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An der Küste Südfrankreichs wartet der Tod … TÖDLICHE RIVIERA: In dem kleinen Ort an der provenzalischen Küste schien die Welt noch in Ordnung zu sein – bis Verkehrspolizist Marcel Blanc in einer dunklen Gasse eine grausame Entdeckung macht: Auf den Torso einer Männerleiche wurde der Kopf einer Frau genäht! Obwohl Capitaine Jeanneaux sehr klar macht, dass Marcel sich aus den Ermittlungen heraushalten soll, lässt ihn der Fall nicht los und er beginnt zu ermitteln … MÖRDERISCHE RIVIERA: Der Mistral lässt die Wellen an der provenzalischen Küste schäumen – und spült eine Leiche ans Ufer. Marcel Blanc befürchtet, dass es nicht bei diesem einen Mord bleiben wird. Zusammen mit Capitaine Jeanneaux stürzt er sich fieberhaft in die Ermittlungen, denn schon bald tauchen weitere Opfer auf. Die Spuren führen zu einem der angesagtesten Nachtlokale an der Riviera, einem schillernden Ort mit dunklen Geheimnissen … Packende Urlaubsspannung: Ein Sammelband für alle Fans von Pierre Martin und Sophie Bonnet.
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Seitenzahl: 496
Veröffentlichungsjahr: 2025
Über dieses Buch:
TÖDLICHE RIVIERA: In dem kleinen Ort an der provenzalischen Küste schien die Welt noch in Ordnung zu sein – bis Verkehrspolizist Marcel Blanc in einer dunklen Gasse eine grausame Entdeckung macht: Auf den Torso einer Männerleiche wurde der Kopf einer Frau genäht! Obwohl Capitaine Jeanneaux sehr klar macht, dass Marcel sich aus den Ermittlungen heraushalten soll, lässt ihn der Fall nicht los und er beginnt zu ermitteln …
MÖRDERISCHE RIVIERA: Der Mistral lässt die Wellen an der provenzalischen Küste schäumen – und spült eine Leiche ans Ufer. Marcel Blanc befürchtet, dass es nicht bei diesem einen Mord bleiben wird. Zusammen mit Capitaine Jeanneaux stürzt er sich fieberhaft in die Ermittlungen, denn schon bald tauchen weitere Opfer auf. Die Spuren führen zu einem der angesagtesten Nachtlokale an der Riviera, einem schillernden Ort mit dunklen Geheimnissen …
Über die Autorin:
Brigitte Aubert gehört zu Frankreichs profiliertesten Spannungsautorinnen. Neben Kriminalromanen und Thrillern schreibt sie Drehbücher und war Fernsehproduzentin der erfolgreichen »Série noire«. Heute lebt sie in Cannes und führt ein altes Kino, das sie von ihren Eltern übernommen hat.
Bei dotbooks veröffentlichte Brigitte Aubert auch ihre Reihe um Élise Andrioli mit den Bänden »Im Dunkel der Wälder« und »Tod im Schnee« sowie ihre Frankreich-Thriller »Die vier Söhne des Doktor March«, »Marthas Geheimnis«, »Sein anderes Gesicht«, »Schneewittchens Tod«.
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Sammelband-Originalausgabe Juni 2025
Copyright © der Sammelband-Originalausgabe 2025 dotbooks GmbH, München
Die französische Originalausgabe von »Tödliche Riviera« erschien erstmals 2000 unter dem Originaltitel »Le Couturier de la Mort« bei Éditions du Seuil, Paris; Copyright © 2000 by Editions du Seuil. Die deutsche Erstausgabe erschien 2002 unter dem Titel »Der Puppendoktor« bei Goldmann und die Neuausgabe 2017 bei dotbooks; Copyright © 2002 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH; Copyright © der Neuausgabe 2017, 2022 dotbooks GmbH, München.
Die französische Originalausgabe von »Mörderische Riviera« erschien erstmals 2001 unter dem Originaltitel »Descentes d’Organes« bei Éditions du Seuil, Paris; Copyright © 2001 by Editions du Seuil. Die deutsche Erstausgabe erschien 2002 unter dem Titel »Nachtlokal« bei Goldmann und die Neuausgabe 2017 bei dotbooks; Copyright © 2002 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH; Copyright © der Neuausgabe 2017, 2022 dotbooks GmbH, München.
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: dotbooks GmbH, München
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (mm)
ISBN 978-3-98952-756-0
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dotbooks ist ein Verlagslabel der dotbooks GmbH, einem Unternehmen der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt: www.egmont.com/support-children-and-young-people. Danke, dass Sie mit dem Kauf dieses eBooks dazu beitragen!
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Brigitte Aubert
Tödliche Riviera & Mörderische Riviera
Zwei Frankreich-Krimis in einem eBook
dotbooks.
Tödliche Riviera
Motto
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Epilog
Mörderische Riviera
Motto
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Epilog
Lesetipps
Aus dem Französischen von Eliane Hagedorn und Bettina Runge
In dem kleinen Urlaubsort an der provenzalischen Küste schien die Welt bisher noch in Ordnung zu sein – auf den Verkehrspolizisten Marcel Blanc warteten Tag für Tag die gleichen kleinen Bagatelldelikte. Das ändert sich, als er in einer dunklen Gasse eine grausame Entdeckung macht: Auf den Torso einer Männerleiche wurde mit schwarzem Garn der Kopf einer Frau genäht! Obwohl Capitaine Jeanneaux sehr klar macht, dass Marcel sich aus den Ermittlungen heraushalten soll, lässt ihn der Fall nicht los – denn was wäre, wenn der Killer ihn gezielt ausgewählt hat, um sein grausames Kunstwerk zu finden? Aber das könnte bedeuten, dass seine Frau und seine Kinder in tödlicher Gefahr schweben und die nächsten Figuren im Spiel des Täters zu werden drohen …
Es war einmal ein kleiner Mann,Klarinette, Pirouette,Es war einmal ein kleiner MannIn einer hübschen Maisonette.Der Postmann wollte rasch hinein,Verlor dabei sein linkes Bein.
Der heiße Wind schob den dichten Regen in Wirbeln vor sich her. Die Menschen rannten in alle Richtungen, die leichte Sommerkleidung klebte ihnen am Körper. Der Himmel hatte sich urplötzlich verfinstert – tiefe, schwarze Wolken, fernes Donnerdröhnen. Kinder in phosphoreszierenden Plastiksandalen hüpften in das ehrwürdige Becken in der Mitte des Platzes. Der vom Gewitter überraschte Eisverkäufer räumte eilig sein Zubehör zusammen.
Es regnet, hat mit einem Schlag angefangen, das ist so angenehm wie eine kühle Hand auf dem Gesicht. Ich warte auf den Bus. Beide Füße fest auf dem Boden, verlagere ich mein Gewicht mal nach rechts, mal nach links; sie gehören mir, sie gehorchen. Meine Finger, fest um den Griff der Plastiktüte geschlossen, meine Finger, getreue Soldaten, lasst die Tüte lässig schwingen, und ihr, meine Lippen mit der fügsamen Doppelzüngigkeit, trällert munter das Marschlied der Fremdenlegion, während ihr, meine Raubtieraugen, auf den Idioten in Uniform geheftet bleibt, der mitten im Stau steht, gleichgültig gegen den Regen.
Der Polizeibeamte, Marcel Blanc, war müde. Erschöpft. Er sah die Autos kreisen wie ein endloses Karussell, sah kreischende Scharen von Fußgängern vorüberziehen, und immer wieder stieß er gedehnte Seufzer aus. Er hatte großen Durst, ihm war heiß, seine Füße brannten wie Feuer, er musste pinkeln. Er hatte Madeleine gesagt, dass er abends gegen acht Uhr nach Hause käme. Sie würde ihn schimpfend erwarten, die Kinder hätten sicher schon ihre Ohrfeigen eingesteckt, der Fernseher würde plärren … Noch drei Monate bis zur Scheidung, seufzte er im Stillen und strich über seinen Schnauzbart, der so rot war wie sein kurz geschnittenes Kraushaar.
Triefnass vom lauwarmen Sommerregen träumte der Polizeibeamte Marcel Blanc und nahm dabei doch unbewusst das Kommen und Gehen der Leute wahr – die kleine Buchhändlerin mit dem allzu schrillen Lachen, die gerade zwei junge gepiercte Deutsche in löchrigen Jeans bediente, der Besitzer des benachbarten Kinos im Gespräch mit der Geschäftsführerin des Dessous-Geschäfts – er träumte, dass er mit der hübschen Brünetten aus dem »Rois du Charolais« auf die Bahamas floh und sich auf den einsamen, sauberen Stränden mit ihr im lauwarmen Sand wälzte.
Endlich traf der Bus ein, blieb mitten in einer Pfütze stehen. Er spuckte seine Fahrgäste aus, die, mit Paketen beladen, davoneilten. Eine junge Frau mit üppigen braunen Locken, auf der Stirn eine blassblaue Tätowierung, stieg nun ihrerseits aus, an der Hand einen fünf- oder sechsjährigen Jungen mit Lockenkopf und schelmischem Lächeln. Sie trug einen schwarzen Rock und einen schwarzen Pullunder, dazu einen schweren, mit Nägeln besetzten Gürtel, der ihre Taille und ihre festen Brüste zur Geltung brachte.
Die schwarzen Augen der jungen Frau trafen zufällig auf die grauen von Marcel, bevor sie zu dem Jungen hinabsah. Marcels Blick folgte ihr unwillkürlich. Irgendetwas an ihren markanten und stolzen Zügen, an ihrem geschmeidigen Gang zog ihn an. Sein Blick streifte den kleinen Mann, der seine Plastiktüte hin und her schwenkte, ohne auf ihm zu verweilen. Die Frau faszinierte ihn allzu sehr. Er sah sie jeden Tag vorübergehen. Die blassblaue Tätowierung auf der Stirn ließ an Nordafrika denken, an den Wüstenwind … »Ja, aber die Mädchen der Wüste sind nichts für die kleinen Weißen«, würde Jean-Mi, der Kellner des »Claridge«, sagen.
Gezeter riss ihn aus seinen Tagträumen. Eine Frau im Chanel-Kostüm beschimpfte einen jungen Mann, der sie mit der Tür seines Kombis zu Fall gebracht hatte. Marcel sah sich gezwungen einzugreifen. Die Frau schüttelte ihren eindrucksvollen grauen Haarknoten, murmelte etwas von diesen »Jammerlappen von Polizisten«, entfernte sich und zog dabei mit der Spitze ihres Designerschirms eine Schramme in die Karosserie des Kombis.
Marcel seufzte. Noch ein Jahr, und er konnte sich für die Prüfung zum Lieutenant anmelden. Bis dahin würde er mangels Diplomen (»Diplome sind für die Nichtstuer«, pflegte sein Vater zwischen zwei Litern Rotwein zu lallen) täglich acht Stunden über die öffentliche Ordnung wachen, da in der Hochsaison nicht ausreichend Personal dafür verfügbar war.
Der kleine Mann zog etwas aus seiner Plastiktüte und hob es flüchtig an den Mund.
Marcel sah auf die Uhr und sagte sich, dass er bald vor Hunger sterben würde.
Der kleine Mann beobachtete Marcel, der ihn nicht wahrnahm. Er lächelte still vor sich hin und entblößte dabei seine hässlichen spitzen Zähne, gelb vom vielen Rauchen und seltenen Putzen. Er verabscheute den Kontakt mit Leitungswasser und die Vorstellung vom gebändigten Wasser der Dusche, von dem seifigen Geschmack der Zahnpasta und der cremigen Beschaffenheit der Seife, die den angenehmen Geruch der Haut überdeckte. Er konzentrierte sich auf den Bissen in seinem Mund.
Es ist gut für die Zähne, rohes Fleisch zu kauen. Kau nur kräftig, Kiefer. Entlocke ihm seinen Geschmack. Lass seinen Saft fließen. Zermalme seine köstlichen Fasern vor der Nase des armen alten Marcel!
Das Walkie-Talkie von Marcel fing plötzlich an zu knistern.
»Sofortiger Einsatz, ich wiederhole, sofortig, Impasse de la Pompe, an der Ecke Saint-Louis/Joffre.«
»Schon unterwegs!«
Mit kleinen athletischen Schritten bog der Polizeibeamte Marcel Blanc in die Sackgasse ein und überholte dabei die junge Frau mit der Tätowierung. Er sandte ihr – zwei Finger am Käppi – einen kleinen Gruß zu, ohne dabei das Tempo zu verlangsamen. Deshalb sah er auch den Laternenpfahl nicht, gegen den er mit voller Wucht stieß. Der Aufprall hallte bis in seine Hacken wider. Aber die Pflicht rief, und er eilte, die Nase verächtlich rümpfend, weiter, während sich auf seiner Stirn eine imposante Beule zu wölben begann.
Es war dunkel in der engen Gasse. Der Regen hatte so plötzlich aufgehört, wie er begonnen hatte. Durch die geöffneten Fenster hörte er die Fernseher laut plärren, sah, wie sich die Familien zu Tisch setzten. Ein Kind fing sich eine Ohrfeige ein, ein alter Mann holte eilig die Wäsche herein, ein Bettgestell quietschte in sportlichem Rhythmus. Marcel ließ den Blick über die mit Abfällen übersäte Straße wandern und blieb stehen. Am Ende der Sackgasse winselte ein kleiner Yorkshire-Terrier.
Die Hand am Revolver, ging Marcel langsam auf den Hund zu. Der hob den Kopf, schüttelte die rote Schleife, die ihn zierte, und winselte noch erbärmlicher. Marcel machte einen weiteren Schritt.
Der leblose Körper lag am Boden und steckte zur Hälfte in einer umgekippten Mülltonne. An der Mauer gegenüber stand eine Dame von gut sechzig Jahren, die Handtasche an die Brust gepresst, ein Taschentuch vor dem Mund, der ganze Körper von Schluchzern geschüttelt. Marcel rang nach Luft, trat auf sie zu und stellte fest, dass sie nach Erbrochenem stank. Er atmete lang aus und deutete auf den ausgestreckten Körper.
»Was ist passiert? Ist dem Herrn schlecht geworden?«
Der Geruch nach Blut, frischem Blut, stieg ihm plötzlich in die Nase. Die alte Dame schien nicht verletzt. Also … Bilder von Mafia-Abrechnungen und Dealer-Kriegen schossen ihm durch den Kopf.
Der Yorkshire-Terrier jaulte immer lauter. Marcel trat vorsichtig zu dem ausgestreckten, leblosen Körper, von dem nur die Beine aus dem Abfall herausschauten und vernahm das Heulen der näher kommenden Sirenen.
»Haben Sie gesehen, was passiert ist?«, fragte er und zögerte so den Augenblick hinaus, da er sich vorbeugen und sich selbst vergewissern musste.
Die Dame schluchzte nur, das Gesicht noch immer in ihrem Taschentuch vergraben.
Schockzustand, diagnostizierte Marcel, alte Damen haben schwache Nerven. Gut, dann also ran an den Feind. Er kniete neben dem Mann zwischen den Müllsäcken nieder, wollte ihm schon die Hand auf die Schulter legen, als er mit weit aufgerissenen Augen innehielt.
Zunächst, weil der betroffene Mann ohne jeden Zweifel tot war. Dann, weil es sich nicht wirklich um einen Mann handelte. Das Problem war, dass es sich auch nicht wirklich um eine Frau handelte. Denn obwohl der Körper in einer Hose steckte, deren geöffneter Schlitz keinen Zweifel an seiner männlichen Anatomie zuließ, war der halb unter Gemüseabfällen steckende Kopf der einer hübschen blauäugigen Blondine.
Diese anatomische Widersprüchlichkeit hatte weder mit Transvestitentum noch mit Hermaphrodismus zu tun, sondern schlicht und einfach mit dem Schneiderhandwerk. Denn der sauber abgetrennte Kopf der Frau war mit schwarzem Zwirn und großen Stichen am Hals des Mannes festgenäht worden. Man erkannte sie deutlich – eine Linie schwarzer Stiche auf der Höhe der Halsschlagader. Und außerdem, dachte Marcel, während er ausgiebig auf seine Schuhe kotzte, waren auch die Arme angenäht worden, alte faltige, fleckige Arme, und es fehlte, ja, es fehlte eine Hand, das Stück einer Hand, wie … abgebissen …
Er wurde von einem erneuten Brechreiz geschüttelt, den er nicht niederzukämpfen vermochte, während seine Kollegen in die Gasse strömten.
»Na, Blanc, das Kantinenessen bekommt dir wohl nicht?«
Capitaine Jeanneaux, Jean-Jean genannt, von der Kriminalpolizei maß den sich übergebenden Marcel mit einem ironischen Blick. Marcel richtete sich sogleich kerzengerade auf.
»’tschuldigung, Kommiss … mon Capitaine!«
Er konnte sich nicht an die neue Amtsbezeichnung gewöhnen und wusste nie, ob man »Capitaine« oder »mon Capitaine« sagen musste.
Unterdessen nahm Capitaine Jeanneaux die Leiche in Augenschein und wandte sich schließlich ab, ohne dass ein Muskel seines fein geschnittenen gebräunten Gesichts zuckte.
»Die Schweinereien, die man heutzutage zu sehen kriegt!«, bemerkte er angewidert.
Undurchdringlich, zynisch und knallhart, so gab sich Jean-Jean, seitdem er die Abteilung übernommen hatte. Er hatte seine Jugend damit verbracht, harte Kinohelden nachzuahmen, und als Ermittler fühlte er sich Malko Linge näher als Jules Maigret.
»Costello, halt mir bitte diese Schwachköpfe fern und jag die Köter weg«, sagte er, an seinen Assistenten gewandt, der mit seinem schütteren, schwarz gefärbten, streng zurückgekämmten Haar und seinem dünnen Schnauzbart an einen neapolitanischen Zuhälter erinnerte, ein Metier, dem sein Vater sein Leben lang nachgegangen war.
Nachdem seine Frau der Syphilis zum Opfer gefallen war, hatte Costello senior seinen Sohn nach Frankreich zu seiner Schwester, einer bigotten Witwe, geschickt, und so war Antoine Costello in den Genuss einer ausgezeichneten Erziehung in einer Klosterschule gekommen. Aber – geerbt oder nicht? – er hatte eine Vorliebe für das Outfit und Gehabe der Zuhälter der fünfziger Jahre, was niemand ihm zu sagen wagte, weil er ein Mann der alten Schule war, dessen größtes Glück darin bestand, Mallarmé ins Altgriechische zu übersetzen.
Lieutenant Costello legte die langen Pianisten- oder Würgerhände zusammen: »Wenn Sie die Güte hätten, sich zu entfernen«, rief er dem niederen Volk zu, das sich zu drängen begann.
»Wie lehrreich der Anblick auch sein mag, so ist er doch wenig erbaulich«, fügte er hinzu.
Verblüfft über die gestelzte Sprache dieses Mannes, der offenbar ein bekehrter Zuhälter war und sich darüber hinaus als Bulle herausstellte, wichen die Leute artig zurück.
Costello hob den kleinen zitternden Hund auf und reichte ihn seiner Besitzerin, die von einer Nachbarin ein Glas frisches Wasser zu trinken bekommen hatte.
»Dieser dehydratisierte Canidae muss mit Wasser versorgt werden!«, sagte er, an die Nachbarin gewandt, die den Mund auf- und wieder zuklappte und sich fragte, ob Canidae im Polizeijargon »Köter« bedeutete.
Ramirez, der zweite Assistent von Jean-Jean, beugte seine hundert Kilo über die Leiche, wobei seine dicken Schenkel unter dem leichten Stoff seiner beigen Hose bebten und seine fleischigen Lippen sich öffneten.
»Chef, Chef, haben Sie gesehen, Chef, der Hund hat die Hand aufgefressen, haben Sie gesehen, Chef?«, keuchte er, hochrot von der Anstrengung, sich wieder aufzurichten, und strich mit den Wurstfingern durch sein graues, schlecht geschnittenes Haar.
Jean-Jean, der seinen gewöhnlichen und fettleibigen Untergebenen zutiefst verachtete, seufzte, ohne zu antworten, und schnipste ein Staubkörnchen von seinem lachsfarbenen Lacoste-Hemd.
»Lügner! Niemals würde mein Zouzou so etwas bei einem Mann tun, den er nicht kennt, niemals!«
Die empörte alte Dame wedelte mit ihrem besudelten Taschentuch unter der Nase von Ramirez, dem fast die Luft wegblieb.
Jean-Jean klopfte Marcel scheinheilig auf die Schulter.
»Vielleicht hatte Marcel ja etwas Appetit, was, Marcel?«, sah er sich genötigt hinzuzufügen, und das zum großen Missfallen von Costello, der diese Art von Zynismus nicht ausstehen konnte. »Nun beruhigen Sie sich, meine Dame«, fügte er lebhaft hinzu, »und kommen Sie her. Ich bin Capitaine Jeanneaux, ich nehme Ihre Aussage auf.«
Der Regen hatte wieder eingesetzt, und als er auf die Leiche tröpfelte, klang das wie ein kleines trauriges Lied. Antoine Costello bekreuzigte sich unter den spöttischen Blicken seiner Kollegen.
»Wenn du tot bist, bete ich auch für dich«, sagte er zu Ramirez.
Der presste die Hand auf sein unter der Fettschicht verborgenes Herz.
»Beschwör kein Unglück herauf, Tony!«
Der Krankenwagen hielt mit quietschenden Reifen an. Zwei junge Männer in weißen Kitteln sprangen heraus und stießen Marcel beiseite. Den Blick auf Jean-Jean geheftet, dachte er, dass sich dieser Idiot tatsächlich für einen Kinohelden hielt, und andererseits, dass er seiner zukünftigen Exfrau endlich einmal was zu erzählen hätte.
»Oh verflucht!«, stieß einer der Krankenträger aus. Das war das Mindeste, was man sagen konnte.
Als er aus dem Autobus stieg, rutschte der kleine Mann aus und wäre beinahe der Länge nach hingefallen. Ein langer Typ lachte. Der kleine Mann sah ihn ruhig an. Der andere wandte sich ab. Die Menschen sind wie Hunde, man muss ihnen zeigen, wer der Herr ist.
Zu Hause angekommen, warf er sich aufs Sofa, ein großes altmodisch gepolstertes Möbel, Erbstück von einer Tante, die er kaum gekannt hatte. Er schaltete den Fernseher ein. Ein großes neues Gerät mit extra flachem Bildschirm, numerischem Ton und allem anderen Drum und Dran. Er liebte das Fernsehen. Er hatte Kabelanschluss. Sechsunddreißig Programme, zapp-zapp-zapp, rund um die Uhr, Geräusche, Bilder, ständiges Kaleidoskop der Welt in Bewegung – Bewegung, er liebte die Bewegung. Er schaltete auf Eurosport.
Mit etwas Glück wird das Match nicht zu Ende gespielt.
Ballwechsel auf nassem Platz, es regnet wirklich überall, schon wieder ein verpatzter Sommer … Seht euch diesen Idioten an, er schlägt daneben, los, mach schon, du Blödmann!
Während er die Spieler beschimpfte, roch der kleine Mann an seiner Hand, berauschte sich an dem süßlichen Geruch, den sie verströmte. Er lächelte vor sich hin, entblößte seine spitzen gelben Zähne. Er hatte eine Reportage über die früheren Kannibalen der Samoa-Inseln gesehen, die sich regelmäßig die Zähne feilten, und hatte beschlossen, es ihnen gleichzutun. Einfallsreiche und pragmatische Leute, diese Wilden. Naturnah wie ich. Was ist die Natur anderes als der im großen Rahmen organisierte Mord. Gut, es reicht nicht, zu philosophieren. Er musste zur Gefriertruhe gehen, eine neue Kreation vorbereiten …
Er stand auf, streckte sich genüsslich und kratzte sich zwischen den Beinen. Er zündete sich eine Gitane an und sog den Rauch tief ein. Er fühlte sich unheimlich gut. Er hätte nie geglaubt, dass ihm das solche Lust bereiten würde. Bis dahin hatte er sich mit Tierkadavern begnügt, die man ihm überlassen hatte. Er konnte ein paar schöne Kombinationen verbuchen. Eine Hund-Katzen-Ratte mit sechs Beinen und drei Schwänzen, zum Beispiel. Aber das hier, das war wirklich etwas anderes!
Der Beute auflauern, sie überraschen und schnell töten, sie in mein Schlupfloch schaffen, auf den Tisch legen – Stillleben in situ –, zusehen, wie die Säge ihre Spur im Fleisch hinterlässt, das sich öffnet und die verschlungenen Blutgefäße zu Tage bringt, den Druck verstärken, schneiden, fühlen, wie sich die Knochen spalten, die Glieder und den Kopf abtrennen, einen Kopf, den man an den Haaren hält, dessen Gewicht man am Ende des ausgestreckten Arms spürt, es ist wie eine Wodka-Transfusion, ein unvergleichlicher Trip, eine der Elite der Jäger vorbehaltene Reise jenseits der Realität!
Ein entzücktes Lächeln um die schmalen Lippen, hob er den Deckel der überdimensionalen Gefriertruhe. Es war das erste Mal, dass er sich an Menschen vergriff. Genauer gesagt, das zweite Mal. Aber das erste Mal zählte nicht wirklich, es hatte sich fast von selbst ergeben. Er schloss die Augen, mochte nicht daran denken, wollte nie mehr daran denken. Lieber sah er sich auf dem Platz um, nach Einbruch der Dunkelheit, nahm den Geruch der Blätter wahr, das Zwitschern der Spatzen. Er hatte gewartet, geduldig, lange, bebend vor Erregung. Bei den gewöhnlichen Versuchstieren gab es kein Jagdfieber. Es gab nur sterbende Tiere, denen er in der üblichen Stille des Labors die letzte Spritze gab. Kein Wind in den Zweigen, keine ahnungslosen Passanten, kein Hupen, so nah und so fern von dieser magischen Erwartung.
Er durchlebte noch einmal jeden Eindruck, Sekunde für Sekunde, und seine Muskeln zuckten bei der Erinnerung. Der kleine Entsetzensschrei der Kassiererin, fast im selben Moment vom Rasiermesser erstickt, das Gefühl, wie ihre üppigen Brüste auf ihn prallten, die Erkenntnis, dass ein lebloser Körper schwer ist. Der alte Mann, willenlos im kurz geschorenen Gras ausgestreckt, sturzbetrunken. Er hatte nicht einmal Zeit gehabt, die Augen zu öffnen, war, ohne es zu ahnen, von der irdischen Nacht hinüber in die ewige Nacht geglitten. Der junge Typ dagegen hatte versucht, sich zu wehren, was mit einer über den Kopf gestülpten Plastiktüte natürlich nicht eben leicht war, und außerdem hatte er ihm gleich einen Stich in die Brust versetzt, tief ins Herz.
Er schnippte seine Zigarettenasche ins Spülbecken.
Das größte Problem war gewesen, sie unbemerkt in den Lieferwagen zu befördern. Zum Glück hatte er den großen Werkzeugkasten auf Rädern im Wagen – für den Kompressor. Niemand achtete auf die Kerle im Blaumann, die irgendwas mit sich rumschleppen.
Doch wenn dieser Idiot von Marcel Blanc glaubte, niemand hätte etwas von seinem Herumgetue mit dieser Frau bemerkt! Viel zu dunkle Haut … auf dunkler Haut dürften die Einschnitte weniger deutlich zu sehen sein. Wie bei einer Zeichnung auf grauem Papier. Oder man müsste tiefer schneiden, damit das Rosa des Inneren zu Tage trat. Alles nur eine Frage der Kontraste. Na ja, jeder nach seinem Geschmack …
Was ihn betraf, so hatte er eine Vorliebe für große Blondinen mit Silikonbusen und Sommersprossen. Was leider nicht auf Gegenseitigkeit beruhte.
Herblain, der Gerichtsmediziner, den die Polizisten vertraulich »Doc 51« nannten, setzte sich auf den Schreibtisch von Jean-Jean, der dabei war, Stapel vergilbter rosafarbener Akten mit klinikgrünen zusammenzuheften. Jean-Jean schwitzte. Es war heiß und schwül, ein regelrechtes Tropenklima. Das Gewitter staute sich im Vorgebirge, die Fliegen waren lästig und alle übelst gelaunt. Er hob die Augen zu Herblain, musterte das hagere, faltige Gesicht, um irgendeine Information darin zu lesen. Seit seiner Zulassung als Assistenzarzt hatte es sich Herblain zur Gewohnheit gemacht, seine Gefühle in Litern von Pastis, Marke 51, zu ertränken, daher sein Spitzname, und so schwebte er unentwegt auf einer Wolke guter Laune. Mit einem Taschentuch, das mit Auswurf besudelt war, trocknete er seine Stirn, um es anschließend, sorgfältig gefaltet, wieder einzustecken.
»Hab so was noch nie gesehen …«, seufzte er. »Ein echtes Puzzle!«
Er stieß ein kleines trockenes Lachen aus, das in Husten überging, den rauen Husten der Alkoholiker.
Ein nach Maß zugeschnittenes Puzzle aus Menschenfleisch, sagte sich Jeanneaux finster.
»Der Körper dürfte um die dreißig sein«, fuhr Herblain fort, als sich der Husten gelegt hatte, »er gehört zu einem kräftig gebauten, stark behaarten, kerngesunden Mann. Der Kopf: eine junge Frau von fünfundzwanzig, sechsundzwanzig, würde ich sagen. Und die Arme, ja, die Arme, die gehören zu einem alten Mann von mindestens fünfundsiebzig Jahren, ich tippe auf einen Clochard, denn die Arme sind zerstochen wie ein Sieb.«
»Womit zerstochen?«
»Mit einer Nadel, Kommissar, wahrscheinlich mit Heroin oder billigem Fusel gefüllt! In welchem Zustand sich wohl der Rest befindet …«, fügte er mit heiterer Miene hinzu.
»Der Rest?«
»Die Reste, besser gesagt. Nun ja, mein kleiner Jeanneaux, der menschliche Körper besteht nun mal aus zwei Armen, zwei Beinen, einem Rumpf, einem Kopf, also müssen die fehlenden Teile unseres Multi-Opfers zwangsläufig irgendwo sein. Wie auch immer, ich muss jetzt gehen, meine Enkeltochter hat Geburtstag …«
»Bestellen Sie ihr schöne Grüße von mir. Eine Frage noch: Um menschliche Körperteile zusammenzunähen, braucht man doch sicher eine große Nadel, oder?«
»Eine Chirurgennadel oder eine von diesen dicken Nadeln, mit denen man Jeans oder Leder näht. Sie wissen ja, Haut ist leicht zu durchlöchern!«
»Kann man nicht rausbekommen, woran sie gestorben sind?«
»Unmöglich! Alles, was wir haben, ist in gutem Zustand.
Wenn es Spuren gibt, dann auf den fehlenden Teilen. Na ja, Jean-Jean, Sie werden sie schon finden, was?«
»Vielleicht auf dem Fundbüro, mit etwas Glück. Also wiedersehen, Doktor, ha, ha, ha!«
Hinter der Rauchwolke seines ewigen Zigarillos versteckt, war Costello dem gezwungen heiteren Wortwechsel gefolgt. Der arme Jean-Jean war wirklich nicht zu beneiden.
Der Polizeibeamte Marcel Blanc träumte auf dem großen Platz vor sich hin. Heute war es noch heißer, kein Windhauch regte sich. Geschmolzenes Blei, wie es in den Büchern hieß. Er dachte an den vergangenen Abend zurück: Anstatt ihm, wie gewohnt, eine Szene zu machen, hatte Madeleine ihn wie einen Helden gefeiert. Zum ersten Mal in ihren fünfzehn gemeinsamen Jahren kümmere er sich um etwas Interessantes!, hatte sie verkündet und ihre gebleichte Mähne geschüttelt. Ein abscheulicher Mord, von dem sie sofort all ihren Freundinnen erzählen müsse! Sie formte die fleischigen Lippen, die ihn einst verführt hatten, zu einem Rund und verschränkte die drallen Arme vor der Brust. Dann stürzte sie sich aufs Telefon.
Madeleine wollte einfach nicht einsehen, dass sie sich mitten im Scheidungsprozess befanden. Marcel zuckte die Achseln: Es war aus mit Madeleine, zu lange schon ließ sie ihm keine Luft mehr zum Atmen. Er durfte sich nicht länger von ihr erdrücken lassen.
In der Ferne sah er einen seiner Kollegen vorübergehen und dachte bei sich, dass sie wirklich wie amerikanische Cops aussahen in ihrer neuen Aufmachung – blaues Hemd mit Epauletten und Schirmmütze. Madeleine sagte, mit Schirmmütze oder Käppi – Idiot bleibt Idiot. Nein, wir hatten doch gesagt: Schluss mit Madeleine! Er verjagte das Bild seiner üppigen und rachsüchtigen Frau wie eine lästige Fliege und dachte erneut an seine grausige Entdeckung vom Vortag.
Der Mörder hatte unmöglich am Fundort agieren können. Er hatte an einem Ort operiert, wo er die Leichen zusammentragen und ungestört seiner makabren Inszenierung nachgehen konnte. Warum hatte er sein … sein Werk in dieser Sackgasse mitten im Stadtzentrum deponiert? Es dürfte doch einigermaßen gefährlich sein, mit so einem Ding im Wagen herumzukutschieren! War das Verbrechen ganz in der Nähe geschehen? Vielleicht wohnte der Mörder hier?
Man hatte das Mädchen inzwischen identifiziert. Ihr Mann hatte sie heute Morgen auf dem Zeitungsfoto erkannt. Ein Schwarzweißbild, das im Leichenschauhaus aufgenommen worden war und nur das Gesicht zeigte, die Augen geschlossen. Die Kassiererin eines Supermarkts; sie war vor zwei Tagen als vermisst gemeldet worden. Nach der Arbeit hatte sie die kleine Grünanlage durchquert, bevor sie zerstückelt worden war; sie war nie zu Hause angekommen.
Ihr Mann hatte völlig verstört gegen elf Uhr abends die Polizei angerufen. Die Kollegen der Verstorbenen hatten bestätigt, dass sie immer die Abkürzung durch die Grünanlage nahm; wegen der vielen dort dealenden Kids meinte sie nichts zu riskieren. Es war gut möglich, dass der alte fixende Clochard auch häufig in der Grünanlage gewesen war. Vielleicht wohnte der Mörder ganz in der Nähe. Aber Marcel Blanc war nicht beauftragt, die Ermittlungen zu führen. Er war damit beauftragt, den Alten über die Straße zu helfen und die Hunde daran zu hindern, auf die Blumen rings um das Kriegerdenkmal zu pinkeln, das in der Mitte des Platzes neben dem Brunnen stand.
Warum zum Teufel mussten all die Touristen immer so laut schreien? Der Schweiß rann ihm unter dem Schirm seiner Mütze über die Stirn. Marcel trocknete sich diskret die Augen, sein roter Schnauzbart war klitschnass.
Der Vierzehn-Uhr-Bus bremste abrupt, verfehlte um Haaresbreite einen Roller, dessen Fahrer brüllte: »Alte Schwuchtel!«, woraufhin der Chauffeur zurückschrie: »Verpiss dich!« Marcel seufzte. Die Türen öffneten sich quietschend, und die junge Frau mit der Tätowierung stieg aus. An der einen Hand hielt sie ihren kleinen Sohn, in der anderen ihre Einkaufstasche, und sie unterhielt sich mit einem alten Mann im grauen Polyesteranzug, der ihr etwas Unverständliches zurief.
Marcel pfiff automatisch hinter einem Kerl her, der bei Rot über die Ampel gefahren war. Die junge Frau drehte sich nach ihm um. Wie dämlich er mit dieser Trillerpfeife aussehen musste! Der schuldige Autofahrer setzte eine Unschuldsmiene auf.
Von wegen, dachte Marcel wütend, wirst schon sehen, Dreckskerl, du bekommst die Höchststrafe aufgebrummt.
Es war kühl in der Werkstatt. Einen glimmenden Zigarettenstummel zwischen den schmalen Lippen, spielte der kleine Mann mit dem Medaillon des Heiligen Christopherus, des Schutzheiligen der Reisenden und Autofahrer, das er immer am Hals trug. Über den Motor von Jeanneaux’ Wagen gebeugt, dachte er nach.
Heute Abend werfe ich die Reste am Strand weg. Eine nette Überraschung für die Fischer am nächsten Morgen. Mal was anderes als die Quallen und die Plastiktüten. Und dann, übermorgen, die Riesenschlagzeile in der Zeitung, zum Kaffee zu genießen, während Marcel malochte. Mir gefällt’s, wenn es über die ganze Seite abgedruckt ist. Zu wissen, dass man von mir spricht, von meinem Werk. Zu wissen, dass sich nach dem Ekel und den Schreien, die Angst in ihnen breit macht, schleichend, heimtückisch. Und das war erst der Anfang, Jungs … Übrigens wird es Zeit, sich nach was Neuem umzusehen.
Das Medaillon schaukelte über dem Vergaser, den er mit einem Lumpen putzte. Ja, nach was Neuem, etwas Brandneuem. Er hob den Kopf, suchte den Platz mit den Augen ab. Die Kleine mit dem gelben Rucksack, die gerade Zigaretten für ihren Vater kauft, warum nicht? Sie ist zum Anbeißen … Wie heißt sie gleich noch? Ach ja, Juliette. Juliette, ein hübscher Name für eine Leiche.
In diesem Moment kreuzte Jeanneaux auf, wie immer in Eile, wie immer schlecht gelaunt. Ein mieser Vollidiot, dieser Jeanneaux … Hält sich für einen Knallharten, macht einen auf »Lethal Weapon«, du sollst es kriegen, dein Opfer der tödlichen Waffe! Er warf den Zigarettenstummel auf den Boden und zertrat ihn sorgfältig wie eine Kellerassel.
Los, ihr Augen, rauf mit euch, seht ihn an, den Mund halb offen, die Miene auf blöd geschaltet.
Wie blöd dieser Kerl dreinschauen konnte! Jean-Jean pflanzte sich vor ihm auf, die Hände in die Hüften gestemmt.
»Na, ist er fertig?«
Die Stimme, perfekte Nachahmung eines Mechanikers Ende des zwanzigsten Jahrhunderts.
»Nein, ich weiß nicht, was er hat, es muss die Zündung sein, aber keine Sorge, ich kümmere mich drum …«
»Es ist immer dasselbe! Gut, ich komme um fünf wieder vorbei. Ist er bis dahin fertig?«
»Aber sicher! Schönen Nachmittag noch, Herr Kommissar«, sagte der kleine Mann zu Jean-Jean, der sich eilig entfernte.
»Schönen Nachmittag, Zwerg!«, zischte Jeanneaux zwischen seinen strahlend weißen Zähnen.
Alles Nullen in dieser Werkstatt, dachte er bei sich. Er war von Nullen und Flaschen umgeben, die ständig nur jammerten und ihre kleinen Sorgen vor aller Welt ausbreiteten. Vor dem Schaufenster einer Parfümerie blieb er stehen, um sich zu vergewissern, dass sein eierschalenfarbenes Versace-Hemd richtig in seiner cremefarbenen, perfekt geschnittenen Hose steckte – eine kleine Extravaganz, die er sich in London hatte maßschneidern lassen. Er beugte sich vor, um einen Fussel von seinen rotbraunen Wildlederschuhen zu entfernen, und setzte den Weg mit einem geheimnisvollen Lächeln auf seinem kantigen Gesicht fort.
Am Dienstagmorgen um sechs Uhr wollte sich ein junger Holländer, der am Strand geschlafen hatte, erleichtern und stolperte über eine feuchte Matratze.
Da er nach genauer Untersuchung feststellte, dass die Matratze mit Gliedern und Augen ausgestattet war, begriff der Holländer – wenngleich infolge des Genusses verbotener Substanzen völlig high –, dass er es mit einer Leiche zu tun hatte, deren Beerdigungstermin längst überschritten war, und fing erbärmlich an zu schreien, bis beunruhigte Anwohner die Polizei alarmierten.
Die besagte Leiche stellte sich als eine Art morbides Patchwork heraus: zwei Beine eines alten fixenden Clochards, der Rumpf einer Supermarkt-Kassiererin in Arbeitskleidung und der Kopf eines bärtigen Dreißigjährigen – das Ganze mit festem schwarzem Zwirn zusammengenäht, ähnlich wie Fischer ihre Netze flicken, was für eine Leiche, die an den Strand gespült wird, durchaus passend war.
Während er sich die Hände an seinem Taschentuch abwischte, erklärte Doc 51 – der Atem durchtränkt von Anisgeruch, der auch durch den ständigen Verzehr von Pfefferminzbonbons nicht zu vertuschen war –, dass die Leichenteile stellenweise irgendwie abgekaut, angeknabbert, eben angebissen worden waren … So war es, angebissen von menschlichen Zähnen!
Woraufhin sich Jean-Jeans Sekretärin erbrach, allerdings in ihre leere Kaffeetasse, was von einer Selbstdisziplin zeugte, für die sie anschließend von Jean-Jean in der verriegelten Toilettenkabine belohnt wurde.
Es war Donnerstag, und alles war ruhig.
»Juliette! Geh Milch holen, bitte!«
»Ach, Maman! Später, jetzt laufen gerade Video-Clips!«
»Juliette, mach sofort den Fernseher aus und geh Milch holen!«
»Es ist doch schon dunkel …«
»Red keinen Blödsinn und beeil dich!«
Juliette schaltete den Fernseher aus und lief hüpfend hinaus. Der heiße Wind strich über ihre Haut wie der Luftstrahl aus einem auf Höchststufe gestellten Föhn. Sie hatte Lust auf eine eiskalte Coca Cola. Wie nervig ihre Mutter sein konnte …
Der kleine Mann absolvierte sein Jogging, wobei er ständig nach der Kleinen Ausschau hielt. Wegen der Hitze waren wenige Leute unterwegs. Am Ende des Weges entdeckte er sie plötzlich. Beim Gedanken an ihre zarte Haut krampften sich seine Bauchmuskeln zusammen …
Die Kleine trällerte irgendwas Idiotisches aus dem Fernsehen vor sich hin. Wie jedes Mal, wenn sie ihm begegnete, lächelte sie ihm zu. Sie mochte ihn, weil er Grimassen schnitt; er hatte etwas von einem Kobold. Neulich hatte er Papas Wagen repariert, der nicht mehr anspringen wollte. Er rief sie, ohne die Stimme zu heben:
»Juliette, schau mal her! Ein kleines Kätzchen …«
»Ich hab keine Zeit, ich muss Milch holen!«
»Jemand hat es dort ausgesetzt, es wird sterben. Willst du es nicht mit nach Hause nehmen?«
»Wir haben doch schon einen Hund … Wo ist das Kätzchen denn? Ist es noch ein Baby?«
»Ja, es ist winzig, sieh nur, da hinter dem Busch …«
Alles, was Juliette sah, war gelbes trockenes Gras. Zwei kräftige Hände legten sich fest um ihren Hals, ein spitzes Knie stieß ihr in den Rücken, und ihr junges Genick brach wie das eines Kätzchens. Der Mann öffnete seine große Sporttasche aus wasserfestem Stoff (Geschenk eines Versandhauses) und stopfte das Kind hinein. Knack-knack, hatte das brechende Genick gemacht.
Pfeifend ging er davon. Die Melodie aus Fritz Langs M – Eine Stadt jagt einen Mörder, weil es ihn amüsierte. Er hatte schon alles Mögliche über Mörder gelesen. Über ihre Psyche und bla, bla, bla. Nie die Wahrheit, versteht sich. Man muss wissen, dass wir zu einer höheren Rasse gehören. Dass wir anderen Gesetzen gehorchen, die euren Gesetzen überlegen sind. Auf alle Fälle wollten die Psychologen, die Psy, dass alle gleich sind, in die Gesellschaft integriert, jeder schön an seinem Platz wie die Geschirrtücher, die Servietten und die wohl behüteten Kühe. Alles, was nicht ins Schema passt, wird entfernt – schnipp-schnapp! Alles, was die Behörden zu sagen hatten, war, dass er ein schweres Trauma durchgemacht hatte, das ihn daran hinderte, sich normal zu entwickeln.
Zehn Jahre lang hat es mir der Psy eingehämmert, dort, auf der Müllkippe für Menschen, wo man mich hat dahinvegetieren lassen: »Du hast ein schweres Trauma durchgemacht. Ein Trauma, das dich daran gehindert hat, dich normal zu entwickeln.« Und das, weil ich einem hirnlosen Haufen Fleisch, mit dem ich gezwungen wurde zu reden, ein Ohr abgerissen hatte. Traumatisch ist es, hier eingesperrt zu sein, mit den Abfällen der Menschheit, die sich bepinkeln, und eure Gehirnwäsche zu ertragen; ich habe gedacht, ohne zu antworten, und meinem Mund den Befehl erteilt, zuzustimmen, und den Augen, sich leidenschaftlich zu geben. Ich bin ein Alien, der gezwungen ist, wenig Profil zu zeigen, damit die falsche Haut, in der ich stecke, keine Risse aufweist.
Ich gehorche der Stimme meiner Natur, weil es meiner Natur entspricht. Macht man etwa den Wölfen, den Bären, den Raubtieren einen Vorwurf daraus? Hat ein Wolf etwa Lust, sich selbst in Frage zu stellen? Sich selbst zu akzeptieren ist der Schlüssel zum Erfolg. Buddha hat gesagt: »alles ist Wandel«, jedes Mal, wenn ich das Schicksal verändere, beschleunige ich die Vollendung eines Zyklus. Nur dass mich das einen Dreck schert. Was zählt, ist, dass es mich stimuliert. Das ist die wahre Wirklichkeit. Der Rest ist nichts als Bücherweisheit … Das ist wie bei den Typen, die sich am Geld oder am Gipfelstürmen berauschen. Du musst immer höher, immer weiter, immer schneller, immer irgendwas mehr, du bist süchtig. Bis zum Rand voll mit Adrenalin. Ich bin eine schussbereite Kanone, bin Kugel und Rohr, Munition und Artillerist zugleich.
Der König der Raubtiere.
Und sie, sie sind Vieh, das mir von Mutter Natur bereitgestellt wird. Dumme, engstirnige Tiere, dafür geschaffen, meinem Werk zu dienen.
Mit einem Seufzer der Erschöpfung stellte Madeleine die gefüllten Ravioli auf den Tisch. Bei dieser Hitze einkaufen gehen, welche Qual! Und auf Marcel mit seinen unmöglichen Dienstzeiten war auch nicht zu zählen. Na ja, der Dreckskerl war ihr nie eine große Hilfe gewesen. Sollte er doch Leine ziehen, sich scheiden lassen, nachdem sie die schönsten fünfzehn Jahre ihres Lebens für ihn geopfert hatte!
Sie wäre fast in Tränen ausgebrochen.
Marcel rührte grüblerisch in dem Ravioli-Magna auf seinem Teller und dachte an die Frau aus dem Autobus. Erstens war sie sicher verheiratet, und vielleicht sprach sie nicht einmal Französisch … Die schrille Stimme von Madeleine durchbohrte ihm das Trommelfell.
»Sie sind zum Kotzen? Sag’s nur, sie sind zum Kotzen!«
»Was?«
»Die Ravioli!«
Was belästigte sie ihn mit ihren blöden Ravioli? Es war schon großzügig von ihm, dass er überhaupt mit ihr aß! Er spürte den Zorn in sich hochschießen wie den Dampf im Teekessel.
»Ja, sie sind zum Kotzen. Und um mitten im Sommer Ravioli zu machen, muss man verrückt sein!«
»Maman, Papa hat ›zum Kotzen‹ gesagt!«
»Halt die Klappe, Rotznase! Mein Gott, hoffentlich ist das alles bald vorbei!«, rief Marcel und trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte.
»Alles – was?«, fragte Madeleine, die Hände in die Hüften gestemmt, die Augen Funken sprühend.
»Dieser ganze Zirkus, verdammt noch mal!«
Marcel stieß seinen Teller weg und verließ türknallend die Küche.
Madeleine nahm den vollen Teller und schleuderte ihn an die Wand, während die Kinder sich unter den Tisch verkrochen.
Auch der kleine Mann saß bei Tisch. Er aß lustvoll von dem, was vor ihm stand, und hielt von Zeit zu Zeit inne, um einen kräftigen Schluck kühles Bier zu trinken. Er warf seinem Gast einen lächelnden Blick zu.
Juliette lag auf dem Sofa ausgestreckt. Unter dem hochgerutschten Rock schauten ihre mageren Beinchen hervor, ihr Kopf war zum Fernseher gedreht. Wenn man sie so sah, konnte man meinen, sie schliefe. Erst beim Nähertreten erkannte man, dass sie nicht … intakt … war.
Der kleine Mann nahm einen großen Bissen, unterdrückte einen Rülpser, räkelte sich lustvoll. Er hatte schon Hunde-, Katzen-, Rattenfleisch gegessen – von weißen und grauen, die Weißen schmeckten fader –, ja, sogar Vogelspinnen, aber Menschenfleisch, das war was anderes, ein einzigartiger Geschmack, der damit zusammenhing, dass man etwas verschlang, das einem ähnlich war.
Jedes Mal, wenn sich seine Gedanken auf dieses Terrain vorwagten, verbarg er sie, ohne es zu merken. Es gab in den Winkeln seines Gehirns eine Vielzahl kleiner eiserner Vorhänge, die sich ganz plötzlich zuziehen ließen, wo die roten und glänzenden, die nagenden Dinge lagerten, bespritzt mit glühend heißer, unerträglicher Säure.
Stolz auf seine Kraft, packte er Juliettes leblosen Körper mit einer Hand, hob ihn hoch, ließ seinen Bizeps spielen, warf die Kleine auf den Tisch, griff nach der großen Säge und machte sich auf dem Wachstuch an die Arbeit.
Die Säge kreischte.
Jean-Jean war müde. Müde vom Denken, müde vom Arbeiten, mit einem Wort: müde vom Leben. Keine Lust, ein halbes Jahr lang zu suchen, von wem die Leichenteile stammten, und noch weniger, wer der Irre war, der sie zersägt und wieder zusammengesetzt hatte.
Die Männer vom Labor schufteten Tag und Nacht, ohne brauchbare Ergebnisse.
Die Presse machte gute Geschäfte mit den »makabren Puzzleteilen«, und sein Chef setzte ihn täglich mehr unter Druck. Die Touristen, von denen die Stadt lebte, waren in ihrem Urlaubsprogramm nicht erpicht auf eine »Begegnung mit einem verrückten Mörder«.
Der alte Clochard hieß Hans Meyer. Ein Elsässer. Man hatte ihn anhand seiner Deportiertennummer identifizieren können. Ein Fixer, der stadtbekannt war, harmlos und ziemlich verkalkt. Der Schönling war ein italienischer Maurer, verheiratet, vier Kinder, unbescholten. Der Fall der Kassiererin war noch schlimmer! Eine Heilige, die zwölf Stunden am Tag schuftete, um ihre drei Gören, die inkontinente Mutter und ihren Säufer von Mann durchzufüttern … Äußerst unwahrscheinlich, den Schuldigen in ihrem Umfeld zu finden.
Im Leichenschauhaus hatte man die Toten zur Identifizierung durch ihre Verwandten »wieder hergerichtet«. Im angezogenen Zustand waren die Nähte nicht zu sehen. Aber das war alles andere als angenehm gewesen. Jean-Jean hatte das Geheule und Gejammer, die Ohnmachtsanfälle, die Weinkrämpfe über sich ergehen lassen müssen, all das, wovor ihm graute.
Und jetzt dieses Mädchen, das verschwunden war.
Rein zufällig gleich bei der Grünanlage. Seit drei Tagen schon. Der kleine Mechaniker von der Autowerkstatt hatte Jean-Jean angebrüllt, dass es in der Grünanlage von Spinnern wimmele und die Polizei natürlich nichts unternehme, sondern lieber Strafzettel an falsch geparkte Autos klebe!
Jean-Jean hätte ihm am liebsten eine reingehauen, konnte sich aber gerade noch beherrschen. Verkorkste Ermittlungen. Verkorkste Stadt. Verkorkster Sommer. Wenn man an höherer Stelle glaubte, dass er seinen Urlaub absagen würde! Am besten ging er jetzt erst mal einen trinken, er hatte eine ganz trockene Kehle. Einen eisgekühlten Pastis, genau das brauchte er jetzt. Er hätte sich gern einen Bourbon gegönnt, wie in »Hollywood Nights«, aber der war nicht wirklich durststillend.
Er warf einen prüfenden Blick in den kleinen Spiegel hinter seiner Bürotür, riss sich ein vorwitziges Härchen aus dem linken Nasenloch und machte sich übelst gelaunt auf den Weg.
»Mal sehen … was würde gut dazu passen?«
Der kleine Mann dachte nach. Er hatte Juliettes Kopf auf den Tisch gelegt und betrachtete ihn aufmerksam. Wenn man eine Collage macht, überlegt man erst einmal, welche Wirkung, welchen Effekt man erzielen will.
Den Überraschungseffekt. Einen Sinn geben. Signifikanz, würde der Psy sagen. Was er bräuchte, wäre ein Dicker, ein Fetter, ein richtiges Übergewicht, genau das war’s, einen Kontrast zu diesem kleinen Kinderkopf Und ganz winzige Ärmchen. Kleine Arme, ein kleiner Kopf und ein gewaltiger Körper, wie mit Helium aufgeblasen! Eine Art dicke menschliche Puppe. »Doggy Bag«, der neue Freund eurer Kinder!
Der kleine Mann verstaute Juliettes Kopf in der Gefriertruhe und verließ seine Wohnung auf der Suche nach dem geeigneten Exemplar.
Heute war wirklich die Hölle los. Die ganze Stadt ein einziger Stau. Tausende von hysterischen Hupen. Die Warteschlange für die Fähre zu den Inseln war mindestens hundert Meter lang. Man teilte hinterlistige Hiebe mit Kühltaschen an dralle Waden, mit Sonnenschirmen gegen fette Wänste aus.
Marcel gähnte. Bis zwei Uhr morgens hatte er mit Madeleine gestritten. Jetzt war er fix und fertig. Autobusse, die im Stau steckten, Motorradfahrer ohne Helm, Falschparker, alte Lüstlinge, junge Säufer, Clochards, pissomanische Köter, Kleptomanen: Dem Polizeibeamten Marcel Blanc war alles egal. Schlafen, sich ausruhen, das wollte er. Nach Alaska reisen, sich im Eis wälzen … Mein Gott, war der Typ dick!
Der Fettleibige überquerte mühevoll den Platz, watschelnd wie eine Ente. Das Fleisch wabbelte unter seinem überdehnten Hawaiihemd, der Bauch hing ihm über die Schenkel wie eine Schürze. Marcel beobachtete ihn, ohne es zu wollen, peinlich berührt, aber fasziniert. Er war nicht der Einzige.
Der Fettleibige lehnte sich an eine Wand, um wieder zu Atem zu kommen. Dann watschelte er weiter und ruderte mit den Armen, gewaltig wie Kalbshaxen in der Fleischauslage, wobei sein mit Konserven gefülltes Einkaufsnetz an sein monumentales Knie schlug.
Kleine braune Augen, lebhaft und neugierig, folgten dem Dicken. Dann hefteten sie sich nachdenklich auf Marcel. Für eine Sekunde flammte in dem braunen Blick eine boshafte, wirklich boshafte Freude auf, doch als Marcel, auf geheimnisvolle Weise alarmiert, sich nach ihm umdrehte, war es plötzlich nur noch ein lächelnder, freundlicher, völlig normaler Blick.
Marcel hatte sich rasch umgedreht. Das Gefühl, beobachtet zu werden. Ein unangenehmes Gefühl. Aber nein, alles war normal.
Der kleine Mann stieg auf sein Moped. Ich muss diesen Dicken kriegen. Sofort. Noch heute Abend. Diese wogende Fleischmasse. Diesen Berg auf zwei Beinen, diesen unglaublichen Haufen Rohmaterial. Ich muss …
»Ich fahre in die Werkstatt, bin bald zurück …«
Der Chef nickte, in Gedanken bei der Steuerprüfung, die er am Hals hatte.
Der Spur des Dicken war so leicht zu folgen wie der eines Walfischs in der Savanne. Der Mann überquerte mehrere Straßen, steuerte in seinem schwankenden Gang langsam auf die Tür eines alten Gebäudes zu und trat erleichtert in den Eingang. Natürlich schenkte er dem Mopedfahrer, der hinter ihm anhielt, keine Beachtung.
Er hieß Roger. Laurent Roger. Er war dreiunddreißig Jahre alt. Seine Mutter war vor zwei Jahren gestorben, in dem Jahr, als er hundertdreißig Kilo erreicht hatte. Inzwischen war er bei hundertzweiundvierzig Kilo angelangt. Er war nicht verheiratet, war es nie gewesen und hatte nie eine Frau »gekannt«. Er zog Dosenravioli vor.
Er begann die Treppe hinaufzusteigen und keuchte. Er wusste nicht, dass er sich das letzte Mal diese verdammten Stufen hinaufquälte. Aber wenn er es gewusst hätte, hätte es ihm vielleicht nicht besonders gut gefallen …
Marcel trocknete sich vor seinem Spind ab, nahm seine Kleider an sich und schielte im Spiegel auf seinen muskulösen Bauch. Kein Gramm Fett, sagte er sich zufrieden. Die gleiche Figur wie vor zwanzig Jahren. Von seinen nassen Haaren tropfte es angenehm kühl auf seinen Nacken. Er fühlte sich zugleich leicht und stark. Männlich. Jeden Montag ging er zum Karatetraining. Und dort hatte er sich mit Jean-Mi angefreundet. Jean-Mi hatte Jacky und Ben mitgebracht, und Ben hatte Paulo überredet beizutreten. Mehrere von Marcels Kollegen kamen ebenfalls, der Trainer war früher französischer Karatemeister gewesen.
Aus den Augenwinkeln sah Marcel, wie sich Jean-Jean unter der Dusche mit einem Typen von der Sitte, Rudy la Fouine, unterhielt. Marcel spitzte die Ohren.
»Die vom Labor sagen, der Typ, der das gemacht hat, muss ein Profi sein. Gute Arbeit, sauber, präzise. Bei allen Leichen wurde dieselbe Säge benutzt. Eine Säge aus Kohlenstofffaser, wie Chirurgen sie benutzen. Kein Staub, keine Fasern von Kleidung, nichts. Nur winzige Plastikspuren, die an der Haut der Leichen kleben.«
»Vielleicht hat er sie in Wachstuch gewickelt …«
»Vielleicht. Nach der Präzision der Schnitte zu urteilen, ist anzunehmen, dass er in einer Metzgerei oder in einem Krankenhaus gearbeitet hat. Und er hat keine Brücke oder Zahnprothese: Er hat die Stücke, die fehlen, direkt mit den Zähnen herausgerissen.«
»Ein kannibalischer Chirurg vielleicht?«, erwiderte Rudy.
»Ja, oder er hat einen falschen Kiefer, wie in Dragon Rouge.«
Marcel fragte sich, was Dragon Rouge sein mochte. Ein Krimi wahrscheinlich. Er las nie Krimis, fand sie irgendwie deprimierend. Er las sowieso wenig. Keine Zeit, und er war nicht daran gewöhnt. Hin und wieder die Comics der Kinder und die Zeitung. Damit war sein Kopf schon voll gestopft.
Die anderen kamen zurück. Lärm von männlichen Stimmen, x-mal wiederholte Sticheleien, Gelächter. Jean-Mi, Paulo und Ben zogen Marcel wegen seiner mit gelben Ananas bedruckten Boxershorts auf, die er von seinen Kindern zum Vatertag geschenkt bekommen hatte. Jean-Jean und der große Rudy entfernten sich in ihrem Cowboygang.
Der alte blaue Lieferwagen parkte vor dem Hauseingang. Auf der anderen Straßenseite, über dem Crédit Foncier, zeigten Leuchtziffern Uhrzeit und Temperatur an: 23.15 Uhr, 27°. Der Lieferwagen war leer, der Boden der Ladefläche mit einer Plane bedeckt.
Im zweiten Stock öffnete sich leise die Wohnungstür. In eine schwarze Öljacke eingehüllt – etwas sonderbar in einer schönen Sommernacht wie dieser – trat der kleine Mann ein. Er schwitzte wie in einem Brutkasten. Er trocknete sich die Stirn, von der ihm der Schweiß in die Augen floss. Er hätte ein Haarband überziehen sollen, wie die Tennisspieler es trugen, dachte er verärgert.
Die Wohnung lag vollkommen im Dunkeln. Der kleine Mann blieb stehen, lauschte. Ein kräftiges Schnarchen führte ihn ins Schlafzimmer. Er stieß die Tür auf. Das Schnarchen ging unvermindert weiter. Auf leisen Sohlen trat er in das kleine Zimmer, schaltete für eine Sekunde seine auf den Boden gerichtete Taschenlampe an. Der Dicke schlief friedlich, ausgebreitet wie ein übervoller Müllsack. Der kleine Mann beugte sich über ihn, ein Schatten im Schatten. Der Dicke öffnete plötzlich die Augen.
»Wer ist da?!«
»Kapitän Haken«, murmelte der kleine Mann und öffnete ihm mit einem einzigen Schnitt seines Rasiermessers die Kehle.
Das Blut spritzte bis zur Decke, als käme es aus einem Geysir. Wie ein Ertrinkender ruderte der Dicke mit den Armen, dann immer langsamer, nur noch stoßweise. Der kleine Mann, der in seiner Öljacke bestens gegen das Blut geschützt war, machte sich daran, Traggurte, die er wohlweislich mitgebracht hatte, unter den Sterbenden zu schieben.
Der Körper zuckte ein letztes Mal. Bevor er ging, stach der kleine Mann ihm zum Spaß mit dem geschärften Rasiermesser ein Auge aus, das linke, und legte es in das Wasserglas auf dem Nachttisch. Ein Auge, das war lustiger als ein Gebiss, schließlich musste man den Bullen ein wenig Abwechslung bieten …
Der alte Mieter im dritten Stock wälzte sich gestört im Schlaf. Er fragte sich, wer zum Teufel nachts auf der Treppe Ball spielte. Als der Lieferwagen losfuhr, war er schon wieder eingeschlafen.
Marcel versuchte gerade, ein dickköpfiges, aber aufreizendes Weibsbild zu überreden, ihren Porsche nicht ausgerechnet unter dem Schild mit dem Abschleppzeichen zu parken, als ein alter Mann seinen Arm packte und schüttelte.
»Herr Wachtmeister, Herr Wachtmeister!«
»Sehen Sie nicht, dass ich beschäftigt bin! Einen Augenblick! Und Sie, Sie fahren jetzt Ihren Wagen weg, oder ich verpasse Ihnen ein Strafmandat!«
»Mein Mann ist Anwalt – der lässt sich nicht so einfach aufs Kreuz legen!«
Dich würde ich gern aufs Kreuz legen, dachte Marcel flegelhaft und schielte auf die BH-Körbchen Größe 95C der dreisten Person.
»Herr Wachtmeister, mein Nachbar, wissen Sie, er antwortet nicht …«, beharrte der Alte.
»Und was, glauben Sie, soll ich da machen? Madame! Madame! Warten Sie, Sie dürfen Ihren Wagen hier nicht stehen lassen! Kommen Sie zurück!«
»Kann ich nicht, ich habe einen Zahnarzttermin. Schreiben Sie mir einen saftigen Strafzettel aus, wenn es Ihnen Spaß macht, Herr Wachtmeister.«
Das Weibsbild trippelte auf seinen Stöckelschuhen davon, begleitet vom Klirren seines Goldschmucks. Marcel trocknete sich die Stirn. Der Alte zerrte noch immer an seinem Arm.
»Ich heiße Ange Garetti«, fuhr er fort. »Ich bringe ihm jeden Tag sein Baguette, meinem Nachbarn, meine ich. Er hat nicht geantwortet, und da er’s am Herzen hat …«
»Gut, ich komme, ich komme.«
Verdammte Bande von Hysterikern! Und während er dem kleinen Alten folgte, der ein erstaunliches Tempo vorlegte, überkam Marcel plötzlich eine unbändige Lust auf ein italienisches Eis. Hasserfüllt sah er einen Jungen, ein Rotschopf wie er selbst, eines schlecken – noch dazu Pistazie, sein Lieblingseis. Verfluchte Touristen.
Der Alte rannte jetzt fast. Drei Straßen weiter zog er Marcel in ein altes Haus. Im Vorübergehen bemerkte Marcel die zerbeulten Briefkästen, die angeschlagenen Kacheln. Höchste Zeit für eine Renovierung. Im Laufschritt ging es die rot gefliesten Stufen hinauf. Marcel nutzte die Gelegenheit, um auf Zehenspitzen zu gehen, das war gut für die Waden. Uff, Garetti war im zweiten Stock vor einer halb geöffneten Tür stehen geblieben. Marcel trocknete sich den Nacken.
»Die Tür ist ja offen! Sie hätten doch reingehen und nachsehen können, oder?«
»Man kann nie wissen, vielleicht sind Einbrecher drinnen, gehen Sie vor …«
Marcel zuckte die Achseln und trat ein, die Hand am Revolver.
»Polizei! Ist da wer?«
Keine Antwort. Kein Geräusch. Ein dunkler Flur, in dem es muffig und ranzig roch, drei Türen mit abblätternder Farbe. Ein unangenehmes Gefühl überkam ihn, und es kribbelte in seinen Händen. Er fühlte plötzlich die Gewissheit, dass der Mieter tot war. Es war, als wäre es unvermittelt kalt in der Wohnung geworden. Er hasste es, Tote zu sehen, er bekam Albträume davon.
Widerwillig öffnete er die erste Tür, seufzte erleichtert: ein Badezimmer, dreckig und leer. Er stieß die Nachbartür auf: eine Fünfziger-Jahre-Küche aus gelbem Resopal mit Hunderten von Pizzaschachteln, die sorgfältig an den Wänden gestapelt waren. Man hörte den Kühlschrank surren. Dicke Schaben stoben im Spülbecken panikartig auseinander. Marcel hasste Schaben mindestens ebenso wie Leichen. Er schaltete das Licht aus und stellte sich das Gewimmel der Insekten vor, zog schnell die Hand vom Schalter. Dritte und letzte Tür. Marcel zögerte eine Sekunde, spürte den scharfen Blick des Alten im Nacken. Also los. Die Tür öffnete sich in ein verdunkeltes Schlafzimmer.
Marcel blieb einen Moment auf der Schwelle stehen, damit sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnen konnten. Das Bett, ein Doppelbett, war zerwühlt. Leer. Auf den abgeblätterten Wänden große dunkle Flecken. Marcel trat ans Fenster, stieß die Läden auf, blinzelte, vom Sonnenlicht geblendet, drehte sich um und gab ein »Verdammt!« von sich.
Das Blut war überallhin gespritzt bis hinauf an die Decke, wo es zu winzigen Stalaktiten getrocknet war. Weder Marcel noch Ange Caretti sagten ein Wort. Der Alte begann zu stöhnen und die Hände zu ringen. Marcel zog automatisch den Revolver, näherte sich dem Bett und atmete durch den Mund, die Zähne fest zusammengebissen. Als er sich vorbeugte, bekam er eine Gänsehaut.
Die zerwühlten Laken, steif von Blut. Die zurückgebliebene Mulde eines wahren Kolosses. Der gläserne Lampenschirm blutbespritzt. Auf dem Nachttisch ein Wasserglas mit etwas darin. Bloß nichts anfassen!
»Rühren Sie bloß nichts an!«, schrie er dem Alten über die Schulter hinweg zu.
»Keine Sorge, kenn ich aus Fernsehkrimis, man muss die Spurensicherung abwarten, stimmt’s?«
»Genau.«
»Er muss tot sein, der arme Laurent, sie haben ihn abgestochen wie ein Schwein …«
Marcel beugte sich vor, um den Inhalt des Wasserglases zu begutachten, und zum zweiten Mal in seiner Karriere erbrach er sich über seine Schuhe.
»Also, wenn wir so was an der Front gehabt hätten! Wegen solchen wie Ihnen haben wir den Krieg verloren!«, schimpfte Ange Caretti und hüpfte empört von einem Fuß auf den anderen.
»Holen Sie mir einen Wischlappen, verflixt noch mal!«, keuchte Marcel und richtete sich auf.
Der Alte entfernte sich murrend. Marcel schaltete sein Walkie-Talkie ein.
Das Auge im Wasserglas war blau, von gelben Fasern durchzogen.
Als er am mutmaßlichen Ort des Verbrechens eintraf, war Capitaine Jeanneaux nicht sonderlich gut gelaunt. Von Costello gefolgt, nahm er den Raum in Augenschein und pfiff dabei »Mon beau sapin«, was bei ihm immer ein Zeichen von größter Gereiztheit war.
Marcel stand stillschweigend dabei. Er dachte, dass seine Schuhe jetzt endgültig im Eimer waren. Ein Paar Dienstschuhe, das machte 250 Franc. Wirklich ein guter Tag!
Der Dicke lag auf der Plastikplane wie ein gestrandeter See-Elefant. Der kleine Mann zog träumerisch an seiner Nadel. Dies war sein Meisterwerk. Eine dicke Fliege summte um ihn herum. Er zerquetschte sie mit einer blitzschnellen Bewegung und leckte sich gierig die Hand. Er liebte den süßlichen Geschmack der Fliegen.
Viele Naturvölker essen Insekten, sie sind voller Vitamine. Unsere ganze Lebensmittelhygiene ist neu zu überdenken. In Dracula wird der Typ, der Insekten isst, wie ein armseliger Idiot dargestellt. Welche Fortschrittsfeindlichkeit! Immer müssen Schriftsteller kritisieren, was sie nicht verstehen. Als würde die Welt, um existieren zu können, auf ihre Meinung warten. Die Insekten sind viel älter als wir, sie haben alles überlebt. Wenn man eines von ihnen isst, nimmt man gleichzeitig Millionen und Abermillionen Jahre von der Energie der Erde in sich auf Ein saftiger Wurm, das ist, als würde man feuchtes Gras einatmen. Kakerlaken schmecken bitterer, aber es ist mehr dran. Die Fliege, sie ist das kleine Extra wie das Stück Schokolade zum Kaffee.
Schweiß tropfte von seiner Stirn auf den weißen Bauch des Toten, zerfloss in der feuchten gelockten Behaarung, die von der Leiste bis zur Brust verlief.
Der Körper verströmte den zugleich süßlichen und widerlichen Geruch der Toten. Er nahm ihn wahr, aber er störte ihn nicht. Im Gegenteil. Er kannte ihn gut. Ein vertrauter Geruch.
Draußen fing es an zu regnen. Es wurde plötzlich dunkel im Raum. Ein Sommergewitter. Heftig. Ein Wolkenbruch im Zucken der Blitze. Beim ersten Donnerschlag riss der kleine Mann den Kopf herum. Als der Regen eingesetzt hatte, hatte sein Gesicht einen panischen Ausdruck angenommen.
Er ließ die Nadel los, begann zu zittern und zu stöhnen und warf sich unter den Tisch, der Kopf zwischen den Armen, der ganze Körper von Krämpfen geschüttelt.
Das Gewitter wurde immer heftiger. Der kleine Mann kauerte unter dem Tisch, die Augen geschlossen, die Hände auf die Ohren gepresst, und der von Panik verzerrte Mund formte immer wieder stumm das Wort »Maman«. Dann, innerhalb weniger Minuten ließ das Gewitter nach. Auch er selbst beruhigte sich. Atmete langsamer. Öffnete die Augen. Die riesigen Pupillen waren zwei schwarze leere Löcher. Ein Blutrinnsal tropfte von seiner unterbrochenen Arbeit auf die roten Fliesen, nervtötend wie ein schlecht zugedrehter Wasserhahn.
Er richtete sich auf, ohne sich zu erinnern, dass er sich zusammengekauert hatte.
Selbst in der Laube war es heiß. Eine schwammige, klebrige Hitze. Marcel schwitzte. Er sah, ohne sie zu sehen, wie Familien – die Luftmatratze unterm Arm, die Schirmmütze auf dem Kopf – die Straße hinunterzogen. Oft trafen sich Marcel, Madeleine und die Kinder sonntags bei Caro und Jacky mit den Freunden. Es war angenehm bei Jacky, wegen des Gartens. Jacky, Paulo, Jean-Mi und Ben kannten sich, weil sie alle auf dem großen Platz arbeiteten. Jacky hatte einen winzigen Laden mit Postkarten, Paulo und Ben waren in der Werkstatt angestellt, und Jean-Mi kellnerte im Café Tabac. Seitdem sich Marcel beim Sport mit ihnen angefreundet hatte, lud man sich gegenseitig ein: Grillfeste, Kino, Silvester, Angelpartien … eine Vielzahl friedlicher und familiärer Freizeitbeschäftigungen.
Paulo schenkte sich eben ein weiteres Bier ein. Madeleine und Caro, die Frau von Jacky, ermahnten die Kinder, ihre Lammkoteletts aufzuessen. »Schmeckt wie Hammel!«, rief Kevin, Caros Ältester. »Hab keinen Hunger mehr!«, plärrte Frank. »Schluss mit dem Zirkus! Bei den Fleischpreisen heutzutage wird hier alles schön aufgegessen!« Mado brüllte natürlich wie immer am lautesten. Marcel fragte sich, was er mit einer Frau wie ihr, die mit dem südlichen Akzent einer Fischverkäuferin sprach, wohl in Paris angefangen hätte, wäre er dorthin versetzt worden. Lieber nicht dran denken! Elsa, die Freundin von Jean-Mi, rief ihren Hund, eine schwarz-weiße Promenadenmischung, doch der war viel zu sehr damit beschäftigt, das tiefste Loch der Welt zu buddeln. Caro servierte den Kaffee. Ben fing an, mit dem Fußball vor den Jungen zu dribbeln, die ihn nur auslachten. Jean-Mi kam von der Toilette zurück und zog seine königsblaue Jogginghose über die fetten Hüften. Er schnappte sich ein Bier.
»Wie steht’s mit deinen Morden?«
»Wir schwimmen in der Bouillabaisse«, antwortete Marcel in dem vergeblichen Versuch, witzig zu sein. »Wir haben weder das Mädchen, die kleine Juliette, noch den Dicken gefunden. Keine Indizien. Kein Motiv. Wir tappen im Dunkeln.«
Ben kickte den Ball weg.
»Er muss doch irgendeinen Grund haben, das zu tun, dieser Verrückte, oder?«
»Vielleicht ist es wirklich ein Puzzle …«, murmelte Elsa, bei der diese Vermutung von Herblain, die in der Presse veröffentlicht worden war, feuilletonistische Talente geweckt hatte.
Paulo putzte seine verspiegelte Sonnenbrille.
»Und was ist mit dem Mond, habt ihr mal auf die Mondphasen geachtet?«
»Tut mir Leid, aber Morde bei Vollmond, das ist wie ein Lottogewinn am Freitag, dem Dreizehnten: eher selten, wenn du meine Meinung hören willst«, seufzte Marcel.
»Warum lasst ihr die Grünanlage nicht rund um die Uhr von mehreren Leuten bewachen? Dort sind doch alle Morde passiert, oder?«, beharrte Paulo und saugte an seinem Strohhalm.
Caro kam mit dem Zucker zurück.
»Allmählich macht man sich wirklich Sorgen um die Kinder.«
Marcel rührte ausgiebig in seinem Kaffee, bevor er antwortete:
»Um ehrlich zu sein, wir sind total überlastet. Zunächst mal ist Sommer mit dem üblichen Chaos, und dann ist die Verstärkung der CRS, der Bereitschaftspolizei, nicht eingetroffen … Jeanneaux will Ende der Woche seinen Korsika-Urlaub antreten, du kannst dir vorstellen, wie der gelaunt ist! Die Hälfte unserer Leute ist zur Strandüberwachung oder zur Verkehrsregelung abgestellt worden. Zu allem Überfluss sind die Vorstadtgangs zurückgekommen. Und da noch die Grünanlage bewachen …«
Jeder trank einen Schluck Kaffee. Caro stellte ihre Tasse ab.