der Ecke zur Obergasse herrschte um die Mittagszeit reger Betrieb, und das Alsfelder Publikum verfolgte mit großem Interesse, was sich da grade anbahnte. Es dauerte nicht lange, da erschien auch die Bürgermeisterin unter den Bögen des Rathauses, und die Ladenbesitzer schauten aus ihren Geschäften. Corinna Schaufuß blickte vom Bürgerbüro über den Marktplatz zur Buchhandlung, genauso wie Hilde Schmidt vom Tabakladen nebenan und das Team von Ramspeck, dem Alsfelder Laden für alles. Xenia Meyerhof, die Wirtin vom Kartoffelsack, merkte als Erste, dass sich das eigentliche Geschehen hinter der Kirche abspielte, doch bis sich das rumgesprochen hatte, war der Platz schon unter Kontrolle der Polizei. Gottseidank. Thomas atmete auf.

„Geht’s dir gut?“ Nadine schien besorgt, denn Mari konnte eigentlich so gut wie nichts umhauen. Kalter Schweiß stand der Buchhändlerin auf der Stirn; ihr Gesicht war blass. Mari bat um etwas zu trinken. Sie hielt sich selbst für hart im Nehmen, aber ein solches Blutbad hatte sie noch nie gesehen. Als sie im Beinhaus war, hatte sie nur einen kurzen Blick auf Bücking geworfen, der schrecklich ausgesehen hatte. Von seinem Gesicht war außer den schreckgeweihten Augen nur wenig übrig. Viel Blut und viel Matsche irgendwie. Mari musste würgen. Es war schrecklich. Natürlich hatte auch sie Bücking nicht gemocht, aber er hatte sie zumindest nie angegrabscht oder sie despektierlich behandelt. Im Gegenteil: Er war ihr gegenüber stets über die Maßen respektvoll, was in ihrem Freundinnenkreis schon für den einen oder anderen Kommentar gesorgt hatte: Von heimlicher wahrer Liebe bis hin zu umgekehrtem Mobbing war die Rede gewesen; nichts davon traf zu, aber erklären konnte Mari sich das auch nicht. Jetzt jedenfalls lag der ehemalige Richter in seinem Blut, und für eine versierte Krimileserin wie Mari sah das sehr nach einer Riesenwut mit Tendenz zu einer Beziehungstat aus. Aber noch war sie gar nicht imstande, irgendetwas dazu zu sagen. Sie saß an diesem heißen Sommertag auf der Hollywoodschaukel vor ihrer Buchhandlung und zitterte wie Espenlaub. Auch Herbert hatte gemerkt, dass etwas nicht stimmte. Er wich nicht von Maris Seite und hatte vor lauter Aufregung noch einen Riesenhaufen neben ihren Stuhl gesetzt. Nadine rief die Sanitäter heran, die im Beinhaus ja nichts mehr zu tun vorgefunden hatten. Die zwei jungen Männer kümmerten sich um Mari, die sich langsam erholte und, kaum, dass es ihr besser ging, jede medizinische Hilfe ablehnte. „Heute Morgen hatte Bücking hier einen Riesenkrach mit der Vera“, berichtete Mari den beiden Polizisten. Dann bat sie Jannis, der inzwischen doch mitbekommen hatte, dass hier irgendwas nicht stimmte, um ein kaltes Bier aus dem Kühlschrank im Hinterzimmer. Eigentlich trank sie tagsüber nichts, aber das hier war ja nicht eigentlich. Gegenüber im Marktcafé konnte man sehen, wie Klaus langsam unruhig wurde, als er sah, dass sich die Sanitäter über seine Schwester beugten. Er schien froh zu sein, als Helmut Becker, der Wirt vom Marktcafé, zu ihm kam. Doch offenbar wollte auch der erstmal die Lage in Augenschein nehmen und übersah dabei fast, dass Klaus jetzt dringend bezahlen wollte, denn es war noch gar nicht Klaus‘ Zeit. Dieser hielt Helmut einen Fünfeuroschein hin: „Stimmt so“, sagte er, „der Rest ist Trinkgeld.“ Genauso spielte sich das jeden Mittag ab. Egal, was Klaus aß: Er zahlte immer fünf Euro einschließlich Trinkgeld. Anfangs hatte Mari Helmut noch gebeten, die Differenz aufzuschreiben, damit sie sie zahlen konnte, aber Helmut hatte darauf verzichtet. Er mochte es, wenn Klaus bei ihm im Lokal saß. Er strahlte so eine Ruhe aus, die definitiv damit zu tun hatte, dass er weder Zeit noch Geld kannte. Die fünf Euro waren genauso ein Ritual für Klaus wie die Schläge der Walpurgiskirche, die um eins seine Mittagspause ein- und um zwei ausläuteten.

Kurz nach Kommissar Eisenträger waren Dr. Susanne Weber von der Gerichtsmedizin in Gießen und die Spurensicherung am Tatort eingetroffen. Ihm war es zwar ein Rätsel, warum die fast so schnell waren wie er, der von der Dienststelle In der Au nur einen kurzen Anfahrtsweg hatte, aber egal: So konnten sie gemeinsam den Tatort und die Auffindesituation in Augenschein nehmen und erste Überlegungen anstellen. Einen solchen Tatort hatte Eisenträger selten gesehen. Er war erst vor wenigen Wochen wieder in seine Heimatstadt gezogen und hatte sich noch nicht wieder so richtig eingelebt. Insgeheim hoffte er, dass er bald wieder nach Weimar zurückkehren würde, wo seine Frau mit den beiden fast erwachsenen Töchtern lebte, aber im Moment war seine familiäre Situation etwas verfahren. Das Letzte, was er von seiner Frau gehört hatte, war „Dann geh doch endlich, du Arsch!“ Schon vorher war er ausgezogen und hatte zunächst noch in Weimar bei einem Freund gewohnt, sich dann aber kurzfristig für einen Tapetenwechsel entschieden, als sich die Stelle in Alsfeld anbot. In Alsfeld zog es erst einmal vor, möbliert zu wohnen. Seine Vermieterin Petra Lorenz hatte ihm die „Brüder-Grimm-Suite“ in ihrer Märchen-Pension überlassen, nachdem er darum gebeten hatte, das ganz in Rosa gehaltene Dornröschenzimmer zu tauschen. Von dem ganzen romantischen Zeug wurde ihm übel. Aus verschiedenen Gründen. Eisenträger wischte die Gedanken an seine drei Frauen weg und sah sich im Beinhaus um. Alles sah nach einem Kampf aus, den Bücking verloren hatte.

Simon war von Maris Buchhandlung über den Kirchplatz zum Beinhaus gelaufen und informierte die Anwesenden: „Der Tote heißt Siegfried Bücking. Er ist siebenundsechzig Jahre alt, Richter im Ruhestand, ehrenamtlicher Stadtarchivar, verheiratet, drei erwachsene Kinder, wohnhaft hier in Alsfeld in der Lessingstraße. Er hatte heute Morgen einen lauten Streit mit Vera Horchler, der Vorsitzenden des Geschichts- und Museumsvereins, und wurde danach noch von Zeugen an seinem Stammplatz im Marktcafé gesehen. So um elf muss er ins Stadtarchiv, also hier ins Beinhaus, gegangen sein. Auf jeden Fall hat er um diese Uhrzeit das Café verlassen.“ „Und das hast du jetzt schon alles mir nichts, dir nichts rausbekommen?“ Eisenträger wunderte sich. Er hatte ganz vergessen, wie kurz die Wege in Alsfeld waren und wie gut man sich kannte. Weimar war zwar auch nicht besonders groß, aber Alsfeld war echt das reinste Dorf. „Na ja, die Mari aus der Buchhandlung, die den Toten gefunden und die Polizei alarmiert hat, wusste das mit dem Streit, und Helmut aus dem Marktcafé wusste, wann Bücking weggegangen ist. Und das zur Person ist ja wohl allgemein bekannt.“ Allgemein bekannt, na dann, dachte Thomas, und dann sickerte etwas bei ihm durch, das ihn zuvor, während Simon gesprochen hatte, nur kurz gestreift hatte. „Die Mari aus der Buchhandlung.“ Das wird doch nicht … Doch, natürlich wird sie … Thomas durchfuhr es wie ein Blitz: Marianne Reul, die Jahrgangsemanze. Die ganze Oberstufe hindurch hatten sie sich gefetzt: Sie hatte ihm vorgerechnet, wie viel Geld es Frauen im Leben kostete, wenn sie pro Menstruation zwei Mark fünfzig ausgeben müssten, was nur ein kleiner Teil der Ungerechtigkeit sei, die ihre Geschlechtsgenossinnen aushalten müssten, und er hatte ihr mehrfach auf den Kopf zugesagt, dass Frauen gerade aufgrund ihrer ungünstigen körperlichen Eigenschaften – in erster Linie zu viel Fett, zu wenige Muskeln, mit Eierstöcken und Gebärmutter – niemals für Führungspositionen in Frage kämen, denn Führung, so das Credo von Thomas‘ jungem, vor Kraft nur so strotzendem Ego, müsse immer, immer mit körperlicher Stärke einhergehen. Die Zeit, besser gesagt, die letzten fünfunddreißig Jahre, hatten ihn zwar eines Besseren belehrt, doch im Grunde seines Herzens hing er immer noch der Idee der männlichen Vorherrschaft an und konnte es nur schwer ertragen, wenn er sich – was sogar in Polizeikreisen ab und an und in den letzten Jahren sogar immer öfter vorkam – von einer Frau etwas sagen lassen musste. Dafür war er doch nicht zur Polizei gegangen! Nachdem er sich in Weimar nicht nur mit seiner Frau überworfen hatte, sondern auch mit der Staatsanwältin, dieser in seinen Augen blöden, geltungsbedürftigen Kuh, hatte er gehofft, in Alsfeld, dem verschlafenen Städtchen seiner Jugend, tickten die Uhren noch in der alten Ordnung. Doch weit gefehlt: Auch hier hatte eine Staatsanwältin das Sagen, noch dazu eine, die über zwanzig – die Zahl versah er in Gedanken mit drei Ausrufezeichen – Jahre jünger war als er und die er kürzlich gemeinsam mit seiner neuen Kollegin Nadine Paulsen in den Alsfelder Kampfsportclub Lion’s Heart hatte gehen sehen. Und jetzt lief ihm auch noch Marianne Reul über den Weg. An ihre letzte Begegnung mochte er kaum denken: Auf dem Abifest, das in Alsfeld jeder Jahrgang mit einem mehr oder weniger ausufernden mehrtägigen Zeltgelage auf dem Homberg feierte, hatten sich beide derartig besoffen und gestritten, dass sie nach einer langen Nacht bei Sonnenaufgang wie die Irren übereinander hergefallen waren. Sie wollte ihm wohl zeigen, dass auch Emanzen Sex haben wollten und gar nicht so schlecht darin waren. Und er wollte ihr zeigen, wie echte Männer das machten. Als ob sie das nicht längst gewusst hätte, so wie sie rangegangen war. Noch heute, fast fünfunddreißig Jahre später, hatte er das Gefühl, damals irgendwie den Kürzeren gezogen zu haben. Gleichzeitig war ihm diese Nacht als eine der heißesten Nächte seines Lebens in Erinnerung geblieben. Und das mit Marianne Reul.

„Wo ist denn Frau Reul jetzt?“ Es half ja nichts, er musste sie befragen. Als er die paar Schritte zur Buchhandlung gelaufen war, hatte Marianne sich schon ein wenig gefangen. Er sah sie auf dem Stuhl vor ihrem Laden sitzen, in Jeans und T-Shirt, so unspektakulär wie eh und je. Die Füße steckten immer noch in Birkenstocks, wenn auch hoffentlich nicht in denselben wie 1986. Die Fußnägel: natürlich unlackiert. Wahrscheinlich rasiert sie sich vor lauter Feminismus auch immer noch nicht die Achseln, dachte er. Nach wie vor trug Mari die Haare kurz und pflegeleicht. Nie wieder hatte Thomas eine Frau gesehen, die so wenig Aufhebens um sich machte. Zumindest, was das Aussehen betraf. Sonst hatte Mari schon einiges zu bestellen gehabt. Als sich nach dem Abitur ihre Wege getrennt hatten, hieß es, sie habe sich in Fulda, wo sie ein Soziologiestudium angefangen hatte und in einem seiner Meinung nach linksversifften Buchladen gejobbt hatte, einer linken Zelle angeschlossen. Diese stand im Verdacht, sich von ihrer WG einen unterirdischen Gang ins Stadtschloss zu graben, um dort einen Anschlag auf die konservative Stadtregierung zu verüben. Das Ganze war umso brisanter, weil der damals von den Linken gehasste, dem nationalkonservativen CDU-Flügel zugeordnete Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Alfred Dregger unweit des Fuldaer Stadtschlosses wohnte. Was genau von dieser Geschichte stimmte und was Maris Rolle dabei war, wusste Thomas nicht genau, aber als er auf ihrem T-Shirt ein grünes Hanfblatt mit dem Schriftzug „Legalize it“ leuchten sah, hielt er wieder alles für möglich.

„Hallo, Mari“, sprach Thomas sie an. Er fühlte sich unbehaglich, aber er hatte die Flucht nach vorne gewählt. Mari würde ihn auf jeden Fall erkennen, also verzichtete er lieber gleich auf Förmlichkeiten jeder Art. Er hoffte nur, dass nicht auch ihr die Nacht auf dem Homberg als Erstes wieder einfiel, wenn sie ihn sah. „Thomas?! Thomas Eisenträger! Ich glaub’s ja nicht. Was machst du denn hier?“ Auf einen Schlag war Mari wieder voll da. Ganz die Alte: Ihre Augen funkelten, ihr wacher Geist arbeitete auf Hochtouren, das sah Thomas ihr an. Er wunderte sich selbst darüber, wie gut er sie kannte. Schade, dachte er, wenn sie ein Mann wäre und nicht so linke Ansichten hätte, wäre sie echt gar kein schlechter Kumpel. Allerdings war sie jetzt erstmal Zeugin in einem offenbar unnatürlichen Todesfall – und vielleicht mehr als das. Jegliche Regung, ganz egal in welche Richtung, verbot sich also. „Sag bloß, du bist jetzt hier bei der Polizei! Wo warst du eigentlich die ganze Zeit? Und warum haben wir uns eigentlich seit damals nicht mehr gesehen? Du warst wie vom Erdboden verschluckt.“ Mari hatte recht. Er hatte Alsfeld damals schnell den Rücken gekehrt und direkt nach dem Abitur die Polizeiausbildung angefangen. Zuerst hatte er noch zuhause bei seinen Eltern gewohnt, die eine gutgehende Metzgerei hatten. Aber dann gingen ihm ihre vorwurfsvollen Blicke zunehmend auf den Geist: Sie hatten schon nicht gewollt, dass er Abitur machte („Wozu braucht ein Metzger Abitur?“), aber als er dann mit seinem Plan, zur Polizei zu gehen, ernst machte, platzte ihr Lebenstraum – wenn auch nur vorübergehend – und ihr Verhältnis wurde von Tag zu Tag schwieriger. Also nahm er sich eine kleine Bude in Gießen und kam nur noch zu hohen Feiertagen und Geburtstagen zurück. Nach der Wende wendete sich auch das Blatt in der Metzgerei: Thomas‘ kleine Schwester Sabine schnappte sich auf einem Sonntagsausflug auf die Wartburg einen Metzgergesellen aus dem thüringischen Wutha-Farnroda und sicherte den Fortbestand der Metzgerdynastie in Alsfeld, wenn auch jetzt unter dem Namen Schlegel und mit kulinarischen Erweiterungen wie Thüringer Rostbratwurst oder Eichsfelder Stracke. Die Sonne am Wursthorizont seiner Eltern war wieder aufgegangen, aber Thomas war schon zu weit weg. Vielleicht war seine Rückkehr nach Alsfeld auch die Chance, mal ein wenig aufzuräumen. „Wieso habe ich dich eigentlich auf keiner Abi-Feier gesehen?“, fragte Mari mitten in Thomas‘ Gedanken. „Dienst“, antwortete er knapp, denn er merkte wohl, dass die Umstehenden, insbesondere Nadine und Simon, sich wunderten, dass ausgerechnet er und Mari sich so gut zu kennen schienen.

„Also, du hast den Toten gefunden“, wurde Thomas jetzt halbwegs förmlich. Schließlich hatten sie hier einen Mord aufzuklären. „Ja.“ Mari erzählte noch einmal haarklein, wie sich das alles zugetragen hatte. „Und du bist nicht ins Beinhaus rein, sondern an der Tür stehengeblieben?“ „An der inneren Tür, fast zumindest.“ Hinter der Eingangstür gab es im Beinhaus einen kleinen Windfang und dahinter noch eine Glastür. Danach stand man direkt in einem kleinen Gang, an dessen Wand ein Regal war, das von oben bis unten mit den dicken Lederbänden der Jahresausgaben der Oberhessischen Zeitung bestückt war. Etwa zwei Meter weiter kam man in den einzigen Raum des Stadtarchivs. Darin standen der Schreibtisch des Stadtarchivars und zwei Tische mit Stühlen für Besucher. Direkt um die Ecke links führte eine Treppe nach oben in das eigentliche Archiv. Auf den unteren Stufen dieser Treppe hatte Bücking gelegen. „Also, ich musste schon die paar Schritte bis zum Raum gehen, aber da sah ich Bücking gleich so komisch am unteren Ende der Treppe liegen und bin direkt wieder raus.“ „Hast du außer der Tür was angefasst?“, fragte Thomas. „Nein, ich glaube nicht“, antwortete Mari. „Aber im Stadtarchiv war eigentlich immer was los. Gerade jetzt, wo schon so vieles im Hintergrund läuft wegen des Stadtjubiläums in zwei Jahren, gehen alle möglichen Leute dort ein und aus. Da werdet ihr sicher viele Spuren finden.“ „Das lass mal unsere Sorge sein“, antwortete Thomas unfreundlicher als er wollte. Aber er konnte es einfach nicht leiden, wenn Menschen unaufgefordert für ihn mitdachten. Thomas hatte sich schon immer gefragt, wer sich für das alte Zeug im Stadtarchiv interessierte. Dass dort ein Kommen und Gehen herrschen sollte, konnte er sich nicht vorstellen. „Was lagert denn da so?“ fragte er dann doch.

„Da fragst du am besten mal jemanden, der sich damit auskennt“, antwortete Mari, die sich unbeeindruckt von Thomas gereiztem Tonfall zeigte und ihn erstaunlich offen und freundlich ansah. „Meines Wissens gibt es da natürlich das große Zeitungsarchiv, aber auch viele alte Schriften, Aufzeichnungen und Fotografien. Stadtpläne, alte Verträge, Vereinsmitteilungen, Briefe, Karten – keine Ahnung. Das war schon ewig Bückings Reich. Er hat alles katalogisiert und sortiert. So wie ich ihn einschätze, ziemlich ordentlich sogar. Er war ein ziemlicher Korinthenkacker.“ Thomas wunderte sich, dass Mari, die für ihn als Ermittler auch als Tatverdächtige in Frage kam, sich so offen abschätzig über den Toten äußerte. Er ahnte noch nicht, dass das bei weitem das Freundlichste sein würde, was er über Bücking zu hören bekommen würde. „Am besten fragst du Vera Horchler. Sie ist die Vorsitzende des Geschichts- und Museumsvereins. Sie konnte Bücking zwar nicht ausstehen, aber sie ist kompetent und kooperativ.“ „Allerdings hat sie sich heute Morgen heftig mit Bücking gestritten“, gab jetzt Simon zu bedenken. Bis dahin hatten alle Anwesenden gebannt und erstaunt die Begegnung von Mari und Thomas verfolgt. Jetzt kam wieder Leben in die Menge, die sich inzwischen auf dem Marktplatz versammelt hatte. Natürlich hatte sich die Tat herumgesprochen und für Aufruhr gesorgt. Von leisem Gemurmel bis hin zu den wüstesten Behauptungen war jetzt alles zu hören. „Jetzt befragt mal die Passanten hier, wenn ihr den Eindruck habt, da wäre was Gescheites dabei“, herrschte Thomas Nadine und Simon an. Das Getümmel und Gemurmel auf dem Marktplatz machten einen sehr unübersichtlichen Eindruck auf ihn, und unübersichtliche Eindrücke hasste er. „Zigarette?“, fragte Mari mitfühlend. „Gerne.“ Irgendwie musste Thomas runterkommen. Er war erstaunt, als sie ihm ein Päckchen Gauloises hinhielt. Die Blauen natürlich. Früher hatte Mari selbst gedreht. Jeder Emanze ihr Javaanse, dachte Thomas und wurde leicht wehmütig.

Was für ein Tag. Gerade als er die Zigarette nehmen wollte, blickte er in ein von braunen Locken umrahmtes Gesicht, das wie gemalt war. Er schaute die Erscheinung an, die sich vom Rathaus her auf den Weg direkt zu ihm gemacht hatte, und erkannte die Bürgermeisterin. Was für eine Granate! Fast schlotterten ihm die Knie, als sie ihn mit Namen ansprach. „Herr Eisenträger, schön, Sie endlich persönlich kennenzulernen“, sagte Luise Schön. Den Namen hatte er sich eingeprägt. Seine offizielle Begrüßung vor vier Wochen war zwar coronabedingt ausgefallen, aber sie hatten miteinander per Videokonferenz gesprochen. „Das ist ja ganz furchtbar“, kam sie auf ihn zu, „versprechen Sie mir, dass Sie dieses Verbrechen so schnell wie möglich aufklären, ja?! Halten Sie mich auf dem Laufenden“, bat Luise Schön, „und schauen Sie doch mal im Rathaus auf einen Kaffee vorbei.“ Thomas nickte und sah ihr mit geöffnetem Mund nach, wie sie mit ihren langen Beinen wieder in Richtung Rathaus entfleuchte. Mari hielt Thomas immer noch ihre Zigarettenschachtel hin. „Willste jetzt eine oder nicht, Mann?“, fragte Klaus ungeduldig. Ihm war anzusehen, dass ihm hier zwar alles ein bisschen zu wuselig war, er es aber auch sehr spannend fand. Offenbar fühlte er sich als Beschützer seiner Schwester Mari. Thomas musste grinsen. Von der Fulder Gasse erschien ein Mann und aus der Obergasse zeitgleich eine Frau. Thomas kannte beide nicht, aber Journalisten erkannte er auf hundert Meter Entfernung. „Frank Mertens von der OZ und Felizitas Müller vom Online-Magazin“, raunte Nadine ihm zu und bestätigte seinen Eindruck. Mit seinem Standardspruch brachte er sich in Stellung, als sie auf ihn zukamen. „Wir haben hier einen unklaren Todesfall, zu dem wir aktuell nichts Substantielles sagen können. Sobald wir brauchbare Informationen haben, wird sich unsere Pressestelle bei Ihnen melden.“ Thomas schaute zu Nadine und Simon, die das hoffentlich mitbekommen hatten. Nicht, dass die hier mit irgendwem vertraulich wurden. Jeder kannte jeden, besser oder schlechter, das war offensichtlich. Es hatte sich nichts geändert in Alsfeld. Und er war mittendrin. Er rauchte seine Zigarette auf und winkte Nadine zu. Sie mussten die Witwe aufsuchen, bevor die Nachricht sich von hier aus verbreitete. Da war eine Frau an seiner Seite sicher hilfreich.

3

Dienstagnachmittag.

Rund um den Rodenberg hatten sich in den Sechziger- und Siebzigerjahren die Lehrer, Ärzte und anderen Akademiker niedergelassen. Anders als die eher zweckmäßigen Häuser aus den Nachkriegsjahren südlich des Rodenbergs, die für Heimatvertriebene erbaut worden waren, zeugten die Gebäude auf der anderen Seite der Ernst-Arnold-Straße von Wohlstand und dem Willen, diesen auch zu genießen und zu zeigen. Siegfried Bücking hatte seinen Bungalow in den Achtzigerjahren des letzten Jahrhunderts erworben, als sein Vorgänger am Amtsgericht in den Ruhestand ging und Alsfeld verließ. Groß genug für seine fünfköpfige Familie – und repräsentativ. Genau das, was ein Richter brauchte. Er selbst hatte sich den größten Raum als Arbeitszimmer eingerichtet, in dem er sich auch schon vor seinem Ruhestand bevorzugt aufgehalten hatte. Die Kinder – zwei Söhne und eine Tochter – waren längst aus dem Haus. Sebastian, der älteste Sohn, war Arzt und lebte mit einem Mann zusammen in Frankfurt, was Bückings, insbesondere Siegfried, allerdings gerne verschwiegen. Alexander war Anwalt in Gießen, wo er mit seiner Familie auch wohnte, und Miriam, die Jüngste, war Grundschullehrerin in Alsfeld. Sie lebte mit Mann und Kindern in der Volkmarstraße, direkt gegenüber der Stadtschule.

Thomas war nicht gut im Überbringen von Todesnachrichten, und Nadine machte keine Anzeichen, ihm die Sache abzunehmen, obwohl er demonstrativ darauf wartete, als sie vor Bückings Witwe an der Haustür standen. Ein bisschen war es wie bei diesem Spiel, wo derjenige verlor, der zuerst wegschaute. Oder wie beim Beamtenmikado, wo derjenige verlor, der sich zuerst bewegte. Nadine schien klar im Vorteil. Thomas fiel ein, dass sie schon jahrelang asiatisches Kampfsporttraining, zu dem auch Meditation gehörte, machte. Womöglich konnte sie daher viele Situationen einfach aushalten, ohne auch nur zu zucken, während er zunehmend unruhig wurde und ihm nach und nach dämmerte, was er ohnehin schon wusste: Nadine würde ihm hier die Aufgabe nicht abnehmen. Schließlich konnten sie die Situation nicht auf diese Weise weiter ausdehnen, das würde peinlich werden.