Tod in der fünften Jahreszeit - Falk Guder - E-Book

Tod in der fünften Jahreszeit E-Book

Falk Guder

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Beschreibung

Blutige Spur auf dem Freimarkt Kriminalkommissär Otto von Weyhe sitzt mit brummendem Schädel vom Freimarktsbier in seinem Büro, als ihn die Meldung von einem Bankraub am Domshof und einem Toten erreicht. Im Freimarktstrubel beginnen von Weyhe und sein Untergebener Hansen zu ermitteln und treffen bald auf einen Circus mit vielen verdächtigen Gestalten. Wer hatte die Mittel und das kriminelle Genie, einen Aufsehen erregenden Bankraub in Auftrag zu geben? Welches Circusmitglied hat den Mord begangen? Welche undurchsichtige Vergangenheit verbindet sich mit der Mordwaffe: einem Pfeil mit weißen und blauen Federn? Diesen Fragen müssen der Kommissär und seine Polizeidiener mit aller Dringlichkeit auf den Grund gehen. Weitere Morde geschehen, und schon bald zieht der Circus weiter … Ein spannender Kriminalroman, der das historische Bremen im Jahr 1901 zur Freimarktszeit wieder zum Leben erweckt.

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Falk Guder

Tod in

der fünften

Jahreszeit

Historischer

Bremen-Krimi

Dieses Buch ist bei der Deutschen Nationalbibliothek

registriert. Die bibliografischen Daten können online angesehen werden:

http://dnb.d-nb.de

Impressum

© 2015 KellnerVerlag, Bremen • Boston

St.-Pauli-Deich 3 • 28199 BremenTel. 04 21 - 77 8 66 • Fax 04 21 - 70 40 58

[email protected] • www.kellnerverlag.de

Lektorat: Klaus Kellner, Sebastian Liedtke, Manuel DotzauerSatz: Meike KramerUmschlag: Designbüro Möhlenkamp

ISBN 978-3-95651-075-5

Für

meine Familie

Falk Guder wurde 1973 in Bremen geboren und wuchs in der niedersächsischen Kleinstadt Weyhe auf. Er studierte in Vechta die Fächer Deutsch und Geschichte auf Lehramt und arbeitet heute als Realschullehrer an der Haupt- und Realschule in Twistringen. Bereits als Jugendlicher begeisterte er sich für Kriminalliteratur und später auch für Regionalgeschichte. »Tod in der fünften Jahreszeit« ist sein zweiter Roman.

I

Leise schlichen drei Vermummte am Bremer Rathaus vorbei. Die Nacht war dunkel. So dunkel, dass sie kaum ihre Hand vor den Augen sehen konnten. Auch der in den letzten Nächten oft hell leuchtende Mond war beim Blick nach oben nicht zu erkennen, derart dicht hatten sich die Wolken davorgeschoben.

»Vortrefflich«, frohlockte innerlich einer von ihnen, der voranging und den kleinen Trupp anführte. »Für unsere Sache genau richtig. Der Himmel scheint es heute gut mit uns zu meinen!«

Dann vernahmen die drei das Schlagen der Bremer Domuhr. Zwei helle, laute Klänge ertönten plötzlich. Es war zwei Uhr.

Rasch bogen sie in Richtung Domshof ein. Nahezu lautlos bahnten sie sich ihren Weg zwischen den Karussells, Schaukeln und Buden hindurch, die sich wie jedes Jahr zur Freimarktszeit geballt auf dem Domshof befanden.

Das Verlangen, sich umzudrehen, hatte keiner der Vermummten. Sie waren sich sicher, dass ihnen niemand folgen würde.

Hinter einer der Buden, in der man tagsüber Waffeln, Honig-, Gewürz- und Schmalzkuchen zu sich nehmen konnte, sahen sie mit einem Mal den riesigen Sandsteinbau, dessen Mauern ihnen wie eine unendlich hohe Wand erschien. Hastig gingen die Männer weiter. An einer Ecke des wuchtigen, im Stile des Historismus errichteten Gebäudes blieben sie schließlich stehen. Sie hatten ihr Ziel erreicht. In diesem herrschaftlichen Sandsteinbau residierte seit knapp zehn Jahren eine der großen Bremer Banken.

Regungslos verharrten die drei Gestalten und lausch-ten in die Nacht hinein. Nachdem sie keinerlei Geräusche vernommen hatte, signalisierte der Anführer seinen beiden Begleitern lautlos mit zwei Fingerzeigen, sich an jeweils einer Ecke des Gebäudes aufzustellen. Die beiden setzten sich sofort in Bewegung.

Einer von ihnen drehte sich noch kurz um und flüsterte: »Viel Glück, Alfredo! Wir passen gut auf, damit dich keiner stört.«

Ärgerlich verzog der Angesprochene sein Gesicht unter der Maske. Seine Augen wurden schmal, zudem stöhnte er innerlich auf. Wie oft hatte er diesem Deppen von einem Tierpfleger schon gesagt, dass er ihn nicht mit seinem Künstlernamen ansprechen solle. Was war, wenn sie doch von irgendjemandem beobachtet wurden, der am nächsten Tag mit dem Namen »Alfredo« direkt zur Polizei ginge? Dann wären sie bald enttarnt.

Mühsam beherrschte sich der Mann, um seinen Helfershelfer nicht lautstark zusammenzubrüllen. Tief atmete er mehrmals die frische Bremer Nachtluft ein.

Schließlich hatte er sich wieder etwas beruhigt. Geduldig, innerlich aber immer noch angespannt, wartete er, bis die zwei Männer ihre Posten eingenommen hatten. Dann drehte sich Alfredo noch einmal kurz um und vergewisserte sich, ob doch noch irgendwo hinter ihm zwischen den Buden und Karussells ein Schatten zu sehen sei. Als dies nicht der Fall war, nahm er langsam seinen Seesack von der Schulter und sah hoch zum Dach des zweistöckigen Gebäudes.

Dorthin, auf das flache Dach der Bank, musste er gelangen. Er wusste, dass die Dachluken der Bank, im Gegensatz zu den restlichen Fenstern und Türen, nicht sehr gut gesichert waren. Auf einmal wurde ihm flau im Magen. Tief durchatmend mahnte er sich zur Ruhe. Er musste die Sache jetzt beginnen. Er hatte sein Wort gegeben. Er hatte es versprochen und keine andere Wahl.

Noch Mal ein schneller Blick zu seinen Helfershelfern. Alles schien in Ordnung zu sein. Niemand war zu sehen. Endlich öffnete Alfredo seinen Seesack und holte ein langes Seil mit einem metallenen Widerhaken daraus hervor. Das Seil nahm er in die Hand und begann langsam, dann immer schneller, den Haken über seinen Kopf kreisen zu lassen. Schließlich löste er den Griff, so dass der Haken und das an ihm befestigte Seilende steil in den dunklen Bremer Nachthimmel hinaufstiegen. Ein leicht klirrendes Geräusch brachte ihn die Gewissheit, dass Haken und Seil ihr Ziel auf dem Dach erreicht hatten. Regungslos lauschte er noch einmal kurz in die Nacht hinein. Es war noch immer nichts zu hören. Langsam zog er an dem unteren Ende des Seils, bis er schließlich einen Widerstand spürte. Alfredo frohlockte: Der Haken hatte dort oben Halt gefunden. Er hängte sich seinen Sack über die Schulter, packte das Seil mit beiden Händen und begann, sich langsam daran hochzuziehen. Bald schon hatte er das Dach der Bank erreicht. Entschlossen packte der Gauner mit beiden Händen die Dachrinne und schwang sich behände darüber.

Nachdem er das Seil hochgezogen hatte, schlich er bis zu einer der Dachluken und schaute vorsichtig hinein. Nichts war zu sehen. Ohne zu zögern zog er ein kleines Brecheisen aus seinem Beutel und setzte es am Rand der Luke an. Ein heftiger Ruck, ein lautes Knacken – schon war die Verriegelung geknackt. Aber was für ein Lärm! Alfredo glaubte für einen kurzen Moment, dass die gesamte Bremer Altstadt davon wach geworden sein müsste. Derart laut war das Aufbrechen der Dachluke in seine Ohren gedrungen. Er kauerte sich kurz auf dem Dach zusammen und wartete eine Weile. Zu seinem Glück geschah aber nichts. Kein Alarm wurde geschlagen. Selbst der Nachtwächter, der in der Bank seinen Dienst tat, hatte ihn offenbar nicht bemerkt. Oder etwa doch?

Wieder stiegen leichte Zweifel in ihm auf. Hatte ein Nachtwächter vielleicht doch etwas gehört und rückte jetzt auf leisen Sohlen an, um ihn auf frischer Tat zu ertappen? Oder hatte der heute keinen Dienst? War es möglich, dass die Bank in dieser Nacht komplett unbewacht war?

Mit klopfendem Herzen ließ Alfredo ein paar Sekunden verstreichen. Erst dann, als im Innern der Bank immer noch alles ruhig war, griff er vorsichtig unter den Rahmen der Luke und öffnete sie. Er blickte in ein finsteres Loch, das sich unter ihm auftat. Schnell befestigte er den Widerhaken am Innenrahmen der Luke, warf das Seil hinab und ließ sich daran hinuntergleiten. Noch bevor er unten ankam, erkannte er, dass er sich offenbar in einem Büroraum der Bank befand. Alfredo landete mit beiden Füßen auf dem Boden, durchquerte den Raum mit leisen Schritten, öffnete die Tür, erreichte den Flur und schlich schließlich zwei lange Treppen hinunter bis ins Erdgeschoss.

Dort sah er sich kurz um. Die Räume der Bank lagen im Dunkeln. Rechts, so war ihm berichtet worden, musste der Raum sein, wo sich die Tresore befanden.

Ohne ein Geräusch zu verursachen, schlich er weiter. Gleich musste er sein Ziel erreicht haben. Wo aber zum Teufel war der Nachtwächter? War die Bank unbewacht? Hoffnung machte sich kurz bei ihm breit. Dann aber überkamen ihn schnell wieder leichte Zweifel. War der Nachtwächter möglicherweise irgendwo eingeschlafen und tauchte gleich aus einer Ecke auf?

Alfredos Mund wurde bei diesem Gedanken trocken. Ihm wurde heiß unter seiner Maske, als hätte er auf einmal Fieber bekommen.

Mit zittrigen Beinen ging er weiter. Trotz der Dunkelheit, die ihn umgab, erkannte er vor sich auf einmal schemenhaft eine Tür. Ein Gefühl der Erleichterung machte sich in ihm breit. War das jetzt der Eingang zum Tresorraum? War er endlich am ersehnten Ziel angelangt? Alfredo schlich vorsichtig weiter. Er packte die Türklinke und drückte sie nahezu lautlos herunter.

»Verdammt!«, schoss es ihm durch den Kopf. »Abge-schlossen!«

Er überlegte einen kurzen Moment, was er jetzt tun sollte. Wieder das Brecheisen benutzen? Was war, wenn der Nachtwächter doch irgendwo in der Bank war und von dem Krach herbeigerufen würde?

Schnell verwarf Alfredo den letzten Gedanken wieder. Dieses Risiko musste er eingehen. Schließlich würde auch das Aufbrechen der Holztresore nicht lautlos erfolgen.

Er packte das Brecheisen und setzte es entschlossen an der massiven Eichenholztür an. Seine muskulösen Oberarme spannten sich. Dann erfolgte ein kurzes Splittern, und die Tür sprang nach außen auf. Er ergriff die Tür und öffnete sie. Gerade wollte er den Raum betreten, als er ein Geräusch hinter sich hörte. Blitzschnell huschte er in das Zimmer hinein und drückte sich mit dem Rücken flach an die Wand neben dem Türrahmen.

Hektisch atmete er ein und aus. Was um alles in der Welt war das? Regungslos stand der Gauner an der Wand und lauschte in die Dunkelheit hinein. Er wartete ein paar Sekunden. Außer dem Klopfen seines eigenen Herzens war nichts zu hören.

Vorsichtig steckte er den Kopf durch den Türrahmen, bis er in die Richtung schauen konnte, aus welcher er das Geräusch vernommen hatte. Er erkannte eine schemenhafte Gestalt. Bleich vor Schreck starrte Alfredo diese an. Und es schien ihm, als starre die Gestalt zurück. Regungslos verharrte er, krampfhaft darum bemüht, sich keinen Millimeter zu bewegen.

Plötzlich trat der andere einen Schritt zur Seite. Licht flackerte aus einer Petroleumlampe auf und fiel auf das Gesicht eines kleinen, bärtigen und verschlafen drein-blickenden Mannes.

»Der Nachtwächter!«, schoss es ihm durch den Kopf. »Der Kerl hat heute Nacht also doch Dienst!«

Langsam zog er den Kopf wieder aus dem Türrahmen und blieb weiter wie angewurzelt an der Wand stehen. Er hörte, wie sich der Nachtwächter mit leisen Schritten auf den Tresorraum zubewegte.

»Ist da jemand?«, ertönte auf einmal eine dunkle Stimme durch das gesamte Untergeschoss der Bank.

Zitternd griff der immer noch an die Wand gepresste Alfredo in seinen Seesack und zog mit der rechten Hand einen Revolver hervor. Das Brecheisen hielt er noch immer in der linken Hand. Fieberhaft überlegte er, ob es noch irgendeine andere Möglichkeit für ihn gab.

Schnell wurde ihm aber bewusst, dass er keine andere Wahl hatte …

II

Hastig eilte Alfredo aus dem Tresorraum in Richtung Treppe. In der rechten Hand hielt er den Seesack, der nun prall gefüllt mit Geldscheinen war. Kurz vor der Treppe verlor er fast das Gleichgewicht. Mit einem verzerrten Gesichtsausdruck hastete er die Treppe hinauf. Vergrellt fluchte er leise vor sich hin. Diesmal hatte längst nicht alles so geklappt, wie er und seine beiden Kumpane es sich ausgemalt hatten.

»Warum nur hat er nicht auf mich gehört?!«, dachte er verzweifelt. »Warum hat er sich gewehrt?! Alles hätte doch wieder so einfach sein können …«

Er eilte die zweite Treppe hinauf. Schnell erreichte er den Zweiten Stock und rannte den Flur entlang. Hastig stieß er die Tür des Büros auf, schulterte seine Beute, ergriff erneut das Seil und zog sich langsam daran hoch. Oben angekommen, stieg er mit letzter Kraft über den Rand der geöffneten Dachluke und setzte seine Füße auf das Dach der Bank.

Nachdem er das Seil aus dem Büro gezogen hatte, fixierte er den Widerhaken an der Luke und warf es hinunter in die Tiefe. Dann setzte sich Alfredo an den Rand des Daches, packte mit beiden Händen das Seil und schwang sich gewandt über die Dachrinne. Mit eisernem Griff umklammerte er das Seil und kletterte hinab. Den letzten Meter ließ er sich fallen und landete auf dem gepflasterten Boden. Dabei fielen einige Geldscheine aus dem Seesack und wehten über das Pflaster. Zügig eilten seine beiden Helfershelfer herbei, die bis dahin ungestört Schmiere gestanden hatten, um Alfredo beim Einsammeln des herumfliegenden Geldes zu helfen.

Nachdem sich wieder alle Scheine im Beutel befanden, drückten sich alle drei Männer in eine Nische des Bank-gebäudes.

»Alfredo! Wie ist es gegangen?«, fragte einer der Männer mit leiser Stimme neugierig nach. »Wie ich sehe, hast du die Tresore aufbrechen können.«

»Schlecht ist es gegangen!«, raunte ihm Alfredo daraufhin mit belegter Stimme zu, während er ein Bündel Geldscheine aus seinem Beutel zog und an seine Komplizen verteilte. »Wirklich schlecht! Überhaupt nicht so wie geplant! Die Dachluke, den Tresorraum und die Holztresore aufzubrechen, war kein Problem. Das Geld habe ich. Aber der Nachtwächter …«

Er verstummte urplötzlich. Auch die anderen Männer lauschten auf einmal angestrengt in die Dunkelheit hinein. Dann hörten sie es überdeutlich. Schritte. Noch waren sie weit entfernt, nur ganz schwach zu hören. Rasch aber kamen sie näher. Wie gelähmt lauschten die Männer in die Richtung der Geräusche.

Langsam schloss Alfredo seinen Seesack und schwang ihn sich geräuschlos über die Schulter. Dann beugte er sich zu seinen Helfershelfern nach vorne. »Wir müssen hier schnell verschwinden!«, flüsterte er ihnen mit zittriger Stimme zu. »Egal, wer da gerade kommt. Wenn er das Seil entdeckt, wird hier in ein paar Sekunden der Teufel los sein! Wir trennen uns am besten und treffen uns, wie vereinbart, vor dem Circus!«

Die Männer nickten stumm. Angst machte sich auf einmal bei ihnen breit. Ihre Hände wurden feucht, und Schweiß bildete sich auf ihrer Stirn.

Gerade, als die drei losrennen wollten, ertönte der laute Pfiff einer Trillerpfeife durch die Nacht. Das schrille Geräusch lähmte die Männer für einen kurzen Moment. Dann ergriffen sie blitzschnell die Flucht. Gehetzt, die Beute über der Schulter, rannten Alfredo und seine Begleiter die Gasse entlang. Mehrere scharfe Pfiffe waren nun zu hören, dicht begleitet von einer dunklen Männerstimme, die immer wieder »Alarm! Alarm!« durch die Nacht schrie.

Hastig bahnte sich Alfredo seinen Weg weiter über den Domshof, seine beiden Mittäter hatten inzwischen einen anderen Weg eingeschlagen. Innerlich fluchend wünschte er sich, dass er diese Nacht niemals erlebt hätte. Nicht nur, dass der Bankraub nicht wie geplant funktioniert hatte. Jetzt, so vermutete er, hatte allem Anschein nach auch noch ein patrouillierender Polizeidiener das Seil entdeckt und schlug in der ganzen Stadt Alarm. In der Ferne hörte er neben den Pfiffen und Schreien nun auch lautes Hundegebell. Gehetzt und angsterfüllt rannte der Gauner weiter in Richtung Weser.

Als er in eine weitere Gasse einbiegen wollte, erblickte er am anderen Ende zwei dunkle Gestalten. Blitzschnell suchte er in einer Mauernische Deckung. Zwei heftig pfeifende Polizeidiener sausten kurz darauf zu Fuß an ihm vorbei und bogen in Richtung Domshof ab.

Alfredo atmete tief durch. Diesmal hatte er gleich doppeltes Glück gehabt. Die beiden Polizeidiener hatten ihn weder gesehen noch einen Hund dabei gehabt.

»Das war knapp!«, schoss es ihm durch den Kopf. »Fast hätten sie mich erwischt!«

Schnell löste er sich wieder aus seinem Versteck und setzte seine Flucht fort. Er musste jetzt so eilig wie möglich zur Weser gelangen. Weit war der Fluss nicht mehr entfernt. Aber was dann? Sollte er das Risiko eingehen, die Brücke zu Fuß zu überqueren? Wenn diese bereits gesperrt oder überwacht war, würde er nicht weit kommen. In seinem Sack hatte er immer noch den Großteil der Beute. Ganz zu schweigen von dem Revolver und dem Brecheisen. Das würde ihn sofort überführen.

Alfredo überlegte kurz. Oder sollte er versuchen, den Beutel loszuwerden? Dann konnte ihm die Polizei nichts anhaben. Dann hatte er aber auch nichts für seinen Auftraggeber.

Schnell verwarf er den Gedanken, seinen Auftraggeber durfte er nicht noch mehr enttäuschen …

Atemlos erreichte er das letzte Gebäude vor dem Weserufer, blieb stehen und spähte vorsichtig um die Ecke. Schemenhaft erkannte er vor sich die riesige Weser-brücke mit ihrem horizontalen Gitterwerk – eine imposante Stahlkonstruktion, welche die Bremer Altstadt mit der Neustadt verband und schlicht den Namen »Kaiserbrücke« trug.

Alfredo spähte weiter angestrengt in die Dunkelheit. Von der Polizei war weit und breit nichts zu sehen.

»Vermutlich«, dachte er hoffnungsvoll, »ist die gerade mit der Untersuchung der Bank beschäftigt.«

Gerade wollte er in Richtung Brücke loslaufen, als er sich noch einmal besann. Das Risiko, die über 200 Meter lange Brücke zu Fuß zu überqueren, war einfach zu groß.

Der Flüchtige ging langsam zur Weser. Er schauderte innerlich bei dem Gedanken an das, was er jetzt unweigerlich tun musste. Fieberhaft wälzte er in seinem Kopf noch einmal die verschiedensten Möglichkeiten hin und her – etwas Besseres als schwimmen fiel ihm zu seinem Leidwesen aber nicht ein.

Er holte das Brecheisen und den Revolver aus seinem Umhängebeutel hervor und warf beide, soweit er konnte, in die Weser. Dann verschloss er den Beutel wieder und ging langsam in den Fluss hinein. Dabei zuckte er innerlich bei jedem Schritt zusammen. Die nasse Kälte, die an ihm hoch kroch, war nahezu unerträglich. Er spürte mit jedem Schritt das unbändige Verlangen, sofort wieder aus dem Wasser zu gehen.

Doch Alfredo riss sich zusammen und ging weiter. Als das Wasser ihm schon bis zu seinem Bauchnabel stand, atmete er einmal tief durch, drückte sich mit beiden Füßen vom Boden ab und hechtete entschlossen mit seinem Oberkörper ins Wasser.

Für einen kurzen Moment glaubte er, sein Herz bliebe stehen. So sehr war er durch die Kälte des Wassers schockiert. Er öffnete den Mund und stieß einen röchelnden Laut aus.

Nach ein paar Sekunden aber hatte sich auch sein Oberkörper an das kalte Nass gewöhnt. Zitternd begann Alfredo, seine Arme und Beine gleichmäßig zu bewegen und langsam durch den Fluss zu schwimmen …

III

Die Luft war kühl und der Himmel immer noch dunkel, als Alfredo völlig durchnässt und durchgefroren den zweiten Standort des Freimarktes, den Grünen Kamp, eine große Freifläche im Bremer Neustadtviertel, erreichte. Zielsicher betrat er den Platz und näherte sich einem Wohnwagen, der in der Nähe eines riesigen Circus-zeltes stand. Seine Augen wanderten herum und musterten nervös die Umgebung. Auch seine Ohren waren wie gespitzt und bereit, jedes noch so leise Geräusch in sich aufzunehmen.

Nachdem er bei einem der Wohnwagen angekommen und sich noch ein letztes Mal umgeschaut hatte, kniete er sich nieder und legte sich bäuchlings darunter. Müde richtete er seine Augen auf den Eingang des Zeltes und dachte nur: »Hoffentlich kommen die beiden auch gleich! Hoffentlich konnten sie ebenfalls entkommen!«

Nachdem Alfredo eine knappe halbe Stunde gewartet hatte, wusste er, dass seine Hoffnung wohl vergeblich war. Hans und Georg, die beiden Tierpfleger aus dem Circus, die er vor einigen Wochen für den Bankraub rekrutiert hatte, hatten allem Anschein nach nicht fliehen können.

»Wahrscheinlich«, durchzuckte es ihn, »sind sie von der Polizei in Gewahrsam genommen worden!«

Alfredo verließ mit hängendem Kopf sein Versteck und schlich leise zum Eingang des Circuszeltes.

»Nicht genug«, schimpfte er innerlich vor sich hin, »dass der Bankraub nicht so abgelaufen ist, wie geplant. Jetzt hat es offensichtlich auch noch meine beiden Komplizen erwischt.«

Alfredo öffnete vorsichtig den Zelteingang und schlich in die sandige Manege.

»Und, was noch viel schlimmer ist«, fluchte er weiter vor sich hin, nachdem er mit seiner immer noch durchnässten Kleidung auf dem Boden Platz genommen und sich mit dem Rücken an den runden Manegekasten angelehnt hatte, »die beiden kennen meinen Namen!«

Verzweifelt vergrub Alfredo das Gesicht in seinen Händen. Würden die beiden Tierpfleger wirklich dichthalten? Oder würden sie ihn letztlich doch, um die eigene Haut zu retten, an die Polizei verpfeifen?

Resignierend nahm er seine Hände wieder vom Gesicht und schaute deprimiert auf den Boden der Manege. Er wusste insgeheim, dass die zweite Möglichkeit die wahrscheinlichere war. Hans und Georg waren nicht nur sehr dösig, sondern hatten in erster Linie natürlich bei dem Bankraub mitgemacht, weil sie das Geld gut gebrauchen konnten. Ansonsten hatten sie zu ihm, Alfredo, kein sonderlich enges Verhältnis. Es war also mehr als unwahrscheinlich, dass sie ihn um jeden Preis decken würden.

»Flucht ins Ausland!«, schoss es ihm auf einmal durch den Kopf. »Ich muss noch heute Nacht ins Ausland fliehen!«

Hoffnung keimte wieder kurz in ihm auf. Alfredo wusste, dass dies ein schwerer Schritt war, den er sich absolut nicht wünschte. Aber es war wohl die einzige Möglichkeit für ihn, der Bremer Polizei zu entkommen.

Während er diesem Gedanken weiter nachging und immer noch vor sich auf den Boden starrte, vernahm er Schritte, die sich der Manege näherten. Alfredo hob den Kopf und musterte verstohlen den Eingang des Circuszeltes.

»Seid ihr hier?«, flüsterte auf einmal von draußen jemand mit verstellter Stimme in das Zelt hinein. »Seid ihr allein? Kann ich reinkommen?«

Alfredo zuckte kurz zusammen. Er kannte diese Stimme natürlich ganz genau. Soeben war, wie ursprünglich verabredet, der Drahtzieher des Banküberfalls eingetroffen.

»Ich, Alfredo, bin hier«, flüsterte er dann mit matter und kraftloser Stimme in Richtung Eingang, während er sich gleichzeitig vom Boden aufsetzte. »Ich bin allein, du kannst reinkommen. Georg und Hans haben es leider nicht geschafft!«

Ehe Alfredo begriff, wie ihm geschah, preschte eine Gestalt in das Circuszelt, kam blitzschnell auf ihn zu und packte ihn mit beiden Händen an den Schultern:

»Wie zum Teufel konnte das passieren?! Wieso habt ihr eure Aufgabe nicht vernünftig erledigt?!«, sprach die Gestalt erregt auf Alfredo ein. »Alles war doch idiotensicher von mir geplant! Und warum, in aller Welt, bist du so nass?«

Gewaltsam wurden Alfredos Schultern immer wieder hin und her geschüttelt. Sein Gegenüber war außer sich vor Wut.

»Es ging nicht anders«, brach es aus Alfredo stotternd heraus. Dabei fing er, teils vor Kälte, teils vor Angst, wieder am ganzen Körper an zu zittern. »Ich musste durch den Fluss schwimmen. Fast alles ging schief!«

Langsam, um Fassung bemüht, nahm die Gestalt ihre Hände von Alfredos Schultern und senkte die Stimme. »Was ist passiert? Nun erzähl es doch endlich!«

Alfredo versuchte mühsam, sich zu beruhigen. Ein paar Mal atmete er tief ein und aus. Als die erste Aufregung merklich abgeflacht war, begann er endlich zu erzählen.

»Erst lief alles wie geschmiert. Auf dem Domshof war keine Menschenseele. Die Freimarktsbuden, Karussells und Fahrgeschäfte boten uns ausreichend Schutz. Ich konnte ungesehen das Seil werfen, auf das Dach klettern und ohne Schwierigkeiten durch eine Luke in die Bank eindringen. Auch Hans und Georg hatten sich draußen mit keinen besonderen Vorkommnissen auseinanderzusetzen. Die beiden Holztresore konnte ich ohne Weiteres aufbrechen. Das Geld habe ich hier im Seesack.«

Die Augen seines Auftraggebers schauten auf einmal für einen kurzen Augenblick etwas freundlicher drein. Wenigstens das hatten diese Stümper hinbekommen.

»Mit dem Nachtwächter«, fuhr Alfredo immer noch leicht aufgewühlt mit seiner Berichterstattung fort, »fingen dann die Probleme an. Vor dem Einbruch waren wir uns ja eigentlich sicher, dass auch diese Bank von einem Nachtwächter überwacht wird. Nachdem ich aber ungehindert die Dachluke aufbrechen und in der Bank nicht das geringste Anzeichen für eine weitere anwesende Person entdecken konnte, war ich mir fast schon sicher, dass die Bank in dieser Nacht unbewacht war. Nachdem ich allerdings die Tür des Tresorraumes aufgebrochen hatte, vernahm ich hinter mir ein verdächtiges Geräusch.«

Alfredos Gegenüber blickte ihn finster an. Seine Augen hatten sich zu schmalen Schlitzen verengt. »Schätze, dass wohl doch ein Nachtwächter in der Bank war, oder? So, wie ich es vorher schon vermutet hatte.«

Alfredo nickte kaum merklich. »Ja«, erwiderte er mit matter Stimme. »Auf einmal tauchte tatsächlich ein Wächter auf. Er kam direkt auf den Tresorraum zu, in dem ich mich versteckt hielt. Im Schein seiner Petroleumlampe konnte ich kurz sein verschlafenes Gesicht sehen. Wahrscheinlich war er während seines Dienstes irgendwo in der Bank eingeschlafen und wurde erst durch den Krach, den ich durch das Aufbrechen der Tresortür verursacht hatte, geweckt.«

Die Miene von Alfredos Auftraggeber verdüsterte sich erneut.

»Was ist dann geschehen?«

»Der Nachtwächter näherte sich dem Tresorraum. Mit dem Rücken an eine Wand gepresst, zog ich meinen Revolver und verharrte. Das Brecheisen hielt ich fest umklammert in der anderen Hand. Der Nachtwächter betrat den Raum und leuchtete mit seiner Petroleumlampe hinein. Blitzschnell hielt ich ihm den Revolver an den Kopf und flüsterte ihm zu, ja keine falsche Bewegung zu machen und keinen Laut von sich zu geben. Dann würde ihm nichts passieren.«