Todesregion Deutschland 4 - S. K. Reyem - E-Book

Todesregion Deutschland 4 E-Book

S. K. Reyem

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Beschreibung

Die Untoten raffen sich zu riesigen Horden zusammen. Sie überrennen menschliche Behausungen und treiben letzte Überlebende vor sich her, die verzweifelt nach Rettung und einem sicheren Unterschlupf suchen. Die Menschen, die immer noch ahnungslos und ohne Nachricht von ihren Freunden und Verwandten auf der Festung ausharren, hoffen auf die baldige Rückkehr dieser. Dieselben setzen alles daran, ihre Versprechen zu erfüllen. Doch die sich mehr und mehr verändernden Untoten mahnen zur Eile.

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Epilog

Prolog

Durch die bunten Fenster der Kirche drang nur spärliches Licht in das Kirchschiff. Sie waren zudem mit Bettlaken abgehangen. Der alte Mann auf der Kanzel erhob mahnend den Zeigefinger. Im schwarzen Ornat gekleidet, wirkte er bedrohlich.

»Diejenigen«, rief er und kniff die Augen zusammen, »die geglaubt haben, das Problem erledige sich von selbst, man müsse nur lange genug warten, die sehen sich jetzt getäuscht. Zwanzig Jahre nach Ausbruch der Apokalypse bevölkern noch anhaltend Heerscharen von Untoten die Welt. Gottes Strafe ist nicht vorbei.«

Der Geistliche senkte seine Finger. Er schob stattdessen sein Kinn nach vorne.

»Die Kreaturen des Teufels sind nicht verwitterter als zu Beginn ihrer Zeit. Die Ausgeburten der Hölle bewegten sich heute schneller als früher, nicht langsamer. Zu riesigen Gruppen zieht Satan seine Jünger zusammen. Das Schlimmste aber, der Höllenfürst findet stets frische Nahrung.«

Die wenigen Menschen, die sich in der Kirche aufhielten, duckten sich weg. Niemand wollte es wagen, direkt von dem Mann auf der Kanzel angesprochen zu werden. Der schaute sich mit funkelnden Augen um und fuhr mit seiner Predigt fort.

»Nur mit Gottes Hilfe seid ihr in der glücklichen Lage gewesen, bis heute zu überleben. Aber ihr werdet euch hüten müssen. Ständig größer werden die Horden. Sie stehen den Kindern des Allmächtigen gegenüber. Diese Rudel drückten eure Palisaden und Tore mit dem Druck der Masse und der Macht des Teufels ein. Dann fallen sie über euch Sünder her. Höret meine Worte. Es sind die Versprechen Gottes. Die Zeit ist gekommen, sich von Neuem auf den Weg des Herrn zu begeben. Er bietet euch die Schutzräume, die ihr braucht.«

Vier Messdiener schwangen große Weihrauchfässer. Die Gefäße wurden jeweils von den Jungen an langen Ketten getragen. Der würzige Duft des räuchernden Harzes erfüllte den gesamten Raum.

»Ohne die Hilfe des Herrn sind für euch die Straßen und Brücken nicht mehr passierbar. Eure Behausungen, die euch früher Schutz geboten haben, hat die Natur zurückerobert. Der brüchige Asphalt der Straßen ist von Sträuchern überwuchert. Die Brücken sind eingestürzt. Häuser sind eingefallen. Die Farben der Sterblichen sind vom Erdboden getilgt. Das Grau des Betons ist weg. Das Grün und Braun der Natur beherrscht das Bild der Erde. Aber lasst euch nicht täuschen. Das ist Luzifers Falle. Nur wenigen Menschen, solchen wie ihr es seid, war es bis heute gelungen, eine sichere Bleibe zu finden. Diese gewährten euch ein friedliches Leben. Aber habt ihr es dem Herrn gedankt? Nein, das habt ihr nicht. Ihr habt seine Vergeltung heraufbeschworen. Eure Wohnstätten sind zur Stunde das Ziel der Untoten. Betet für eure Rettung.«

Der Geistliche griff nach einem Glas Wasser. Er nahm einen tiefen Schluck. Im Anschluss daran warf einen abwertenden Blick auf seine Gemeinde.

»Sehet eure Erbärmlichkeit. Zu Beginn der Katastrophe saht ihr euch den untoten Kreaturen gegenüber. Im Angesicht des Teufels hieltet ihr zwangsläufig zusammen. So hat es dem Herrn gefallen. Neue Gruppen und Kolonien waren so entstanden. Hier der Mensch, dort die Bestie. Doch mittlerweile hat Luzifer die Überhand gewonnen. Der Mensch wurde selbst zum Monstrum. Ihr seid verdammt. Ihr steht in Sachen Blutdurst den verteufelten Untoten in nichts nach. Der Mensch kämpft gegen den Menschen. Und der Mensch kämpft gegen den Untoten. Dadurch werdet ihr zur Beute des Antichristen. Die Langsamen und Schwachen fallen ihm zuerst zum Opfer. Ihnen folgen die Gutgläubigen und Unvorsichtigen. Dann kommen die chronisch Kranken. Ihnen hat Satan die Medikamente genommen. Aber auch die Friedfertigen müssen leiden. Ihnen mangelt es an ausreichender Brutalität. Sie wehren sich nicht. Und dann sind alle anderen an der Reihe. Der jüngste Tag ist gekommen. Flieht ihr Ungläubigen. Rennt in die Welt! Ihr werden dem Teufel nicht entkommen.«

Der Mann auf der Kanzel schleuderte wild sein Haupt hin und her. Er streckte beide Hände gen Himmel. Seine Stimme brach.

Die Menschen hatten ihm bisher zugehört. Nun verließen sie fluchtartig das düstere Gotteshaus. Sie kannten die Ausbrüche ihres Pfarrers zu Genüge. Ihre Sorgen mit der konstant größer werdenden Übermacht der Untoten löste das nicht.

(1)

Bernd versuchte, den dichten Nebel, der seit Tagen die Festung umgab, zu durchdringen. Es war unmöglich geworden, etwas außerhalb der Burg zu erkennen, geschweige denn ins Tal hinabzublicken. Bernd nahm einen feinen, süßlichen Geruch wahr, der tief in die Nasen drang. Schlurfer mussten sich in der Umgebung aufhalten.

Er dachte an die Freunde, die sich vor sieben Monaten auf den Weg der Ungewissheit begeben hatten. Sie wollten die verschwundenen Kinder und Jugendlichen suchen. Seitdem hatte man nichts mehr von ihnen gehört. Der Boss der Siedlung, Marc, der lange Fritz, der Italiener Eddi und Willi aus dem Pott, der eigensinnige Ebenezer Arissi, Bernhard der Pilot, die Bogenschützen Thorben und Paula. Sie alle blieben verschollen. Von den jungen Ausreißern fehlte ebenfalls jede Spur.

Bernds Blick verfinsterte sich. Die Leute hier hatten alles versucht, sich nicht von ihren Sorgen herunterziehen zu lassen. Sie erstickten ihren Kummer lieber in Arbeit. Dem einen war das gelungen, dem anderen nicht.

»Diese Unwissenheit. Man weiß nicht, ob was geschehen ist. Ob die noch leben oder sonst was. Das frist so an den Nerven«, sagte Bernd.

Sein Freund Mahmut, der Bernd heute begleitete, schaute auf.

»Mein Junge ist auch weg. Ich halte das kaum aus. Aber vor allem die Mütter von den Weggelaufenen tun mir leid. Ich könnte heulen, wenn die sich jeden Abend treffen, um gemeinsam den Verlust zu verarbeiten. Ständig sehe ich sie, wie sie ihre Blicke in die Ferne schweifen lassen. Das ist so traurig.«.

Bernd pustete durch. Sein Freund Mahmut hatten mit ihm gemeinsam in Marcs Abwesenheit die Führung übernommen.

»Die kommen mit Sicherheit alle nach Hause zurück. Wir müssen hier weiter unser Bestes geben. Die Versorgung mit Lebensmitteln und Wasser ist zwar spärlich, trotz alledem nach wie vor gesichert. Der alte Brunnen in der Mitte der Festung funktioniert. Auf den Feldern haben wir eine reichliche Ernte. Sorgen machen mir nur die zur Neige gehenden Arzneimittel.«

»Stimmt«, antwortete Mahmut, »die Haltbarkeit der letzten Schmerztablette war schon lange abgelaufen. Weißt du noch? Grete hatte die bekommen. Was hatte die Zahnschmerzen. Das konnte sie kaum aushalten.«

»Jau, stimmt. Ich weiß gar nicht, wie wir das regeln sollen.«

»Weiß ich auch nicht«, bestätigte Mahmut, »habe keine Idee. Wir haben absolut nichts mehr, keine einzige Pille. Auch wenn die schon lange nicht mehr gewirkt haben. Jetzt kann man sich noch nicht mal mehr einbilden, dass die hilft.«

Bernd saß in einem der kleinen Ausgucke, die rund um die Festung aufgebaut worden waren. Von seinem zwei Meter hohen Holzgestell konnte er, wenn es keinen Nebel gab, die Umgebung weit überblicken. Ab und an warf er einen Blick auf seinen Freund. Der war damit beschäftigt, unterhalb des Gestells Feuerholz zu schlagen.

»Ich glaub, ich sehe was«, rief Bernd.

Er sprang aufgeregt von einem Fuß auf den anderen.

»Was willst du denn gesehen haben. Ist doch überall Nebel. Hast wohl zu viele Pillen geschluckt«, widersprach Mahmut.

»Wirklich, da war was. Im Ernst. Da bin ich mir sicher.«

Bernd ignorierte die Anspielung auf die Pillen.

»Vielleicht nur ein paar Schlurfer. Stinkt ja genug nach denen.«

»Nein, das waren keine Schlurfer. Die Bewegungen waren viel zu schnell.«

Bernd kniff die Augen zusammen. Er versuchte, durch die Nebelschwaden etwas zu erkennen. Doch so angestrengter er nach Bewegungen suchte, um so mehr davon gaukelte ihm sein Gehirn vor. Tiere hatten sie lange nicht mehr gesehen. Ein frischer Braten würde ihnen guttun. Menschen dagegen bedeuteten Gefahr.

Es ärgerte ihn. Mahmut nahm seinen Alarm nicht ernst. Er beschäftigte sich lieber damit, einen beim letzten Sturm umgefallenen Baum in seine Einzelteile zu zerlegen. Schwitzend hieb er seine Axt ein ums andere Mal in das Holz.

Bernd warf immer wieder einen mürrischen Blick herüber. Er dachte an den nächsten Winter. Wenigstens würde ihnen das Brennholz helfen, die Gemeinschaftsräume ausreichend zu heizen.

»Hey Freunde! Ist jemand da oben? Kann mich wer hören?«, drang unvermittelt eine deutlich zu vernehmende Männerstimme durch den Nebel zu ihnen empor.

Bernd zuckte zusammen. Er sah zu Mahmut. Der stoppte seine Arbeit. Er ließ seine Axt an Ort und Stelle fallen. Beide griffen zu ihren Bögen und zogen Pfeile aus dem Köcher. Man wusste ja nie.

Auf dem Vorplatz der Festung zeigte sich zwischen den Nebelschwaden eine kaum zu erkennende, große, schlanke Gestalt. Sie wedelte mit beiden Armen. Neben zerrissenen Hosen trug die Person einen schmutzigen Kapuzenpullover. Die Kapuze hatte sie sich über den Kopf und tief ins Gesicht gezogen.

»Ist der dunkelhäutig?«, fragte Mahmut, der mittlerweile den Stand von Bernd erklettert hatte.

Seine Pfeilspitze in seinem gespannten Bogen zeigt auf die Brust des Fremden.

»Sieht aus wie Ebenezer Arissi«, antwortete Bernd, bevor er seinen Bogen fallen ließ und ein Lachen über sein Gesicht huschte.

Der Mann mit der Kapuze enthüllte sein Gesicht. Es zeigte ein breites Grinsen. Weitere Personen kamen aus den Gebüschen hinter dem dunkelhäutigen Mann hervor.

Da war Mahmut schon lange vom Hochstand gesprungen. Zwischen den Häusern hörte Bernd sein Geschrei.

»Sie sind zurück! Sie sind wieder da!«

Serife, Mahmuts Frau, sah sich um. Alle waren sie zusammengelaufen. Sie warteten ungeduldig auf diejenigen, die in diesem Augenblick den steilen Aufstieg vom unteren Tor durch den dunklen Gang zur Festung emporstiegen. Der beißende Geruch der Nervosität lag in der Luft.

Serife hielt Ausschau nach ihrem Sohn Karim. Sie strich sich mit zitternden Händen durchs Haar. Im dämmerigen Licht des Tunnels konnte sie nichts recht erkennen.

»Ob Karim dabei ist? Ich weiß nicht, wie ich reagiere«, murmelte sie vor sich hin, »ich geb dem gleich eine Tracht Prügel. Einfach so abzuhauen und die Jüngeren auch noch mitzunehmen. Wie unverantwortlich ist der? Wenn er nur dabei ist. Ich nehm den gleich in den Arm.«

Ihr Blick wanderte zu Bärbel, Jenny und Isa. Denen geht‘s nicht anders als mir, dachte sie. Serife hustete heftig. Ihr Asthma meldete sich. Die muffige Feuchtigkeit des Gangs schlug ihr auf die Bronchien.

Ebenezer war der Erste, der den Weg hinaufkam. Serifes Augen suchten erwartungsvoll den dunklen Gang ab. Dem großen Mann folgten vier weitere Personen.

Nur vier? Die waren insgesamt neunzehn. Da ist was Fürchterliches geschehen. Oh nein!

Ein stummer Schrei fuhr durch ihren Körper. Serife wurde erneut von einem heftigen Hustenanfall geschüttelt. Diesmal vor Aufregung. Sie machte einen Schritt nach vorne. Auch die anderen Mütter hielt es nicht mehr an ihren Plätzen. Alle umringten Ebenezer.

»Ruhig Blut«, sagte dieser in seiner unnachahmlich bedächtigen Art, »ich erzähle euch ja alles.«

»Karim!«

Serife hatte unter den anderen Ankömmlingen ihren Sohn entdeckt. Sie stürmte auf ihn zu, zog ihn an sich und drückte ihn nach Leibeskräften. Und der Junge drückte seine Mutter. Tränen flossen.

Über die Schulter ihres Sohnes hinweg fiel Serifes Blick auf Bärbel. Sie fand niemanden ihrer Lieben und war auf die Knie gesunken. Sie weinte. Weder Mann noch Sohn waren zurückgekehrt. Glück um den wiedergewonnenen Sohn und Mitleid für die Mütter, deren Kinder nicht hier waren, wechselten sich in stets schnellerer Folge bei Serife ab.

Jenny, Ebenezers Frau, zog wie irre und ohne Pause an dessen Kapuzenpullover. Sie schrie den Namen ihrer Tochter heraus.

»Andrea? Wo ist Andrea?«

»Ist gut Schatz, ist gut, sie lebt.«

Er strich seiner Frau dabei liebevoll über den Kopf.

Isa, die genauso wie Bärbel, ihre Tochter und ihren Mann nicht fand, starrte mit weit aufgerissenen Augen den Aufgang zur Festung hinab. Ihrem leeren Blick sah Serife an, dass sie ihre Umgebung nicht mehr wahrnahm.

Alle redeten jetzt wild durcheinander. Sie mussten wissen, was mit den anderen Freunden geschehen war.

»Bleibt ruhig Leute«, rief Ebenezer so laut er konnte, »Es ist schlimm. Aber bei weitem nicht so fürchterlich, wie es derzeit gerade aussieht.«

Die beiden, von allen geschätzten Rückkehrer Eddi und Willi, gaben ihr Bestes. Der Reihe nach nahmen sie ihre Freunde in den Arm, um sie zu begrüßen und zu beschwichtigen.

Zwanzig Minuten später trafen sich alle im großen Saal. Mahmut hatte, vor Glück strahlend, neben seiner Frau Serife und seinem Freund Bernd platzgenommen. Er wollte im Erdboden versinken. Wie konnte er nur so glücklich sein. Sein Sohn war zurückgekehrt. Aber was war mit Mona, der Tochter seines Freundes Bernd, geschehen? Er hatte Angst vor den Worten, die sie nun zu hören bekommen würden. Mahmut sah sich um. Alle warteten aufgeregt darauf, was Ebenezer und die anderen zu berichten hatten. Wie ein aufgescheuchtes Huhn rannte Bärbel im hinteren Teil des Saals auf und ab.

Wenn Marc bloß nur hier wäre, dachte er.

Ebenezer fand sich auf der kleinen Bühne, an der Kopfseite des Saals, ein. Frisch gewaschen und umgezogen zögerte er keine Sekunde.

»Die schlechten Nachrichten gleich vorweg«, startete er seine Schilderungen, »ich kann es euch nur sagen, wie es ist. Fünf unserer Freunde sind tot. Marvin starb, Torben, Paula und ihre beiden Kinder Paul und Irma haben auch ihr Leben lassen müssen.«

Entsetzte Aufschreie im Saal, der eine oder andere brach in Tränen aus. Mahmut sah zu seinem Freund. Bernd hielt sich eine Hand vor die Augen. Ein pochender Kopfschmerz machte sich in Mahmuts Hirn breit.

Fünf Tote. Wo waren die anderen? Zum Glück haben die Toten keine direkten Verwandten mehr hier.

Mahmut erschrak vor den eigenen Gedanken und schämte sich zugleich dafür.

»Alle anderen leben. Zumindest taten sie das, als wir uns getrennt haben. Also, nachdem wir uns auf den Weg gemacht hatten ...«

Ebenezer erzählte ihre Erlebnisse. Auf wen sie trafen, wo sie schliefen, wie sie kämpften, wie die Freunde starben, was sie aßen ... bis zu dem Tag, an dem sie sich entschieden hatten, sich zu trennen.

»Dann haben wir uns entschieden, zur Festung zurückzukehren. Zu Beginn waren Emma und Bernhard noch bei uns. Emma nörgelte so lange herum, bis Bernhard beschloss, sich trotz allem lieber den anderen anzuschließen. Die waren da schon ein Stück weg. Ob sie es zu ihnen geschafft haben, wissen wir nicht.«

Der Aufschrei von Isa hallte durch den ganzen Saal. Mahmut schossen, wie allen anderen Anwesenden, die Tränen in die Augen. Wieder dachte er an Marc.

Der hätte gewusst, was in dieser Lage zutun wäre.

Ebenezer fuhr mit seiner Rede fort.

»Auf dem weiteren Weg hierhin ist es uns zum Glück gelungen, den Schlurfern meistens auszuweichen. Nur einmal sind Willi und Eddi vorgegangen. Sie sind in eine Meute von Untoten geraten. Das waren mehrere tausend Kreaturen. So große Horden hatten wir zuvor nur selten gesehen. Die beiden sind jedenfalls rechtzeitig weggerannt. Fast jeden Tag konnten wir später solche mächtigen Gruppen beobachten. Die raffen sich überall zusammen. Werden ständig mehr. Für die Festung kein großes Problem. Wenn die hierhin kommen, ... wir sollten unbedingt das untere Tor verstärken.«

Langsam wich die Anspannung. Von allen Ecken war Gemurmel und wildes Getuschel zu hören. Mahmut besprach mit Bernd die Lage. Marvin hatte ohne Familie auf der Festung gelebt. Torbens Familie war komplett ausgelöscht worden. So trauerten keine Familienangehörigen um sie. Trotzdem handelte es sich um geliebte Freunde. In den Augen der Festungsbewohner stand stille Trauer über die Verlorenen und Hoffnung für die Vermissten. Jegliche menschlichen Gefühle bahnten sich ihren Weg.

Es dauerte Stunden, bis jede Einzelheit erzählt und jedwede Frage beantwortet worden war.

Mahmut interessierte sich am meisten für den Weg, den die andere Gruppe eingenommen hatte. Bestand da Hoffnung? Die Mütter, die ihre Männer und Kinder vermissten, wollten alles darüber wissen, obwohl Ebenezer dazu auch nicht mehr zu erzählen wusste.

Mahmut stieß Bernd sanft in die Seite. Der drehte sich mit überraschtem Gesichtsausdruck seinem Freund zu.

»Ab morgen wird alles anders.«

»Wieso, was sollte sich ändern? Die sind wieder da. Das ist super. Wir warten weiter auf Mona. Aber sonst ...«

»Ist doch klar. Bisher dachten wir, alle könnten tot sein. Sei ehrlich. Daran hast du sicher auch gedacht. Jetzt ist die Hoffnung da. Wir warten ab nun einmal mehr darauf, dass sie alle zurückkommen. Und wenn sie es tatsächlich geschafft haben sollten, wie stehen sie dann eines Tages vor unserem Tor? Komm, lass uns alles für unsere Abreise vorbereiten. Ich hab das im Gefühl.«

(2)

Unweit von seinem Bunker, auf einem Stein, hatte Georg sich niedergelassen. Er streckte seine Beine aus und reckte sich. Von hier aus hatte er vor Wochen auch den kleinen Trupp von Menschen beobachtet. Uneingeladen hatten sie sich in seiner Behausung breitgemacht. Später hatten sie sich entschieden, in zwei Gruppen in verschiedene Richtungen abzuwandern. Ein einschneidendes Erlebnis für ihn. Das Zusammenspiel der Mitglieder des Trupps hatte Georg besonders interessant gefunden und tat es noch immer. Zwischen ihnen schien es etwas zu geben, dass nicht ausgesprochen werden musste. Sie verstanden sich blind. Faszinierend. So ein Miteinander hatte er bisher nicht erlebt. Auch der etwa sechzigjährige, seelenruhig bleibende Anführer der Menschen hatte ihn tief beeindruckt. In seinen Augen hatte Georg etwas gelesen, das ihn an frühere Zeiten erinnerte. Echte Fußballfans schauten so nach einer Niederlage. Eine Eigentümlichkeit, die nur Fußballanhänger verstanden. Das war jedoch lange her.

Georg griff sich an den Hals. Gedankenverloren streichelte er sein Tattoo – ein großes rotes Vereinsemblem mit den Worten „Nur der RWE“.

Wie durch einen Nebel nahm er die abrückenden Eindringlinge noch einmal wahr. Er stützte seinen Kopf mit beiden Armen auf seinen Oberschenkeln ab. Mit einem Seufzer verschwammen seine Gedanken. Sie wanderten zurück zu der Zeit, als alles begann.

„Georg,“ hatte seine Mutter ab und an gesagt. Dabei hatte sie gerne mahnend den Zeigefinger der rechten Hand gehoben, „mach so weiter, dann wirst du einsam und alleine enden.“

Wie recht sie gehabt hatte. Was sie damals nicht wissen konnte, er war gerne allein. Seit dem Tag, an dem er das letzte Mal seinem Hobby, dem Gleitschirmfliegen, nachgegangen war, hatte sich das nicht geändert. Bloß das wusste seine Mutter nicht. Er hatte sie seit damals nie wiedergesehen. Ob sie die Katastrophe überlebt hatte? Er wusste es nicht, konnte es nur hoffen. Kurzzeitig füllten sich Georgs Augen mit Tränen. Dann wanderten seine Gedanken zurück.

An dem Tag, an dem das Unheil seinen Lauf nahm, hatte er seinen Gleitschirm zusammengerafft. Er hatte sich seine Sachen geschnappt und sich auf den Weg zur Grundhütte aufgemacht. Der Wetterbericht hatte den Durchzug einer größeren Wolke mit Nieselregen angesagt. Der hatte er ausweichen wollen. Der Verzehr eines Kaiserschmarrn aus Luises Küche in der Berghütte hatte über die Wartezeit hinweggeholfen. Die anderen hatten derweil in der Schlange gestanden, um sich mit ihren Gleitschirmen noch vor dem Wetterwechsel ins Tal zu stürzen. Er hatte dagegen abwarten können. Mit den anderen Fliegern wollte er damals schon nichts zu tun haben. Sie interessierten ihn nicht und sie gingen ihn nichts an. In jenen Tagen nicht und heute, nach der Katastrophe schon gar nicht.

Diese Hütte, der Berg, das Tal. Ein Mekka für Gleitschirmflieger. Jede freie Minute hatte er genutzt, um die siebenhundert Kilometer zwischen seinem Wohnort in Essen und diesem Tal zurückzulegen.

Neue Freunde beim Sport finden? Das hatte seine Mutter erwartet. Ihn kümmerte das herzlich wenig. Seine Familie hatte er ebenso gemieden, wo es ging. Er hatte eine Stiefschwester, die er durchaus gern hatte, mehr aber auch nicht. Er liebte die Einsamkeit. Größere Menschenansammlungen stießen ihn ab. Damals wie heute.

Georg schaute auf seine alles andere als sauberen Fingernägeln herab. Warum mochte er die Menschen denn nicht? Manchen hatte er durchaus gut leiden können. Hatte er sich das Ganze etwa nur eingeredet? Seine Gedanken rutschten erneut in die Vergangenheit ab.

Es hatte nur ein einziger Ort existiert, an dem ihn große Menschenmengen nicht gestört hatten – das Stadion seines Heimatvereins Rot-Weiss Essen. Im Fußballstadion hatte es sich wohlgefühlt. Das war sein Wohnzimmer. Es hatte ihn ebenso belebt, wie die Zeiten, in denen er mit seinem Gleitschirm über die Landschaften geschwebt war. Vielleicht sogar noch mehr.

Georg konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Er griff erneut an seinen Hals. Von seinem bewegten Leben in der Fanszene dieses Vereins zeugte das große Tattoo. Es zierte die komplette rechte Seite des Halses.

Vor seinem geistigen Auge erschienen erneut die Menschen, die sich vor seinem Bunker voneinander verabschiedet hatten. Ihr Führer hatte ihn fasziniert. Wo wollte er mit seinen Leuten hin? Nach Norden? Und die anderen, die nicht mit ihm gehen wollten? Wie hieß der Ort noch mal? Der Name der Festung wollte ihm einfach nicht einfallen. Kaiserstein? Königshütte? Irgendwie so ähnlich.

Hütte. Das beförderte seine Gedanken zur Grundhütte zurück. Sie wanderten nochmals zu dem Tag, an dem das Unheil seinen Lauf genommen hatte.

An der Grundhütte angekommen, hatte er sich nach einem Tisch umgeschaut, an dem er allein sitzen konnte. Eben genau so, wie er sich am wohlsten gefühlt hatte. Nach einer Weile hatten die anderen Gäste die Berghütte verlassen. Luise hatte ihm ihren berühmten Kaiserschmarrn serviert. Sie war dann ebenso verschwunden, wie die letzten Besucher, die sich zur Seilbahn aufgemacht hatten. Der Schankraum war menschenleer. So hatte er das geliebt. Schön allein. Es hatte ihm nichts ausgemacht. Er hatte sich wohlgefühlt. Die Aussicht durch die Scheibe hatte ihm gezeigt, dass draußen der erwartete Nieselregen eingesetzt hatte.

Sein Blick fiel auf die hölzerne Tischplatte vor ihm. Holzwürmer hatten hier ihre Wege geformt. Georg lächelte. Wie oft hatte er sich auf dem Holzweg befunden? Er hatte über die eine oder andere verschmähte Liebe seiner Jugend nachgedacht. Anika? In sie war er wohl am heftigsten verliebt gewesen. Sie hatte jedoch diesen hässlichen Typen aus der Jahrgangsklasse über ihnen angehimmelt. Na ja.

Ein paar Zeigerumdrehungen später hatte er erneut aufgeschaut. Vor ihm auf dem Tisch hatten ein leergefegter Teller und ein geleertes Glas Weizenbier gestanden. Georg hatte die dafür geschuldeten Euro dazugelegt. Sodann hatte er seine Sachen zusammengerafft. Durch die Eingangstür war er ins Freie getreten. Die Wolken mit dem Nieselregen hatten sich wie erwartet verzogen. Der trockene Boden hatte die wenige Flüssigkeit aufgesogen.

Diese Ruhe hatte er noch gedacht und sich gewundert, allein gewesen zu sein. Kein Mensch hatte sich in seiner Umgebung aufgehalten.

Eine leichte, über seine Haut streichende Brise hatte ein Schmunzeln in sein Gesicht gezaubert. Es waren die richtigen Bedingungen für einen Flug gewesen. So waren gut und gerne vierzig Minuten in der Luft zu erwarten.

Georg hatte den westlichen Startplatz erreicht und seinen Gleitschirm zurecht gezurrt. Er hatte ihn für den Start bereitgelegt und die einzelnen Seile mit dem dazugehörigen Sitz sowie seinem Geschirr verbunden. Alles wie sonst auch. Er hatte gegrinst.

Wie vor jedem Start hatte er den rechten Zeigefinger genüsslich in den Mund gesteckt und ihn mit Spucke befeuchtet. Dann hatte er die Augen geschlossen und den Finger steil in die Luft gehoben. Ja, das hatte gepasst.

Georg richtete seinen Blick zum Firmament. Damals war es genau die richtige Witterung. Ein Wetter wie heute.

Ein kurzer Zug an den Seilen war es nur gewesen. Der Gleitschirm hatte sich in die Lüfte erhoben. Georg hatte sich zum Abhang gedreht. Zwei, drei Schritte und der Gleitschirm war mit ihm davongesegelt. Rasch waren durch den Auftrieb zu den Höhenmetern am Startplatz weitere dreihundert Meter Höhe dazugekommen.

Am Ende des Tals waren Fahrzeuge mit Blaulicht in das Tal eingefahren.

Georg hatte das nicht weiter beachtet. Seine Aufmerksamkeit hatte einem anderen Gleitschirmflieger gehört, der eine Weile vor ihm gestartet sein musste. Offenbar hatte er die Kontrolle über sein Fluggerät verloren. Jetzt war er vollends ins Trudeln geraten und war die letzten hundert Meter wie ein Stein aus den Wolken gefallen. Der Schreck war Georg in die Glieder gefahren. Er hatte seine Blicke nicht mehr von der Szenerie lösen können. Zu seiner Verwunderung hatte sich der eben abgestürzte Kollege noch bewegt. Trotz des Sturzes aus dieser Höhe. Er hätte tot sein müssen.

Georg bemerkte zwei Fahrzeuge. Sie waren sich auf der Bundesstraße, die durch das Tal führte, begegnet. Quietschende Bremsen und ein lauter Knall, der entsteht, wenn Metall mit hoher Geschwindigkeit auf Metall trifft, hatten Georg dann aus seiner Starre gerissen. Die Autos waren einander nicht ausgewichen, hatten nicht ihre Richtung geändert, sondern waren frontal zusammengestoßen.

Georg strich über sein Kinn. Er konnte sich gut an seine Verwirrung von damals erinnern.

Was ist denn jetzt los, hatte er gedacht.

Er hatte da ja nicht im Ansatz ahnen können, was mit der Welt geschehen war, welche dramatischen Entwicklungen noch folgen sollten.

Georg hatte beobachtet, wie sich vier Personen der Unfallstelle genähert hatten. Sie hatten sich seltsam langsam bewegt, die Türen der Fahrzeuge geöffnet und die in den Autos befindlichen Menschen herausgezerrt. Das hatte so gar nicht nach erster Hilfe ausgesehen. Georg hatte das vollends verwirrt.

Ich sollte jetzt lieber schnell landen. Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht, hatte er gedacht.

Sein Fluggerät hatte sich schließlich dem Landeplatz genähert. Aus Richtung des nächsten Dorfs hatte sich eine größere Gruppe von Menschen auf den Weg zu ihm gemacht. Scheinbar hatten sich die Leute in den nahen Feldern verstecken wollen. Ein ebenso großer Trupp von Personen hatte die Verfolgung des ersten Pulks aufgenommen. Nur waren diese Gestalten in ihren Bewegungen deutlich langsamer. Dazu waren den Menschen dieser zweiten Gruppe seltsame, gurgelnde Laute entwichen.

Georg lachte auf, als er an seine eigene Unwissenheit in jenen Tagen zurückdachte. Nicht im Traum war er zum damaligen Zeitpunkt auf die Idee gekommen, dass dies Untote gewesen waren.

Die letzten beiden Leute der ersten Gruppe, zwei ältere Herrschaften, waren nicht in der körperlichen Verfassung ihren Hetzern zu entkommen. Georg hatte beobachtet, wie sie von ihren Verfolgern eingeholt und gegriffen worden waren. Dann hatte die Wiese, auf der die Alten gerade noch gestanden hatten, vor Blut getrieft. Ein leichter, süßlicher Geruch hatte in der Luft gehangen. Kalter Schweiß hatte sich auf seiner Stirn gebildet. Erst seine Hände und dann sein ganzer Körper hatten gezittert. Hektisch hatte er nach Auftrieb gesucht. Es war ihm gelungen. Sein Gleitschirm war neuerlich hoch in die Lüfte geglitten.

Minuten später hatte er sich allerdings nicht mehr länger in der Luft halten können. In der Ferne war das Tal fortwährend von zuckendem Blaulicht erhellt worden. Er hatte beschlossen zu landen. Am besten abseits vom Geschehen auf einer Wiese. Weiter hinten war der vorhin verunglückte Gleitschirmflieger mit seltsam anmutenden Bewegungen die Bundesstraße entlang gekrochen.

»Da bin ich ja froh. Ein Normaler. Oder sind Sie etwa auch verrückt, wie all die anderen?«, hatte Georg eine männliche Stimme kurz nach der Landung aufgeschreckt.

Der sich von hinten nähernde Mann hatte seine rechte Hand auf Georgs Schulter gelegt. Georg hatte von seinen Flugutensilien abgelassen und war angstvoll herumgewirbelt. Dabei war er ins Stolpern geraten und auf den Rücken gestürzt. Vor Georg stand, so ließ es seine Kleidung vermuten, ein Bauer aus der Gegend. Die offene Gürtelschnalle baumelte an seiner Hose herab. Mit einer Hand versuchte der Mann sein Beinkleid hochzuziehen. Ohne Unterlass zwinkerte der Bauer ihm mit seinem linken Auge zu. Sein von Falten zerfurchtes Gesicht wies darauf hin, dass er sich schon lange jenseits des Renteneintrittsalters befunden haben musste.

Georg konnte sich heute immer noch ganz genau an jedes einzelne gesprochene Wort erinnern.

»Das ist die Strafe, junger Mann. Jetzt kommen sie uns holen.«

»Was ist denn los? Wissen Sie, was hier abgeht? Wer holt uns ab? Was sollen wir denn angestellt haben?«

»Alle sind sie verrückt geworden. Der Holzerwirt, der von der Schänke da, kam über die Straße gelaufen. Er hat unserem Bürgermeister einfach so in den Unterarm gebissen. Der hat sich noch nicht einmal gewehrt, nur am ganzen Körper gezuckt. Kennen Sie den Bürgermeister? So ein Dicker. Kann man sich gar nicht vorstellen, was? Umgefallen ist er nicht oder so. Zusammen sind sie dann ins Rathaus gestolpert. Ja, gehen kann man das nicht nennen. Ich wollte gerade hinterher, da fiel einer ihrer Flieger-Kollegen ohne Vorwarnung einfach so vom Himmelszelt. Das hat nur so geklatscht. Da wusste ich nicht mehr, was ich tun sollte. Dann kam Albert, das ist unser Apotheker, auf mich zu. Den haben Sie bestimmt schon mal gesehen. Diese hohe Glatze? Blutüberströmt war der. Machte seinen Mund weit auf. Ich wollte gerade was sagen, da zerrte der an mir rum. Versuchte hat er, mich herunterzureißen und zu beißen. Ich hab mich losgerissen, hab meinen Gürtel aus der Hose gezogen und dem ordentlich einen übergebraten. Richtig verdroschen habe ich den. Dann bin ich weggelaufen.«

»Oh Gott Alter, beruhig dich erst einmal«, hatte er den Bauern zu beschwichtigen versucht, der ohne Luft zu holen, weitergesprochen hatte.

»Ich kann doch in diesen Minuten nicht ruhig sein«, hatte der Alte gesagt und sich mit dem Zeigefinger an den Kopf gepackt, »bist du denn total durch den Wind? Ich muss doch wohl nach Jutta sehen, oder haben Sie eine bessere Idee?«

Der Mann hatte sich abgewendet. Er war laut zeternd und kopfschüttelnd auf die nächsten Häuser zugelaufen. Alle zwei Schritte zog er an seiner Hose. Durch die Ablenkung des intensiven Gesprächs hatten er und Georg die drei Gestalten übersehen, die sich schlurfenden Schrittes genähert hatten. Der Bauer versuchte, noch auszuweichen. Trotzdem hatten sie ihn ergriffen. Drei, vier tiefe Bisswunden, in welche die Kreaturen ihre Hände gestoßen und heftig an dem gezerrt hatten, was sie zu fassen bekommen hatten. Der Bauer hatte sich nach Leibeskräften gewehrt. Schreiend vor Schmerzen und Panik hatte er um sich geschlagen und getreten. Er hatte nicht den Hauch einer Chance besessen.

Georg hatte auf das Geschehen gestarrt, nicht in der Lage, dem Bauern zur Hilfe zu eilen. Wie angewurzelt hatte er dagestanden und das direkt vor ihm stattfindende Grauen wie in einem Film betrachtet.

Die drei Angreifer hatten sich an Blut und Fleisch des Bauern gelabt. Eine der drei Figuren hatte sich dann plötzlich zu Georg gewendet. Er hatte geglaubt, ein Lächeln im blutverschmierten Gesicht der Bestie erkannt zu haben. Der Mund des Scheusals hatte weit offen gestanden. Das dabei entstehende rülpsende Geräusch hatte Georg aus seiner Lethargie erwachen lassen. Er, der Bär von einem Mann, hatte sich umgedreht und war losgerannt – gerannt so schnell er es vermocht hatte. Endlich war er inmitten von Bäumen auf der nächsten Anhöhe aus dem Sichtfeld der ihm verfolgenden Kreaturen verschwunden. Nur weg von hier. Nur weg von den Menschen.

Georg riss es aus seinen Erinnerungen. Er dachte an die Fremden, die seinen Bunker bevölkert hatten. Sie waren schon lange, vor Wochen, abgezogen. Die Erlebnisse bei seinem letzten Gleitschirmsprung lagen sogar viele Jahre zurück. Trotzdem gab es Zusammenhänge. Seine grundsätzliche Einstellung und die Katastrophe hatten ihn die Einsamkeit getrieben. Aber war das wirklich die richtige Entscheidung gewesen? Es hätte ja auch schön sein können, mit der Gruppe zu ziehen. Ihr Anführer und er, sie hätten Freunde werden können. Gewiss sogar. Gemeinsam hätten sie was aufbauen können. Schöne Gedanken. In Erinnerungen schwelgen, führte zu nichts. Es wurde Zeit, sich aufzurappeln. Georg hatte einen Entschluss gefasst. Das Auftauchen der Fremden hatte ihn aus seiner eigenen Welt gerissen. Jahrelang hatte er allein gelebt. Hin und wieder war es zu einer Konfrontation mit den Untoten gekommen. Auf Lebende war er selten gestoßen. Nach Möglichkeit war er ihnen ausgewichen. Bis zu dem Tag, als er die von Untoten bedrohten Kinder in dem Bürogebäude entdeckte und eines von ihnen retten und mitnehmen konnte. Die Fremden hatten nach dem Kind gesucht. So waren sie zu ihm gekommen. Sie hatten es ihm nicht übel genommen, die Lage erkannt und sich für die Rettung bedankt. Das fühlte sich warm an. Im Großen und Ganzen jedenfalls hatte er ein einsames Leben gelebt. Das war bis hierhin gut gewesen. Aber nun sollte damit Schluss sein. Mit einem Mal hatte er eine darin steckende Langeweile verspürt. Mit einem Schlag sehnte er sich nach der Nähe anderer Menschen. Was hielt ihn noch hier? Die Fremden hatten von ihren Freunden auf einer Festung weiter im Südosten gesprochen. Georg hatte nicht richtig hingehört und den Namen vergessen. Es hatte ihn nicht interessiert.

Kaiserstein, oder so ähnlich. Klingt wie Kaiserschmarrn. Egal, ich versuche das.

Wie vor jedem Start mit dem Gleitschirm steckte Georg den rechten Zeigefinger genüsslich in den Mund. Er befeuchtete ihn mit Spucke. Dann schloss er die Augen, wie früher, hob den Finger steil in die Luft. Ja, das passte.

Mit breitem Grinsen stand Georg von seinem Baumstumpf auf. Rasch ging er zu seinem Bunker zurück. Dort packte er seine Sache in einen großen, orangen Rucksack zusammen. Insbesondere auf Nahrung und Bewaffnung legte er Wert. Am nächsten Morgen wollte er sich auf den Weg machen. Gen Südosten oder Osten sollte es gehen. Er würde diese Festung schon finden.

Mehr als neun Stunden nach seinem Aufbruch am Bunker näherte sich Georg einem Ortseingangsschild. Bisher hatte er es auf seinen Streifzügen vermieden, durch Ortschaften zu wandern. Zu groß war die Gefahr, Bestien zu begegnen, die sich in irgendeiner Hausecke versteckt hielten. Nur wenn es darum ging, irgendwelche Gegenstände zu finden, hatte er das Risiko auf sich genommen.

Aber seit geraumer Zeit war Eile geboten.

Eindeutige Geräusche, eben das unüberhörbare Gestöhne, tönten durch die Luft. Hinzu kam der kontinuierlich stärker werdende, alles überlagernde Geruch. Das hatte Georg veranlasst, der Sache auf den Grund zu gehen. Er hatte sich erinnert. Weinige Minuten zuvor hatte er neben einer Wiese einem baufälligen Hochstand gesehen.

Das Ding fällt gleich um, hatte er noch gedacht.

Also war er zurückgeschlichen. Schon dabei hatte er bemerkt, dass der Geruch ständig deutlich stärker wurde.

Typisch für viele Schlurfer in der Nähe.

Georg war den Hochstand hochgeklettert. Der wackelte bedenklich. Doch schließlich hatte er auf der Plattform vier Meter über der Erde gestanden. Einen größeren Überblick hatte ihm das nicht eingebracht. Was er gesehen hatte, hatte jedoch keinen Zweifel zugelassen. Zwischen den Bäumen an der anderen Seite der Wiese waren sie umher gestolpert. Unzählige Untote hatten sich direkt auf ihn zubewegt.

Gerade als er zu dem Schluss gekommen war, sie einfach an sich vorbeiziehen zu lassen und sich auf dem Hochsitz ruhig zu verhalten, hatte ein Krachen die Luft erfüllt. Die letzte heile Strebe des Hochstandes war unter seinem Gewicht gebrochen. Die Plattform war gefallen und Georg mit ihr. Außer einem stechenden Schmerz im rechten kleinen Zeh hatte er keine Blessuren davongetragen. Er war über die Wiese gekugelt. Zu guter Letzt war er auf dem Rücken zu liegen gekommen.

Die riesige Herde Untoter, die sich ihm von hinten genähert hatte, hatte das Krachen des brechenden Holzes ebenso gehört. Die ersten Geschöpfe waren aus dem Wald getreten und hatten sich nur noch wenige Meter von ihm entfernt befunden.