Verhängnisvolle Post - S. K. Reyem - E-Book

Verhängnisvolle Post E-Book

S. K. Reyem

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Beschreibung

Der eigentlich harmlose Walter ist bei der Auswahl eines Nebenjobs nicht wählerisch. Dadurch gerät er 1977 ungewollt in die Fänge der Abwehrdienste der beiden deutschen Staaten. Insbesondere die Behörden der Deutschen Demokratischen Republik jagen Walter wegen des Besitzes einer Ansichtskarte, dessen Hintergründe und Geheimnisse selbst Walter nicht kennt. 2008 gerät die Karte zufällig in die Hände von Dirk, Walters Neffen. Fortan versucht dieser, die Hintergründe der Karte und Walters damit verbundenes Schicksal zu ergründen. Dirk ahnt nicht, dass er damit alte, längst vergessene Probleme neu belebt und Walters ehemalige Verfolger erneut auf den Plan ruft. Auf seiner Flucht vor den Häschern gerät Dirk ein ums andere Mal in Gefahr und muss sich seiner Haut mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln erwehren.

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1: 03. Oktober 2008 in Essen

Kapitel 2: 17. April 1977 kurz vor Mittag in Halle an der Saale/DDR

Kapitel 3: 18. April 1977 kurz nach Mittag in Halle an der Saale/DDR

Kapitel 4: 03. Oktober 2008, am Nachmittag in Essen

Kapitel 5: 18. April 1977 kurz nach Mittag in Halle an der Saale/DDR

Kapitel 6: 8. Oktober 2008 in Essen

Kapitel 7: 18. April 1977 in Halle an der Saale/DDR

Kapitel 8: 8. Oktober 2008 in Essen

Kapitel 9: 18. April 1977 in Halle an der Saale/DDR

Kapitel 10: 11. Oktober 2008 in Essen

Kapitel 11: 19. April 1977 zwischen Halle an der Saale und Gera/DDR

Kapitel 12: 11. Oktober 2008, nachmittags in Essen

Kapitel 13: 19. April 1977 in Zeitz/DDR

Kapitel 14: 11. Oktober 2008, früh abends in Essen

Kapitel 15: 19. April 1977 in Zeitz/DDR, gegen Abend

Kapitel 16: 11. Oktober 2008, abends in Essen

Kapitel 17: 20. April 1977 in Salsitz und.../DDR

Kapitel 18: 11. Oktober 2008, spätabends in Essen

Kapitel 19: 21. April 1977 in Bürgel und.../DDR

Kapitel 20: 12. Oktober 2008, in Mülheim an der Ruhr

Kapitel 21: 22. April 1977 an der Zonengrenze/DDR

Kapitel 22: 12. Oktober 2008, abends im Sauerland

Kapitel 23: 22. April 1977, gegen Mittag an der Grenze/DDR

Kapitel 24: 13. Oktober 2008, Warstein

Kapitel 25: 28. April 1977, Klinikum Bad Hersfeld / und die Tage danach

Kapitel 26: 13. Oktober 2008, nachmittags in Warstein

Kapitel 27: 14. Oktober 2008, Kassel und Thüringen

Kapitel 28: 15. Oktober 2008, Harz

Kapitel 29: 16. Oktober 2008, später Nachmittag, Harz

Kapitel 30: 17. Oktober 2008, am Brocken

Kapitel 31: 17. und 18. Oktober 2008, am Brocken mit der Akte

Kapitel 32: 17. und 18. Oktober 2008, ein kleiner Ort in Thüringen

Kapitel 33: 18. Oktober 2008, Harz

Kapitel 34: 18. Oktober 2008, Anjas Weg

Kapitel 35: 18. Oktober 2008, Dirks Weg

Kapitel 36: 18. und 19. Oktober 2008, Anjas Weg

Kapitel 37: 18. Oktober 2008, Doris Mende in Frankfurt

Kapitel 38: 18. Oktober 2008, Dirks Weg

Kapitel 39: 19. Oktober 2008, Anjas Weg

Kapitel 40: 19. Oktober 2008, Krankenhaus Goslar

Kapitel 41: 20. Oktober 2008, Anjas Weg zur Presse

Kapitel 42: 20. Oktober 2008, Dirk nicht in Sicherheit

Kapitel 43: 20. Oktober 2008, Anja in Sicherheit

Kapitel 44: 20. Oktober 2008, Wernher in Aktion

Kapitel 45: 20. Oktober, abends, Dirk bei Roswitha

Kapitel 46: Ende Oktober 2008, Die Veröffentlichung und ihre Folgen

Kapitel 47: Letzte Dekade Oktober 2008, bei Udo in Thüringen

Kapitel 48: Oktober 2008, das große Wiedersehen

Schlusskapitel: Später einmal, bei Walter

Prolog

Er schlug seine Augen auf und sah sich in dem engen, weiß gestrichenen Zimmer, in dem er sich nun wiederfand, neugierig um. Es roch nach Krankenhaus. Mühsam versuchte er, sich daran zu erinnern, was geschehen war. Was war passiert? Wie war er hierher gekommen? Einen klaren Gedanken aber fasste sein Bewusstsein nicht.

Das Zimmer sah aus wie die kalten Zimmer in einem normalen Krankenhaus irgendwo in irgendeiner Stadt für gewöhnlich aussahen. Rechts neben seinem Krankenbett stand ein weiteres Bett, in dem jemand, mit dem Rücken zu ihm gewandt, lag.

Ihn selbst verbanden Kabel und Schläuche mit einigen Geräten, die unangenehme Geräusche von sich gaben und dessen Bildschirme für ihn unverständliche Kurven und nicht zu interpretierende Zahlenwerte zeigten.

Es roch nach Desinfektionsmitteln. Im Rücken seiner linken Hand steckte eine Flügelkanüle, deren hintere Verbindung wiederum über einen Schlauch zu einem Tropf führte, der hoch über seinem Kopf an einem Ständer hing. Einer seiner Oberschenkel fühlte sich vollkommen taub an, seine rechte Flanke schmerzte höllisch und sein Po, zumindest die eine Seite, brannte wie Feuer.

>>Was war bloß passiert?<<

Mitten in seine Erinnerungslücken hinein platzten zwei Herren, ein jüngerer mit seltsam hellen Haaren, ein älterer mit tiefschwarzen Haaren, offensichtlich Ärzte, was er an deren Kleidung und den mitgeführten Gerätschaften erkannte.

>>Hast du das Ding?<<, fragte der Jüngere.

>>Ja, die volle Dröhnung – Triptane, Serotonin und eine gehörige Portion Amphetamin und noch eine Prise Kokain<<, meinte der Ältere und setzte die Spritze an die Flügelkanüle.

Der Schmerz, den er bis gerade eben noch verspürte, war augenblicklich wie weggeflogen. Heiß durchfuhr es seine Adern. Er zuckte heftig mit seinem rechten Arm und seinem rechten Bein. Dann wurde es langsam, aber sicher, dunkel in ihm.

Ein letzter klarer, eigentlich unbedeutender Gedanke durchzuckte sein Hirn.

>>Die Karte! Hoffentlich wird sie irgendjemand mal finden.<<

Die beiden als Ärzte getarnten Männer verließen umgehend den Raum, um nur dreißig Sekunden später von anderen Ärzten und Schwestern abgelöst zu werden, die durch die alarmierenden Geräte, an denen er hing, herbeigerufen wurden.

Der Arzt mit dem grauen Vollbart wandte sich seinen drei Kollegen zu.

>>Sieht aus wie ein reversibles zerebrales Vasokonstriktionssyndrom. Waren bei ihm denn irgendwelche Risikofaktoren wie Migräne bekannt? Weiß jemand, ob er Antidepressiva oder Drogen genommen hat?<<

Die Ausführungen und Fragen des Chefarztes wurden jäh unterbrochen vom nächsten, schrillen Krankenalarm.

>>Kommt das nicht aus dem Zimmer der jungen Frau, die mit ihm eingeliefert wurde?<<

>>Sie ist tot<<, rief eine Schwester auf dem Gang.

Kapitel 1 03. Oktober 2008 in Essen

Eigentlich sollte es ein Feiertag werden, wie jeder andere auch - nicht schlecht, aber auch nicht irgendwie besonders. Niemand konnte ahnen, dass dieses Mal der 3. Oktober der Anfang eines, zumindest für als normal zu bezeichnende Menschen, spannenden Abenteuers werden würde. Die aufkommenden Ereignisse würden Dirk, sein ganzes Leben und seine Welt stark verändern.

Wie immer alle vierzehn Tage, befand sich Dirk auf dem Weg zu seinem Onkel Walter, dem Bruder seines Vaters. Es war ihm zu einer lieben Gewohnheit geworden, den Onkel, dem gesundheitlich so übel mitgespielt worden war, regelmäßig zu besuchen.

Onkel Walter erlitt vor nunmehr einunddreißig Jahren einen schweren Schlaganfall, der nicht nur zum Ausfall eines Großteils seines Bewegungsapparates führte, sondern, da es sich um einen Schlag ins Mittelhirn handelte, auch in Bezug auf Konzentrationsfähigkeit, Kommunikationsfähigkeit und Erinnerungsvermögen sein Unwesen trieb. Trotzdem und gegen die Erwartung aller Ärzte, schaffte er es bis heute, zu überleben.

Bevor ihn Ende April 1977 der Schlag traf, führte Walter ein ganz anderes Leben. In seiner Jugend, die erst so richtig nach dem 2. Weltkrieg begann, ergab sich keine Gelegenheit für ihn, einen Ausbildungsberuf zu erlernen. Vielleicht wollte er das ja auch gar nicht – wer weiß? So arbeitete er ungelernt bei einer in Essen ansässigen überregionalen Tageszeitung, sehr viel Nachtschicht, und kam mit seiner Frau Jutta und seiner Tochter Renate damit so eben über die Runden.

Es reichte mit Müh und Not für eine kleine Wohnung, zwei Zimmer, Küche, Diele, Bad mit insgesamt 54 Quadratmetern in Essen-Altendorf. Walter fühlte damit keineswegs glücklich. Eigentlich genügte dieses Leben Walter nicht. Für sich selber und für seine Familie stellte er sich mehr, sehr viel mehr, vor. Ab und an und dann immer häufiger trieb es ihn deswegen immer früher am Tag in die Kneipen der Umgebung. Er sprach dem Alkohol zu und verlor mehr und mehr den Bezug zu seiner Familie. Er fühlte sich als Versager und nicht wenige Menschen in seiner Umgebung sahen das genauso.

Als Walter krank wurde, feierte Dirk gerade seinen siebten Geburtstag. Schon damals mochte er seinen Onkel sehr. Walter nahm ihn auf seinem Motorroller mit – besorgte Dirk extra dafür einen auf seinen Kinderkopf passenden Helm - und mit Walter konnte man über manche Dinge reden, über die man als Kind gerne mal mit einem Erwachsenen, aber nicht gerne mit seinen Eltern reden möchte.

Nichts konnte bis heute etwas daran ändern, dass Dirk seinen Onkel mochte, auch wenn in den letzten Jahren nicht mehr viel mit ihm anzufangen war.

Dirk, fast achtunddreißig Jahre alt, einhunderteinundachtzig Zentimeter groß, mit einem altersgerechten Gewicht ausgestattet, das aufgrund seiner sportlichen Aktivitäten eher von Muskeln als von Fett gebildet wurde, verkörperte zu dieser Zeit das, was man im durchaus positiven Sinne gehobene Mittelschicht, guter Durchschnitt oder normales Mittelmaß nennen könnte.

Dirk besaß, so würden es sicherlich viele Betrachter bestätigen, ein ebenmäßiges, aber eher hartes, männliches Gesicht. Damit galt er zwar nicht als typischer Frauentyp, im Umgang mit dem anderen Geschlecht bescherte ihm das aber keinerlei Probleme. Er arbeitete seit mehr als acht Jahren zusammen mit einem Kompagnon aus Berlin selbständig im Unternehmensberatungsgeschäft – mal lief es gut, mal lief es weniger gut. Vorher verdiente Dirk sein Geld als Angestellter bei verschiedenen langweiligen Unternehmen und in verschiedenen langweiligen Branchen.

Noch früher – und das wussten die Wenigsten – lebte Dirks in einer ganz anderen Welt. Mehrfach geriet er in Kneipenschlägereien und in Auseinandersetzungen rivalisierender Fußballfans. Nicht nur einmal beschuldigte man ihn, der Auslöser, die treibende Kraft dazu gewesen zu sein. Es war der ungezügelte Jähzorn, der ihn immer wieder in solch unangenehme Situationen brachte. Einige Therapien, drei Monate Jugendknast und die Liebe seiner Eltern brachte ihn auf den rechten Weg zurück. Heute behielt Dirk seine Wut jederzeit im Griff. Die Hooliganszene verließ er. Fußballspiele schaute er sich nur noch als normaler Zuschauer an. Kneipen mied er. Trotzdem bekam Dirk manchmal Angst, wieder in alte, gewalttätige Muster zu verfallen.

Drei Dinge konnte Dirk nicht ausstehen: Gewalt gegen Frauen, Berliner Ballen und konservative Parteien.

Er trug sein mittelblondes Haar mal länger, mal kürzer und dazu einen Dreitagebart. Dirk wohnte nicht weit entfernt vom Baldeneysee, einem Essener Naherholungsgebiet, in einer netten Wohnung in Essen-Heisingen.

Dirk lebte allein. Er liebte es, Single zu sein. Feste Bindungen oder gar ein Zusammenleben mit einer Partnerin, so glaubte er zu jener Zeit, wollte er nicht eingehen. Nur in diesem einen Punkt unterschied er sich wirklich von seinem Onkel. Aber auch das würde sich bald ändern.

Dabei verbrachte Dirk seine Zeit sehr gerne mit den Frauen, die in seiner Umgebung lebten. Noch am Morgen rief Karina, eine gutaussehende rothaarige Grundschullehrerin, an. Gegen sechs Uhr abends wollten sie sich treffen, um den Abend miteinander zu verbringen. Dirk hoffte insgeheim, dass mehr als der gemeinsame Abend dabei für ihn heraussprang – Karina stand so sehr auf seine blauen Augen. Bei ihrem letzten Treffen hatte sie ihm das zum Abschied ins Ohr geflüstert. Vorsichtshalber besorgte er für das nächste Mal Frühstück für zwei Personen. Karina ahnte nichts davon, dass sich Dirk auch schon mal mit Anne, einer gutaussehenden blonden Architektin traf. Aber das ist eine andere Geschichte.

So zuverlässig Dirk seinen Job erledigte und so bieder sein Lebenswandel auf seine direkte Umgebung wirkte, so zerrissen fühlte er sich manchmal ob seiner schlagenden Vergangenheit und der Treue zu den Frauen.

Nun saß Dirk in seinem mit grüner Metallic-Farbe lackierten Peugeot 404 Cabriolet – einem Auto, das fast so viele Jahre zählte wie er. Wundervoll, jetzt so im Herbst. Die gelben und roten Blätter an den Bäumen, die kühle Luft und dieses etwas bläuliche Licht, was man nur im Herbst sehen kann. Dirk liebte diese Jahreszeit, was vielleicht auch daran lag, dass er im Oktober Geburtstag feierte.

Dirk wusste bereits, dass er heute mal wieder bei seinem Onkel aufräumen sollte. Onkel Walter zählte, genau wie seine Frau Jutta, inzwischen 74 Jahre. Die Tochter der beiden, Renate, kümmerte sich schon lange nicht mehr um sie und besuchte sie seit Jahren nicht mehr. Mittlerweile bestand zur gesamten Familie kein Kontakt mehr.

Walter und Jutta befanden sich zwar in der Lage, die täglich anfallenden Aufgaben zu bewältigen, aber ab und an musste in den ganzen Laden wieder Ordnung gebracht werden. Jutta schaffte es nicht immer und Walter stellte mit seiner Behinderung leider eher eine Quelle für Arbeit als eine Hilfe bei ihrer Bewältigung dar.

Dirk machte die Arbeit nichts aus, er machte das gerne. Dadurch ergab sich für ihn immer die gute Gelegenheit, in den alten Sachen von Onkel und Tante zu kramen und um das ein oder andere über die alten Sachen und deren Geschichten zu erfragen und zu erfahren.

Und dann am Abend Karina – besser konnte ein Wochenende, es war Freitag, gar nicht beginnen.

Kapitel 2 17. April 1977 kurz vor Mittag in Halle an der Saale/DDR

Sie wartete schon den ganzen Vormittag auf Walter. Walter würde ganz sicher gleich vorbeikommen, so wie er es immer alle vier Wochen tat. Mittlerweile stellte sie keine Fragen mehr. Das hatte sie sich schweren Herzens abgewöhnt. Klar, die seltsame Geschichte, die er ihr erzählte, die glaubte sie schon lange nicht mehr. „Ich arbeite im Gummikombinat Thüringen in Waltershausen und alle vier Wochen besuche ich meine alte und kranke Oma in Halle“. Wer glaubte denn ein solches Märchen? Astrid entschied sich dafür, das Märchen doch lieber zu glauben, obwohl sie sich darüber ärgerte, dass Walter sie für so naiv hielt. Sie lebte seit Jahren allein. Beziehungsstress gehörte früher viel zu oft zu ihrem jungen Leben. Den ließ sie lieber hinter sich. Nur hin und wieder ein wenig Nähe und natürlich Sex. Der Walter wollte doch eigentlich auch nichts anderes, da war sie sich sicher, und im Bett lief es mit ihm ziemlich gut.

Ja, Walter würde kommen – daran gab es nichts zu zweifeln. Etwas Besonderes wollte sie ihm diesmal präsentieren. Darauf würde er stehen. Schon an der Tür zu ihrer Wohnung wollte sie ihn empfangen. Bekleidet mit ihrem seidenen Bademantel und nichts darunter. Den Bademantel brachte ihr einst ein Verflossener als Mitbringsel aus Nord-Vietnam mit. Walter würde sie zur Begrüßung küssen wollen, sie würde den Bademantel öffnen und ihn langsam herabgleiten lassen. Ihr langes blondes Jahr würde ihre Schultern und kleinen Brüste umspielen. Darauf stand Walter. Sie würden nicht viel reden und gleich im Flur…

Die allgemein als bildhübsch bezeichnete Astrid erlebte gerade ihr sechsundzwanzigstes Frühjahr. Ihre wasserblauen Augen und die langen blonden Haare unterstrichen den nordischen Typ. Ihre Körperlänge von einhundertvierundsiebzig Zentimetern, gepaart mit Konfektionsgröße sechsunddreißig, war auch nicht zu verachten. Walter mochte besonders ihre slawisch wirkenden hoch liegenden Wangenknochen und das kleine Grübchen, direkt auf der Spitze des Kinns.

Nach dem Besuch der polytechnischen Oberschule wurde sie Erzieherin und arbeitete nun in einem Kindergarten in der Nähe des Bahnhofs – nette Gründerzeitvilla unter hohen Pappeln. Ganz ähnlich kam auch ihre Wohnung in der Büschdorfer Straße daher. Ein Altbau, hohe Räume und schwere Holztüren, vierte Etage.

Manchmal fragte sie sich, ob sie Walter vielleicht doch richtig liebte und ob es nicht vielleicht doch eine gemeinsame Zukunft mit ihm geben könnte, obwohl er bereits 43 Jahre alt war. Aus der Sicht ihres Alters war das verdammt alt. Aber dann kam er ihr wieder so komisch vor. Obwohl, die dunkelbraunen Haare und die ebenso dunklen Augen... und... dann klingelte es an der Tür.

Endlich, ganz aufgeregt in Erwartung des Kommenden raffte sie noch einmal den seidenen Bademantel vor ihren Brüsten zusammen und öffnete die alte, schwere Tür zum Treppenhaus, um eine Sekunde später zu bereuen, nicht durch den Sucher gesehen zu haben. Eine weitere Sekunde später brach sie tot zusammen.

Die in grauen Anzügen gekleideten und vollkommen durchschnittlich wirkenden zwei Herren von der Verwaltung Aufklärung, so hieß die militärische Aufklärung der NVA, die dann Astrids Wohnung betraten und die noch rauchende Pistole in der Hand des einen, nahm sie gar nicht mehr richtig wahr.

Astrids hübsche, kleine Wohnung war ebenso schnell durchsucht wie verwüstet. Von der Diele aus gesehen, lagen hinten links die Küche aus den sechziger Jahren und rechts das Wohnzimmer mit der gemütlichen Couch. Alle Schränke waren aufgerissen, kein Bild mehr an der Wand. Selbst im Schlafzimmer mit dem breiten Bett war die Matratze aufgeschnitten.

Das Objekt der Begierde aber, was es auch sein mochte, oder irgendeinen Hinweis auf den Verbleib von Walter, fanden die beiden Durchschnittstypen allerdings nicht.

Unverrichteter Dinge, zumindest was die Suche der beiden Herren nach Walter anging, verließen sie wieder genauso leise, wie sie gekommen waren, das Haus. Von nun an bezogen sie ihren Wachposten vor dem Haus. Sie würden wissen, wenn Walter auftauchen würde.

Kapitel 3 18. April 1977 kurz nach Mittag in Halle an der Saale/DDR

Wenn da nicht immer dieser innerliche Druck gewesen wäre, dieser Wunsch nach fremder Haut, diese Bestätigung durch die Frauen, wenn es daheim gut gelaufen wäre und nicht der Alkohol ihn von seiner Familie entfernt hätte und wenn Astrid nicht so ein besonders tolles Exemplar der Gattung Frau gewesen wäre, dann wäre Walter seiner in Westdeutschland lebenden Ehefrau vielleicht treu geblieben. Und er hätte auch die Gefahren beachtet, die sich für ihn durch sein Auftauchen in der Deutschen Demokratischen Republik und seinen kleinen Nebenjob dort ergaben.

Seine arglose Familie wusste nicht, wo er sich wirklich herumtrieb. Die nahm an, er wäre mal wieder nach West-Berlin gefahren, die Stadt, die er angeblich so sehr liebte. Aber er befand sich nicht in Berlin, er trieb sich in Halle an der Saale herum. Diese Astrid zog in an wie der Honig die Fliegen.

Außerdem sollte er erst am nächsten Tag in Karl-Marx-Stadt sein und darüber hinaus wusste doch Oberst Hans-Jürgen Koch vom Ministerium für Staatssicherheit, was er so trieb in der DDR und in der BRD. Dieser kleine Ausflug zu Astrid konnte da nicht schlimm sein und die Übernachtungsspesen würde er ja auch sparen. So lief Walter, innerlich schon sehr angespannt und ziemlich erregt, nur noch wenige hundert Meter von Astrids Wohnung entfernt, durch die Straßen der Stadt.

Von seinen monatlichen Einnahmen als Helfer des Maschineneinrichters bei der Essener Tageszeitung konnte Walter seine Frau und seine Tochter nicht so verwöhnen, wie er es sich vorstellte. Eigentlich konnte von Verwöhnen gar nicht die Rede sein. Es reichte gerade so zum Überleben. Und dann sprach ihn eines Tages in seiner Stammkneipe an der Ecke Haedenkampstraße - Eulerstraße dieser nette Herr an. Und der stellte genau die Art Mann dar, die er mochte, die er selber gerne gewesen wäre. Für dessen Ansprache fühlte sich Walter sehr empfänglich. Etwas angeberisch zwar, das konnte man an dem goldenen Siegelring an der linken Hand mit den dicken Fingern gut ablesen, aber offenbar auch gut mit Geld ausgestattet – teurer Anzug, italienische Schuhe aus Rindsleder und eine Brille, die wie alles andere als ein billiges Kassengestell aussah.

Walter hoffte, jetzt alle seine Wünsche und Träume und auch die seiner Frau und seiner Tochter erfüllen zu können. Da er sowieso bei jeder Gelegenheit – was selten genug vorkam – gerne reiste, erklärte er sich schnell dazu bereit, für ein paar Deutsche Mark Informationen von West nach Ost und von Ost nach West zu schaffen. Seine Leidenschaft, am liebsten ohne Familie und mit dem Zug zu reisen, bezeichneten Freunde zwar gerne als Flucht vor der Ehefrau, aber das spielte für ihn keine Rolle.

Das Ganze bedeutete auch überhaupt keine Gefahr, weil beide Seiten – das Ministerium für Staatssicherheit im Osten und der Bundesnachrichtendienst im Westen - davon wussten. Es gab eben doch Dinge zwischen beiden deutschen Staaten, die inoffizielle Wege gehen mussten. Um was es sich im Einzelnen handelte, brauchte ihn ja nicht zu interessieren. Vaterlandsverrat, nein, das bedeutete es für Walter nicht. Ein schlechtes Gewissen bereitete ihm das nicht. War doch irgendwie offiziell und beide Staaten waren doch Deutschland. Walter kam nicht auf die Idee, genau deswegen ausgesucht worden zu sein, weil er etwas zu leichtgläubig wirkte und ihn oftmals finanzielle Probleme drückten. Allerdings wäre ihm das auch egal gewesen. Schließlich stammte eine Reihe seiner Vorfahren aus dem heutigen Polen und aus den Grenzregionen an der Oder. Und Zug fahren, einen Brief oder ein Paket, eine Tasche oder einen Beutel mitnehmen und dafür auch noch eintausend Deutsche Mark plus Spesen zu kassieren, das war doch etwas.

So befand sich Walter jetzt, vierzig Monate später, nur noch wenige hundert Meter von Astrids Wohnung entfernt. Astrid, die er auf recht altmodische Art und Weise vor etwas mehr als einem Jahr in einem Café in der Hallenser Innenstadt kennen und dann lieben gelernt hatte, wartete sicher schon auf ihn.

Kapitel 4 03. Oktober 2008, am Nachmittag in Essen

So etwa gegen ein Uhr mittags erreichte Dirk die Wohnung seines Onkels und seiner Tante. Wie immer werkelte die Tante in der Küche. Dirks Tante Jutta war eher eine in allen Belangen bescheidene Frau. Sie gebar eine Tochter, die auf den Namen Renate hörte. Als diese ihren zehnten Geburtstag feierte, zog es die kleine Familie aus einem kleinen Dorf mit acht Häusern vom Bergischen Land in die Großstadt Essen. In der Stadt arbeitete Dirks Tante oft und gerne in ihrem Ausbildungsberuf als Konditorin in einer kleinen Bäckerei. Dirk liebte ihren Kuchen.

Dirk ging gleich, nachdem er seine Tante herzlich begrüßt und den süßlichen Backgeruch geatmet hatte, gerade durch ins Wohnzimmer. Dort stand an der linken Wand, gegenüber dem Fenster, anstelle der alten, braunen Couch jetzt das Krankenbett von Onkel Walter. Sein Tagesablauf sah seit einigen Jahren ewig gleich aus. Zweimal am Tag kam der Pflegedienst, um sich um die Einnahme seiner Medizin, auch mal ums Baden oder sonst etwas zu kümmern. Dazwischen beschäftigte Walter sich damit, aus dem Bett herauszukommen, wenn er drin lag und hinein zu kommen, wenn er nicht drin lag. Dass sein folgenschwerer Schlaganfall direkt ins Mittelhirn, der ihn in diesen ziemlich bedauernswerten Zustand befördert hatte, auch im Zusammenhang mit einer Ansichtskarte aus Chemnitz stand und diese Karte nicht nur Einfluss auf Walters Leben nahm, sondern Dirks Leben noch verändern würde, konnte Dirk da noch nicht ansatzweise ahnen.

>>Hallo Walter, was liegt an?<<

>>Hol mich hier raus<<, antwortete der so Angesprochene.

>>Nun bleib mal ruhig! Morgen spielt Rot-Weiss-Essen, lass uns darüber reden<<, schlug Dirk vor.

>>Jo<<, kam Walters kurze und immer wieder gerne genommene Antwort.

>>Hol mich hier raus<<, sagte er dann.

Mittlerweile erschien nach verrichteter Arbeit in der Küche auch Dirks Tante Jutta im Wohnzimmer. Frisch gekochten Kaffee brachte sie ebenso wie ein paar Kekse mit.

>>Er ist heute wieder völlig daneben<<, meinte sie.

>>Dirk, kannst du mir heute mal das linke Fach da aufräumen?<<, sagte sie als nächstes und zeigte auf den alten dunklen Wohnzimmerschrank rechts an der Wand.

>>Da ist lauter alter Kram von Walter drin. Den braucht er nicht mehr und ich habe keinen Platz.<<

>>Gerne<<, antwortete Dirk und freute sich insgeheim darauf, ein wenig in den alten Sachen von Walter herumkramen und forschen zu können.

Was Dirk schließlich bei seiner Aufräumaktion fand, fand er nicht so berauschend. Allerhand alter Papierkram, der nur wenig Aufregung versprach und ein paar alte vergilbte Bilder, auf denen die Familie abgebildet war. Dann fiel ihm aber die Karte auf, die ganz hinten an der Rückwand des Schrankes lag. Es handelte sich dabei um eine Ansichtskarte, die Karl-Marx-Stadt, das heutige Chemnitz, in den siebziger Jahren zeigte. Sie war nicht adressiert und eine Briefmarke klebte in der rechten oberen Ecke. Die Karte enthielt einen kleinen Text, der damit anfing, an eine „liebe A“ gerichtet zu sein.

Hoppla, um wen handelt es sich denn bei der lieben A, dachte Dirk so bei sich. Was suchte Walter denn in den Siebzigern während des Kalten Krieges in Chemnitz? Da konnte man doch zu der Zeit nicht einfach so hinfahren, wie man wollte. Diese Karte würde Dirk sich mal genauer ansehen wollen. Verbarg der alte Charmeur am Ende doch noch irgendwelche Geheimnisse?

Dirk steckte sich die Karte hinten in die Gesäßtasche seiner Hose, um sie später in Ruhe zu untersuchen und vergaß sie dort bald.

Kapitel 5 18. April 1977 kurz nach Mittag in Halle an der Saale/DDR

Nur noch um die nächste Ecke, dachte Walter. Seine Astrid würde wie immer auf ihn warten. Zwischen ihnen lag ein Altersunterschied von siebzehn Jahren. Das machte ihn stolz, obwohl es sich dabei nicht um seinen Verdienst handelte. Gedanken an seine Familie daheim, die ihm manchmal ein schlechtes Gewissen bereiteten, blendete er heute lieber aus. Er versuchte es in der Vergangenheit mehrfach, aber er konnte Astrid einfach nicht widerstehen und es regte sich etwas an ihm – er wurde immer schneller….

Noch um die nächste Ecke und da sahen sie ihn schon. Es hatte sich also für die beiden Durchschnittstypen gelohnt, zu warten. Walter, der nichts Böses ahnte, sah sie seinerseits natürlich nicht. Erstens war er mit seinen Gedanken schon ganz woanders als auf der Straße und zweitens wären ihm die beiden Typen in ihrem blau-weißen Trabant 601 de luxe sowieso nicht aufgefallen. Und selbst wenn, er wähnte sich sicher – voll der Gnaden durch den Staat.

Der dickere der beiden Durchschnittstypen, der mit den dünnen blonden Haaren, frohlockte, als er Walter erkannte. Jetzt würde Walter ins Haus gehen, die Wohnungstür von Astrids Wohnung würde offen stehen, er würde hineingehen, hier und dort ein paar Fingerabdrücke hinterlassen und schließlich ganz hinten im Bad Astrids Leiche finden. Wahrscheinlich würde er die Leiche anfassen, zumindest war sie so abgelegt. Dann würden sie hinter Walter auftauchen, selbstredend zufällig und würden ihn, auf frischer Tat erwischt, verhaften. Ihm die Waffe, mit der Astrid ermordet worden war, unterzujubeln, das stellte das kleinste aller Probleme dar.

Tatsächlich ging Walter ins Haus. Was sonst? Die beiden Durchschnittstypen stiegen derweil etwas hastig aus ihrem Auto aus. Zwei knallende Trabant-Türen – nichts besonderes.

So wie geplant fand Walter die Wohnungstür offenstehend vor. Aber… Viel gab es als Grenzgänger zwischen den politischen Mächten seiner Zeit nicht zu lernen, nicht viel bei denen im Westen und schon gar nichts bei denen im Osten. Na ja, ein kleiner Kurier, was musste der schon können, welches Handwerkszeug musste man so einem schon mitgeben? Einmal aber hörte Walter gut zu. Wahrscheinlich zur Belohnung erhielt Walter eines Tages eine Einladung zu einer der eigentlich streng geheimen Tagungen für Fachpersonal der westeuropäischen Nachrichtendienste nach Hamburg. In einer zum Versammlungsort umgebauten Fabrikhalle wurden verschiedene und für Walter interessante Vorträge gegeben. Eine offene Tür da, wo eigentlich eine geschlossene Tür hingehörte, erst recht dann, wenn man Astrids Einbruchs-Phobie kannte, bedeutete nichts Gutes. Da durfte man nicht so einfach durchgehen. Das merkte Walter sofort. Aber was jetzt? Zurück zur Straße? Ging da nicht soeben die schwere Haustür? Nach oben? Aber wie geht es da weiter?

Dieser Wandschrank linker Hand im Flur, vielleicht lag darin die Lösung. Sollte sich dann alles in Wohlgefallen auflösen, dann könnte Walter das seiner Astrid immer noch irgendwie als Überraschung verkaufen. Also ab in den großen Wandschrank. Das, was Walter auf dem kurzen Weg in den Flur vom Rest der Wohnung erkannte, sah ziemlich unordentlich aus. Astrid zeigte sich zwar meistens unordentlich, das wusste Walter, aber so ein Chaos hätte sie doch nie hinterlassen. Außerdem roch es hier so ungewöhnlich.

Jetzt kauerte Walter im Wandschrank und er kam sich ausgesprochen dumm dabei vor. Die beiden Durchschnittstypen erreichten derweil auch die Wohnungstür. Walter hörte ein Schaben – da kam doch jemand hinein.

In amerikanischen Spielfilmen stände jetzt wenigstens ein geladener Revolver zur Verfügung oder man besäße einen schwarzen Gürtel in einer japanischen Kampfsportart oder es gab zumindest eine gerade entdeckte Geheimtür zum Verschwinden. Walter verfügte über nichts dergleichen, nur Todesangst und einen kleinen, allerdings spitzen Brieföffner, den er in seinem Versteck entdeckte, nachdem er sich auf ihn gesetzt hatte. Und es half ihm noch etwas, nämlich die Unordnung von Astrid in ihren Schränken. Was so alles hier im Schrank lag. Schnell machte er sich so klein wie möglich und zog sich so viele in den Schrank geworfene Kleidungsstücke über sich wie möglich. Walter schwitzte vor Angst und sorgte sich bald darum, dass man sein hastiges Atmen auch außerhalb des Schrankes hören könnte.

Die Durchschnittstypen schlichen derweil durch den Flur, nichts ahnend von Walters Versteck ganz in ihrer Nähe. Sie schlichen an dem großen Wandschrank vorbei und durch die anderen, ihnen schon bekannten Räume – warfen einen Blick auf die Leiche, es roch nach Blut. Nur Walter sahen sie nicht. Und Durchschnittstypen sind halt Durchschnittstypen. Auf die Idee, Walter könnte sich versteckt haben, kamen sie überhaupt erst gar nicht.

>>Der hat sich bestimmt nach oben verdünnisiert<<, rief der eine.

>>Nach unten kann der ja nicht, da kommen wir gerade her. Der ist ja nicht unsichtbar<< meckerte der andere.

>>Wenn der nicht mehr hier ist, was machen wir mit der Leiche seines Schnatterinchens? Ich will die Schlampe nicht umsonst erschossen haben<<, fragte wieder der eine.

>>Liegen lassen<<, antwortete der andere.

Raus waren sie und Walter hörte das Poltern ihrer schweren Schuhe auf der Treppe nach oben.

Starr vor Angst, den Brieföffner in beiden Händen vor sich haltend und von einer Reihe Kleidungsstücke Astrids bedeckt saß er da. Astrid war tot? Was war hier los?, schoss es ihm durch den Kopf. Ihm wurde ganz übel und er musste sich beinahe übergeben. Das Würgen in seinem Hals schaffte er aber, zu unterdrücken. Er musste konzentriert bleiben und er musste hier weg! Walter fühlte beißende Angst und tiefe Trauer in sich, aber er durfte nicht panisch werden. Vorsichtig, ganz langsam öffnete er die Schranktür. Seine beiden Schuhe in der einen, den Brieföffner in der zitternden anderen Hand schlich Walter in Richtung Bad. Wo befand sich Astrid? Vielleicht konnte sie noch gerettet werden. Ein Blick auf die tote, im Bad liegende Freundin überzeugte Walter vom Gegenteil. Tränen schossen ihm in die Augen.

>>Erst mal weg hier<<, flüsterte er vor sich hin und drehte sich in Richtung Treppenhaus.

Walter stürmte die Treppe hinab und dann, natürlich die Schuhe wieder an, auf die Straße und direkt nach links. Dann noch einmal schnell links um die Ecke - dort lag die Innenstadt von Halle, da könnte er vielleicht unbemerkt verschwinden.

Kapitel 6 8. Oktober 2008 in Essen

Der beste Fußballverein der Welt in rot-weißen Farben gewann in einer norddeutschen Kleinstadt recht hoch und näherte sich erfreulicherweise der Tabellenspitze. Der Abend und die Nacht vor fünf Tagen mit der rothaarigen Karina brachte Dirk außerdem das erhoffte größtmögliche Vergnügen. Dirk verspürte seitdem ausgesprochen gute Laune. Da kam ihm die Ansichtskarte wieder in den Sinn. Die müsste doch noch in der Tasche seiner Hose stecken.

Welche Geschichte steckte denn bloß hinter dieser Karte? Soweit Dirk es wusste, gab es keinerlei, weder in den Jahren um 1970 oder jetzt, im Osten des Landes lebende Verwandtschaft. Im Zuge des Kalten Krieges schrieb man sich auch keine Ansichtskarten von Ost nach West. Wie gelangte einst diese Karte in Walters Besitz, zumal sie ja auch einen persönlichen Text enthielt? Walter ein Kartensammler? Nein, das hätte Dirk gewusst. Was veranlasste ihn also dazu, diese eine Karte über so lange Jahre in seinem Schrank aufzubewahren?

Dirk konnte nichts Bemerkenswertes an der Karte feststellen. Er saß in seinem kleinen Wohnzimmer auf der orangenen Couch und bestaunte die Postkarte aus Karl-Marx-Stadt. Was sollte daran besonders sein? Auf der Vorderseite sah man einen übergroßen Kopf von Karl Marx auf einem Sockel vor einem Gebäude mit neun Etagen stehen. An diesem Gebäude prangte eine riesige Tafel, die aussah wie Schiefer oder Guss, auf der in Deutsch zu lesen stand: „Proletarier aller Länder vereinigt Euch“. Auch in anderen Sprachen stand dort etwas zu lesen – vermutlich der gleiche Spruch. Auf den Stufen vor diesem Denkmal saßen ein paar junge Frauen, die Dirk nicht weiter beachtete und an einem der Fenster, links in der fünften Etage standen, zwar etwas klein, aber deutlich zu erkennen, drei Männer. Einer der Männer hielt offensichtlich ein kleines Kind auf dem Arm. Es handelte sich um eine Schwarz-Weiß-Aufnahme. Wahrscheinlich war die tausendfach gedruckt und verkauft worden.

Auf der Rückseite stand dieser Text:

>>Liebe A., da Du ein Fan des großen Denkers bist und ich heute diese schöne Karte von Dr. Nischl gefunden habe, sende ich sie Dir gerne. Kuss, Dein W.<<

Auf der Karte fand sich keine Adresse. Oben rechts in der Ecke fand sich eine abgestempelte, grüne 10-Pfennig-Briefmarke der Deutschen Demokratischen Republik mit dem Motiv von Walter Ulbricht, dem Staatsratsvorsitzenden der DDR von 1960 bis 1973. Nichts Auffälliges, wie Dirk zu diesem Zeitpunkt fand.

Kapitel 7 18. April 1977 in Halle an der Saale/DDR

Die beiden Durchschnittstypen, von denen Walter gar nicht wusste, wer oder was sie waren, schienen ihn nicht zu verfolgen. Sie wussten wohl nicht, wo er sich genau aufhielt. Als sie nach oben gegangen waren, verließ er das Haus, in dem sich Astrids Wohnung befand, nach unten. Vielleicht bekamen sie das gar nicht mit und suchten ihn noch immer innerhalb des Gebäudes. Ganz sicher aber würden sie nach ihm überall suchen. Woher konnten sie sein? Was wollten sie von ihm? Und was wollten sie von Astrid? Die Fragen beschäftigten Walter, während er weiterlief.

Astrid? Vielleicht liebte er sie nicht innig genug und vielleicht ging es Walter in allererster Linie nur um seine eigene sexuelle Befriedigung, aber doch setzte ihr Tod ihm zu. Er fühlte sich elendig, wollte heulen und eine plötzliche Sehnsucht nach Astrid wühlte in ihm – er hatte sie nicht mehr lebend gesehen. Einen anderen Liebhaber, der nun aus Eifersucht getötet hätte, den gab es nicht. Daran besaß Walter keine Zweifel. Das Erscheinen der beiden Durchschnittstypen, die er aus dem Schrank heraus belauscht hatte, sprach auch nicht für das Motiv Eifersucht.

Nein, die jagten ihn. Aber warum? Er erinnerte sich nicht, jemandem auf die Füße getreten zu haben. Mal transportierte er einen Umschlag von Ost nach West, mal einen von West nach Ost. Beide Seiten, die Behörden der BRD und die der DDR, benutzten ihn und beide Seiten wussten davon, dass dies auch die andere Seite tat. Das machte ihn ja so wertvoll. Er verhielt sich neutral zwischen den Blöcken und er quatschte niemals, wusste auch nicht, worüber er hätte quatschen sollen.

Für Astrid konnte Walter nichts mehr tun, außer dass er sie in seinem Herzen behielt. Walter überkam das Gefühl, jetzt schnellstens hinaus aus der DDR zu müssen, er musste nach Hause, er musste zu seiner Familie. Denen im Westen konnte er vielleicht am meisten trauen, oder?

In Walters Besitz befanden sich diese Ausreisepapiere, mit denen er über jede DDR-Grenze reisen konnte. Er musste schnell sein, schnell genug, bevor jeder Grenzer an jeder Grenze ihn auf seiner Liste hätte oder seine Papiere gesperrt wären. Der kürzeste Weg wäre der über den Flughafen Leipzig – nicht ganz dreiundzwanzig Kilometer von Halle entfernt. Das könnte er notfalls zu Fuß gut schaffen, es würde aber viel Zeit kosten. So machte er sich sofort auf den Weg in Richtung Flughafen.

Nach gut fünf Kilometern, meistens über Seitenstraßen, sah er sie an der Dölbauer Landstraße stehen – eine Schwalbe, Modell KR 51/1 S in Blau, schön mit halbautomatischer Fliehkraftkupplung zum Anfahren. Das Knacken des Mopeds stellte Walter vor keine Probleme. Es würde ihn flotter zum Flughafen bringen, als er vorhin noch gedacht hatte.

Kapitel 8 8. Oktober 2008 in Essen

Ein sehr guter und langjähriger Freund von Dirk, Udo Stein, bald vierzig Jahre alt und in der Deutschen Demokratischen Republik geboren und zeitlebens dort in einem kleinen, verschlafenen Örtchen zwischen Waltershausen und Gotha in Thüringen wohnhaft, konnte vielleicht mehr als Dirk mit der Karte anfangen. Vor allem könnte er etwas über „Dr. Nischl“ sagen – so hoffte Dirk. Er scannte die Ansichtskarte schnell mit seinem Multifunktionsgerät ein. Mit der Bitte, diese einer genauen Betrachtung zu unterziehen und dabei besondere Aufmerksamkeit auf Besonderheiten zu geben, sendete Dirk kurz danach die gescannte Karte per Email an Udo.

Udo, ein baumlanger schlanker Kerl, ausgebildet als gelernter Dachdeckermeister, arbeitete schon seit vielen Jahren als Bauleiter für eine Dachdeckerfirma in Erfurt. Da die Firma, für die Udo tätig war, Baustellen in ganz Deutschland bediente, kam er ordentlich im Lande herum.

Kapitel 9 18. April 1977 in Halle an der Saale/DDR

Die geklaute Schwalbe brachte es tatsächlich auf sechzig Kilometer pro Stunde, aber Walter wollte ja nicht weiter auffallen, also fuhr er lieber piano. Bisher gab es für Walter keinen Grund, sich Gedanken über den Überwachungsstaat DDR zu machen. Jetzt aber sah er an jeder Ecke jemanden stehen, der ihn möglicherweise beobachtete und er fühlte sich von jedem Auto verfolgt.

>>War der Flughafen wirklich eine gute Idee?<<, sagte Walter laut zu sich selbst.

>>Mit der Schwalbe bis zur Deutsch-Deutschen Grenze und dann irgendwie rüber machen, ist das die bessere Idee?<<

Mist, dachte Walter weiter. Was tun?

Da fiel ihm schon wieder seine Astrid ein und seine Augen füllten sich mit der einen oder anderen Träne.

Schon von weitem konnte Walter, als er Gröbers erreichte, das Blaulicht auf einem Weiß-Grün lackierten Polizeiwagen, einem Wolga GAZ 24, erkennen. Weiter hinten auf der Wiese stand ein UAZ 469. Die konnten auch gut von der Transportpolizei-Schule sein, die es in Halle gab und auf Übung sein. Aber vielleicht auch nicht. Walter war kein Held, kein Agent mit irgendeiner 00-Berechtigung und mit Bruce Willis wollte und konnte er auch nicht mithalten. So kam ein Durchbruch durch feindliche Linien, unbewaffnet und auf der Schwalbe, nicht in Frage. Abhau-31 en, genauso wie in Halle, war wieder angesagt. Und das tat Walter.

Links über einen Feldweg mit tief ausgefahrenen Fahrspuren. Zum Glück regnete es nicht und die Spuren füllten sich nicht mit Regenwasser. Nach gut siebenhundert Metern erreichte er ein kleines Wäldchen mit Laubbäumen. Dahinter taten sich wieder weite Felder auf. Wenn sie ihn auf der Straße schon nicht bemerkten, dann würde er auch hier nicht auffallen. So schnell die Schwalbe und er konnten, fuhr er weiter.

Nach rund fünfundvierzig Minuten erreichte Walter das Örtchen Tollwitz, östlich von Bad Dürrenberg. Verfolger bemerkte er bis hierhin nicht. Also gönnte er sich eine kleine Pause, um neue Pläne schmieden zu können. Er lehnte seine Schwalbe an eine uralte Weide, die direkt am Persebach stand und setzte sich ins trockene Gras. Die Uhr schlug mittlerweile drei am Nachmittag. Weit würde er nicht mehr kommen, egal für welche Richtung er sich entscheiden würde.

Was führte er an Ausrüstung mit? An Banknoten besaß er einhundertfünfundfünfzig DDR-Mark – zwei Fünfziger, zwei Zwanziger, einen Zehner und einen Fünfer. Hinzu kamen eine Hand voll Alu-Chips. Und Westgeld? Zweihundert D-Mark hatte er dabei. Normalerweise wurde er nicht weiter kontrolliert und so sollte es eigentlich auch nicht zu einem Problem werden, Westgeld mitzuführen. Nun, jetzt war nicht „normalerweise“. Walters Bewaffnung bestand aus dem Brieföffner aus Astrids Wandschrank. Dann verfügte er noch über die entwendete Schwalbe und mit ihr über etwas Bordwerkzeug sowie eine Luftpumpe, die unter dem Sitz lag. Der Tank des Mopeds war noch gut gefüllt. Weiter führte er eine Packung Papiertaschentücher, ein Ost- und ein West-Pass, sein Passierschein und ein Dokument in italienischer Sprache mit sich, das ihm einst eine Kollege aus Mailand zusteckte, der einen ähnlichen Job wie er, nur zwischen Italien und der DDR, erledigte.

Eine Bleibe für die nächste Nacht, hier in diesem Dorf, musste her. Langsam fuhr er die kleinen Straßen des Ortes ab, immer ein Auge auf eine Übernachtungsmöglichkeit geworfen. Nur vierhundert Meter von der alten Weide entfernt fand er es. Ein altes, graues Haus, zwei Etagen, ausgebauter Dachboden, Sirene auf dem Dach – aber, und das war das absolut Entscheidende, offensichtlich unbewohnt. Ein paar Fenster sahen neu aus, andere alt. Neben der Eingangstür standen zwei alte Parkbänke, grob zusammengezimmert, und ein Multicar 22 mit Schneeschieber und Streuaufsatz. Nun, der wurde im April nicht mehr gebraucht, setzte aber trotzdem ein Zeichen dafür, dass Menschen hier jederzeit vorbei kommen konnten. Eine bessere Gelegenheit würde sich aber vielleicht nicht mehr finden lassen. Die Schwalbe stellte Walter auf die Rückseite des Hauses zwischen die Bäume – sie würde nicht weiter auffallen. Ganz weit hinten, das Fenster direkt an der Mauer und dem Zaun, das merkt niemand so schnell, wenn er es aufdrücken würde.

Kapitel 10 11. Oktober 2008 in Essen

Als Dirk, wie er es jeden Morgen tat, nach dem Frühstück den Laptop aufklappte, um die neuesten Fußballnachrichten zu lesen, kam ihm sofort dieser kleine Ton ins Ohr, der neu angekommene E-Mails ankündigt. Udo hatte geantwortet. Dirk rief die E-Mail auf. Was er las, konnte ihn aber nicht wirklich befriedigen. Seine insgeheim gehegte Hoffnung, umfangreich informiert zu werden, erfüllte sich nicht. Dirks Freund Udo konnte auch nichts Auffälliges an der Karte feststellen. Die Bezeichnung Nischl stand für nichts anderes, als für den lokale Spitzname des Denkmals. Der sollte sich angeblich von der mitteldeutschen Bezeichnung für Kopf beziehungsweise Schädel ableiten. Was der alles weiß. Dirk war keinen einzigen Schritt vorwärts gekommen.

Als er wenig später, heute beging er seinen Geburtstag, das Haus verließ, um im Ort ein paar Kleinigkeiten für den Besuch von ein paar Freunden und seiner Familie am Wochenende einzukaufen, fielen Dirk gleich die zwei Typen mit kurzgeschorenen Haaren im Auto auf der gegenüberliegenden Straßenseite auf. Wer sitzt schon in dieser Gegend – Essen-Heisingen - gegen zehn Uhr in einem dunkelgrünen Ford Mondeo ’07 Stufenheck, trägt gelbe Krawatten und liest Zeitung. Irgendeine weitere Bedeutung maß Dirk dem aber nicht bei.

Das änderte sich aber schlagartig, als er wenige hundert Meter von zu Hause entfernt feststellte, dass er mal wieder keine Brille auf der Nase trug. Ohne die sieht es sich letztendlich schlecht. Also musste er noch mal nach Hause zurück.