Todesregion Deutschland, Teil 2 - S. K. Reyem - E-Book

Todesregion Deutschland, Teil 2 E-Book

S. K. Reyem

4,9

Beschreibung

Die Hoffnung auf ein angenehmeres Leben veranlasst einen Teil der Überlebenden, eine neue Expedition in die Todesregion Deutschland zu starten. Sie verlassen ihre friedliche und sichere Bleibe mit dem Auftrag, neue Möglichkeiten zu erkunden. Erneut konfrontiert mit den Grausamkeiten und Gefahren der einer Katastrophe zum Opfer gefallenen Zivilisation, begeben sie sich auf eine lange Reise, treffen auf neue und alte Freunde und stellen sich neuen Herausforderungen.

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Prolog

Sommer in Europa. Das Jahr, in dem die Welt die Katastrophe traf, bescherte der Menschheit besonders viele Sonnenstunden. Jeden Tag verkündeten die Wetterfrösche einen neuen Hitzerekord. Die Menschen tummelten sich an den Meeren, Seen und Schwimmbädern und hießen jede Abkühlung aufs Herzlichste willkommen.

In München saß Max vor dem Radio und lauschte den neuesten Nachrichten. Über großen Teilen des Nordatlantiks bildete sich für die Meteorologen völlig unerwartet eine immer größer werdende dünne Schleierwolke, die sich ganz langsam unterhalb des Jetstreams auf Europa zubewegte. Dieses Phänomen konnten sich die Wetterdienste zwar nicht umfänglich erklären, aber in Anbetracht der schon lange ausstehenden Abkühlung durch leichten Regen verfielen sie alle in Verzückung.

Max stellte nach Beendigung der Nachrichten sein Radio ab, zog seine Sandalen an und wählte ob des zu erwartenden Regens seine dünne, blaue Sommerjacke. In seinem Job als Briefzusteller konnte er es sich nicht aussuchen, bei welchem Wetter er den Dienst versah. Die Post kam jeden Tag und Max sorgte dienstbeflissen dafür, dass sie pünktlich im Briefkasten lag.

Von der Ecke Ackermann- und Elisabeth-Kohn-Straße warf Max einen Blick über das alte Olympiagelände in Richtung Norden. Eine dünne Wolkenschicht bedeckte dort bereits den Himmel.

Na ja, viel Regen würde das nicht werden. Aber besser als nichts, dachte Max und setzte seinen Weg fort.

Sieben Minuten später fing es ganz leicht an zu nieseln. Es fühlte sich auf Max’ Haut wie Honigtau an – ganz feine, kleine Tröpfchen, die verdunsteten, kaum dass sie die Haut berührten.

»Guck mal da!«, rief ein Kind.

Auf der Straßenseite gegenüber brach eine ältere Dame zusammen. Was war da denn los? Vor Max` Augen bildete sich ein milchiger Schleier und er konnte seine Umgebung nur noch schemenhaft wahrnehmen. Plötzlich einsetzende, wahnsinnige Kopfschmerzen dröhnten in seinem Schädel und ein Hunger stieg in ihm auf – ein so unstillbarer Hunger, wie er ihn bisher nie kannte.

»Um Gottes Willen!«, schrie eine Frau.

Max geriet ins Taumeln. Die Haustür des Hauses, vor dem er sich gerade befand, wurde geöffnet und eine junge Frau betrat die Straße. Der Briefzusteller roch sie mehr, als das er sie sah. Und da meldete er sich wieder, dieser Hunger. Max erschrak vor sich selbst. Mehr und mehr wurde ihm bewusst, worauf er jetzt eigentlich Hunger bekam.

»Mama schau mal, es regnet«, rief ein kleines Mädchen, welches soeben die Bäckerei drei Türen weiter mit ihrer Mutter verließ.

Die alte Damen von gegenüber, die Max aus den Augen verloren hatte, als diese der Länge nach hinfiel, lief nun schlurfenden Schrittes über die Straße. Sie steuerte direkt auf die junge Frau zu. Dabei hing ihre Zunge aus dem Mund und sie gab gurgelnde Laute von sich.

Max verstand das nicht, fühlte aber wie sich in seinem Kopf eine immer größer werdende Leere breit machte. Was tat er hier überhaupt? Er konnte sich plötzlich nicht mehr erinnern. Warum befand er sich hier, in dieser Straße? Wie lautete eigentlich sein Name? Er wollte um Hilfe rufen, brachte aber nur ein seltsam anmutendes Gestöhne hervor.

Mittlerweile wurde die junge Frau von der alten Dame angesprungen und zu Boden gerissen. Max erkannte spritzendes Blut und sein Hunger wurde dadurch unbändig. Langsam, aber doch so schnell er es vermochte, bewegte er sich auf die beiden Frauen zu. Er wollte schneller gehen, die Gier trieb ihn, es gelang ihm aber nicht.

Im Inneren seines Kopfes spielte sich nichts Bedeutendes mehr ab. Sämtliche Gedanken schienen ein für alle Mal zu erlöschen. Einzig der Hunger und die gurgelnden Laute aus seinem Hals, blieben.

Max trieb seine Zähne herzhaft grunzend in den rechten, warmen Oberschenkel der immer noch heftig zuckenden jungen Frau und sein Gehirn stellte jegliche Denkfunktion endgültig ein. Max schaute hoch und blickte direkt in die blutunterlaufenen Augen des kleinen Mädchens. Auch sie hatte sich bereits ihren Anteil des Fleisches der jungen Frau geholt. Max grunzte und biss erneut zu.

All das, was Max einst zum Menschen machte, ging nun vollends verloren. Übrig blieb einzig und allein der nicht enden wollende Hunger.

(1)

»Au Mann, ein Jumbolino. Hätte nicht gedacht, so etwas Schönes noch mal vor meine Augen zu kriegen.«

Eugen stand plötzlich direkt hinter mir und blickte genauso verdutzt in den Himmel wie ich.

Ich glaubte meinen Augen und Ohren nicht zu trauen und verspürte ein aufgeregtes Kribbeln im Bauch, gerade so, als wenn ich vor meinem ersten großen öffentlichen Auftritt stände.

»Eugen, ist dir klar, was das bedeutet? Da im Flugzeug, da leben doch noch Menschen. Die Maschine muss irgendwo gestartet sein und zwar erst kürzlich – lange nach Beginn der Katastrophe. Die kommt auch nicht von nirgendwo. Bestimmt gibt es noch einen Flecken auf der Welt, der noch nicht in diesem Untoten-Mist versunken ist und von da kommt der. Stell dir das mal vor!«

»Schau mal Marc, der geht runter.«

Tatsächlich verlor der Flieger jetzt deutlich an Höhe.

»Ja, du hast recht. Der landet bestimmt in Dresden.«

»Nein, nein, das ist nicht Dresden. Der dreht ab. Der geht in Leipzig runter.«

Mittlerweile gesellten sich, durch den Motorenlärm alarmiert, noch andere Leute aus unserer Gruppe zu uns.

»Was ist da denn los?«, hörte ich Bernd begeistert rufen, dem es trotz der widrigen Umstände, in denen wir seit Monaten lebten, immer wieder gelang, eine respektable Irokesenfrisur zur Schau tragen zu können.

»Ich halt es nicht aus. Ein Flugzeug. Ob der uns gesehen hat?«, rief Fiona.

Alle redeten jetzt wild durcheinander. Neu Hinzugekommene fragten bei denjenigen nach, die das Flugzeug mit eigenen Augen gesehen hatten und jeder brachte eine andere Theorie vor, wer da im Flieger säße und woher die Maschine gekommen sein könnte.

»Wir treffen uns alle im großen Saal, so in 15 Minuten«, versuchte ich den wilden Spekulationen vergeblich ein Ende zu setzen und beruhigend zu wirken, »gebt allen Bescheid.«

Innerlich verspürte ich dieselbe Nervosität wie meine Freunde. Mein Herz hüpfte aufgeregt hin und her.

Fiona blieb gleich bei mir und wir überlegten gemeinsam, was die Existenz dieses Flugzeuges für uns bedeuten könnte.

»Vielleicht gibt’s doch noch was anderes«, flüsterte sie mit großen Augen und küsste mich auf die Wange.

(2)

Obwohl ihr Vater die Verantwortung dafür trug, dass Marlene den Beruf der Bäckerin erlernte, liebte Sie diesen Beruf von ganzem Herzen. Doch an solch besonders heißen Sommertagen, wie die Menschen sie in diesem Jahr so extrem in Europa erlebten, fühlte sie sich in der Backstube nur noch früh morgens wohl. Spätestens ab acht Uhr verließ sie die Nähe der Backöfen und schleppte das in den letzten Stunden entstandene Backgut nach vorne ins Geschäft. Früher, als junges Mädchen, machte es Marlene überhaupt nichts aus, stundenlang auch bei heißen Temperaturen an den Backautomaten zu stehen. Jetzt, mit 48 Jahren, fiel ihr das unsagbar schwer und es fühlte sich so an, als ob ihre Füße in Beton stecken würden.

Marlene stammte aus einem gutbürgerlichen Elternhaus. Sie wuchs in einem gutbürgerlichen Stadtteil Essens auf und besuchte die Mittelschule bis zur letzten Klasse. Was so durchschnittlich klingt, war in der Tat so. Marlene wusste das, es störte sie aber nicht. Ohne besondere Flausen im Kopf und ohne hochtrabende Ziele strebte sie auch nur einen Beruf an, den man als normal bezeichnen konnte. Darüber hinaus wünschte sie sich, verheiratet zu sein und zwei Kinder zu bekommen – zuerst ein Mädchen und dann einen Jungen. Und die Erfüllungen dieser Wünsche gelangen ihr mit Bravour.

An dem Tag, an dem sie ihren zwanzigsten Geburtstag feierte, lernte sie ihren späteren Ehemann Dietrich kennen. Ihre gemeinsamen Freunde nannten das Pärchen fortan unter vorgehaltener Hand scherzhaft Marlene Dietrich.

Fünf Jahre später heirateten die Beiden. Marlene schenkte nach drei weiteren Jahre einer Tochter und nach noch einmal zwei Jahren einem Sohn das Leben. Damit fühlte sich Marlenes genügsames Leben für sie absolut perfekt an.

Trotz ihrer zufriedenstellenden Durchschnittlichkeit galt Marlene bei ihren Freundinnen als ausgesprochen beliebt. Man konnte sich auf sie verlassen. Denn eines tat Marlene nie – aufgeben.

Heute musste Marlene nicht in die Backstube. Ihren freien Tag wollte sie nutzen, um für ihren Ehemann und ihre beiden Kinder in der Innenstadt schon lange aufgeschobene Besorgungen zu machen.

Wie immer, wenn Marlene in der Essener City einkaufen wollte, parkte sie im Parkhaus der Hauptstelle der Sparkasse Essen. Das lag direkt unterhalb der Geschäftsstelle der Bank in einem mehrstöckigen Gebäude. Sie fand einen freien Platz für ihren Ford Focus auf der untersten Ebene des Parkhauses.

Marlene näherte sich gerade dem Ausgang, als ein ohrenbetäubender, schriller, auf- und abschwellender Heulton ertönte. Der so plötzliche erschallende und so bedrohlich wirkende Ton ließ einen jungen Mann erschrocken zusammenzucken, der soeben das Parkhaus durch die schwere Eisentür betrat.

»Was ist das denn?«, fragte Marlene, die in diesem Augenblick direkt neben dem jungen Mann stand.

»Keine Ahnung, besser wir gehen nach draußen.«

Der junge Mann drehte sich zu der Tür um, durch die er gerade getreten war. Doch die ließ sich nicht mehr öffnen. Er drückte die Türklinke herunter und schwang seine Schulter mit all der ihm zur Verfügung stehenden Kraft gegen die schwere Metalltür. Doch nichts tat sich. Die Tür wirkte wie im Rahmen festgesaugt. Erstaunt schaute er Marlene neben sich an.

»Da hinten ist noch ein Ausgang«, meinte Marlene und setzte sich gleich in Bewegung.

Der junge Mann folgte ihr schnellen Schrittes. Marlene spürte den Blick, den der er auf ihre Beine und die hochhackigen Schuhe warf und schmunzelte. Sie wusste, dass sie sich darauf verdammt gut bewegen konnte. Die anschwellende Sirene holte sie jedoch schnell in die Wirklichkeit zurück.

Als Marlene mit dem jungen Mann im Schlepptau den Eingang auf der gegenüberliegenden Seite des Parkhauses erreichte, standen vor diesem schon vier weitere Personen, die vergeblich an der Tür rüttelten.

(3)

Im großen Saal, dem größten Gebäude der Festung Königstein, den die neuen Bewohner der Festung „Gemeinschaftshaus“ tauften, fanden sich nach und nach alle hier Lebenden ein. Nervosität stand im Raum wie Wasserdampfschwaden in der Waschküche.

»Heute hat uns ein Flugzeug überflogen«, startete ich meine Rede mit der Information, die schon längst alle kannten.

»Es sah so aus, als ob es zur Landung ansetzen würde und Eugen meinte, es würde vielleicht in Leipzig runter gehen. Eugen, erzähl mal!«

Eugen, den wir gerne das Schlusslicht nannten, da er als Letzter zu unserer Gruppe stieß, bevor wir die Festung Königstein erreichten, verstand es, sich gut zu integrieren. Er galt insgeheim als kleiner, durchaus liebevoller Spinner, den man nicht so ganz ernst nehmen musste.

Nun erhob sich Eugen, schaute triumphierend in die Runde und schritt gemächlichen Schrittes nach vorne. Bevor er ein erstes Wort an die Gruppe richtete, sah er mit einem Ausdruck von Wichtigkeit und Schwere in den Augen die anderen der Reihe nach an. Doch die Leute kannten und mochten Eugen und sahen es ihm nach.

»Bei dem Flugzeug handelt es sich eindeutig um eine Bae 146, vierstrahlig von Britisch Aerospace.«

Jetzt trat Stille ein. Eugens Zuhörer warteten auf weitere Informationen und Eugen wartete auf Bewunderung und Zustimmung.

»Mach weiter, Eugen«, wurde es mir zu lang.

»Ah, na gut. Dieses Flugzeug schafft 2.800 Kilometer. Kennzeichnend für die Maschine sind die hoch angesetzten, gepfeilten Tragflächen mit ausgeprägter, negativer V-Stellung.«

»Eugen, beschränke dich auf das wirklich Wichtige.«

Der enttäuschte Eugen zuckte leicht mit der linken Braue und sprach weiter.

»Wenn das Ding in Leipzig runter gegangen ist – und danach sah das allemal aus – und dem Flieger das Kerosin ausgegangen ist, dann kann der aus Zypern, Kreta oder der Türkei gekommen sein. Aus der Richtung kam die Maschine jedenfalls.«

Eugen machte ein nachdenkliches Gesicht, griff sich ans Kinn, rieb es, riss seine Augen weit auf und fuhr fort.

»Wenn einer ein Flugzeug fliegen kann, heißt das noch lange nicht, dass er es auch tanken kann. Das kriegt der nie und nimmer alleine in Leipzig hin. Ich bin mir sicher, der hockt da noch.«

»Gut«, mischte sich Fritz der Hüne ein, »dann wissen wir, dass der irgendwo gestartet ist, als wir schon längst hier auf der Festung wohnten, also Wochen nach Ausbruch der Epidemie. Vielleicht, aber nur vielleicht kommt er aus Süd-Ost-Europa und ist unter Umständen in Leipzig gelandet. Das sind auch gute 150 Kilometer von hier. Ob der irgendwo abgehauen ist oder ob es da, wo der herkommt noch ok ist, wissen wir nicht. Vielleicht kann der so ein Ding ja auch tanken und fliegt seit Monaten einfach nur von Flughafen zu Flughafen. Für mich hört sich das alles nicht wirklich toll an. Ist doch eine Schnapsidee, den zu suchen. Vergessen wir es!«

»Nein, das ist immerhin eine Chance auf unser altes Leben.«, meinte Fiona dazu, »Wir können das nicht außen vor lassen. Hier ist es ja ganz nett, uns allen geht es gut und wir kommen zurecht. Auf Dauer ist unsere Welt hier aber ziemlich klein. Spürt ihr nicht die Enge? Ich kann das aushalten, aber wenn es eine Möglichkeit gäbe, ein normales Leben wie früher zu führen, dann...«

»Das ist ein Fingerzeig Gottes«, rief Fionas Mutter Petra mit schriller Stimme in die Runde. Ihre Frömmigkeit kannte jeder auf der Festung.

Nun brach eine heftige Diskussion los. Argumente über Argumenten wurde immer und immer wieder aufs Neue ausgetauscht – ohne Ergebnis und Einigung.

»Lasst uns abstimmen«, sorgte ich schließlich mit lauter Stimme für Ruhe, »so lautet mein Vorschlag: Vier Mann von uns machen sich auf den Weg nach Leipzig und schauen nach, ob das Flugzeug da ist und da geblieben ist und was damit los ist. Alles andere entscheidet sich dann. Wenn alles gut geht, brauchen wir dafür drei oder vier Wochen.«

»Keine schlechte Idee. Wer soll denn da mitgehen?«

»Ich gehe natürlich. Dann kommt Eugen mit, der kennt sich hier in Sachsen am besten aus. Fritz, auch wenn er dagegen ist, soll ebenfalls mitkommen. Er ist der beste Kämpfer. Der vierte Mann ist der dicke Eddi, weil er die meisten Sprachen kann. Wir wissen ja nicht, auf wen wir treffen.«

»Dann will ich auch mit. Warum soll ich hier bleiben?«, fragte Bernd.

»Wir brauchen schließlich auch ein paar Leute hier. Es muss hier indessen auch weitergehen. Es ist da draußen ja nicht so ganz ungefährlich. Im Notfall, falls uns etwas passiert, muss es ohne uns weitergehen.«

»Du spinnst wohl!« riefen Fiona, meine Freundin und Bärbel, die Freundin von Fritz zeitgleich.

Mein Vater verzog sein Gesicht zu einer missmutigen Grimasse und schwang seinen Krückstock drohend über seinem Kopf.

»Und wenn ihr umsonst geht, niemanden findet oder dass im Flugzeug sonst wer ist? Was dann?« interessierte sich Mahmut der frühere Feuerwehrmann.

»Keine Ahnung, das weiß ich auch nicht«, antwortete ich, »dann können wir nur mitbringen, was wir unterwegs finden und tragen können.«

Nach weiteren 30 Minuten und heftiger Debatte stand es endlich fest. Eugen, Fritz, Eddi und ich würden am nächsten Tag aufbrechen, um nach dem Verbleib des Flugzeuges zu forschen.

(4)

Marlene stand an vierter Position in der Schlange der Fahrzeuge, die das Parkhaus verlassen würden, sobald sich das Tor öffnete. Aufgeregt trommelte sie mit den Fingern auf dem Armaturenbrett herum, verspürte Angst vor dem, was sie draußen erwartete. Zudem roch es in ihrem Auto unangenehm nach ranziger Leberwurst. Die Wurst verblieb vergessen in einer Tüte im Auto zurück, als es losging.

Vor dem Fahrzeug von Marlene saß Doris in ihrem Auto. Ein Stück des Weges wollten die beiden Frauen gemeinsam zurücklegen. Marlenes Ziel lag im Osten der Stadt, Doris wollte nach Bochum.

Warum passieren Katastrophen eigentlich immer dann, wenn man nicht zuhause ist, fragte sich Marlene. Damals, als Opa und Helga mit dem Auto verunglückten, befand ich mich auch nicht daheim. Ich muss zu meinen Kindern.

Da, es ging los. Die seit Tagen verschlossen Tore hoben sich und ein Fahrzeug nach dem anderen sauste durch die Öffnung.

Rechts, links, rechts, links und dann bis zur A40, so Marlenes und Doris’ einfacher Plan. Zu Beginn ihrer Fahrt lief alles wie gewünscht. Marlene versuchte die fürchterlichen Bilder links und rechts der Straße auszublenden. Überall standen zum Teil zerstörte Fahrzeuge auf der Straße herum, denen es auszuweichen galt. Allen Ortes schlichen kleinere Gruppen von Untoten heran, die der Lärm der beiden Fahrzeuge anzog. Auf Höhe des Waldhausenparks lagen zahlreiche Leichen oder Teile davon aufgehäuft auf der Straße. So einen Anblick kannte Marlene nicht. Ihr wurde es übel.

Bis zur Unterführung, die unter der Hauptstrecke der Eisenbahn zwischen Essen und Duisburg hindurchführte, ging alles gut. In der Unterführung standen jedoch noch mehr verlassene Fahrzeuge herum, als es bisher auf ihrem Weg der Fall gewesen war. Doris, die vor Marlene herfuhr, verlangsamte ihr Tempo nicht im Geringsten und donnerte in den kleinen Tunnel hinein. Weit kam sie nicht. Es rumste fürchterlich, als sie gegen eines der dort stehenden Fahrzeuge knallte und ihr Auto verkeilte. Es ging nicht mehr nach vorne und auch nicht mehr zurück.

Marlene stoppte ihren Wagen noch vor der Einfahrt zur Unterführung. Währenddessen öffnete Doris die Fahrzeugtür, stieg aus und ging zum Kofferraum. Sie suchte nach ihren dort verstauten Utensilien.

»Komm schnell hier herüber. Da kannst du nicht bleiben. In meinem Auto bist du sicher«, rief Marlene ihr durch das inzwischen geöffnete Autofenster zu.

Doris reagierte überhaupt nicht, sah noch nicht einmal herüber. Sie öffnete die Heckklappe und wühlte, tiefgebeugt über dem Kofferraum, darin herum.

Marlene glaubte ihren Augen nicht zu trauen. Aus der Unterführung heraus quollen immer mehr dieser Schlurfer, die sich gierig grunzend der ahnungslosen Doris näherten.

»Pass auf!«, rief Marlene und drückte zur Warnung auf ihre Hupe.

Damit erzielte sie aber nur einen einzigen Effekt - noch mehr Bestien wurden auf sie aufmerksam.

Doris schien das nicht im Entferntesten zu kümmern. Immer noch suchte sie etwas in ihrem Kofferraum.

»Um Gottes Willen, dreh dich endlich um und komm rüber«, versuchte es Marlene erneut mit lauter Stimme.

Jetzt endlich reagierte Doris und drehte sich um. Da griff ihr schon der erste Untote an die Schulter. Doris zuckte zusammen. Deutlich zeichnete sich der Schrecken auf ihrem Gesicht ab. Sie riss sich los, schaute voller Angst zu Marlene herüber und wollte sich gerade in Bewegung setzen, da griffen weitere knochige Hände nach ihr. Doris zappelte wild und wollte sich abermals losreißen, da biss ihr eine der Kreaturen in die linke Flanke. Blut spritze und Doris schrie, wie eine Motorsäge, die auf Stahl traf.

Marlene erschauderte und dachte eine Sekunde daran, ihrer Freundin zur Hilfe zu eilen. Schnell und mit erschütternder Klarheit stelle sie fest, wie völlig sinnlos das gewesen wäre. Es hätte auch ihr Leben gekostet. So blieb Marlene nichts anderes übrig. Sie musste zusehen, wie Doris endgültig niedergerissen wurde und die Meute der Bestien sich daran machte, sie in Stücke zu reißen. Doris’ Schreie erstarben alsbald.

Marlene konnte, wie alle anderen auch, aus dem Parkhaus heraus, aus dem sie mit Doris vor nicht langer Zeit geflohen waren, selber einen Blick auf eine der umliegenden Straßen werfen. Da beobachtete sie bereits Teile des Unwesens, welches die Untoten trieben. Auch kannte sie die Erzählungen von Marc und Fritz, die zuvor mit den Schlurfern direkt aneinandergeraten waren. Trotzdem fehlte ihr bisher jegliche Vorstellungskraft darüber, was der Ausbruch der Epidemie – oder worum es sich sonst auch immer handelte – tatsächlich bedeutete. Jetzt bekam sie eine erste Idee davon.

Marlene wendete sich von der grausigen Szene ab. Fürchterliche Angst wühlte in ihr. Befanden sich ihr Ehemann und ihre Kindern in Sicherheit? Was würde aus ihr werden und aus ihren Freunden aus dem Parkhaus? Wie sollte es weitergehen?

Marlene fuhr in westliche Richtung davon. Sie würde einen anderen Weg nach Hause finden müssen.

(5)

Am frühen Morgen saß mir Fiona immer noch beleidigt gegenüber.

»Finde ich echt super, Marc. Du willst ohne mich gehen. Warum möchtest du mich nicht mitnehmen?«

»Die Frage hast du mir mindestens schon zehnmal gestellt und ich habe sie dir bereits zehnmal beantwortet.«

Ich spürte, wie mir der kalte Schweiß über den Rücken lief und drückte ein Lächeln aus meinem Gesicht. Vor nicht mehr als einer Stunde stritten wir um das Thema schon einmal.

»Hier auf Königstein ist es sicher. Ich will dich nicht in Gefahr bringen. Du weißt es selber. Im Elbtal tauchen immer größere Schlurfer-Gruppen auf«, argumentierte ich.

»Deine Mutter und erst recht mein Vater kommen alleine nicht mehr so richtig zurecht. Wer soll sich denn um die Beiden kümmern?«, machte ich ihr ein schlechtes Gewissen, »sie brauchen dich.«

»Du hast ja recht mit deinen Argumenten«, sagte Fiona, dachte allerdings das Gegenteil.

»Lass uns lieber ein paar Klamotten zusammenpacken. Ich nehme einen kleinen Rucksack mit, meinen Tapezierigel, meine Zwille und zwei Messer. Und ich frage Rosi nach der Polizeipistole, die ich ihr damals gegeben habe.«

Wortlos packten Fiona und ich meine Plörren zusammen. Es wurde langsam Zeit. Die anderen warteten bestimmt schon. Nach einer innigen, intimen Verabschiedung begaben wir uns Hand in Hand in den Innenhof der Festung, an die Stelle, von der ein Tunnel in Richtung Ausgangstor abzweigte.

Fiona sprach die Gründe meines Wegganges ohne sie nicht mehr an. Das beruhigte mich. Fiona begriff schnell.

Alle anderen Bewohner warteten tatsächlich schon und das große Herzen zur Verabschiedung befand sich bereits in vollem Gange. Ich mochte diese Abschiedszeremonien nicht. Am liebsten wäre es mir gewesen, wenn wir sofort gegangen wären.

»Komm bald wieder, mein Junge«, rief mir mein Vater zu.

Fiona schaute zu mir hinüber. Selbst Granit wäre bei diesem Anblick geschmolzen. Jetzt wollte ich mich am liebsten umdrehen und hierbleiben. Doch dazu war es zu spät. Daran war nicht mehr zu denken.

Unser Plan bestand darin, erst einmal zu Fuß etwas Abstand zwischen uns und die Festung zu bringen. In Struppen, einem kleinen Örtchen gute vier Kilometer entfernt, wollten wir uns ein Fahrzeug organisieren und dann den kürzesten Weg über die Autobahn wählen.

Ich weiß nicht, wie es meine Freunde empfanden, mir ging es verdammt schlecht. Nach mehr als drei Monaten verließ ich zum ersten Mal die Festung und musste wieder damit rechnen, von den Untoten angefallen zu werden. Ein Blick in die Gesichter meiner Gefährten verriet mir, auch sie fühlten sich nicht glücklich. Uns allen – mittlerweile auch Fritz - war jedoch bewusst, dass wir unbedingt herausbekommen mussten, wie es mit der Welt und somit mit uns stand. Handelte es sich bei der Festung Königstein um unsere letzte Station oder bestand doch eine Möglichkeit in unser altes Leben zurückzukehren?

Den Zugangsweg zur Festung und die dahinter verlaufende Bundesstraße passierten wir ohne einer der Bestien zu begegnen. Wir verhielten uns so leise es ging.

Mit einem Blick nach links und rechts in die Landschaft verschaffte ich mir Klarheit. Es würde mit der Fahrerei nicht so einfach werden. Die Natur feierte längst große Erfolge damit, die von den Menschen versiegelten Flächen zurückzuerobern.

Mitten im Wald vor dem Ort Struppen legten wir unsere erste Pause ein und verzerrten die Butterbrote, die uns die auf der Festung Zurückgebliebenen mitgegeben hatten. In Zukunft würden wir uns Lebensmittel suchen müssen. Ich beobachtete meine Mitreisenden.

Dem langen Fritz steckte ein langes Küchenmesser im Gürtel und er trug darüber hinaus eine alte Streitaxt mit sich. Die stammte aus dem Zeughaus der Festung. Die geschickt an seinem Rucksack befestigte Axt konnte er in Windeseile ziehen. Genau die richtige Waffe für den Riesen.

Der dicke Eddi führte einen Sportbogen mit sich, den er bei Paula vom Laubnerhof geliehen hatte. Er konnte ganz gut damit umgehen. Unzählige Pfeile ragten aus seinem Rucksack hervor.

Eugen war der Einzige von uns, der keinen Rucksack auf seinem Rücken trug. Er hängte sich eine kleine Reisetasche um. Typisch Eugen, dachte ich, umständlich wie immer. Eine Bewaffnung konnte ich bei ihm nicht ausmachen, wusste aber, dass er mindestens zwei oder drei Messer oder Dolche mitführte.

Mir wurde es beim Anblick dieser Truppe des Grauens etwas mulmig. Der Gedanke, wieder die Untoten erschlagen zu müssen, bereitete mir Angst. Immerhin handelte es sich bei ihnen nach wie vor um Menschen.

15 Minuten später brachen wir wieder auf. Schon nach wenigen Metern verspürte ich ein Kribbeln im Nacken, gerade so, als wenn jemand direkt hinter uns herschleichen würde. Knackte da nicht ein Ast? Ich wirbelte herum. Nichts außer Wald. Hatten die Kollegen denn nichts gehört? Ich drehte mich wieder nach vorne. Fritz befand sich nicht mehr bei uns. Eddi und Eugen marschierten aber ohne darauf zu achten weiter.

»Ähh, was ist los?«, flüsterte ich dem direkt vor mir gehenden Eugen ins Ohr.

»Pst«, antwortete der nur und begann, „das Wandern ist des Müllers Lust“ zu summen.

Vorsichtshalber zog ich meinen Tapezierigel aus dem Gürtel und bereitete mich darauf vor, um mich schlagen zu müssen. Ich begann zu frieren. Na ja, kein Wunder zu dieser Jahreszeit. Bei dem Gedanken bemerkte ich, in welchen zerrissenen Klamotten wir steckten. Es wurde langsam Zeit, für uns und für unsere Freunde auf der Burg, neue Kleidung zu besorgen und von unserem Ausflug mitzubringen.

Wieder ein Knacken hinter mir und ein kurzer, spitzer Aufschrei.

(6)

Marlene weinte leise vor sich hin. Der Tod von Doris und erst recht die Art und Weise ihres Endes trafen sie bis in Mark. Sie fühlte sich alleine gelassen und dies bereitete ihr die größte Angst. Wie würden sich da ihre Kinder fühlen. Sie hoffte, ihre Sprösslinge würden sich gemeinsam mit ihrem Mann in einem sicheren Unterschlupf aufhalten.

Langsam, ganz langsam rollte Marlenes Auto die Ruhrallee hinunter. In ihrem Rückspiegel sah sie kleine Horden von Untoten, die eine Zeit lang hinter ihr her trotteten, dann aber wieder das Interesse an ihr verloren. Gerade jetzt schlurften eine alte Frau und zwei junge Männer – soweit man das in den angeschlagenen Gesichtern noch erkennen konnte – unmittelbar an ihrer Stoßstange die Straße entlang. Sie streckten ihre Hände aus und gaben ein fürchterliches Grunzen und Gegröle von sich. Das übertönte selbst den Motor des Fahrzeuges. Die entsetzte Marlene konnte den Blick nicht von der alten Frau lassen.

Da gab es einen Stoß und ein lautes Klatschen erfüllte das Fahrzeug. Unbemerkt hatte sich eine dieser Kreaturen auf das Auto zubewegt und Marlene wich nicht aus. Sie fuhr ungewollt und ohne zu bremsen die Bestie über den Haufen. In dem Schreck riss Marlene das Steuer des Wagens nach links und krachte gegen einen verlassen stehenden knallroten BMW.

Jetzt erreichten auch die alte Frau und die beiden jungen Männer Marlenes Auto und schlugen auf dieses grunzend ein. Marlene roch den süßlichen, fauligen Gestank, der den Geruch der immer noch im Auto liegenden vergammelten Leberwurst noch überlagerte. Beherzt setzte Marlene das Auto zurück, die drei Figuren kamen zu Fall, was Marlene nicht kümmerte. In Panik geraten? Die Gefahr bestand nicht. Marlene hatte sich immer und überall im Griff.

Jetzt noch links auf die Westfalenstraße und dann immer geradeaus und sie würde in Essen-Freisenbruch vor ihrer Wohnung stehen. Und was dann?

Das Haus, in dem Marlene mit ihrer Familie lebte, stammte von Anfang des letzten Jahrhunderts. Zwei Weltkriege konnten es nicht zerstören. Jetzt parkte Marlene ihr Fahrzeug unmittelbar davor. Deutlich erkannte sie sämtliche eingeschlagene Scheiben in der unteren Etage. Scherben lagen auf dem Bürgersteig. Blut klebte an der Hauswand, viel Blut. Auf den drei Treppen zur Haustür saß ein verrottender, menschlicher Kadaver aufrecht an die Tür gelehnt.

Marlenes Wohnung befand sich in der zweiten Etage.

Runde 100 Meter entfernt schlich eine Gruppe von Untoten, mindestens zehn, eher 15 Personen extrem langsam die Straße entlang. Marlene blieb gottlob unbemerkt. Wenn sie sich beeilen würde, wäre sie längst im Haus, bevor die Meute sie erreichen konnte.

An einem Fenster in der dritten Etage auf der Marlenes Wohnung gegenüberliegenden Straßenseite patschte ein Untoter mit der flachen Hand ohne Unterlass an die Scheibe und schaute gierig zu ihr hinunter. Marlene konnte er entdecken, den Ausgang zur Straße allerdings noch nicht finden.

Marlene kannte den Mann. Es handelte sich um den Vater eines Freundes ihres Sohnes. Verzweifelt suchte sie nach dem Haustürschlüssel und fand ihn schließlich in ihrer Handtasche. Jetzt schnell die Fahrzeugtür auf. Und als Marlene diese wieder zuschlug, erkannte sie sofort ihren Fehler.

Auch wenn sich Autotüren heutzutage leise schließen ließen, reichte das Geräusch aus, um alle Schlurfer der Umgebung zu alarmieren – auch die drei Figuren, die nur wenige Meter entfernt zwischen anderen Fahrzeugen herumlungerten.

Nahmen die untoten Kreaturen erst einmal Witterung auf, versetzte sie das zwar nicht in ein rasendes Tempo, doch durchaus in eine erhöhte Geschwindigkeit – dies immer in Abhängigkeit zur ihrem jeweiligen Verletzungs- und Verwesungszustand.

Marlene rannte. Doch knochige Hände griffen schon nach ihr.

(7)

Ich traute meinen Augen nicht. Da kam der lange Fritz aus dem Wald. In der rechten Hand hielt er seine Streitaxt und unter dem linken Arm hing eine zappelnde Person, eine Frau, die ihrerseits einen Streitflegel – einen 60 Zentimeter langen, massiven Holzstiel, an dessen Ende eine lange Kette die Verbindung zu einer dornenbesetzten Eisenkugel herstellte – festhielt. Die Frau protestierte lauthals, machte aber keinerlei Versuche, ihre schwere Waffe gegen Fritz einzusetzen.

Vor uns stehend setzte Fritz die Frau auf ihre Beine und ich schaute direkt in die Augen von Fiona.

»Was soll das denn? Was machst du denn hier? Jetzt muss ich dich zurückbringen.«

»Vergiss es. Ich kann dich nicht alleine gehen lassen. Sehe das bitte endlich ein.«

In Fionas Stimme lag Bestimmtheit, Verzweiflung und durchaus etwas Liebe. Genau diese Kombination kochte mich weich.

Ich schaute der Reihe nach in die Gesichter meiner Gefährten und sah ihre Zustimmung.

»Na gut, dann lasst uns gehen.«

Dann würden wir eben zu fünft auf die Reise gehen. Und wenn ich ehrlich zu mir selber sein sollte, gefiel es mir, Fiona bei mir zu wissen. Ich nahm sie bei der Hand und wir marschierten weiter.

Bald lichtete sich der Wald und die ersten Häuser des Dorfes tauchten vor uns auf. Hier herrschte völlige Stille. Wir vernahmen kein sonst übliches Gestöhne von den Schlurfern und sahen niemanden – gerade so, wie wir es von der Festung aus, die wir von hier aus noch sahen, beobachten konnten.

»Sichere sehen sie uns jetzte mit die Feldstecher«, meinte unser Italiener, den alle den dicken Eddi nannten, und er winkte mit beiden Armen.

Der Ort Struppen lag wie ausgestorben da. Keine Menschen, keine Untoten. Nach und nach durchsuchten wir ein Haus nach dem anderen und trugen das zusammen, was wir finden und gebrauchen konnten.

Zwei Büchsen Ölsardinen, zehn Pakete Nudeln, eine Dose Eierravioli, drei Tüten Kartoffelchips, mehrere Pakete Kekse und ein halber Kasten Mineralwasser – keine schlechte Ausbeute, wenn man bedenkt, dass viele Lebensmittel in den Schränken und Kühlschränken inzwischen verdorben waren.

Plötzlich störte das Geräusch eines anspringenden Motors die Stille. In der mittlerweile ruhig gewordenen Welt ein Höllengeräusch.

»Hey, was ist das denn?«, jubelte Fritz erfreut.

Eugen, der sich vor der Durchsuchung der Häuser abgesetzt hatte, fuhr jetzt mit einem besonderen Exemplar des IFA W50 die Straße entlang und kam vor uns zum stehen. Das Fahrzeug, ein Lastkraftwagen aus DDR-Zeiten, verfügte über eine 10-sitzige Fahrerkabine und eine schwenkbare Schneeräumschaufel vor der Motorhaube. Damit würden wir zwar laut, aber sicher fahren können und unter anstürmenden Schlurfern ziemliches Unheil anrichten.

»Vollgetankt, was für ein Glück«, jubelte Eugen vom Fahrersitz herunter.

Zehn Minuten später saßen wir, alle unsere Sachen sicher verstaut, im Führerhaus und fuhren in Richtung Pirna davon.

Keine weiteren zehn Minuten vergingen und Eugen stoppte das Fahrzeug abrupt.

»Das ist ja wie eine schwarze Wand«, beobachtete Fritz.

»Das sinte viele mehre als Hunderte«, fügte Eddi hinzu.

Über ein Feld liefen hunderte, vielleicht tausende Untote direkt auf uns zu. Eine solche große Horde hatten wir bisher nie zu Gesicht bekommen. Die Gruppen wurden immer größer. Schon seit Monaten stellten wir das fest. Wir führten das darauf zurück, dass immer mehr Schlurfer, die zunächst in den Gebäuden festhingen, einen Weg hinaus entdeckten. Jetzt sahen wir das Ergebnis. Und wir hörten es. Das Gejaule und hungrige Grunzen aus Unmengen Kehlen schwoll zu einem alles übertönendes Geheule an, als die Meute uns entdeckte.

»Nach links«, rief ich Eugen zu.

Das Stoppelfeld auf der rechten Seite verwandelte sich ebenfalls in eine sich auf uns zu bewegende Bande.

Auch von der anderen Seite tauchten jetzt Schlurfer auf, zum Glück aber nicht so viele wie von den anderen Seiten. Das Gaspedal durchgedrückt donnerte der W50 jetzt auf diese Kreaturen zu. Sie besaßen gegen unsere Schneeräumschaufel nicht den Hauch einer Chance. Ein oder zwei Dutzend endgültig Tote ließen wir zurück und der W50 fuhr gottlob schnell genug, um der nachrückenden Horde leicht zu entkommen.

»Wenn die nach Königstein kommen...«, sagte Fiona nachdenklich und voller Sorge.

»Die kommen da nicht hoch, egal wie viele das sind.«

Allen saß der Schreck im Nacken. Das konnte ich bei einem erneuten Blick in die Gesichter meiner Mitreisenden feststellen. Es bestand eben doch ein Unterschied zwischen der Situation, in einer sicheren Festung zu sitzen und von Berg hinabzuschauen und der, sich den Untoten direkt gegenüberzusehen.

Ich warf einen zweiten Blick auf Eugen. Das war schon eine komische Type. Nicht lange bevor wir damals Königstein erreichten, lernten wir ihn kennen und hielten ihn alle schnell für einen seltsamen Vogel. Mal zeigte er sich zu Tode betrübt, um eine Sekunde später himmelhochjauchzend wie ein kleines Kind umherzuspringen. Viel von seiner Vergangenheit erfuhren wir nicht von ihm. Wir kannten sein Alter, 46 Jahre, und wir wussten, er arbeitete bevor die Katastrophe über uns alle hereinbrach als Elektroingenieur in der Nähe von Dresden. Das war schon alles. Aber egal wie bekloppt Eugen auch daherkam, man konnte sich auf ihn ohne Wenn und Aber jederzeit verlassen.

Jetzt schoss unser Gefährt, von Eugen gesteuert, über eine enge Landstraße gen Westen. Wir wollten die Autobahn erreichen und auf ihr die großen Städte Pirna und Dresden, in denen wir besonders viele Untote vermuteten, so gut es ging umgehen.

»Seht euch diese Rauchsäule an«, störte Fritz die Stille und wies in Richtung Westen.

»Die hätten wir von Königstein auch sehen müssen, haben wir aber nicht. Das kann noch nicht lange brennen«, meinte Fiona.

»Das müsse wir herausbekomme, vielleichte isse da der Flieger gestürzte«, gab Eddi seine Meinung ab.

»Das kann nicht sein«, sagte Eugen, »der ist in eine ganz andere Richtung geflogen und nicht zurückgekommen.«

»Dein Wort in Gottes Ohr«, erwiderte ich.

Hoffentlich erlosch da nicht gerade der letzte Funken unserer Hoffnung, dachte ich und verspürte in mir eine gesteigerte Unruhe. Der Wunsch, doch ein anderes Leben zu finden, als es uns Königstein bot, wuchs in mir unaufhaltsam von Tag zu Tag.

(8)

Marlenes Angreifer und Marlene selbst kamen auf den Stufen zur Haustür, direkt neben der dort bereits sitzenden Leiche, zu Fall. Der widerliche Schlurfer lechzte danach Marlene zu beißen. Sabber lief seine Mundwinkel hinab. Doch Marlene gelang es ihre linke Hand um den Hals des Untoten zu legen und ihn auf Distanz zu halten. Weitere klebrige Flüssigkeiten trieften dem Untoten aus dem Mund. Dabei stieß er gierige, gurgelnde Laute aus. Verzweifelt sah sich Marlene um. Ewig würde sie nicht die Kraft aufbringen können, den Angreifer mit ausgestrecktem Arm auf Abstand zu halten.

Von Rechts rückte jetzt die Meute von Schlurfern heran, die Marlene vorhin schon am Ende der Straße hatte ausmachen können. Ihr würden noch zwanzig oder dreißig Sekunden verbleiben, bevor sie sich auf sie werfen und ihr den Rest geben würden.

Links, was war links? Nichts! Marlene geriet nun doch mehr und mehr in Panik. Das Gegröle der anrückenden Untoten wurde immer triumphaler und derjenige, der über Marlene gebeugt lag, grunzte ebenfalls siegesgewiss.

Da, der Tote auf der Treppe geriet in Marlenes Blickfeld. Steckte da nicht ein Kugelschreiber in seiner Jacke? Marlene angelte nach dem Stift und bekam ihn tatsächlich zu fassen. Mit einem Ruck stieß sie dem Untoten über ihr den Schreiber in die weiche Schläfe. Dieser riss seine trüben Augen weit auf und sackte, nun endgültig tot über, Marlene zusammen.

Da hasteten auch schon die ersten Bestien aus der Meute heran und versuchten Marlene zu erwischen. Der Gestank, den sie verströmten, drang unerträglich in ihre Nase. Doch diesmal zeigte sich Marlene schneller und vor allem geschickter als zuvor. Bei dem Versuch den Schlüssel ins Schloss der Haustür zu schieben, zitterte sie nicht. Selbst darüber verwundert, öffnete Marlene die Tür und warf sie rechtzeitig hinter sich zu. Ihre enttäuschten Verfolger hämmerten mit ihren Fäusten gegen die Haustür, vergebens.

Marlene lehnte sich neben dem blechernen Briefkasten an die Wand und atmete tief durch. Eine Sekunde kam ihr der Gedanke, nach Post zu sehen. Dann verwarf sie den lächerlichen Gedanken schnell wieder.

Schließlich lag das im Dunkeln liegende Treppenhaus hinter ihr. Endlich stand sie vor ihrer Wohnungstür. Nun wurden Marlene doch die Knie weich. Sie zitterte heftig am ganzen Körper. Wer oder Was würde sie hinter der Tür erwarten?

Wieder steckte sie einen Schlüssel in ein Türschloss und lauschte vorsichtig ins Wohnungsinnere, bevor sie den Schlüssel drehte. Hörte sie da etwas?