Tokio im Jahr Null - David Peace - E-Book

Tokio im Jahr Null E-Book

David Peace

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Tokio, 1946: die Hölle auf Erden. Die Stadt liegt in Trümmern, ebenso wie die Seelen ihrer Bewohner. Es herrschen Angst und Korruption, niemand ist der, der er zu sein vorgibt. Inmitten der Schuttberge geht ein brutaler Serienmörder um, der junge Frauen missbraucht und erdrosselt. Die Polizei verhaftet schnell einen Verdächtigen, der aber nur einen der Morde gesteht. Inspektor Minami ist gezwungen, ältere Fälle neu aufzurollen, um den Täter zur Strecke zu bringen. Doch dabei verstrickt er sich in einem Netz aus Lügen und nackter Gewalt. Die Machenschaften des organisierten Verbrechens werden für ihn zur tödlichen Gefahr, genau wie die Intrigen innerhalb des Polizeiapparats. Langsam zerfließen die Grenzen zwischen Wahn und Wirklichkeit, und die Taten der Vergangenheit kommen ans Tageslicht. Denn auch auf Minamis Schultern lastet eine schwere Schuld ...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 554

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



David Peace

Tokio im Jahr Null

Roman

Aus dem Englischen von Peter Torberg

Die Originalausgabe erschien 2007 unter dem Titel

Tokyo Year Zero bei Faber & Faber in London und bei Alfred A. Knopf in New York.

© David Peace 2007

© Verlagsbuchhandlung Liebeskind 2009

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Marc Müller-Bremer, München

Umschlagmotiv: Alex Gross, Los Angeles

eISBN 978-3-95438-131-9

Für meine Kinder

Inhalt

Prolog

Der 15. Tag des achten Monats im 20. Jahr Shōwa Tokio, 32°C., sonnig

I.Das Tor des Fleisches

1. 15. August 1946 Tokio, 33°C, bewölkt

2. 16. August 1946 Tokio, 31,5°C, sonnig

3. 17. August 1946 Tokio, 32°C, sonnig

4. 18. August 1946 Tokio, 31,5°C, bewölkt

5. 19. August 1946 Tokio, 30°C, mondlos und verhangen

II. Die Tränenbrücke

6. 20. August 1946 Tokio, 31°C, bewölkt

7. 21. August 1946 Tokio, 31,5°C, leicht bewölkt

8. 22. August 1946 Tokio, 32°C, sehr sonnig

9. 23. August 1946 Tokio, 30°C, leicht bewölkt

10. 24. August 1946 Tokio, 32°C, sonnig

III. Der Berg der Knochen

11. 25. August 1946 Präfektur Tochigi, 31°C, sehr sonnig

12. 26. August 1946 Tochigi, 30°C, schön

13. 27. August 1946 Tokio, 29,5°C, sonnig

14. 28. August 1946 Tokio, 26°C, Regen

Glossar

51. Niederlage

Seine Hand, die nach dem Federhalter griff, begann zu zittern. Speichel lief ihm aus dem Mund. Sein Kopf war nur noch klar, wenn er aus einem Schlaf erwachte, zu dem ihm eine Dosis von 0,8 Gramm Veronal verholfen hatte. Und auch dann nur für eine halbe oder eine ganze Stunde. Im fahlen Licht der Dämmerung verbrachte er seine Tage. Gestützt auf ein schmales Schwert, dessen Klinge voller Scharten war.

Ryūnosuke Akutagawa, Das Leben eines Narren, 1927

Prolog

Ich liege zwischen Leichen. Eine Calmotin, zwei. Hunderte, Tausende. Tote Blätter, die in der Herbstbrise schweben. Ich versuche den Kopf zu heben, aber es geht nicht. Fliegen und Mücken schwirren um mich herum. Ich will sie vertreiben, aber ich kann nicht. Niedrige dunkle Wolken schieben sich über den Himmel. Es ist an der Zeit, das wahre Gesicht der Nation zu enthüllen. Letzte Nacht, irgendwann zwischen Mitternacht und Sonnenaufgang, zwischen Rückzug und Niederlage, hat der Regen alles aufgeweicht; der Sturm hat sich zwar gelegt, doch noch immer schüttet es auf die Leichen und auf mein Gesicht. Mein Kopf ist wie taub, meine Gedanken flüchtige Schatten des Deliriums. Bilder von meiner Frau und den Kindern schweben vor meinen Augen, inmitten der Leichen. Zehn Calmotin, elf. Unter dem Dachvorsprung des Schwarzen Tors zum Zōjōji-Tempel. Oh, so mutig auf zum Sieg. Mein Sohn hält eine kleine Flagge in seiner Hand. Meine Tochter hält eine kleine Flagge in ihrer Hand. Da wir geschworen und unser Land hinter uns gelassen haben. Meine Eltern sind hier, Freunde aus der Schule, Kameraden aus meinem Baseballverein an der Oberschule, Kommilitonen, mit denen ich das Studium beendet habe. Wer kann denn sterben, ohne bewiesen zu haben, was in ihm steckt? Alle halten große Banner in die Höhe, auf allen Bannern prangt mein Name, alle stehen vor dem Schwarzen Tor. Wann immer ich die Fanfaren unserer vorrückenden Truppen vernehme, schließe ich die Augen und sehe ein Meer von Fahnen, die uns jubelnd in die Schlacht begleiten. Busse voller Mädchen auf Schulausflügen. Erde und Flora stehen in Flammen, während wir im endlosen Zug die Ebenen durchqueren. Als sich mein Lastwagen dem Schwarzen Tor nähert, schlägt es 12.00 Uhr Mittag. Helme, geschmückt mit der aufgehenden Sonne. Der Nissan hält vor dem Tor, ich springe vom Lastwagen. Wir streichen unseren Pferden über die Mähnen, wer weiß, was Morgen ist – Leben? Ich schaue in die Menschenmenge hinaus, hinauf zu den Bannern und Fahnen, und salutiere. Das Signal zur Abfahrt ertönt. Oder Tod in der Schlacht?Zwanzig Calmotin, einundzwanzig. Die Gesichter geliebter Personen treiben auf einem Meer aus Flaggen, die Berge verblassen, die Flüsse weichen, wir schwenken unsere Fahnen, bis unsere Hände taub sind, wir treiben und schwenken. Auf nach Sibirien. Den Shimonoseki-Kanal entlang, auf dem sich Truppentransporter und Frachtkähne stauen. Auf nach Dairen. Ich bin umgeben von Leichen, klammen Leibern, Gestank. Auf nach Shanghai. Die klapprigen Doppelstockpritschen unter Deck. Auf nach Kanton. Die Männer rufen, sie applaudieren, als Yamazaki laut Das blutige Taschentuch von Kioi Hill rezitiert. Wieder Rufe, wieder Applaus, als Shimizu von Konya der Hure erzählt. Ich liebe dich, ich liebe dich, ich liebe dich, sagt Konya zu ihrem Freier. Die Glocke zum Abendessen ertönt. Die ausgemergelten Kampfrösser unten im Laderaum wiehern unruhig. Die Dampfwinde hievt ihre Kadaver in die wartenden Landungsboote. Die Männer auf ihren Kojen klammern sich fester an ihre sennin-bari, ihre Gürtel mit den Tausend Stichen, berühren die in die Seide eingenähten Amulette und Talismane. Die Acht Myriaden Gottheiten und ein Buddha aus Dreitausend Welten. Ich liege zwischen den Kadavern, einen acht Zentimeter großen Buddha in Händen. Keine Kugel, behauptete mein Vater, habe je den Mann berührt, der ihn bei sich trug. Im Shino-Krieg, während des Boxeraufstandes und des russisch-japanischen Krieges, ohne einen Kratzer. Beutel mit Fünf-Sen- oder Zehn-Sen-Stücken, Westen aus getrocknetem Tintenfisch, jeder der Männer hat sein Amulett. Wie weit wir von Zuhause sind. Der Truppentransporter pflügt durch die schwarze See. Dies ist die Mandschurei, weit, weit von daheim. Ich liege zwischen den Leichen und höre

Der 15. Tag des achten Monats im 20. Jahr Shōwa Tokio, 32°C., sonnig

»Inspektor Minami! Inspektor Minami! Inspektor Minami!«

Ich schlage die Augen auf. Aus Träumen, die nicht die meinen sind. Ich setze mich auf meinem Stuhl, an meinem Schreibtisch auf. Aus Träumen, die ich nicht will. Mein Kragen ist feucht, mein Anzug klamm. Mein Haar juckt. Meine Haut juckt.

»Inspektor Minami! Inspektor Minami!«

Inspektor Nishi nimmt die Verdunkelungsvorhänge ab, hinter den mit Klebeband gesicherten Fenstern steigt die Sonne am Himmel und erfüllt das Büro mit Balken aus hellem, warmen Morgenlicht und Staub.

»Inspektor Minami!«

»Haben Sie gerade etwas gesagt?« frage ich Nishi.

Nishi schüttelt den Kopf. »Nein.«

Ich starre zur Zimmerdecke hinauf. Nichts rührt sich im hellen Sonnenschein. Die Ventilatoren stehen still. Kein Strom. Die Telefone sind tot. Keine Leitung. Die Toiletten sind verstopft. Kein Wasser. Nichts …

»Gestern Nacht wurde Kumagaya bombardiert«, berichtet Nishi. »Es gibt Meldungen von Schusswechseln im Palast …«

»Also habe ich das nicht geträumt?«

Ich ziehe mein Taschentuch aus der Tasche. Es ist alt und dreckig. Ich wische mir über Nacken und Gesicht. Dann schaue ich in meinen Taschen nach …

Zyankali wird an Frauen, Kinder und Alte ausgegeben, man sagt, die letzten Kabinettsumstellungen seien ein Anzeichen für das Ende des Krieges, das Ende Japans, das Ende der Welt …

Nishi hält eine kleine Schachtel in die Höhe und fragt: »Suchen sie die hier?«

Ich schnappe mir die Schachtel Muronal und überprüfe den Inhalt. Genug. Ich stopfe mir die Schachtel in die Jackentasche.

Sirenen und Warnhinweise die ganze Nacht über; Tokio heiß und dunkel, alles versteckt sich; Tag und Nacht Gerüchte von neuen Waffen, Angst vor neuen Bomben; erst Hiroshima, dann Nagasaki, dann Tokio …

Bomben, die das Ende Japans bedeuten, das Ende der Welt …

Kein Schlaf. Nur Träume. Kein Schlaf. Nur Träume …

Tag und Nacht, deshalb schlucke ich diese Tabletten …

So rede ich mir das ein, Tag und Nacht …

»Die lagen auf dem Fußboden«, sagt Nishi.

Ich nicke. »Haben Sie eine Zigarette?«

Nishi schüttelt den Kopf. Ich verfluche ihn. Noch fünf Tage bis zur nächsten Sonderration. Fünf lange Tage …

Die Bürotür fliegt auf …

Inspektor Fujita stürmt ins Zimmer. Er hält ein Polizeirundschreiben in der Hand. »Tut mir leid«, sagt er, »schon wieder schlechte Neuigkeiten …«

Er wirft das Rundschreiben auf meinen Schreibtisch. Nishi nimmt es.

Nishi ist jung. Eifrig. Zu jung …

»Es kommt vom Polizeirevier Shinagawa«, verkündet er und liest vor. »Leiche unter rätselhaften Umständen in Dai-Ichi gefunden, im Frauenwohnheim der Abteilung für Marinebekleidung.«

»Einen Augenblick«, unterbreche ich ihn. »Alles, was mit der Abteilung Marinebekleidung zu tun hat, fällt doch sicherlich in den Dienstbereich der Kempeitai, oder? Das ist ein Fall für die Militärpolizei, nicht für uns …«

»Ich weiß«, entgegnet Fujita. »Aber Shinagawa fordert Beamte der Mordkommission an. Wie ich schon sagte, es tut mir leid …«

Niemand will einen Fall. Nicht heute. Nicht jetzt …

Ich stehe auf und schnappe mir meinen Hut.

»Kommen Sie«, sage ich zu Fujita und Nishi. »Wir finden jemand anderen. Wir geben den Fall ab. Passen Sie auf …«

Ich verlasse unsere Abteilung und gehe den Hauptflur der Ersten Ermittlungsabteilung der Tokioter Polizei entlang, von einem Zimmer zum nächsten, von Büro zu Büro, von Tür zu Tür.

Von Tür zu Tür. Keiner da. Von Büro zu Büro. Niemand. Alle evakuiert oder abwesend.

Niemand will einen Fall übernehmen. Nicht heute …

Nur Fujita, Nishi und ich sind hier.

Verdammt. Verdammt. Verdammt …

Ich stehe im Flur. »Wo ist Polizeichef Kita?«

»Alle Vorgesetzten sind zu einer Besprechung um sieben Uhr gebeten worden …«

Ich ziehe meine Taschenuhr hervor. Es ist schon nach acht.

»Sieben Uhr früh?« frage ich. »Also ist es heute soweit?«

»Haben Sie denn gestern Abend nicht die Neun-Uhr-Nachrichten gehört?« entgegnet Nishi. »Gegen Mittag soll es eine Kaiserliche Bekanntmachung im Radio geben …«

Ich esse Eicheln. Ich esse Blätter. Ich esse Unkraut …

»Eine Bekanntmachung, weswegen?« frage ich.

»Keine Ahnung, aber die gesamte Nation ist aufgefordert worden, sich ein Radio zu suchen, damit es alle hören …«

»Also ist es heute soweit«, sage ich. »Leute, kehrt in eure Häuser zurück! Tötet eure Kinder! Tötet eure Frauen! Und dann tötet euch selbst!«

»Nein, nein«, entgegnet Nishi.

Zu jung. Zu eifrig …

»Wenn wir schon gehen«, unterbricht Fujita, »dann sollten wir wenigstens den Weg über Shimbashi nehmen und uns ein paar Zigaretten besorgen …«

»Das ist eine sehr gute Idee«, pflichte ich ihm bei. »Einen Dienstwagen gibt es für uns sowieso nicht …«

»Dann nehmen wir die Yamate-Linie nach Shinagawa«, meint Fujita. »Wir lassen uns Zeit, gehen langsam und hoffen, dass wir zu spät kommen …«

»Falls die Yamate-Linie überhaupt fährt«, füge ich hinzu.

»Wie ich schon sagte«, fährt Fujita fort. »Wir lassen uns Zeit.«

Inspektor Fujita, Nishi und ich gehen die Treppe hinunter, durch die Tür, und verlassen die Zentrale an der Rückseite, an der Seite, die dem Gelände des Kaiserlichen Palastes abgewandt ist.

Auf der Seite hin zu den Ruinen des Justizministeriums.

Der kürzeste Weg von Sakuradamon nach Shimbashi führt durch den Hibiya-Park, durch den Park, der keiner mehr ist.

Schwarze Winterbäume in der weißen Sommerhitze …

»Und wenn wir in der Schlacht untergehen«, zitiert Nishi, »werden die Berge und Flüsse bleiben. Das Volk wird bleiben …«

Sockel ohne Statuen, Pfosten ohne Tore …

»Kusunoki der Held schwor, sieben Mal zu leben und zu sterben, um Japan zu retten«, sagt Nishi mit fester Stimme. »Wir können dem nicht nachstehen …«

Kein Blattwerk. Keine Sträucher. Kein Gras …

»Wir müssen weiterkämpfen«, drängt Nishi. »Und wenn wir Gras und Erde essen und auf den Feldern leben müssen …«

Nur kahle schwarze Winterbäume …

»Mit unseren zerbrochenen Schwertern und kraftlosen Pfeilen«, sage ich. »Unsere Herzen wurden vom Feuer versengt, von Tränen verschlungen …«

In der gleißenden Sommerhitze …

Nishi lächelt: »Genau …«

In der gleißenden Hitze …

Mit Nishi in einem Ohr und der martialischen Musik aus einem Lautsprecherwagen im anderen verlassen wir den Park, der keiner ist, gehen Straßen entlang, die keine mehr sind, an Gebäuden vorbei, die keine mehr sind.

»Ach, so mutig, auf zum Sieg / Da wir geschworen und unser Land hinter uns gelassen haben …«

Gebäude, von denen nur noch die Fassade übriggeblieben ist; bloßer Himmel dort, wo Fenster und Decken sein sollten.

»Wer kann denn sterben, ohne gezeigt zu haben, was in ihm steckt? / Wann immer ich die Fanfaren unserer vorrückenden Truppen vernehme, schließe ich die Augen und sehe ein Meer von Fahnen, die uns jubelnd in die Schlacht begleiten …«

Die zerschlagenen Ziegelsteine, die einsamen Kohlebecken, die Safes, die durch die Fußböden brachen, als diese Gebäude in Flammen aufgingen, eine Nacht nach der anderen.

»Erde und Flora stehen in Flammen / während wir im endlosen Zug die Ebenen durchqueren …«

Eine Nacht nach der anderen, seit dem elften Monat des letzten Jahres, eine Sirene nach der anderen, eine Bombe nach der anderen.

»Helme geschmückt mit der aufgehenden Sonne / Wir streichen unseren Pferden über die Mähnen …«

Eine Bombe nach der anderen, ein Brand nach dem anderen, ein Gebäude nach dem anderen, ein Wohnviertel nach dem anderen, bis kein Haus mehr steht, es keine Wohnviertel und keine Stadt mehr gibt, kein Tokio.

»Wer weiß, was Morgen ist – Leben?«

Nur die Überlebenden.

»Oder Tod in der Schlacht?«

Sie verstecken sich im Schutt, hausen in den Ruinen, drei, vier Familien in einer Hütte aus rostigem Wellblech und Sammelholz, oder in den Eisenbahn- und U-Bahnhöfen.

Die Glücklichen …

»Wir müssen weiterkämpfen«, wiederholt Inspektor Nishi. »Denn wenn wir nicht kämpfen, wird der Kaiser selbst hingerichtet und die Frauen Japans werden systematisch vergewaltigt, damit die kommenden Japaner keine Japaner mehr sind …«

Ich verfluche ihn …

Wir gehen unter Telegrafenmasten, die aufragen wie Grabstelen, Straßen entlang, die keine mehr sind, und Nishi tönt weiter.

»In den Bergen von Nagano werden wir die letzte Schlacht schlagen; auf dem Maizuruyama, auf dem Minakamiyama, auf dem Zōzan!«

Die Menschen auf diesen Straßen sind keine Menschen mehr; erschöpfte Geister in frühmorgendlichen Warteschlangen, Ewiggestrige, die vor improvisierten Speisesälen in alten Kinos auf Essen warten, Filmplakate ersetzt durch Parolen.

»Wir sind alle Soldaten an der Heimatfront.«

Der Lautsprecherwagen ist verschwunden und mit ihm das Lied, das wir in den vergangenen sieben Jahren jeden Tag gehört haben: »Roei no Uta«

Nur noch das Tönen von Nishis Stimme.

»Jeder Mann unter fünfundsechzig, jede Frau unter fünfundvierzig wird einen Bambusspeer ergreifen und losmarschieren, um unser geliebtes Japan zu verteidigen …«

Ich bleibe mitten auf der Straße stehen, packe Nishi am Kragen seiner Uniform und drücke ihn gegen eine verkohlte Wand, auf der geschrieben steht:

»Lasst uns gegenseitig mit lächelnden Gesichtern helfen.«

»Sie gehen zurück in die Zentrale, Kollege«, sage ich zu ihm.

Nishi blinzelt, macht den Mund auf und nickt.

Ich ziehe ihn von der schwarzen Wand …

»Ich möchte sicherstellen, dass zumindest einer von uns diese Kaiserliche Bekanntmachung hört«, sage ich zu ihm. »Falls Fujita und ich sie nicht hören, können Sie uns Bericht erstatten.«

Ich lasse seinen Kragen los …

Wieder nickt Nishi.

»Weggetreten!« brülle ich, Nishi steht stramm, salutiert und verbeugt sich.

Er verschwindet.

»Vielen Dank«, meint Inspektor Fujita lachend.

»Nishi ist noch sehr jung«, sage ich zu ihm.

»Jung und sehr eifrig.«

»Ja«, bestätige ich. »Aber ich glaube nicht, dass er sonderlich versessen darauf wäre, unseren alten Freund Matsuda Giichi kennenzulernen.«

»Wie wahr«, lacht Fujita erneut auf, und wir gehen weiter durch Straßen, die keine mehr sind, vorbei an Gebäuden, die keine mehr sind.

In dieser Stadt, die keine mehr ist.

Weiter nach Shimbashi, Tokio.

Auf einem leeren Grundstück an der Rückseite des Bahnhofs Shimbashi bilden Soldaten eine Kette und entladen vor den Notbehelfsbüros von Matsuda Giichi und Co. Holzkisten von zwei Lastwagen der Kaiserlichen Armee; Matsuda Giichi selbst erteilt die Anweisungen.

»Händler und Kunden sind Waffenbrüder.«

Matsuda Giichi steht in einem neuen Seidenanzug auf einer Kiste, Panamahut in der einen, eine ausländische Zigarre in der anderen Hand.

Der neu ernannte Herrscher von Tokio …

Als Matsuda Fujita und mich sieht, lächelt er …

Der einzige lächelnde Mann in Tokio …

»Ich dachte, ihr seid alle in die Berge geflohen«, meint er lachend. »Die letzte Schlacht der japanischen Rasse und so weiter.«

»Was ist denn in den Kisten?« frage ich ihn.

»Einmal Schnüffler, immer Schnüffler, was?« meint Matsuda. »Sie sollten vielleicht darüber nachdenken, sich einen anderen Beruf zu suchen.«

»Was ist in den Kisten?« frage ich erneut.

»Armeehelme«, antwortet er.

»Sie wollen sich doch wohl nicht den Kriegsanstrengungen anschließen, oder?«

»Dazu ist es ein wenig zu spät«, antwortet Matsuda. »Ich habe meinen Teil schon auf dem Festland beigetragen – nicht, dass ich jemals Dank dafür erhalten hätte; jetzt werde ich dem Land helfen, wieder auf die Beine zu kommen.«

»Wie patriotisch von Ihnen«, sage ich. »Aber noch haben wir nicht verloren.«

Matsuda schaut auf seine Uhr, seine neue ausländische Uhr, und nickt. »Noch nicht, da haben Sie ganz Recht, Herr Kommissar. Aber haben Sie die Rauchsäulen über all den Regierungsgebäuden gesehen?«

Fujita und ich schütteln die Köpfe.

»Nun, das heißt, dass sie alle Akten und Unterlagen verbrennen. Die Rauchzeichen der Kapitulation … der Niederlage.«

Zwei weitere Armee-Lastwagen rollen heran. Hupen dröhnen. »Es tut mir sehr leid, dass ich unhöflich sein muss«, sagt Matsuda, »aber wie die Herren sehen, ist heute sehr viel los. Haben sie einen besonderen Wunsch? Eine neue Arbeit, vielleicht? Einen neuen Namen? Ein neues Leben? Eine neue Vergangenheit?«

»Nur Zigaretten«, antworten Fujita und ich gleichzeitig.

»Gehen Sie zu Senju«, meint Matsuda Giichi.

Fujita und ich bedanken uns bei ihm …

»Senju ist hinten.«

Fujita und ich verbeugen uns …

Und verfluchen ihn.

Fujita und ich gehen zur Rückseite von Matsudas Notbüro, zu seiner rechten Hand.

Senju Akira steht mit entblößtem Oberkörper da, hält ein in der Scheide steckendes Kurzschwert in der rechten Hand und beaufsichtigt das Entladen eines weiteren Lastwagens.

Voller Zigaretten der Marke Kaiserliche Chrysantheme.

»Wo haben Sie die denn alle her?« frage ich.

»Fragen Sie niemals einen Polizisten«, antwortet Senju lachend. »Hören Sie, die einen sind im Bilde, die anderen eben nicht …«

»Und was ist mit Ihrem Boss und all den Helmen?« setze ich nach.

»Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus«, antwortet Senju und lächelt erneut. »Wir haben der Armee Kochtöpfe verkauft, um daraus Helme zu machen, nun verkaufen die uns Helme, damit wir Kochtöpfe daraus machen.«

»Na gut, dann können Sie uns ja ein paar Zigaretten verkaufen«, meint Fujita.

»Nun sagen Sie mir nur nicht, Sie haben tatsächlich Bargeld«, entgegnet Senju.

Fujita und ich schütteln mit den Köpfen.

»Ihr verdammten Schnüffler«, seufzt Senju Akira und reicht jedem von uns fünf Schachteln Kaiserliche Chrysantheme. »Schlimmer als Diebe …«

Wir bedanken und verbeugen uns.

Und wir verfluchen und verfluchen ihn …

Wir teilen uns im Schatten ein Streichholz.

In einem Schatten, der keiner ist …

Wir rauchen und gehen weiter.

Am Bahnhof Shimbashi schieben Streifenbeamte Dienst, durchsuchen Pakete und Bündel nach Schmuggelware …

Rucksäcke und Taschen nach Schwarzmarktzigaretten.

Fujita und ich ziehen die keisatsu techō hervor, unsere Notizbücher mit den Dienstmarken, und weisen uns am Eingang aus.

Bahnhof und Gleise wirken verlassen, der Zug der Yamate-Linie ist fast leer.

Die Sonne steigt, die Temperaturen klettern in die Höhe. Ich wische mir über Nacken und Gesicht …

Es juckt.

Ich starre zum Fenster hinaus; die Hochgleise der Yamate-Linie bilden nun die höchsten Punkte in einem Großteil Tokios, ein Meer aus Schutt, wohin man auch blickt, nur im Osten nicht …

Dort liegen die Docks und das andere, das echte Meer.

Im Revier Shinagawa erwarten uns schon die Polizeibeamten; zwei von ihnen führen uns zu den Docks.

Der eine heißt Uchida, der andere Murota.

Der Tatort …

»Die gehen davon aus, dass es sich um eine Frau namens Miyazaki Mitsuko handeln könnte«, berichten sie unterwegs; wir japsen und schwitzen wie Hunde in der Sonne. »Diese Miyazaki stammt ursprünglich aus Nagasaki und ist nach Tokio abkommandiert worden, um in der Abteilung Marinebekleidung zu arbeiten, deshalb wohnte sie im Frauenwohnheim.«

Die Sonne brennt uns auf den Kopf …

»Im Mai bekam sie frei, um ihre Familie in Nagasaki zu besuchen. Sie kam allerdings dort nie an und kehrte auch nicht ins Wohnheim zurück …«

In der Gegend stinkt es …

»Nachdem die Fabrik der Abteilung Marinebekleidung nicht länger in Betrieb ist, sind die meisten Arbeiter aus dem Wohnheim ausgezogen. Allerdings hat es eine Reihe von Diebstählen in dem Gebäude gegeben, deshalb haben der Hausmeister und sein Gehilfe das Gebäude durchsucht und dann gesichert.«

Es stinkt nach Öl und Kot …

»Sie sind in einen der Luftschutzkeller hinuntergegangen, der schon eine Weile nicht mehr benutzt wurde, und haben dort …«

Es stinkt nach Rückzug …

»… die unbekleidete Leiche einer Frau gefunden.«

Kapitulation …

Diese Fabriken mit ihren Wohnheimen, Fabriken, die ganz auf den Krieg ausgerichtet waren, Wohnheime voller freiwilliger Arbeitskräfte; diese Fabriken sind nun ausgebombt, die Wohnheime geräumt, alle noch intakten Gebäude schwarz vor Ruß und leergefegt.

Das ist der Tatort …

Das Frauenwohnheim der Abteilung Marinebekleidung in Dai-Ichi steht noch, daneben eine Fabrik, von der nur noch zerbrochene Säulen und Torpfosten geblieben sind.

Keine Maschinen, keine Teile …

Die Arbeiterinnen sind geflüchtet …

Dies ist der Ort …

Zwei Männer sitzen zum Schutz vor der Sonne regungslos im Schatten einer Bürobaracke.

»Ich verstehe das nicht«, sagt der Ältere. »Ich verstehe das einfach nicht. Ich verstehe das überhaupt nicht …«

Der Ältere ist der Hausmeister. Der andere, Jüngere, ist der Heizer. Der Heizer hatte die Leiche entdeckt, und nun weist er auf die beiden Wellblechtüren des Luftschutzkellers und sagt: »Da unten ist sie, in einem Schrank am Ende des Kellers.«

Die Sonne brennt uns auf den Kopf …

Ich ziehe die beiden Wellblechtüren auf und mache sofort einen Schritt zurück. Der Gestank menschlicher Exkremente ist überwältigend.

Urin. Kot. Urin. Kot …

Drei Stufen tiefer steht der Boden des Kellers unter Wasser.

Kein Regen- oder Meerwasser; der Keller ist mit dem Schlamm aus zerstörten Abwasserrohren vollgelaufen; ein schwarzer, versunkener See aus Urin und Kot …

»Jetzt könnten wir Nishi gebrauchen«, meint Fujita.

Ich drehe mich zu dem Hausmeister, der in seinem Schatten steht, um.

»Wann ist das passiert?« frage ich ihn.

»Bei den Angriffen im Mai«, antwortet er.

»Und wie haben sie die Leiche gefunden?« frage ich den Heizer.

»Damit«, antwortet er und hält eine Taschenlampe in die Höhe.

»Geben Sie sie mir«, sage ich zu ihm.

Der Heizer steht auf, murmelt etwas von Batterien und bringt Fujita und mir die Lampe.

Ich nehme sie an mich.

Ich ziehe das Taschentuch heraus, lege es mir vor Mund und Nase und schaue die Treppe hinunter …

Ich schalte die Taschenlampe ein …

Ich leuchte über den schwarzen See hinweg, das Abwasser steht etwa einen Meter hoch, hier und da ragen Möbelstücke aus der Flut. Am hintersten Ende des Raumes ist eine Schranktür offen.

Hier unten ist sie. Hier unten ist sie. Hier unten …

Ich schalte die Taschenlampe aus. Ich wende mich ab. Ich ziehe Stiefel und Socken aus und knöpfe mir das Hemd auf …

»Sie wollen doch wohl nicht da rein, oder?« fragt der Hausmeister.

»Das wollte ich auch gerade fragen«, meint Fujita lachend.

Ich knöpfe mir die Hose auf und ziehe sie aus …

»Da unten gibt es Ratten«, sagt der Hausmeister. »Und das Wasser ist giftig. Ein Biss oder ein Schnitt, und Sie sind …«

»Nun, sie wird ja wohl nicht von alleine herausspazieren, oder?«

Fujita knöpft sich fluchend das Hemd auf.

»Ist doch nur noch eine Leiche«, mault er.

»Sie beide auch«, sage ich zu den beiden Streifenbeamten aus Shinagawa. »Einer geht hinein, der andere hält die Türen auf.«

Ich binde mir das Taschentuch fest um den Kopf.

Ich ziehe meine Stiefel wieder an und greife nach der Taschenlampe …

Ich nehme ein, zwei, drei Stufen nach unten …

Fujita hinter mir flucht immer noch …

»Und Nishi hockt im Büro.«

Ich fühle den Boden des Luftschutzkellers im Wasser, das mir bis zu den Knien reicht. Ich kann die Mücken hören und die Ratten spüren.

Das Wasser reicht mir bis zur Brust, und ich wate zu dem Schrank.

Meine Stiefel rutschen aus, ich stolpere …

Meine Knie schlagen gegen eine Tischkante …

Ich hoffe, dass es nur ein blauer Fleck ist, ein Fleck, keine Wunde …

Ich erreiche das hintere Ende des Kellers …

Ich komme an den Schranktüren an …

Hier drin ist sie. Hier drin …

Ich sehe sie, als ich ein Stück weit die Türen aufziehe, die unter Wasser von Möbelstücken blockiert werden.

Fujita hält die Taschenlampe fest, und der Streifenbeamte räumt Stück für Stück die Stühle und Tische beiseite.

Stück für Stück, bis sich die Türen ganz öffnen lassen.

Die Türen öffnen sich, und hier ist sie …

Die Leiche ist an manchen Stellen aufgedunsen, an anderen eingefallen.

Fleischfetzen hier, nur noch Knochen dort.

Haare hängen ihr über dem Schädel.

Die Zähne sind gebleckt, so als wolle sie sprechen …

Flüstern: Hier bin ich.

Jetzt hält der Polizeibeamte die Lampe; Fujita und ich nehmen die Leiche, hier kalt, wir heben sie aus dem Wasser, hier warm, und tragen sie die klammen Stufen hinauf, hier hart, hinaus …

Hinaus an die Luft, hier weich, hinaus an die Sonne.

Wir keuchen und schwitzen wie die Hunde.

Fujita, der Polizeibeamte und ich liegen flach auf dem Rücken im Dreck, zwischen uns die stark zersetzte, unbekleidete Leiche einer jungen Frau …

Aufgedunsen, eingefallen, Fleisch und Knochen, Haare und Zähne …

Ich wische mich mit meiner Jacke ab, trockne mich …

Ich rauche eine Chrysantheme …

Dann wende ich mich an die beiden Männer im Schatten und sage: »Sie haben den Beamten gesagt, dies könnte die Leiche einer gewissen Miyazaki Mitsuko sein.«

Fleisch und Knochen, Haare und Zähne …

Der Hausmeister nickt.

»Wie kommen Sie darauf?« frage ich.

»Na ja, es war schon komisch«, antwortet er. »So wie sie verschwunden ist und nie zurückkam. Ist nicht nach Hause gegangen und auch nie wieder gekommen.«

»Aber es werden doch Tausende von Menschen vermisst«, meint Fujita. »Wer weiß schon, wie viele Menschen bei den Bombenangriffen umgekommen sind?«

»Ja«, sagt der Hausmeister. »Aber sie ist nach den ersten Angriffen von hier verschwunden und nie in Nagasaki angekommen …«

»Wer sagt das?« frage ich ihn. »Ihre Eltern?«

»Die haben vielleicht gelogen«, merkt Fujita an. »Damit ihre Tochter nicht mehr nach Tokio muss.«

Der Hausmeister zuckt mit den Schultern und sagt: »Na, wenn sie nach Nagasaki zurückgegangen ist, ist sie sowieso so gut wie tot.«

Ich rauche zu Ende. Ich nicke zu der Leiche hinüber und frage: »Glauben Sie, Sie können sie identifizieren?«

Der Hausmeister betrachtet die Überreste auf dem Boden. Dann schaut er weg und schüttelt den Kopf.

»So nicht«, antwortet er. »Ich erinnere mich nur, dass sie eine Uhr hatte, auf deren Rückseite ihr Name eingraviert war. Ein Geschenk von ihrem Vater, als sie nach Tokio kam. Sie war sehr stolz darauf.«

Fujita hält sich wieder sein Taschentuch vor den Mund.

Er kauert sich hin. Schüttelt den Kopf …

Keine Uhr am Handgelenk der Leiche …

Ich nicke zu dem Luftschutzkeller hinüber und sage zu Fujita: »Vielleicht ist sie noch irgendwo da drin.«

»Ja«, meint er. »Aber vielleicht auch nicht.«

»Und was ist mit Ihnen?« frage ich den Heizer. »Kannten Sie sie?«

Der Heizer schüttelt den Kopf. »Das war vor meiner Zeit.«

»Er hat erst im Juni hier angefangen«, ergänzt der Hausmeister. »Und Miyazaki ist zuletzt Ende Mai gesehen worden.«

»Können Sie sich an das genaue Datum erinnern?«

Er legt den Kopf schräg, schließt die Augen, drückt sie fest zusammen. Dann schlägt er sie wieder auf und schüttelt den Kopf.

»Tut mir leid«, sagt er. »Aber mit dem Kalender habe ich‘s nicht so.«

Ich höre einen Motor. Ich höre einen Jeep.

Ich drehe mich um, als das Fahrzeug näher kommt …

Militärpolizei …

Die Kempeitai.

Der Jeep hält an, vorn steigen zwei Kempei-Offiziere aus, bewaffnet mit Revolvern und Schwertern. Begleitet werden sie von zwei älteren Männern mit den Armbinden der Heimwehr.

Ich würde am liebsten jubeln. Die Kempeitai. Ich würde am liebsten Hurra schreien …

Niemand will einen Fall. Nicht heute. Nicht jetzt …

Die Leiche wurde auf Militärgelände gefunden; das hier ist deren Reich, deren Leiche, deren Fall.

Inspektor Fujita und ich treten vor. Wir verbeugen uns tief.

Diese beiden Offiziere sehen uns sehr ähnlich; der Ältere ist Ende vierzig, der andere Ende dreißig …

Fujita und ich stellen uns den Männern vor.

Ich schaue in einen Spiegel. Ich sehe mich selbst …

Wir entschuldigen uns dafür, auf Militärgelände zu sein.

Sie sind Soldaten, wir nur Polizisten …

Eine weniger tiefe Verbeugung als Antwort.

Das hier ist ihre Stadt, ihr Jahr …

Der Jüngere stellt den Älteren als Hauptmann Muto und sich selbst als Unteroffizier Katayama vor.

Ich schaue in einen Spiegel …

Ich verbeuge mich erneut und erstatte den beiden Kempei-Offizieren Meldung; die beiden Männer der Heimwehr stehen dabei und hören stumm zu.

Tag und Uhrzeit. Ort und Namen …

Ich beende meinen Bericht und verbeuge mich wieder.

Die beiden schauen auf ihre Uhren.

Hauptmann Muto geht zu der Leiche hinüber, die im Staub liegt. Er steht da und starrt sie eine Weile an, bevor er sich wieder Fujita und mir zuwendet.

»Wir brauchen einen Krankenwagen von der Universitätsklinik Keiō, um die Leiche ins Krankenhaus zu bringen. Wir brauchen Dr. Nakadate von der Keiō, er soll die Autopsie durchführen.«

Fujita und ich nicken.

Das ist deren Leiche, deren Fall …

Doch Hauptmann Muto wendet sich nun an die beiden Streifenbeamten und befiehlt: »Sie beide kehren nach Shinagawa zurück und veranlassen, dass die Universitätsklinik sofort einen Krankenwagen herschickt und dass Dr. Nakadate bereitsteht, um die Autopsie durchzuführen.«

Uchida und Murota nicken, salutieren und verbeugen sich tief vor den Männern der Kempeitai.

Fujita und ich fluchen.

Kein Ausweg mehr …

Dann weist Hauptmann Muto auf den Hausmeister und den Heizer und fragt uns: »Wer von diesen Männern arbeitet hier?«

»Beide«, antworte ich.

Hauptmann Muto zeigt auf den Heizer und brüllt: »Sie holen eine Decke oder etwas Ähnliches und so viele alte Zeitungen, wie Sie auftreiben können. Und zwar sofort!«

Der Heizer eilt ins Gebäude.

Der ältere Kempei-Offizier schaut wieder auf die Uhr und fragt den Hausmeister: »Haben Sie hier ein Radio?«

»Ja«, nickt dieser. »In unserer Baracke.«

»In Kürze wird es eine Kaiserliche Bekanntmachung geben, jeder Bürger Japans ist angewiesen worden, diese Sendung anzuhören. Gehen Sie und kontrollieren Sie, ob das Radio funktionstüchtig und korrekt eingestellt ist.«

Der Hausmeister nickt und verbeugt sich. Er geht zu seiner Baracke und kommt dabei am Heizer vorbei, der mit einer groben grauen Decke und einem Stapel alter Zeitungen zurückkehrt.

Jetzt wendet sich der jüngere Kempei-Offizier an Fujita und mich: »Legen Sie die Leiche auf die Zeitungen und decken Sie sie mit der Decke zu, sodass man sie transportieren kann.«

Fujita und ich binden uns wieder die Tücher vor Mund und Nase und machen uns an die Arbeit, breiten die Zeitungen aus, legen dann die Leiche darauf und bedecken sie halb mit der Decke.

Dies ist nicht mehr unser Fall …

Doch dann nähert sich der Heizer dem jüngeren Kempei-Offizier. Er verneigt den Kopf als Entschuldigung, murmelt etwas und nickt nervös, zeigt als Antwort auf die Fragen des Offiziers hierhin und dorthin.

Die Unterhaltung ist vorüber.

Unteroffizier Katayama schreitet zu seinem älteren Vorgesetzten hinüber und teilt ihm mit: »Dieser Mann dort sagt, es habe eine Reihe von Diebstählen gegeben, und er denkt, dass sie von den koreanischen Arbeitern begangen worden sind, die in dem Gebäude dort drüben wohnen.«

Der jüngere Kempei-Mann weist auf ein rußgeschwärztes dreistöckiges Gebäude gegenüber dem Wohnheim.

»Werden diese Arbeiter auf irgendeine Art überwacht?« fragt der Ältere. »Oder können sie sich frei bewegen?«

»Ich habe gehört, bis Ende Mai standen sie unter Bewachung«, antwortet der Heizer. »Dann sind die Jüngeren zum Arbeiten in den Norden gebracht worden, und die Alten, Schwachen hat man hier zurückgelassen.«

»Und verrichten sie irgendeine Arbeit?«

»Sie sollen uns bei der Instandsetzung der Gebäude helfen, aber entweder sind sie zu krank oder es gibt nicht genügend Baumaterial, also bleiben sie einfach dort drinnen hocken.«

Hauptmann Muto, der immer wieder auf die Uhr schaut, deutet hektisch auf alle uns umgebenden Gebäude und brüllt: »Ich will, dass alles durchsucht wird!«

Fujita und ich haben die Leiche zum Abtransport bereit gemacht. Ich werfe Fujita einen Blick zu. Ich weiß nicht, ob der Hauptmann damit meint, dass wir die Durchsuchung vornehmen sollen. Fujita rührt sich nicht.

Doch nun bellt der Hauptmann:

»Ihr beide übernehmt dieses Wohnheim!«

Nicht mehr unser Fall …

Fujita und ich salutieren, wir verbeugen uns und marschieren dann in Richtung des Gebäudes.

Ich fluche. Fujita flucht …

»Und Nishi hockt im Büro.«

Fujita übernimmt das oberste Stockwerk. Ich das Erste. Die rissigen Holzdielen im Flur knarzen. Klopf-klopf. Eine Tür nach der anderen. Ein Zimmer nach dem anderen. Jedes Zimmer sieht exakt so aus wie das andere.

Ausgefranste und völlig abgewetzte Tatamis. Ein Fenster mit Verdunkelungsvorhang. Dünne grüne Wände mit feuchter, sich ablösender Tapete.

Jedes Zimmer leer, verlassen.

Das Ende des Ganges. Das allerletzte Zimmer. Die allerletzte Tür. Klopf-klopf. Ich drehe den Türknauf. Ich öffne die Tür …

Die gleichen alten Tatamis, das Fenster. Der gleiche schwarze Vorhang. Die dünnen Wände. Die gleiche sich ablösende Tapete.

In einem weiteren leeren Zimmer.

Ich gehe über die Tatamis. Ich ziehe den Vorhang zurück. Die Sonne bescheint eine halb abgebrannte Moskitospirale auf einem niedrigen Tisch.

Der Gestank nach Exkrementen …

Urin und Kot …

Ich öffne den Wandschrank, darin kauert in einem Haufen Bettzeug ein alter Mann und vergräbt sein Gesicht in einen Futon.

Ich hocke mich hin. »Keine Angst«, sage ich.

Er hebt sein Gesicht und schaut mich an; das Gesicht des alten Mannes ist platt, seine aufgesprungenen Lippen stehen offen und zeigen zerbrochene, gelbe, fleckige Zähne.

Er stinkt nach Exkrementen …

Der Alte ist Koreaner …

Ich fluche und fluche …

Ein Yobo …

»Herzlichen Glückwunsch!«

Ich drehe mich um; Unteroffizier Katayama steht in der Tür, hinter ihm Fujita, der den Kopf schüttelt.

»Bringt ihn nach unten!« befielt der Kempei.

Ich starre Katayama an …

Ich schaue in einen Spiegel …

»Sofort!« bellt er.

Der alte Mann vergräbt den Kopf wieder im Bettzeug, seine Schultern zucken, er murmelt und stöhnt …

»Ich habe nichts getan! Bitte …«

Sein Atem stinkt faulig.

Ich packe ihn an den Schultern und ziehe ihn vom Bettzeug hoch, aus dem Schrank. Der Alte windet und wehrt sich …

»Ich habe nichts getan! Bitte, ich will leben!«

»Mach ihm Beine!« befiehlt Unteroffizier Fujita.

Fujita und ich zerren den Alten an Schultern und Armen aus dem Schrank, aus dem Zimmer, hinaus auf den Flur über die Dielen, jeder hält nun einen Arm fest …

Leib und Beine sind verdreht …

Seine Füße schleifen hinterher …

Der Kempei marschiert mit dem Schwert in der einen Hand hinter uns her, tritt dem Alten auf die Füße, schlägt ihn mit dem Schwert, um ihn anzutreiben.

Die Treppe hinunter …

Ins Licht …

»Das ist er!« schreit der Heizer. »Das ist er!«

»Hol mir zwei Spaten!« brüllt der ältere Offizier, und der Hausmeister eilt in seine Baracke.

»Ihr beiden, bringt den Verdächtigen her.«

Fujita und ich führen den alten Koreaner zu Hauptmann Muto, der im Schatten des anderen Wohnheims steht.

In die Schatten …

Der Hausmeister kehrt mit zwei Spaten zurück. Hauptmann Muto nimmt dem Hausmeister einen der Spaten ab und reicht ihn dem Heizer. Er nickt zu einem Stück Erde hinüber, früher vielleicht mal ein Blumenbeet, dann vielleicht ein Gemüsebeet, nun aber nichts außer harter, festgestampfter, schwarzer Erde.

»Grabt ein Loch«, sagt er.

Der Hausmeister und der Heizer graben die Erde auf, der Hausmeister schwitzt bereits und sagt: »Er hat ein Loch in die Wand gebohrt, um den Frauen beim Duschen zuzuschauen.«

Der Heizer wischt sich den Schädel ab, dann den Nacken, und pflichtet dem Hausmeister bei: »Wir haben ihn ertappt und geschlagen, aber …«

»Aber er ist immer wieder aufgetaucht …«

»Konnte sich nicht fernhalten …«

Hauptmann Muto deutet auf eine Stelle direkt vor dem Loch, das die beiden ausheben. Dann befiehlt er Fujita und mir, den Koreaner vor das tiefer werdende Loch zu stellen.

Der Alte blinzelt nur.

Er sagt kein Wort.

Fujita und ich schieben den Koreaner vorwärts, doch sein Körper wackelt hin und her wie Reisgelee. »Keine Angst«, sage ich zu ihm. »Bleiben Sie dort stehen, bis wir das geklärt haben.«

Doch der alte Koreaner schaut uns an …

Die beiden Kempei-Offiziere, die Offiziellen der Heimwehr, den Hausmeister, den Heizer …

Inspektor Fujita und mich …

Die Leiche auf den Zeitungen, die Leiche, die nur halb bedeckt ist …

»Ich bin hier …«

Dann schaut der Koreaner wieder hinüber zu der frisch ausgehobenen Erde, dem Loch, das der Hausmeister und der Heizer buddeln, und versucht wegzulaufen, doch Fujita und ich packen ihn und halten ihn fest, er zittert, sein Gesicht verzerrt sich, und er schreit: »Ich will nicht getötet werden! Ich habe nichts getan! Bitte, ich will nicht sterben!«

»Halt den Mund, Yobo!« sagt jemand.

»Aber ich habe nichts getan!«

»Und warum wolltest du dann weglaufen, Yobo?« fragt Hauptmann Muto. »In Japan laufen unschuldige Männer nicht davon.«

»Bitte tötet mich nicht! Bitte!«

»Du verlogener Bastard!«

»Ruhe!« brüllt jetzt der jüngere Kempei-Offizier und zeigt hinüber zu der Leiche unter der Decke, die Leiche, die im Staub neben den Wellblechtüren des Luftschutzkellers liegt, und fragt den alten Koreaner: »Hast du diese Frau geschändet?«

Der alte Koreaner schaut wieder hinüber zu der Leiche auf den Zeitungen.

Aufgedunsen und eingefallen …

»Hast du diese Frau umgebracht?«

Er schüttelt den Kopf.

Fleisch und Knochen …

Hauptmann Muto tritt vor und schlägt dem alten Koreaner ins Gesicht. »Antworte gefälligst, Yobo!«

Der Koreaner bleibt stumm.

»Dieser Yobo ist offenkundig schuldig«, erklärt Muto. »Mehr gibt es dazu nicht zu sagen.«

Der Alte schaut uns wieder an; die beiden Kempei-Offiziere, die Männer von der Heimwehr, den Hausmeister, den Heizer, Kommissar Fujita und mich; wieder schüttelt er den Kopf …

Unsere Blicke aber sind auf das Schwert von Hauptmann Muto gerichtet, das strahlend glänzende Schwert des Kempei …

Das gezückte Schwert …

Die Klinge hoch in der Luft …

Unsere Blicke ruhen auf einem einzigen Fleck oberhalb des Rückens des alten Koreaners …

Ein Fleck …

»Es ist soweit!« ruft der jüngere Kempei-Offizier plötzlich …

Der Hausmeister eilt in seine Baracke zurück und ruft: »Die Kaiserliche Ansprache! Die Kaiserliche Ansprache!«

Alle schauen zur Baracke hinüber, dann wieder zum Hauptmann. Der Kempei senkt das Schwert …

»Bringt den Yobo zum Radio«, brüllt er und marschiert zur Baracke des Hausmeisters.

Alle folgen ihm.

Stehen im Halbkreis um das offene Fenster der Baracke.

Lauschen einem Radio.

Hören eine Stimme.

Seine Stimme …

Hohl, voller Trauer, zittrig …

»Unserem guten und treuen Volk.«

Die Stimme eines Gottes im Radio.

»O so mutig, auf zum Sieg / da wir geschworen und unser Land verlassen haben …«

Ich kann Liedfetzen vom Lautsprecherwagen herüberwehen hören, Zeilen aus dem Lied »Roei no Uta«, dann die Stimme eines Gottes im Radio …

»Angesichts der Weltlage und der gegenwärtigen Situation in Unserem Reiche verkünden wir hiermit, um den schwierigen Umständen durch außergewöhnliche Maßnahmen zu begegnen …«

»Wer kann denn sterben, ohne gezeigt zu haben, was in ihm steckt? / Wann immer ich die Fanfaren unserer vorrückenden Truppen vernehme …«

Liedfetzen, die Stimme eines Gottes, und die Sonne, die uns allen auf den Kopf brennt.

»Wir haben durch die Kaiserliche Regierung den USA, Großbritannien, China und der UdSSR die Mitteilung machen lassen, dass Wir deren gemeinsame Erklärung annehmen …«

»… schließe ich die Augen und sehe ein Meer von Fahnen, die uns jubelnd in die Schlacht begleiten …«

Die Liedfetzen, die Stimme eines Gottes, die Hitze und die Männer der Heimwehr auf Knien, Hände vors Gesicht geschlagen, schluchzend.

»Vor allem ist die Sorge um Gesundheit und Sicherheit der Bevölkerung in Unserem Reiche ebenso wie um das gemeinsame Wohlergehen aller Nationen eine Verpflichtung gegenüber der Tradition Unserer Kaiserlichen Ahnen. In der Tat erklärten Wir den USA und Großbritannien nur den Krieg, um die Existenz Unseres Reiches und die Stabilität Ostasiens zu sichern, und nicht etwa aus der Absicht heraus, andere Länder unter Unsere Souveränität zu zwingen und ihr Territorium zu besetzen. Der gegenwärtige Krieg dauert nun schon vier Jahre. Der tapfere Kampf Unserer Streitkräfte von Heer und Marine, die Pflichterfüllung Unserer Staatsdiener und der hingebungsvolle Dienst Unseres Hundertmillionenvolkes konnten jedoch nicht verhindern, dass der Krieg sich nicht zu Japans Gunsten entwickelt hat. Vielmehr hat sich die allgemeine Entwicklung der Welt gegen die Interessen des Kaiserreiches gewendet. Außerdem setzt der Feind eine neuartige, grausame Bombe ein, die viele unschuldige Menschenleben vernichtet und Schäden von unkalkulierbarem Ausmaß hervorruft. Wenn Wir unter diesen Bedingungen den Kampf fortsetzen, wird letztendlich nicht nur Unser Volk untergehen, sondern auch die von der menschlichen Rasse aufgebaute Zivilisation in sich zusammenbrechen. Wie können Wir unsere zahlreichen Untertanen retten und die Seelen Unserer Kaiserlichen Ahnen versöhnen? Das ist der Grund, warum Wir durch die Kaiserliche Regierung die gemeinsame Erklärung der Siegermächte angenommen haben …«

»Erde und Flora stehen in Flammen / während wir im endlosen Zug die Ebenen durchqueren …«

Das Lied, die Stimme und die Hitze; Männer auf Knien, Hände vor dem Gesicht, schluchzend, heulend.

»Wir müssen das tiefste Bedauern gegenüber den verbündeten Nationen ausdrücken, die über all die Jahre an der Seite Unseres Reiches an der Befreiung Asiens mitgewirkt haben. Mit unerträglichem Schmerz denken Wir an all die gefallenen Untertanen, an diejenigen, die bei der Erfüllung ihrer Pflicht umkamen oder einen unzeitigen Tod fanden, und an ihre Hinterbliebenen. Auch bedauern Wir zutiefst das Schicksal derjenigen, die verwundet wurden oder in den Feuersbrünsten ihr Haus verloren haben. Wir sind Uns auch bewusst, dass dem Reich noch große Opfer bevorstehen. Ebenso sind Uns die Gefühle Unserer Untertanen wohlvertraut. Unter den gegebenen Umständen aber haben Wir Uns entschlossen, das Unerträgliche zu ertragen, um den kommenden Generationen den Weg zum Frieden zu ebnen.«

»Helme geschmückt mit der aufgehenden Sonne / Wir streichen unseren Pferden über die Mähnen …«

Das endlose Lied, die endlose Stimme, die endlose Hitze; Männer auf Knien, heulend und jammernd liegen sie auf dem Boden, Tränen fallen in den Staub.

»Es ist Uns gelungen, den Staatskörper zu bewahren, und in grenzenlosem Vertrauen in die Aufrichtigkeit Unserer Untertanen werden Wir immer mit euch sein. Lasst euch nicht von Emotionen mitreißen, denn das führt nur zu unnötigen Problemen, und wenn ihr einander befehdet, kommt ihr von moralischen Prinzipien ab und verliert das Vertrauen der Welt …«

»Wer weiß, was Morgen ist – Leben?«

Das Lied geht zu Ende, die Rede geht zu Ende, der Himmel verdunkelt sich; der Klang von hundert Millionen weinenden, verletzten Menschen im Wind, der durch eine Nation weht, die an ihr Ende gelangt ist.

»Tragt den Gedanken von unserer Nation als einer einzigen Familie von Generation zu Generation, den Glauben an die Unvergänglichkeit des Götterlandes, der Schwere der Verantwortung und der Länge des vor uns liegenden Weges. Vereinigt die Kräfte zum Wiederaufbau, beschreitet den Pfad der Tugend, nutzt die Stärke unserer Nation und achtet darauf, gegenüber dem Fortschritt der anderen Länder nicht zurückzufallen.«

»Oder Tod in der Schlacht?«

Es ist vorbei, Stille kehrt ein, nur Stille, Stille, bis der Heizer fragt: »Wer war denn das da im Radio?«

»Der Herrscher persönlich«, antwortet Fujita.

»Wirklich? Was hat er gesagt?«

»Er hat ein Kaiserliches Reskript verlesen«, verkündet Fujita.

»Aber wovon hat er gesprochen?« fragt der Heizer, und diesmal antwortet ihm keiner, bis ich endlich sage …

»Der Krieg ist vorbei.«

»Also haben wir gewonnen?«

Nur Stille …

»Wir haben gewonnen.«

»Halts Maul!« brüllt Hauptmann Muto.

Ich drehe mich zu ihm um, um mich zu verbeugen, um mich zu entschuldigen.

Seine Lippen bewegen sich, aber es kommen keine Worte hervor, Tränen rollen ihm über die Wangen; er hält sich die Klinge seines Schwerts ganz nah vor das Gesicht, und der letzte Schein der Sonne fängt sich darin …

Seine Augen, rote Flecken auf weiß …

Er starrt auf die Klinge …

Gebannt.

Er wendet sich von der Klinge ab, schaut jedem einzelnen von uns ins Gesicht, dann fällt sein Blick auf den alten Koreaner in unserer Mitte.

»Beweg dich!« brüllt er ihn an. »Zurück mit dir, Yobo!«

Doch der alte Mann steht da und schüttelt den Kopf.

»Beweg dich! Beweg dich!« schreit der Kempei und schubst den alten Koreaner auf das Loch zu.

Er tritt ihn, treibt ihn mit dem Schwert an.

»Gesicht zum Loch, Yobo! Gesicht zum Loch!«

Der Koreaner wendet uns den Rücken zu …

Wieder ist das Schwert erhoben …

Die Augen, rote Flecken auf weiß …

Der Mann fleht uns an …

Der letzte Schein der Sonne …

Er fleht, dann stürzt er nach vorn, ein Schauder wie Eiseskälte durchfährt meine Glieder …

Das Schwert ist nach unten gesaust …

Blut an der Klinge …

Ein verzweifelter, alles durchdringender Klagelaut entfährt dem Mund des alten Koreaners …

Mir gefriert das Blut …

»Was tun Sie?« schreit der Mann. »Warum? Warum?«

Der Kempei-Offizier verflucht den Koreaner. Er tritt ihm von hinten in die Beine, und der Koreaner stolpert nach vorn in die Grube.

Auf der rechten Schulter des Mannes klafft eine dreißig Zentimeter lange Wunde, wo ihn das Schwert des Kempei getroffen hat; Blut sickert durch die braune Arbeitskleidung.

»Helft mir! Bitte helft mir! Helft mir!«

Er krallt sich wie wild in die Erde, schreit immer und immer wieder: »Ich will nicht sterben! Helft mir! Helft mir doch!«

Doch Hauptmann Muto hat sein blutbeflecktes Militärschwert gesenkt. Er starrt hinunter auf den alten Koreaner in der Grube.

Jedes Mal, wenn der Mann aus dem Loch gekrochen kommt, tritt ihn der Offizier wieder zurück in den Dreck.

Das Blut verlässt seinen Körper …

In den Dreck und in die Grube …

»Helft mir!« keucht der Mann …

Der Hauptmann wendet sich an den Hausmeister und den Heizer und befiehlt: »Begrabt ihn!«

Die beiden nehmen ihre Spaten und fangen an, den Dreck wieder ins Loch zu werfen, über den Mann, schneller und immer schneller, um seine Schreie zu verscharren …

Unten im Loch …

Bis es vorbei ist …

Stille …

Meine rechte Hand zittert, mein rechter Arm, dann beide Beine.

»Inspektor Minami! Inspektor Minami! Inspektor Minami!«

Ich schließe die Augen. Augen, die nicht die meinen sind. Brennend heiße Tränen rinnen aus diesen Augen. Augen, die ich nicht will …

Ich wische mir die Tränen fort, immer und immer wieder.

»Inspektor Minami! Inspektor Minami!«

Endlich schlage ich die Augen wieder auf.

»Inspektor Minami!«

Fahnen sinken zu Boden, aber das sind keine Fahnen, diese Gebäude keine Gebäude, diese Straßen keine Straßen.

Denn diese Stadt ist keine Stadt, dieses Land kein Land.

Ich esse Eicheln. Ich esse Blätter. Ich esse Unkraut …

Die Stimme eines Gottes im Radio …

Hohl und voller Trauer …

Alles falsch …

Der Himmel ein Abgrund …

Die Zeit ist aus den Fugen …

Die Hölle unser Zuhause …

Hier, jetzt …

Zwanzig Minuten nach Zwölf am fünfzehnten Tag des achten Monats im zwanzigsten Jahr der Regentschaft des Kaisers Shōwa …

Doch diese Stunde hat keinen Vater, dieses Jahr keinen Sohn …

Keine Mutter, keine Tochter, keine Frau oder Liebhaberin …

Die Stunde ist Null; das Jahr Null …

Tokio im Jahr Null.

I.

Das Tor des Fleisches

sie weinen. Dreißig Calmotin, einunddreißig. An meinen Vater: Ich hoffe, es geht Ihnen gut. Wir landen morgen. Ich werde mein Bestes geben, so wie sie es wünschen würden. An meine Frau: Der große Augenblick ist gekommen. Für mich gibt es kein Morgen. Ich weiß sehr gut, woran Du denkst, meine liebe Frau. Aber sei unbesorgt und gefasst. Gib auf unsere Kinder acht. An meinen Sohn: Masaki, mein Lieber, Dein Vater wird bald gegen die chinesischen Soldaten kämpfen. Erinnerst Du Dich noch an das große Schwert, dass mir Dein Großvater gegeben hat? Damit werde ich feindliche Soldaten zu Boden schlagen und erstechen wie Dein Held Iwami Jutaro. Vater wird Dir ein Schwert und einen chinesischen Stahlhelm als Andenken mit nach Hause bringen. Aber Masaki, Liebling, ich möchte, dass Du stets ein braver Junge bist. Sei anständig zu Deiner Mutter und zu Großmutter und zu allen Lehrern. Sei lieb zu Deiner Schwester und lerne fleißig, damit Du ein großer Mann wirst. Ich sehe Deine kleine Gestalt, wie du ein Fähnchen schwenkst. Vater wird dieses Bild für immer im Gedächtnis behalten. Masaki, Banzai! Vater, Banzai! Vierzig Calmotin, einundvierzig. Schwerer Nebel umhüllt alles bis auf den Bahnhof. Schwache Umrisse von chinesischen Häusern, Echos chinesischer Stimmen. Alles ist gelb. Jetzt riechen wir Akazienblüten, jetzt sehen wir aufgehende Sonnen auf Fahnen. Alles Khaki. Beobachtungspatrouillen sind ausgeschwärmt, Wachen postiert. Diese Einheit zur Nudelfabrik, jene Einheit zur Streichholzfabrik. Die Chinesen rauben die Japaner aus. Die Soldaten kochen und putzen. Die Chinesen schänden die Japanerinnen. Die Soldaten bewachen und patrouillieren. Die Chinesen bringen die Japaner um. Die Soldaten richten Verteidigungszonen ein. Die Chinesen rauben die Japaner aus. Stacheldraht und Barrikaden in der ganzen Stadt. Die Chinesen schänden die Japanerinnen. Jeder Chinese wird an jeder Kreuzung abgefangen. Die Chinesen bringen die Japaner um. Sandsäcke und Straßensperren. Weitere Einheiten kommen hinzu. Sand gibt es immer, Wasser gibt es nie. Weitere Einheiten treffen ein. Immer Staub und immer Dreck. Immer mehr Einheiten treffen ein. Es juckt, ich kratze mich. Gari-gari. Tagwache gefolgt von Nachtwache. Es juckt, ich kratze mich. Gari-gari. Die Matratzen sind zerschlissen, die Wanzen hungrig. Es juckt, ich kratze mich. Gari-gari. Ich kann nicht schlafen zwischen all den Leichen. Bajonette aufgepflanzt. Ich kann ihre Schreie hören. Gewehre geladen. Ich kann ihr Flehen hören. Die Chinesen rauben die Japaner aus. Die japanischen Bosse zahlen ihren chinesischen Arbeitern keinen Lohn. Die Chinesen schänden die Japanerinnen. Die chinesischen Arbeiter beklagen sich bei ihren japanischen Bossen. Die Chinesen bringen die Japaner um. Die Bosse bohren ihren Arbeitern Nadeln unter die Fingernägel. Ich kann ihre Schreie hören. Die Bosse bohren Nadeln in Ringfinger, Mittelfinger und Zeigefinger. Ich kann ihr Flehen hören. Die japanischen Bosse tun, was immer sie wollen. Ich war unverschämt, faul und böse. Arbeiter werden mit nassen Lederstriemen ausgepeitscht. Dies ist eine Warnung. Arbeiter werden an Ästen aufgehängt. Ich war unverschämt. Fünfzig Calmotin, einundfünfzig. Ein Kind verrichtet seine Notdurft hinter einem Hirsestrauch. Einrädrige Karren eilen durch die Straße. In dieser Stadt der Räuberei. Eine Frau mit gebundenen Füßen trippelt vorbei. Die Einräder ächzen unter der Last der riesigen Jutesäcke. In dieser Stadt der Schändungen. Staubfarbene Kulis durchwühlen Erdnussschalen und Wassermelonenrinden. Die rhombusförmigen Segel der Karren blähen sich und verschwinden. In dieser Stadt des Mordes. Langohrige Esel führen einen Leichenzug

1.

15. August 1946Tokio, 33°C, bewölkt

Ton-ton. Ton-ton. Ton-ton. Ton-ton. Ton-ton. Ton-ton …

Unablässiges Hämmern.

Ton-ton. Ton-ton. Ton-ton. Ton-ton …

Ich schlage die Augen auf, es fällt mir wieder ein.

Ton-ton. Ton-ton. Ton-ton …

Ich bin einer der Überlebenden.

Einer der Glücklichen …

Ich nehme mein Taschentuch und reibe mir Gesicht und Nacken trocken. Ich wische mir die Haare aus den Augen. Ich schaue auf meine Uhr.

Chiku-taku. Chiku-taku. Chiku-taku …

Es ist zehn Uhr; erst zehn Uhr.

Erst vier Stunden um, noch acht weitere, dann nach Shinagawa, zu Yuki. Drei, vier Stunden dort, dann nach Mitaka zu Frau und Kindern. Ich muss versuchen, Nahrung aufzutreiben, ihnen etwas zu Essen zu bringen, irgendwas. Essen, dann schlafen, versuchen zu schlafen. Dann um sechs Uhr morgen früh wieder hierher.

Chiku-taku. Chiku-taku. Chiku-taku …

Weitere zwölf Stunden in diesem Backofen …

Ich wische mir den Schweiß vom Hemdkragen und von den Augenlidern. Ich sehe am Tisch entlang. Drei Männer zu meiner linken, zwei zu meiner Rechten und die drei leeren Stühle.

Kein Fujita. Kein Ishida. Kein Kimura …

Fünf Männer reiben sich Nacken und Gesichter trocken, kratzen sich vor Läusebissen und scheuchen Moskitos fort, lassen die Arbeit liegen und blättern in Zeitungen; Zeitungen voll von Meldungen zum Ersten Jahrestag der Kapitulation, zum Fortschritt der Reformen und der Errungenschaft der Demokratie; Zeitungen voll mit Berichten zum Internationalen Militärtribunal, dem Urteil der Sieger und der Bestrafung der Verlierer.

Tagein, tagaus. Tagein, tagaus. Tagein, tagaus …

Sie blättern in den Zeitungen und denken an Essen.

Tagein, tagaus. Tagein, tagaus …

Und warten und warten.

Tagein, tagaus …

Telefone, die nicht klingeln, Ventilatoren, die sich nicht drehen. Hitze und Schweiß; Fliegen und Moskitos; Dreck, Staub und Lärm; das unablässige Hämmern.

Ton-ton. Ton-ton. Ton-ton. Ton-ton. Ton-ton …

Ich stehe auf, gehe ans Fenster und ziehe die Jalousien hoch.

Ton-ton. Ton-ton. Ton-ton. Ton-ton …

Drei Stockwerke über Sakuradamon, schaue ich hinaus über die Stadt.

Ton-ton. Ton-ton. Ton-ton …

Der Palast links, das Polizeipräsidium rechts.

Ton-ton. Ton-ton …

Unter einem niedrigen, fleckenfiebrigen Himmel.

Ton-ton …

Die Hauptstadt der Shōwa-Toten, der Verlierer auf Händen und Knien, der Sieger in Lastwagen und Jeeps.

Kein Widerstand.

Ich höre, wie die Tür aufgeht und drehe mich um; dort steht Kimura.

Anfang Zwanzig. Aus dem Süden repatriiert. Erst drei Monate dabei und schon nicht mehr der Jüngste in dieser Abteilung, Abteilung Zwei …

Kimura schaut am Tisch entlang zu mir herüber; halb verächtlich, halb servil, ein Stück Papier in Händen.

Idiot. Idiot. Idiot. Idiot …

Er streckt mir das Blatt mit der Aufschrift Polizeirundschreiben entgegen und sagt: »Vielleicht ist das hier ein Mord, Inspektor Minami.«

Für die ganze Abteilung gibt es nur ein fahrtüchtiges Fahrzeug. Es ist nicht da. Also gehen wir wieder zu Fuß, so wie wir alles zu Fuß erledigen. Man verspricht uns Fahrzeuge, so wie man uns Telefone verspricht und Waffen und Stifte und Papier und höheren Lohn und Krankenversicherung und Urlaub, doch tagein, tagaus zerschneiden wir alte Fahrradreifen, um neue Sohlen daraus zu machen, um sie uns unter die Stiefel zu nageln, damit wir gehen können, gehen und gehen und gehen.

Hattori, Takeda, Sanada, Shimoda, Nishi, Kimura und ich.

Ton-ton. Ton-ton. Ton-ton. Ton-ton. Ton-ton …

Durch Hitze, Fliegen und Moskitos.

Chiku-taku. Chiku-taku. Chiku-taku …

Ton-ton. Ton-ton. Ton-ton. Ton-ton …

Vom Polizeipräsidium zum Shiba-Park.

Ton-ton. Ton-ton. Ton-ton …

Jacken aus, Hüte auf. Taschentücher raus, Fächer raus.

Ton-ton. Ton-ton …

Die Sakurada-dōri entlang und den Hügel hinauf nach Atago.

Ton-ton …

Inspektor Nishi hält das Rundschreiben in der Hand und liest unterwegs laut daraus vor: »Unbekleidete Leiche einer nicht identifizierten Frau, gefunden um 9.30 Uhr am heutigen Morgen, 15. August 1946, Nishi-Mukai Kannon Zan, 2 Shiba-Park, Stadtbezirk Shiba. Meldung des Leichenfunds am Polizeistand Shiba-Park um 9.45 Uhr. Meldung des Leichenfunds Polizeirevier Atago 10.15 Uhr. Meldung des Leichenfunds Polizeipräsidium 11.00 Uhr … Die haben sich ganz schön Zeit gelassen«, fügt er hinzu. »Bis wir die Leiche in Augenschein nehmen, werden zwei Stunden vergangen sein. Was haben die in Atago eigentlich gemacht?«

»Sie wird schon nicht abhauen«, bemerkt Inspektor Hattori lachend.

»Das sagen Sie mal den Maden und Fliegen«, entgegnet Nishi.

»Keine Dienstwagen. Keine Fahrräder. Kein Telefon. Kein Telegraf«, erwidert Hattori. »Was hätten denn die Jungs in Atago machen sollen?«

Nishi schüttelt den Kopf, antwortet aber nicht.

Ich wische mir den Nacken und schaue auf die Uhr.

Chiku-taku. Chiku-taku. Chiku-taku …

Es ist fast halb zwölf; erst halb zwölf.

Fünfeinhalb Stunden sind um, noch sechseinhalb Stunden. Dann nach Shinagawa, zu Yuki. Drei, vier Stunden dort, dann nach Mitaka zu Frau und Kindern. Essen, dann schlafen, versuchen zu schlafen. Dann um sechs Uhr morgen früh wieder hierher, und wieder zwölf Stunden.

Chiku-taku. Chiku-taku. Chiku-taku …

Wenn es kein Mord ist …

»Hier entlang geht es schneller«, sagt Nishi, also bahnen wir uns einen Weg über die Schuttberge und durch die Krater, bis wir auf die Hibiya-dōri bei Onarimon stoßen.

Ton-ton. Ton-ton.

Zwei blutjunge Männer vom Revier Atago in schlechtsitzenden, verdreckten Uniformen warten auf uns. Sie verbeugen sich und salutieren, begrüßen uns und entschuldigen sich, aber ich verstehe kein Wort.

Ton-ton. Ton-ton. Ton-ton. Ton-ton. Ton-ton …

Die beiden Streifenbeamten führen uns von der Straße fort, weg von dem Hämmern, auf das Gelände des Tempels.

Riesige verkohlte Bäume mit den Wurzeln zum Himmel …

Vom Zōjōji-Tempel ist nicht viel übriggeblieben; er ist während der Luftangriffe im Mai letzten Jahres bis auf die Grundmauern abgebrannt.

Äste verkohlt, Blätter verbrannt …

Die beiden Polizeibeamten führen uns durch die Asche den Hügel hinauf, aus der Sonne in den Schatten; die Gräber sind vergessen, alles überwuchert, die Pfade verschwunden, das Bambusgras übermannshoch und so dicht wie die Insektenschwärme in der Luft; es wimmelt von Füchsen und Dachsen, Ratten und Krähen, von verwilderten Hunden, die in Rudeln umherstreifen und Geschmack an Menschenfleisch gefunden haben.

An diesem Ort des Stelldicheins …

Der Prostituierten, der Selbstmörder …

An diesem Ort der Stille …

Des Todes …

Sie ist hier …

Auf dieser unerwarteten Lichtung, auf der das hohe Gras niedergetrampelt ist und die Sonne sie gefunden hat, liegt sie hier, nackt auf dem Rücken, den Kopf leicht zur Seite geneigt, der rechte Arm ausgestreckt, der linke an der Seite, liegt sie hier, die Beine gespreizt, angehoben, an den Knien angewinkelt, liegt sie hier …

Um die einundzwanzig, seit etwa zehn Tagen tot.

Namu-amida-butsu. Namu-amida-butsu. Namu-amida …

Etwas Rotes ist um ihren Hals geschlungen.

Namu-amida-butsu. Namu-amida-butsu …

Das ist kein Selbstmord. Das ist Mord.

Namu-amida-butsu …

Unser Fall.

Ich verfluche sie …

Ich schaue auf die Uhr. Chiku-taku. Fast Mittag.

Chiku-taku. 15. August 1946.

Niederlage und Kapitulation. Aufgabe und Besatzung. Die Geister sind heute alle hier.

Ich verfluche sie. Ich verfluche mich selbst …

Ein Jahr ist vergangen.

Im hohen Gras kniet ein alter Mann, verbeugt sich und murmelt seine Gebete; vor ihm liegt eine Axt auf dem Boden.

»Namu-amida-butsu«, skandiert der Mann. »Namu-amida …«

»Dieser Mann hat die Leiche entdeckt«, sagt einer der Polizeibeamten.

Ich hocke mich neben den Alten und schlage mit dem Hut vergeblich nach einem Moskito. Dann wische ich mir den Nacken. »Heiß heute, nicht wahr?«

Der Alte unterbricht sein Gebet und nickt.

»Der Mann ist Holzfäller«, sagt der Polizeibeamte.

»Und Sie haben die Leiche gefunden?« frage ich den Mann.

Wieder nickt er.

»So wie jetzt?«

Wieder nickt er.

»Und Sie sind sicher, dass Sie keine Kleidungsstücke in ihrer Nähe gefunden haben, eine Tasche, eine Geldbörse oder sonst etwas?«

Er schüttelt den Kopf.

»Sie haben nichts versteckt, um es später zu verhökern, oder? Nichts, um es sich später zu holen?«

Wieder schüttelt er den Kopf.

»Auch nicht ihre Lebensmittelkarte?«

Der Alte schaut zu mir auf. »Nein.«

Ich nicke und klopfe ihm auf den Rücken. Ich entschuldige und bedanke mich bei ihm. Dann setze ich mir den Hut auf und erhebe mich.

Aus dem Augenwinkel sehe ich …

Die Beamten Hattori, Takeda, Sanada und Shimoda haben sich im Schatten der Bäume niedergelassen, halten ihre Panamahüte in den Händen, fächeln sich Luft zu, wischen sich über Gesichter und Nacken, schlagen nach Fliegen und Moskitos.

Im Schatten der Shōwa-Toten …

Die beiden Polizeibeamten aus Atago treten unruhig von einem Bein auf das andere; Nishi und Kimura beugen sich immer noch über die Tote, starren sie an, warten auf mich.

In dieser Stadt der Toten …

Ich gehe zu der Leiche hinüber.

Dort ist sie …

»Ich wusste es«, sagt Kimura. »Ich wusste, dass es Mord ist.«

»Und sie dürfte eine Hure gewesen sein«, fügt Nishi hinzu.

»Das bezweifle ich«, entgegne ich.

»Aber dieser Ort ist berüchtigt für seine Prostituierten«, sagt Nishi. »Wir wissen, dass die aus Shimbashi ihre Freier hierherbringen …«

Ich schaue auf die Leiche, auf den blassgrauen, verwesenden Körper mit den gespreizten Beinen und angewinkelten Knien.

»Diese Frau wurde missbraucht«, sage ich den beiden. »Wozu eine Hure missbrauchen und dann umbringen?«

»Wenn man kein Geld hat«, antwortet Kimura. »Es gibt eine Menge armer, verzweifelter Männer …«

»Dann missbraucht man sie einfach und lässt sie liegen, schlägt sie vielleicht, aber sie würde eh niemandem was sagen.«

»Es sei denn, sie kannte den Kunden«, bemerkt Nishi. »Kannte seinen Namen …«

»Erst müssen wir ihren Namen herausfinden«, sage ich zu allen, zu meinen Leuten und den beiden aus Atago. »Und wir müssen ihre Kleider finden und alles andere, was sie vielleicht bei sich hatte.«

»Einen Augenblick!« bellt eine Stimme hinter mir; alle springen auf, stehen in Habachtstellung, verbeugen sich, salutieren.

Ich drehe mich um. Ich kenne diese Stimme. Ich verbeuge mich und salutiere. Ich kenne das Gesicht gut. Ich begrüße Hauptkommissar Adachi.

Adachi oder Anjo oder Ando oder wie immer er sich diese Woche nennt; er hat Namen und Arbeit gewechselt, Uniform und Rang, Leben und Vergangenheit; da ist er nicht der Einzige …

Keiner ist der, der er zu sein vorgibt …

Keiner ist der, der er zu sein scheint …

Hinter ihm steht Suzuki, der Fotograf der Ersten Ermittlungsabteilung, und zwei Männer der Universitätsklinik Keiō in weißen Mänteln mit einem leichten Holzsarg.

Alle schwitzen.

Adachi zeigt auf Suzuki und erklärt: »Machen sie Platz und lassen sie diesen Mann seine Aufgabe erledigen, dann können die anderen beiden die Leiche hier fortschaffen.«

Alle treten zurück ins hohe Gras zwischen die höheren Bäume und schauen zu, wie Suzuki einen Film einlegt und sich an die Arbeit macht.

Klick-klick-klick. Klick-klick-klick …

Ich schaue auf die Uhr.

Chiku-taku …

Halb eins.