Tokio, neue Stadt - David Peace - E-Book

Tokio, neue Stadt E-Book

David Peace

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Beschreibung

Tokio, 5. Juli 1949. Sadanori Shimoyama, Präsident der Nationalen Japanischen Eisenbahngesellschaft, verschwindet spurlos – einen Tag nachdem er die Entlassung von 30.000 Angestellten verkünden musste. Die amerikanischen Besatzer führen in dem kriegsversehrten, gedemütigten Land umfassende Reformen durch, ohne Rücksicht auf Verluste. Auf den Straßen herrschen Gewalt und Chaos, die Kommunisten gewinnen an Einfluss, was die Amerikaner mit allen Mitteln verhindern wollen. Detective Harry Sweeney aus der Abteilung für öffentliche Sicherheit leitet die Vermisstensuche, auf direkten Befehl von General MacArthurs Hauptquartier. Doch dann wird der verstümmelte Leichnam Shimoyamas gefunden. Der Präsident der Nationalen Eisenbahngesellschaft wurde von einem Zug überrollt. Hat er Selbstmord begangen, aus Verzweiflung darüber, Abertausende Menschen ins Elend zu stürzen? Oder waren die Kommunisten für seinen Tod verantwortlich? Der Krieg ist vorbei, aber die dunklen Schatten der Vergangenheit werden immer länger …

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Veröffentlichungsjahr: 2021

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David Peace

Tokio, neue Stadt

Roman

Aus dem Englischen von Peter Torberg

Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel »Tokyo Redux« bei Faber & Faber, London und Alfred A. Knopf, New York.

© David Peace 2021

© Verlagsbuchhandlung Liebeskind 2021

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: Alex Gross, Los Angeles

Umschlaggestaltung: Robert Gigler, München

eISBN 978-3-95438-133-3

Für William Miller

Mit besonderem Dank an Shunichirō Nagashima und Junzo Sawa

Später, eines Sommernachts 1949,

erschien mir Buddha erneut,

in meiner Zelle, neben meinem Kissen.

Er sagte zu mir:

Der Fall Shimoyama ist ein Mordfall.

Er ist der Sohn des Falls Teigin,

er ist der Sohn aller Fälle.

Wer immer den Fall Shimoyama aufklärt,

der klärt den Fall Teigin auf;

der klärt alle Fälle auf.

Sadamichi Hirasawa, ein Gedicht,

aus »Natsuame Monogatari«

von Kuroda Roman,

übersetzt von Donald Reichenbach

Inhalt

IN DEN GÄRTEN DES WESTENS

I DER KNOCHENBERG

1 DER ERSTE TAG

2 DER NÄCHSTE TAG

3 DIE DANN FOLGENDEN TAGE

4 BIS ZUM LETZTEN TAG

II DIE TRÄNENBRÜCKE

5 MINUS FÜNFZEHN BIS MINUS ELF

6 MINUS ZEHN BIS MINUS SECHS

7 MINUS FÜNF BIS MINUS EINS

III DAS TOR DES FLEISCHES

8 DAS LETZTE JAHR DER SHŌWA-ZEIT

9 ENDSTATION

SPERRSTUNDE

GLOSSAR

IN DEN GÄRTEN DES WESTENS

An der Grenze duckten sie sich im Zwielicht unter der Tür hindurch und betraten die Garage. Die Leiche lag unter einem blutfleckigen Laken auf dem Betonfußboden. Sie zogen sich Handschuhe an. Sie schlugen das Laken bis zur Taille auf. Kopf und Haare waren blutgetränkt. In der linken Brusthälfte war ein schwarzes Loch. Neben den ausgestreckten Fingern der rechten Hand lag eine Pistole auf dem Boden.

Kannten Sie ihn persönlich, fragte der Detective vom Police Department der City of Edinburg, Hidalgo County, Texas.

Die linke Hand ruhte auf dem linken Hosenbein. Sie drehten die Hand um und berührten die Spuren am Handgelenk. Sie schüttelten die Köpfe.

Na, ein Glück, dass Sie so rasch gekommen sind, sagte der Detective. Im März kann es schnell mal an die dreißig Grad werden. Dann stinkt’s gleich ganz anders, das kann ich Ihnen sagen.

Sie schauten hoch und sahen sich in der Garage um: Pistolen und Gewehre in Schränken und an den Wänden, überall Schachteln mit Munition, auf Regalen und auf dem Boden.

Normalerweise lassen wir sie nicht so lange am Tatort liegen, meinte der Detective. Nur, wenn es nicht anders geht.

Sie schauten auf die Leiche hinunter. Sie zogen das Laken wieder über den Kopf. Dann standen sie auf und gingen zu der langen Werkbank hinüber, die eine ganze Wand einnahm.

Wir haben alles so gelassen, wie wir es gefunden haben, sagte der Detective. Genau wie Ihre Außenstelle uns aufgetragen hat.

Über der Werkbank hing das gerahmte Foto von einer japanischen Maske: Die Maske des Bösen.

Kein Abschiedsbrief, sagte der Detective. Nur diese Postkarte.

Sie schauten auf die Werkbank. Auf der Arbeitsplatte lag eine Seite aus einer alten Zeitung: Seite 16 der New York Times vom 6. Juli 1949. Das Foto von amerikanischen Truppen, die am 4. Juli in Tokio eine breite Straße entlangmarschieren. Unter dem Foto die nächste Schlagzeile: TOKIOS EISENBAHNCHEF ENTHAUPTET AUFGEFUNDEN. Auf dem Zeitungsblatt stand eine Postkarte, an einen Wecker gelehnt. Sie nahmen die Karte, auf der der Sumida in Tokio abgebildet war.

Schätze, unser Freund Stetson hatte sich richtig in Japan verliebt, sagte der Detective. Keine Ahnung, warum.

Sie schauten auf den Wecker auf der Werkbank.

Die Zeiger standen auf zwanzig nach zwölf.

Vor vierzig Jahren, da haben wir sie kurz und klein geschlagen. Jetzt ist Japan die zweitgrößte Wirtschaftsmacht der Welt. Da muss man sich doch fragen, wozu all die Mühe? Die Jungs, die für nichts und wieder nichts gestorben sind, drehen sich doch im Grab um. Das halbe Land fährt japanische Autos und glotzt in japanische Fernseher. Ich sage Ihnen, das macht doch keinen Sinn. Keinen verfluchten Sinn.

Sie drehten die Postkarte um und lasen die drei Worte auf der Rückseite: Es ist Sperrstunde.

I

DER KNOCHENBERG

1

DER ERSTE TAG

5. Juli 1949

Die Besatzungsmacht hatte einen Kater, und doch ging sie zur Arbeit: mit grauem Bartschatten und klammen Schweißflecken, auf Hacken und Sohlen die Flure hinauf und hinunter, Toiletten spülten, Wasser lief, Türen gingen auf und zu, Schränke und Schubladen, Fenster waren weit geöffnet, Ventilatoren kreisten, Füllfederhalter kratzten, Schreibmaschinen klapperten, Telefone klingelten, und eine Stimme rief: Für dich, Harry.

Im vierten Stock des NYK-Gebäudes, in dem riesigen Büro von Zimmer 432 der PSD, drehte sich Harry Sweeney an der Tür um, kehrte an seinen Schreibtisch zurück, nickte Bill Betz dankend zu, nahm ihm den Hörer ab, führte ihn ans Ohr und sagte: Hallo.

Polizeiermittler Sweeney?

Ja, am Apparat.

Zu spät, flüsterte die Stimme eines Japaners, dann war sie verschwunden, die Leitung tot, die Verbindung unterbrochen.

Harry Sweeney legte auf, nahm einen Stift vom Schreibtisch, schaute auf seine Uhr und schrieb Uhrzeit und Datum auf einen Block gelbes Papier: 9.45 Uhr, 5. Juli. Er nahm den Hörer ab und sprach mit der Telefonzentrale: Ich wurde gerade unterbrochen. Können Sie mir die Nummer geben?

Einen Augenblick, bitte.

Danke.

Hallo. Ich habe die Nummer für Sie, Sir. Soll ich Sie verbinden?

Bitte.

Es klingelt, Sir.

Danke, sagte Harry Sweeney, lauschte dem Klingeln, dann …

Coffee Shop Hong Kong, sagte die Stimme einer Japanerin. Hallo? Hallo?

Harry Sweeney legte wieder auf. Dann nahm er den Stift und schrieb den Namen des Coffee Shops auf, dazu Uhrzeit und Datum. Er ging zu Betz’ Schreibtisch: He, Bill. Der Anrufer gerade eben? Was hat er gesagt?

Er hat nach dir gefragt. Warum?

Mit Namen?

Ja, warum?

Ach, nichts. Er hat aufgelegt, das ist alles.

Vielleicht habe ich ihn verschreckt? Sorry.

Nein. Danke, dass du drangegangen bist.

Hast du dir die Nummer geben lassen?

Ein Café namens Hong Kong. Kennst du das?

Nein, aber Toda vielleicht. Frag ihn.

Er ist noch nicht da. Keine Ahnung, wo er steckt.

Du machst Witze, lachte Bill Betz. Jetzt sag mir nicht, der kleine Mistkerl ist verschwunden und hat sich einen Kater angetrunken.

Harry Sweeney lächelte: Wie alle guten Patrioten. Macht nichts, vergiss es. Schnapsidee. Ich muss los.

Du Glückspilz. Wo geht’s denn hin?

Ich nehme die Genossen Kriegsheimkehrer in Empfang, am Bahnhof. Befehl vom Colonel. Willst du mitkommen und dir ein paar Kommunistenlieder anhören?

Ich glaub, ich bleib einfach hier im Kühlen, entgegnete Betz lachend. Die Roten überlass ich dir, Harry. Kannst sie alle behalten.

Harry Sweeney bestellte einen Dienstwagen, rauchte eine Zigarette und trank ein Glas Wasser, dann nahm er Jackett und Hut und ging die Treppe hinunter in die Empfangshalle. Er kaufte eine Zeitung, blätterte sie durch und überflog die Schlagzeilen: OBERBEFEHLSHABER DER ALLIIERTEN BRANDMARKT KOMMUNISMUS ALS INTERNATIONAL GEÄCHTET: JAPAN IST EIN BOLLWERK / VON ROTEN GELENKTE UNRUHESTIFTER SORGEN FÜR AUFRUHR IN NORDJAPAN / ROTER GEWERKSCHAFTER VERHAFTET / NATIONALE EISENBAHNERGEWERKSCHAFT BEREITET SICH AUF DROHENDEN KONFLIKT VOR: JAPANS NATIONALE EISENBAHNGESELLSCHAFT STEHT VOR MASSENENTLASSUNGEN / SABOTAGEAKTE GEHEN WEITER / KRIEGSHEIMKEHRER WERDEN HEUTE IN TOKIO ERWARTET.

Sweeney blickte auf und sah, dass sein Wagen draußen am Straßenrand wartete. Er faltete seine Zeitung zusammen und trat aus dem Gebäude hinaus in die Hitze und das Licht. Er stieg hinten ein, erkannte aber den Fahrer nicht: Wo ist Ichirō heute?

Ich weiß nicht, Sir. Ich bin neu, Sir.

Wie heißt du, Junge?

Shintarō, Sir.

Okay, Shin, wir fahren zum Bahnhof Ueno.

Danke, Sir, sagte der Fahrer. Er nahm den Bleistift, der hinter seinem Ohr steckte, und schrieb auf die Fahrtenkarte.

Und noch was, Shin.

Ja, Sir?

Kurbel das Fenster runter und mach das Radio an, okay? Ein bisschen Musik für unterwegs.

Ja, Sir. Sehr gut, Sir.

Danke, Junge, sagte Sweeney, kurbelte sein eigenes Fenster herunter, zog ein Taschentuch aus der Tasche, wischte sich über Nacken und Gesicht, lehnte sich zurück und schloss die Augen zu den Klängen einer vertrauten Symphonie, auf deren Titel er gerade nicht kam.

Zu spät, rief Harry Sweeney, hellwach und mit aufgerissenen Augen. Er setzte sich auf, sein Herz raste, er hatte Spucke am Kinn und eine schweißnasse Brust. Himmel.

Entschuldigung, Sir, sagte der Fahrer. Wir sind da.

Harry Sweeney wischte sich Mund und Kinn ab, löste das Hemd von der Haut und schaute zum Fenster raus: Der Fahrer hatte unter der Eisenbahnbrücke zwischen Markt und Bahnhof gehalten, der Wagen war von Menschen umringt, die in alle Himmelsrichtungen unterwegs waren, und der Fahrer schaute nervös in den Rückspiegel und beobachtete seinen Passagier.

Harry Sweeney lächelte, zwinkerte, öffnete die Tür und stieg aus. Er beugte sich vor und sprach zu dem Fahrer: Warte hier, Junge. Egal, wie lange ich weg bin.

Ja, Sir.

Harry Sweeney wischte sich erneut über Gesicht und Nacken, setzte den Hut auf und suchte nach seinen Zigaretten. Er zündete sich eine an und reichte dem Fahrer zwei durchs offene Fenster.

Danke, Sir. Danke.

Gern geschehen, Junge, sagte Harry Sweeney und machte sich durch die Menschenmenge hindurch auf den Weg in den Bahnhof. Die Menge teilte sich, als die Menschen sahen, wer er war: ein großer, weißer Amerikaner …

Die Besatzungsmacht.

Er marschierte durch die riesige Bahnhofshalle, durch das Gedränge aus Leibern und Taschen, den Nebel aus Hitze und Qualm, den Gestank aus Schweiß und Salz, marschierte direkt zur Bahnsteigsperre. Er zeigte dem Fahrkartenschaffner seine Dienstmarke und ging weiter zu den Gleisen. Er sah die knallroten Flaggen und von Hand gemalten Banner der Japanischen Kommunistischen Partei und wusste, welcher Bahnsteig der richtige war.

Harry Sweeney stand auf dem Bahnsteig, im Schatten, im Hintergrund, wischte sich über Gesicht und Nacken, wedelte sich mit dem Hut Luft zu, rauchte, schlug nach den Mücken und überragte die wartende Menge von Japanerinnen: Mütter und Schwestern, Ehefrauen und Töchter. Er sah zu, wie der lange schwarze Zug einfuhr. Er spürte, wie die Menge erst auf Zehenspitzen stand und dann den Eisenbahnwaggons entgegenbrandete. Er konnte die Gesichter der Männer in den Fenstern und Türen der Waggons sehen; Gesichter von Männern, die vier Jahre als Kriegsgefangene in Sibirien verbracht hatten; vier Jahre Beichten und Bußen; vier Jahre Umerziehung und Indoktrinierung; vier Jahre harte, brutale, gnadenlose Arbeit. Das waren die Glücklichen; diejenigen, die nicht im August 1945 in der Mandschurei niedergemetzelt worden waren; diejenigen, die nicht gezwungen worden waren, für eine der beiden chinesischen Seiten zu kämpfen und zu sterben; diejenigen, die nicht im ersten Nachkriegswinter verhungert waren; diejenigen, die nicht während der Pockenepidemie im April 1946 gestorben waren, nicht an Typhus im Mai oder an der Cholera im Juni; dies waren einige der 1,7 Millionen Glücklichen, die der Sowjetunion in die Hände gefallen waren; einige der einen Million sehr Glücklichen, die die Sowjets nun entlassen und zurückgeschickt hatten.

Harry Sweeney schaute zu, wie diese Glücklichen aus dem langen schwarzen Zug stiegen und ihren Müttern und Schwestern, ihren Ehefrauen und Töchtern in Arme und Tränen fielen. Er sah, dass ihre Augen leer waren oder voller Scham, während sie sich nach ihren Kameraden umschauten. Er sah, wie sich ihre Blicke von ihren Familien lösten und sich auf ihre Genossen richteten. Er sah, wie sich ihre Münder bewegten und zu singen begannen. Er beobachtete die Mütter und Schwestern, Ehefrauen und Töchter, die vor ihren Söhnen und Brüdern, Männern und Vätern zurückwichen, die Hände sinken ließen und mit tränennassen Wangen stumm dastanden, während das Lied, das die Männer sangen, lauter und immer lauter wurde.

Harry Sweeney kannte das Lied, den Text und die Melodie: Die Internationale.

Kaum hatte Harry Sweeney Zimmer 432 betreten, packte Bill Betz ihn am Arm und drängte ihn wieder zur Tür hinaus und den Flur entlang: Wo zum Teufel bist du gewesen, Harry, flüsterte er, was verdammt noch mal hast du die ganze Zeit getrieben? Shimoyama wird vermisst, und hier ist die Hölle los.

Shimoyama? Der Eisenbahner?

Ja, der Eisenbahner, der verfluchte Präsident der Eisenbahngesellschaft, flüsterte Betz und blieb vor der Tür zu Zimmer 402 stehen. Der Chief sitzt gerade beim Colonel. Sie fragen schon seit einer Stunde nach dir.

Betz klopfte zweimal an die Tür zum Büro des Colonels.

Er hörte jemanden Herein rufen, öffnete die Tür und trat vor Harry Sweeney ein.

Colonel Pullman saß hinter seinem Schreibtisch, mit Chief Evans und Lieutenant Colonel Batty vor sich. Toda war ebenfalls anwesend und stand mit einem hellgelben Schreibblock in der Hand hinter Chief Evans. Er drehte sich um und nickte Harry Sweeney zu.

Tut mir leid, dass ich zu spät komme, sagte Harry Sweeney. Ich war am Bahnhof Ueno. Ein neuer Zug mit Kriegsheimkehrern ist eingetroffen.

Nun, jetzt sind Sie ja hier, sagte der Colonel. Ein Vermisster weniger. Hat Mr. Betz Ihnen gesagt, worum es geht?

Nur, dass Präsident Shimoyama vermisst wird, Sir.

Wir sind sofort hierhergekommen, Sir, sagte Betz. Gleich, als Mr. Sweeney zurück war.

Viel mehr kann man leider noch nicht sagen, meinte der Colonel. Mr. Toda, wären Sie so freundlich und rekapitulieren für Ihre Kollegen das wenige, das wir wissen.

Ja, Sir, sagte Toda und schaute auf seinen Block: Kurz nach 13.00 Uhr erhielt ich einen Anruf von einer verlässlichen Quelle im Polizeipräsidium Tokio, dass Sadanori Shimoyama, Präsident der Nationalen Eisenbahngesellschaft, am frühen Morgen verschwunden ist. Ich ließ mir des Weiteren bestätigen, dass Mr. Shimoyama sein Heim in Den-en-chōfu gegen 8.30 Uhr verlassen hat, um sich in sein Büro in Tokio zu begeben, seitdem aber nicht mehr gesehen wurde. Er war in einem Buick Sedan Baujahr 1941 unterwegs, mit dem amtlichen Kennzeichen 41173. Der Wagen gehört der Eisenbahngesellschaft und wurde von Mr. Shimoyamas Fahrer gesteuert. Meine Quelle hat mir in der Zwischenzeit mitgeteilt, dass das Polizeipräsidium etwa gegen 13.00 Uhr von seinem Verschwinden informiert wurde und dass eine Überprüfung ergab, dass kein Unfall mit dem fraglichen Fahrzeug gemeldet worden ist. Wir sind offiziell vor einer Stunde, gegen 13.30 Uhr, von dem Vorfall informiert worden. Man hat uns mitgeteilt, dass alle japanischen Polizeikräfte informiert wurden und alle Anstrengungen unternehmen werden, Präsident Shimoyama aufzuspüren. Soweit wir wissen, sind bislang keine Informationen an Zeitungen oder Rundfunksender gegeben worden.

Danke, Mr. Toda, sagte der Colonel. Also gut, meine Herren. Offen gesagt, wir haben kein gutes Gefühl bei der Sache. Wie Sie alle zweifellos wissen, hat Shimoyama gestern persönlich autorisiert, dass über dreißigtausend Entlassungsschreiben verschickt werden, weitere siebzigtausend sind für kommende Woche geplant. Heute Morgen erscheint er nicht zur Arbeit. Sie können in dieser Stadt jede beliebige Straße entlanggehen und sich irgendeinen Laternenpfahl oder eine Mauer anschauen, und Sie werden Plakate sehen, auf denen TOD SHIMOYAMA geschrieben steht, ist das richtig, Mr. Toda?

Ja, Sir. Das ist richtig, Sir. Meine Quelle meldete mir außerdem, dass Präsident Shimoyama wiederholt von Angestellten bedroht wurde, die gegen die Massenentlassungen und Einsparungen sind, Sir, und dass er zahlreiche Morddrohungen erhalten hat.

Irgendwelche Verhaftungen?

Nein, Sir, soweit ich weiß, nicht, Sir. Meiner Kenntnis nach waren alle Drohungen anonym.

Also gut, sagte der Colonel. Chief Evans …

Chief Evans stand auf und drehte sich zu Bill Betz, Susumu Toda und Harry Sweeney um, wobei er sorgfältig darauf achtete, sich nicht direkt vor Colonel Pullman zu stellen: Sie werden umgehend alle laufenden Ermittlungen zurückstellen. Sie konzentrieren sich bis auf Weiteres einzig und allein auf diesen Fall. Wir müssen davon ausgehen, dass Shimoyama entweder von Eisenbahnarbeitern, Gewerkschaftern oder Kommunisten entführt worden ist, oder von allen drei zusammen, und dass er an einem unbekannten Ort gegen seinen Willen festgehalten wird. Sie führen die entsprechenden Ermittlungen, bis Sie anderslautende Befehle erhalten. Haben Sie verstanden?

Ja, Chief, sagten Toda, Betz und Harry Sweeney.

Toda, Sie richten Ihr Augenmerk auf das Polizeipräsidium. Ich möchte wissen, was die wissen, sobald sie es wissen, und was sie vorhaben. Verstanden?

Ja, Chief.

Mr. Betz, Sie gehen rüber zur Norton Hall und schauen nach, was die Spionageabwehr über diese Todesdrohungen weiß. Ich schätze mal, nicht viel, wie üblich, aber dann kann zumindest keiner sagen, wir hätten es nicht versucht.

Ja, Chief.

Sweeney, Sie gehen zum Transportministerium. Finden Sie heraus, wen wir dort sitzen haben und was er weiß.

Ja, Chief.

Der Colonel, Lieutenant Batty und ich werden im Dai-ichi-Haus mit General Willoughby zusammentreffen. Ganz gleich, welche Informationen Sie über den Aufenthaltsort von Mr. Shimoyama erhalten, Sie rufen umgehend dort an und verlangen, in einer äußerst dringenden Angelegenheit zu mir durchgestellt zu werden. Haben Sie das verstanden?

Ja, Chief, sagten Toda, Betz und Harry Sweeney.

Danke, Chief Evans, sagte der Colonel, trat um seinen Schreibtisch herum neben den Chief, stand vor William Betz, Susumu Toda und Harry Sweeney, schaute von einem zum anderen und sah jedem tief in die Augen: General Willoughby möchte, dass dieser Mann gefunden wird. Wir alle wollen, dass dieser Mann gefunden wird. Heute und lebend.

Ja, Sir, bellten Toda, Betz und Harry Sweeney.

Gut, sagte der Colonel. Wegtreten.

Harry Sweeney bahnte sich einen Weg durch die Menschenmenge hinauf in den dritten Stock des Gebäudes der Chōsen Bank. Der Flur war voller japanischer Angestellter, die hin und her eilten, durch diese Tür hereinkamen und durch jene wieder hinausgingen, Telefone abhoben und Unterlagen umhertrugen. Er schlängelte sich zu Zimmer 308. Dort zeigte er dem Sekretär außerhalb des Zimmers seine Dienstmarke und sagte: Sweeney, PSD. Colonel Channon erwartet mich.

Der Mann nickte: Sie können sofort hinein, Sir.

Harry Sweeney klopfte zweimal an, öffnete die Tür, trat ein, sah den aufgedunsenen Mann hinter einem kargen Schreibtisch an und sagte: Polizeiermittler Sweeney, Sir.

Lieutenant Colonel Donald E. Channon lächelte und nickte. Er erhob sich von seinem Schreibtisch und wies auf einen Stuhl vor dem Schreibtisch. Wieder lächelte er und sagte: Setzen Sie sich, Mr. Sweeney. Machen Sie es sich bequem.

Danke, Sir.

Colonel Channon setzte sich hinter den Schreibtisch, lächelte erneut und sagte: Ich kenne Sie, Mr. Sweeney. Sie sind berühmt, Sie waren in den Zeitungen: »Der Eliot Ness Japans«, so hat man Sie genannt. Das waren doch Sie, oder?

Das war ich, Sir, ja. Früher einmal.

Ich habe Sie auch in der Stadt ein paarmal gesehen. Immer eine hübsche Braut im Arm. Allerdings nicht in letzter Zeit.

Ich war fort, Sir.

Na, jedenfalls haben wir uns einen schönen Tag zum Kennenlernen ausgesucht. Das reinste Narrenhaus da draußen. Da geht es zu wie an der Grand Central Station in Manhattan.

Ich habe es gesehen, Sir.

So geht das schon, seit der gute Shimoyama beschlossen hat, heute Morgen nicht zur Arbeit zu erscheinen.

Deshalb bin ich hier, Sir.

Hätte sich keinen besseren Tag dafür aussuchen können. Einen verfluchten Tag nach dem 4. Juli. Ich weiß ja nicht, wie es Ihnen geht, aber ich hatte auf einen ruhigen Tag gehofft. Einen sehr ruhigen Tag.

Das haben wir wohl alle, Sir.

Colonel Channon lachte. Er rieb sich die Schläfen und sagte: Himmel, wie sehr ich mir wünsche, ich hätte es letzte Nacht locker angehen lassen. Ein Glück, dass ich keinen Katzenjammer habe.

Da sind wir schon zu zweit, Sir.

Wieder lachte Colonel Channon: Sie sehen aus, als hätten Sie schon bessere Vormittage erlebt. Von woher kommen Sie, Mr. Sweeney?

Aus Montana, Sir.

Du lieber Himmel, das muss ja ein ziemlicher Tempowechsel sein.

Hält mich auf Trab, Sir.

Darauf wette ich. Ich bin aus Illinois, Mr. Sweeney. Hab früher für die Illinois Central Railroad gearbeitet. Jetzt habe ich ganz Japan unter mir. Bin schon seit August ’45 hier. Mein erstes Büro war ein Eisenbahnwaggon an einem Frachtzug. Ich habe das ganze Land gesehen, Mr. Sweeney. Von oben bis unten. Jeden verfluchten Bahnhof, schätze ich.

Eine ganz schöne Plackerei, Sir.

Colonel Channon starrte Harry Sweeney an und nickte: Da haben Sie recht. Aber Sie sind ja nicht wegen einer Lehrstunde in Geschichte hergekommen, oder, Mr. Sweeney?

Nein, Sir. Heute nicht, Sir.

Colonel Channon hatte aufgehört zu lächeln und zu nicken. Noch immer sah er Harry Sweeney unverwandt an: Colonel Pullman hat Sie geschickt, richtig?

Chief Evans, Sir.

Einer wie der andere. Sie hören eh alle auf General Willoughby. Aber die müssen ganz schön Angst gekriegt haben, dass man Sie hergeschickt hat, Mr. Sweeney. Die machen sich Sorgen, nicht wahr?

Ja, sie sind besorgt, Sir.

Na, so schön es auch ist, Sie endlich kennengelernt zu haben, Mr. Sweeney, Sie hätten sich den Weg sparen können.

Harry Sweeney griff in sein Jackett und zog ein Notizbuch und einen Bleistift hervor. Wie kommen Sie darauf, Sir?

Colonel Channon warf einen Blick auf Notizbuch und Stift und sah dann zu Harry Sweeney: Sind Sie ein Spieler, Mr. Sweeney? Schließen Sie ab und zu mal eine Wette ab?

Nein, Sir. Nicht, wenn ich es vermeiden kann, Sir.

Schade, wirklich schade. Sonst hätte ich hundert Dollar, hundert von meinen amerikanischen Dollar darauf gewettet, Mr. Sweeney, dass der gute Shimoyama es mit Aschenputtel hält und vor Mitternacht wieder zu Hause ist.

Sie klingen recht sicher, Sir.

Darauf können Sie wetten, Mr. Sweeney. Ich kenne den Mann. Ich arbeite jeden Tag mit ihm. Jeden verfluchten Tag.

Und verschwindet er häufig, ohne sich abzumelden?

Hören Sie, es ist Folgendes: Letzte Nacht kommt mein Sekretär herein und sagt, er habe von jemandem aus der Verwaltung mitbekommen, dass Shimoyama kurz davor sei zu springen. Das kommt für mich nicht überraschend, Mr. Sweeney. Für Sie wohl auch nicht, nehme ich an. Sie lesen Zeitung. Der Mann steht unter Druck. Schließlich ist er der Präsident der Nationalen Eisenbahngesellschaft, verdammt noch mal. Er feuert über hunderttausend seiner eigenen Leute. Shimoyama wollte den Job nicht mal. Wenn ich ehrlich sein soll, ich auch nicht. Also, ich steige in einen Jeep und fahre zu seinem Haus. Um ihm das auszureden.

War das in seinem Haus in Den-en-chōfu, Sir?

Irgendwo da draußen, ja.

Und um welche Zeit war das, Sir?

Irgendwann nach Mitternacht, schätze ich.

Und Sie haben ihn gesehen?

Worauf Sie wetten können. Seine Frau und sein Sohn waren noch auf, also gingen wir in das kleine Empfangszimmer. Es ist ein großes Haus, müssen Sie wissen. Netter Schuppen. Jedenfalls, wir beide gehen in das Zimmer, er und ich, und wir unterhalten uns.

Spricht er Englisch?

Besser als Sie und ich, Mr. Sweeney. Aber er war erschöpft. Völlig am Boden zerstört. Bei dem Druck, unter dem er steht. Aber verstehen Sie, der kommt nicht von der Gewerkschaft, nicht von den Arbeitern. Schon auch, aber dem kann er standhalten. Was er nicht aushalten kann, ist der verfluchte interne Mist.

Intern?

Innerhalb der Eisenbahngesellschaft. Der Laden ist eine Schlangengrube, das kann ich Ihnen versichern. Die könnten dort so jemanden wie Sie brauchen, Mr. Sweeney. Um mal richtig aufzuräumen. Also, der gute Shimoyama ist ein Saubermann. Aber er ist nicht wie Sie oder ich, er ist kein harter Bursche. Deshalb wollte er auch gar nicht Präsident werden. Und niemand wollte ihn. Er ist einfach zu sauber.

Aber irgendjemand hat ihn doch haben wollen?

Ja, schon. Aber sehen Sie, Katayama, sein Stellvertreter, den hatten sie alle haben wollen. Doch der Vater seiner Frau war in irgendeinen bescheuerten Skandal verwickelt. Die verfluchte Presse hätte da niemals mitgemacht. Also haben sie den guten alten Shimoyama genommen. Sie hatten gedacht, dass er mitspielt, dass er weich ist. Sie wissen, dass sie all diese Männer entlassen müssen. Sie glauben, der alte Shimoyama wird schon die Drecksarbeit für sie machen, und dann schmeißen sie ihn wieder raus.

Und er hat den Job angenommen, obwohl er das alles wusste?

Ja und nein, Mr. Sweeney. Ja und nein. Arbeitskräfte abbauen ist nur eine Seite des ganzen verfluchten Durcheinanders, verstehen Sie? Die Eisenbahn macht Verluste ohne Ende. Als Buße für meine Sünden muss ich sie wieder in die richtige Spur bringen. Mein zweiter Name, Mr. Sweeney: Colonel Richtige Spur. Und sie dann in der verfluchten richtigen Spur halten. Und das erfordert eine Umstrukturierung, eine massive Umstrukturierung. All die Bestechungen, Zuwendungen, zusätzlichen Lohntage, all die üblichen Schiebereien müssen aufhören.

Und das gefällt denen nicht?

Darauf können Sie wetten, Mr. Sweeney. Nicht im Geringsten. Also wollen sie den Kerl abservieren, sie zeigen ihm die kalte Schulter, lassen ihn hängen. Dabei muss er schon den ganzen Druck von den Gewerkschaften aushalten, er kriegt all die Drohbriefe. Er wird mit all dem Mist beworfen.

Sie wissen also von den Drohungen, die gegen ihn ausgesprochen worden sind, Sir?

Haben Sie die Plakate in der ganzen Stadt gesehen?

Ja, Sir.

Also wissen Sie es, ich weiß es, das ganze verfluchte Land weiß es. Aber wie ich schon sagte, das ist nicht der Grund, warum er Schluss machen und vom Dach springen wollte. Der gute Shimoyama ist härter, als er aussieht.

Aber Sie sagten doch, er sei nicht hart, Sir?

Nicht so wie Sie und ich, meine ich. Sie waren doch im Einsatz, oder? Tja, für mich war’s schon der zweite Krieg, Mr. Sweeney. Der alte Shimoyama hingegen hat die ganze Sache hinterm Schreibtisch ausgesessen.

Aber er ist härter, als man denkt?

Hören Sie, mit den ganzen Drohungen wird er fertig. Kein Problem. Was er nicht ertragen kann, ist dieser ganze interne Mist. Alle nicken und stimmen seinen Plänen zu. Doch dann hocken sie nur untätig da und schmieden Pläne gegen ihn. Eine verfluchte Räuberbande, sag ich Ihnen.

Aber Sie sind letzte Nacht zu ihm gefahren, Sir?

Ja, wie ich schon sagte. Ich fahr raus. Wir reden. Er sagt mir, dass ihm das alles zu viel wird. Er entschuldigt sich unentwegt, sagt aber, dass er es nicht mehr ertragen kann. Also lege ich ihm alles noch mal dar, verstehen Sie, wie wichtig seine Arbeit für Japan und den Wiederaufbau des Landes sei. Und dass alles den Bach runtergehen würde, wenn er kündigt.

Und das hat er Ihnen abgekauft?

Darauf können Sie wetten, Mr. Sweeney. Ich könnte dem Papst eine Bibel verkaufen. Als ich ging, haben wir Witze gerissen und gelacht.

Und wann war das, Sir?

Gegen zwei, schätze ich. Ich nehme an, er hat nicht gut geschlafen, also hat er sich verdrückt, um sich auszuruhen und darauf zu warten, dass sich die Lage beruhigt. Er wird schon wiederauftauchen, Mr. Sweeney.

Sie scheinen sich da ganz sicher zu sein, Colonel.

Darauf können Sie wetten. Hundert Dollar, dass ich recht habe. Schlagen Sie ein. Ich kenne den Mann, Mister Sweeney. Ich arbeite jeden Tag mit ihm. Ich sehe ihn jeden Tag. Jeden verfluchten Tag der Woche.

Nur heute nicht, Sir.

Colonel Donald E. Channon starrte Harry Sweeney über den Schreibtisch hinweg an. Dann schaute er auf seine Uhr, stand auf und sagte: Ich muss auf Toilette, Mr. Sweeney. Und dann muss ich mich wieder um meine Eisenbahn kümmern.

Harry Sweeney steckte seinen Bleistift ins Notizbuch und klappte es zu: Darf ich Ihr Telefon benutzen, Sir?

Tun Sie, was Sie nicht lassen können.

Danke, Sir.

Colonel Channon blieb neben Harry Sweeneys Stuhl stehen und legte ihm eine fette feuchte Hand auf die Schulter: Glauben Sie mir, Mr. Sweeney. Er wird wiederauftauchen.

Ich glaube Ihnen, Sir.

Harry Sweeney entdeckte Toda, der vor dem Polizeipräsidium stand und neben einem Wagen eine Zigarette rauchte. Sweeney wischte sich erneut über Gesicht und Nacken, zündete sich selbst eine Zigarette an und trat zu ihm: Gibt’s was Neues?

Nein, antwortete Toda. Die Abteilungen eins und zwei arbeiten daran, als wäre es das größte Ding seit dem Teigin-Fall. Um 17.00 Uhr wird es im Radio bekannt gegeben. Die Abendzeitungen werden darüber berichten. Also sitzen alle herum und warten neben dem Telefon.

Harry Sweeney ließ seine Kippe zu Boden fallen, trat sie aus und wies auf den Wagen: Ist der für uns?

Ja, sagte Toda. Haben Sie etwas?

Vielleicht. Vielleicht nicht. Keine Ahnung.

Weiß der Chief davon?

Er ist in einer Sitzung.

Sie sollten ihn anrufen, Harry, und es ihm sagen.

Harry Sweeney machte die hintere Tür auf: Und was soll ich ihm sagen?

Sagen Sie ihm, wohin wir fahren.

Harry Sweeney stieg hinten ein, rutschte über den Sitz und kurbelte das Fenster herunter. Er beugte sich vor und erkannte den Fahrer: Hey, Ichirō.

Hallo, Sir.

Harry Sweeney zückte sein Notizbuch. Er schlug es auf und blätterte, dann sagte er, 1081 Kami-ikegami, Bezirk Ōta.

Ja, Sir, sagte Ichirō.

Ich halte das nicht für eine gute Idee, sagte Toda, setzte sich neben Harry Sweeney und schloss die Tür.

Harry Sweeney lächelte: Haben Sie eine bessere?

Sie brauchten eine halbe Stunde über die Avenue B bis zum Senzoku-Teich, dann noch ein paar Minuten, bis sie das Anwesen der Shimoyamas fanden. Es lag hügelabwärts vom Teich in einer ruhigen, schattigen Straße, und vor dem Tor zum Haus stand ein uniformierter Beamter. Keine Menschenmenge, keine Autos, keine Presse. Noch nicht.

Nette Gegend, sagte Toda. Muss ein Vermögen kosten, hier zu wohnen. Ein Vermögen, Harry.

Harry Sweeney stieg aus und wischte sich über Gesicht und Nacken. Er schaute hinauf zu einem großen, von hohen Hecken und Bäumen umsäumten, im englischen Stil erbauten Haus.

Harry Sweeney und Susumu Toda zeigten dem Uniformierten am Tor ihre Dienstmarken. Sie gingen die kurze Auffahrt entlang und betraten mit ihren Hüten in den Händen das Haus.

Ein Hausmädchen führte Harry Sweeney und Susumu Toda in ein japanisches Empfangszimmer. Inspektor Hattori von der Kriminalpolizei Tokio war bereits anwesend. Er machte die beiden mit einem anderen Beamten bekannt, der vom Revier Higashi-Chōfu kam, dann mit Ōtsuka, dem Sekretär von Präsident Shimoyama. Ōtsuka verbeugte sich, dankte für ihr Kommen und fragte: Gibt es Neuigkeiten?

Nein, antwortete Harry Sweeney. Es tut mir leid.

Ōtsuka seufzte und sank in sich zusammen. Er war noch jung, vielleicht Mitte zwanzig, doch alterte er schnell.

Harry Sweeney bat alle, sich wieder zu setzen, und ihre Knie stießen gegen den niedrigen Tisch. Das Hausmädchen brachte Tee und servierte ihn. Harry Sweeney fragte: Wo ist die Familie?

Oben, sagte Inspektor Hattori.

Harry Sweeney sah über den niedrigen Tisch zu dem Sekretär, diesem besorgten, nervösen Mann. Harry Sweeney zückte sein Notizbuch mit dem Bleistift: Erzählen Sie mir von heute Vormittag. Mr. Shimoyamas Tagesplan.

Wir haben den Präsidenten zur üblichen Zeit in der Direktion erwartet. Der Präsident trifft normalerweise zwischen Viertel vor neun und neun Uhr ein. Ich wartete wie immer am Hintereingang auf den Präsidenten, bis ungefähr Viertel nach neun. Dann ging ich in mein Büro und rief Frau Shimoyama an. Sie teilte mir mit, dass der Präsident das Haus wie immer gegen zwanzig vor acht verlassen habe. Gelegentlich fährt der Präsident vor dem Büro noch anderswo hin. Ich dachte, vielleicht wäre der Präsident ins Verkehrsministerium gefahren, im Gebäude der Chōsen Bank. Aber als ich dort anrief, sagte man mir, dass der Präsident nicht dort sei und auch nicht dort gewesen sei. Im Laufe der nächsten Stunde dann habe ich alle Stellen abtelefoniert, die mir einfielen. Ich muss Frau Shimoyama noch drei oder vier Mal gestört und gefragt haben, ob sie etwas vom Präsidenten gehört habe. Denn so langsam machten wir uns Sorgen, große Sorgen. Dann habe ich mich mit Vizepräsident Katayama und zwei weiteren Direktoren getroffen. Der Sicherheitsdirektor hat mit Lieutenant Colonel Channon gesprochen, und dann ist Vizepräsident Katayama ins Generalhauptquartier gefahren. Wir haben natürlich auch die Polizei alarmiert. Und gegen drei Uhr bin ich hier herausgefahren, um Frau Shimoyama aufzusuchen und die Beamten hier zu empfangen.

Harry Sweeney hörte auf mitzuschreiben. Er blickte von seinem Notizbuch auf: Welche Termine hatte Mr. Shimoyama an diesem Vormittag?

Nun, abgesehen von unserer morgendlichen Sitzung, die wir jeden Tag abhalten, hatte der Präsident einen Termin im Generalhauptquartier, mit Mr. Hepler, dem Chef der Abteilung für Arbeit.

Wann hätte das Treffen stattfinden sollen?

Um elf Uhr.

Im GHQ?

Ja.

Ist Mr. Shimoyama jemals zu irgendeiner Verabredung nicht erschienen?

Der junge Mann, dieser besorgte, nervöse Mann, rutschte herum, schaute auf seine Hände und antwortete: Normalerweise nicht, nein.

Aber manchmal schon, oder?

Ōtsuka blickte auf und schaute über den Tisch hinweg Harry Sweeney an: Der Präsident hat eine sehr schwierige Aufgabe. Seine Arbeit ist sehr anspruchsvoll und äußerst anstrengend. In den letzten Wochen hat der Präsident pausenlos gearbeitet. In diesen letzten Wochen ist es mehrmals vorgekommen, dass der Präsident plötzlich seinen Terminkalender ändern musste. Der Präsident ist kurzfristig ins Verkehrsministerium oder ins Generalhauptquartier zitiert worden. Es sind für uns alle schwierige Zeiten und für den Präsidenten mehr als für alle anderen. Wir müssen über hunderttausend Leute entlassen. Über hunderttausend Mann. Der Präsident trägt diese Last auf seinen Schultern, er spürt die Verantwortung. Tag für Tag. Es sind schwere Zeiten für ihn.

Harry Sweeney nickte: Uns ist bewusst, wie schwierig die augenblickliche Lage für Mr. Shimoyama ist. Deshalb sind wir hier. Danke, dass Sie meine Fragen beantwortet haben.

Dann wandte sich Harry Sweeney an Inspektor Hattori und sagte: Ich möchte gern mit Frau Shimoyama sprechen.

Inspektor Hattori führte Harry Sweeney und Susumu Toda hinaus und die Treppe hinauf in einen anderen, größeren Raum. Dort gab es einen Holztisch und einen großen Schrank. In dem Raum saßen eine ältere Frau, zwei halbwüchsige Jungen und eine Frau mittleren Alters in einem dunklen Kimono. Inspektor Hattori stellte Harry Sweeney und Susumu Toda vor. Er bat die ältere Frau und die beiden Jungen, ihn nach unten zu begleiten und dort zu warten. Die Jungen sahen ihre Mutter an, die lächelte. Die Jungen folgten ihrer Großmutter und Inspektor Hattori hinaus. Harry Sweeney und Susumu Toda knieten sich an einen anderen niedrigen Tisch. Harry Sweeney sagte: Entschuldigen Sie bitte, dass wir Sie stören müssen, Frau Shimoyama.

Frau Shimoyama schüttelte den Kopf: Sie sind sehr willkommen, Mr. Sweeney. Aber haben Sie irgendwelche Neuigkeiten für uns?

Es tut mir leid, noch nicht.

Mein Mann ist also nicht im Generalhauptquartier?

Soweit ich weiß, nein.

Ich hatte gehofft, dass er dort ist. In letzter Zeit ist er einige Male dorthin einbestellt worden. Umgehend. Ich dachte, vielleicht …

Fällt Ihnen noch ein anderer Ort ein, an dem er sein könnte?

Nein, aber ich bin sicher, er schläft nur irgendwo und ruht sich aus. Es tut mir leid, dass er solche Unannehmlichkeiten bereitet. Er hat letzte Nacht ein paar Schlaftabletten genommen, aber ich glaube, sie haben nicht gewirkt. Deshalb muss er wohl irgendwo eine Ruhepause eingelegt haben.

Ja, sagte Harry Sweeney. Ich habe gehört, dass er sehr spät zu Bett gegangen ist. Ich habe gehört, dass Colonel Channon bei Ihnen war.

Frau Shimoyama schüttelte den Kopf: Nicht letzte Nacht, nein.

Sind Sie sicher, Madam?

Das war in der Nacht zuvor.

Sind Sie sicher, dass es nicht letzte Nacht war?

Es war vorletzte Nacht. Ich bin mir sicher, Mr. Sweeney.

Aber letzte Nacht hat Ihr Mann nicht gut geschlafen?

Nein, er hat nicht gut geschlafen, Mr. Sweeney. Er hat in letzter Zeit so viel gearbeitet, dass es seinen Schlaf beeinträchtigt hat.

Da bin ich mir sicher, sagte Harry Sweeney. Aber heute Morgen, welchen Eindruck hat Ihr Mann da auf Sie gemacht, Madam?

Frau Shimoyama lächelte: Er war müde. Aber er ist um sieben Uhr aufgestanden wie immer. Ich habe gehört, wie er sich gut gelaunt mit unserem zweiten Sohn Shunji unterhalten hat, als er sich im Bad rasierte. Dann kam er nach unten und frühstückte wie üblich.

Und haben Sie mit Ihrem Mann gesprochen, Madam?

Natürlich. Unser ältester Sohn studiert Jura an der Nagoya-Universität. Aber er kommt heute Abend nach Hause. Mein Mann freute sich schon darauf. Wir haben unseren Sohn schon länger nicht mehr gesehen. Mein Mann hat ihn schon lange nicht mehr gesehen. Wir sprachen über seinen Besuch. Über heute Abend.

Ich verstehe, sagte Harry Sweeney. Und Sie rechnen damit, dass Ihr Mann heute Abend zum Essen kommt, Madam?

Frau Shimoyama nickte: Ja. Aber in diesen Zeiten können wir nie ganz sicher sein, wann mein Mann nach Hause kommt …

Unten klingelte kurz ein Telefon.

Frau Shimoyama schaute zur Tür: All diese Unannehmlichkeiten tun mir leid. Ich frage mich nur, was passiert ist. Er hätte im Büro eintreffen müssen. Er hätte um halb zehn dort sein sollen. Es wird ihn doch sicher niemand entführt haben, nicht am helllichten Tag. Ich kann nicht glauben, dass man so etwas …

Schritte kamen schnell die Treppe herauf …

Doch nicht aus seinem Wagen. Am helllichten Tag …

Susumu Toda stand auf und ging aus dem Zimmer, Frau Shimoyama schaute ihm hinterher, starrte die Tür an, rang die Hände und erhob sich …

Was ist denn? Was ist? Bitte …

Harry Sweeney war ebenfalls aufgestanden, streckte die Hände nach Frau Shimoyama aus und bat sie, sich wieder zu setzen und zu warten, bitte …

Baron Masanari Takagi war auch verschwunden, sagte sie. Er war auch verschwunden. Und dann hat man ihn gefunden, tot in den Bergen. Ich hoffe …

Susumu Toda kehrte zurück, schaute die beiden an und sagte: Man hat den Fahrer gefunden.

Was zum Teufel haben Sie sich gedacht, Sweeney? Sie hätten Toda dort lassen sollen, wo er war, wo ich ihn hingeschickt hatte, um dort zu bleiben.

Tut mir leid, Chief. Aber jetzt ist er wieder dort.

Zu spät, verflucht, seufzte Chief Evans.

Er hat sich telefonisch gemeldet, Chief. Ich habe alles hier.

Das wollen wir auch hoffen. Also los.

Harry Sweeney schaute auf den gelben Block, den er in Händen hielt, und sagte: Sie haben den Fahrer auf dem Polizeipräsidium, wo er noch immer verhört wird. Bislang wissen wir von Toda, dass der Fahrer Shimoyama wie üblich um 8.20 Uhr abgeholt hat. Aber anstatt sich direkt ins Büro zu begeben, zur Eisenbahndirektion neben dem Bahnhof, hat Shimoyama ihn gebeten, zum Warenhaus Mitsukoshi in Nihonbashi zu fahren. Dort haben sie gehalten und darauf gewartet, dass das Warenhaus um 9.30 Uhr öffnet, dann ist Shimoyama hineingegangen. Er hat den Fahrer gebeten zu warten, er sei in fünf Minuten zurück. Der Fahrer hat ihn seitdem nicht mehr gesehen.

Und wann war das?

Um 9.30 Uhr, Chief.

Und was hat der Fahrer seitdem gemacht?

Er sagt, er habe im Wagen vor dem Warenhaus gesessen und gewartet. Er habe um 17.00 Uhr das Radio angemacht und in den Nachrichten gehört, dass sein Chef vermisst wird, dann sei er sofort in das Warenhaus geeilt und habe die Direktion angerufen.

Er sitzt über sieben Stunden lang einfach in dem verfluchten Wagen und denkt nicht einmal daran, auszusteigen und nach seinem Boss zu schauen oder ein Telefon in die Hand zu nehmen und herauszufinden, was zum Teufel eigentlich los ist? Das ist seine verfluchte Geschichte? Du meine Güte.

Ihm wurde aufgetragen zu warten, also hat er gewartet.

Über sieben Stunden lang?

Das sagt er zumindest, Chief. Bislang.

Was wissen wir über ihn?

Er heißt Ōnishi. Achtundvierzig Jahre alt. Arbeitet seit zwanzig Jahren für die Eisenbahn. Absolut sauber. Nicht mal einen Strafzettel. Trinkt nicht, spielt nicht. Keine Hinweise auf eine linke Gesinnung oder entsprechende Verbindungen. Loyal, vertrauenswürdig. Deswegen ist er der Fahrer des Präsidenten. Er wird allerdings noch verhört, und Toda ruft an, sobald er mehr weiß.

Chief Evans rieb sich die Augen, kniff sich in den Nasenrücken und blickte Harry Sweeney an: Was halten Sie davon, Harry? Was sagt Ihr Bauchgefühl?

Keine Ahnung. Ich habe mit Colonel Channon vom Verkehrsministerium gesprochen. Er meint, Shimoyama wolle zurücktreten. Innerhalb der Eisenbahngesellschaft passieren eine Menge politischer Dinge. Das kommt zu allem anderen noch hinzu. Und ich habe mit seiner Frau gesprochen. Der Mann kann nicht schlafen und nimmt Schlaftabletten. Die wirken nicht mehr. Sie betet, dass er irgendwo ist und sich ausruht und dass er zum Abendessen wieder zurückkommt.

Wieder seufzte der Chief: Glauben Sie, dass er einfach verschwunden ist und sich in der Gegend herumtreibt?

Vielleicht. Hoffentlich.

Sie klingen nicht sehr überzeugt, Harry?

Ich bin nicht sicher, dass er wieder zurückkommt, Chief.

Tja, wir brauchen ihn aber, Harry. Und zwar sofort.

Es war noch immer heiß und stickig, doch es wurde dunkel, die Stadt stellte den Betrieb ein und ging nach Hause. Ichirō fuhr Toda und Harry Sweeney über die Avenue A, dann die Avenue W entlang unter der Eisenbahn hindurch, durch das Kreuzungsgewirr von Gofukubashi und am Yashima Hotel vorbei, dann bog er beim Warenhaus Shirokiya nach links ab und fuhr über den Fluss nach Nihonbashi, bevor er wieder nach links abbog, eine Seitenstraße nahm, nach rechts und noch einmal nach rechts abbog und eine weitere Seitenstraße entlangfuhr, bis Toda sagte: Hier ist es.

Im Schatten des Warenhauses Mitsukoshi, längsseits der Eingänge auf der Südseite, blieb Ichirō stehen.

In der engen Seitenstraße, wo der Wagen in Richtung Hauptstraße stand, schaute Harry Sweeney vom Rücksitz an Ichirō vorbei durch die Windschutzscheibe, aus den Schatten hinaus in die Lichter der Hauptstraße: heimwärts rollender Verkehr, heimwärts gehende Menschen; Männer, die nach Hause wollten.

Eine Wahnsinnsfahrt hierher, sagte Toda.

Harry Sweeney schaute nach links hinaus auf die Eingangstüren: Glas und Messing, dunkel und verschlossen. Die Türen verriegelt, das Geschäft geschlossen. Alles geschlossen und dunkel. Sweeney nickte und sagte: Erzählen Sie mir alles noch einmal.

Okay. Also, sagte Toda, zückte sein Notizbuch und schlug es auf: Ōnishi zufolge wollte Shimoyama einkaufen gehen und meinte, es sei in Ordnung, wenn er gegen zehn ins Büro käme. Erst sagt er, Ōnishi solle zum Warenhaus Shirokiya fahren; als sie dort eintreffen, ist noch geschlossen. Also sagt Shimoyama, er solle hierhin fahren. Ōnishi meint, das Mitsukoshi dürfte auch noch geschlossen sein. Dies alles ist vor neun Uhr. Also macht sich Ōnishi auf den Weg zur Eisenbahndirektion, aber Shimoyama sagt ihm, er solle zum Bahnhof Kanda fahren. Dort halten sie, aber Shimoyama bleibt im Wagen sitzen. Ōnishi fragt nach, ob er aussteigen werde; nein, antwortet Shimoyama. Also macht sich Ōnishi wieder auf den Weg zur Direktion. Als sie allerdings Gofukubashi durchqueren, sagt Shimoyama, er solle zur Chiyoda Bank fahren. Sie halten vor dem Gebäude, und Shimoyama steigt aus. Er geht in die Bank und bleibt etwa zwanzig Minuten. Es ist 9.25 Uhr. Shimoyama meint, jetzt sei der richtige Zeitpunkt. Ōnishi nimmt an, dass er damit meinte, zurück zum Mitsukoshi zu fahren. Als sie dort eintreffen, bleibt Shimoyama einfach sitzen und sagt, das Warenhaus sei noch geschlossen. Ōnishi kann allerdings sehen, dass sich bereits Kundschaft im Haus befindet, und sagt zu Shimoyama, das Warenhaus sei geöffnet. Shimoyama steigt aus und bittet Ōnishi zu warten. Er müsse ein Geschenk kaufen, sagt er, ein Hochzeitsgeschenk, er sei in fünf Minuten wieder da. Dann verschwindet Shimoyama durch diese Türen dort.

Harry Sweeney starrte hinaus auf die dunklen, verschlossenen Türen. Alles war verschlossen und dunkel.

Hattori ist mit einem ganzen Trupp angerückt, um das Gebäude zu durchsuchen, sagte Toda. Von oben nach unten, jede Etage, jedes Zimmer, alle Toiletten und auch das Dach. Keine Spur von dem Mann. Alle Angestellten wurden festgehalten. Soweit ich weiß, sind sie immer noch da drin und werden befragt. Irgendwer muss doch etwas gesehen haben. Der Mann kann sich ja nicht in Luft auflösen.

Wieder nickte Harry Sweeney. Er öffnete die Wagentür: Sie fahren zurück ins Büro und warten dort. Ich rufe Sie an.

Aber was, wenn er auftaucht? Wo sind Sie?

Dann werden Sie mich nicht brauchen, sagte Harry Sweeney. Er stieg aus und schloss die Tür. Dann stand er auf der Straße und sah am Warenhaus Mitsukoshi hoch …

Sieben Etagen, der Turm auf dem Dach. Oben der sich verdunkelnde Himmel, unten die länger werdenden Schatten.

Harry Sweeney machte kehrt und ließ den Wagen hinter sich; der Wagen fuhr zur Hauptstraße und den hellen Lichtern. Sweeney ging die Seitenstraße entlang und am Warenhaus vorbei zum Ende des Gebäudes, tiefer in die Schatten. Dann bog er rechts ab und ging eine weitere Seitenstraße entlang, an der Rückseite des Gebäudes vorbei, er passierte die ganze Länge des Warenhauses, die Ladebuchten, Plattformen und Rollgitter. Alles war verschlossen und dunkel. Am Ende des Gebäudes bog er wieder nach rechts ab und ging eine weitere Seitenstraße entlang, er passierte die Nordseite des Gebäudes, die Nordseite des Warenhauses, vorbei an den Fenstern und Türen. Alles verschlossen und dunkel. Er ging durch die Schatten auf die Lichter zu, die hellen Lichter der Hauptstraße. Er kam an die Ecke, an der sich die Seitenstraße mit der Hauptstraße kreuzte, bog nach rechts ab und ging an der Straßenfront des Warenhauses entlang, an den dunklen Fenstern zum Haupteingang mit seinen zwei bronzenen Löwen, die dort auf ihren Marmorsockeln saßen und mit offenen Mäulern und offenen Augen das Warenhaus bewachten und die Straße beobachteten, den vorbeirauschenden, heimwärts rollenden Verkehr und die heimwärts strebenden Passanten.

Harry Sweeney streckte im Licht der Straße die Hand aus und berührte die Vorderpfoten der Bronzelöwen. Er rieb jede Pfote und sagte ein Gebet auf, dann hörte er ein unterirdisches Grummeln und spürte, wie der Boden zitterte. Er wandte sich von den Löwen und seinen Gebeten ab und ging auf den Eingang zur U-Bahn zu.

Harry Sweeney ging die steile Steintreppe hinunter und einen Gang entlang. Es gab Marmorsäulen und einen gefliesten Boden, links das Kellergeschoss des Warenhauses, rechts weitere Geschäfte. Alles verschlossen und dunkel. Der Gang führte zur U-Bahn und zu einem Durchgang zum Bahnhof Mitsukoshimae. Er konnte den Bahnhof vor sich am Ende des Gangs sehen. Er ging darauf zu und passierte dabei die Schaufenster und Eingangstüren des Warenhauses Mitsukoshi im Untergeschoss; die Türen vom Warenhaus zur U-Bahn-Station und jene von der Station ins Warenhaus: Eingang und Ausgang. Er ging zur Bahnsteigsperre der U-Bahn und wollte schon seine Dienstmarke vorzeigen und die Sperre passieren, als er in den grauen Schatten des Gangs noch weitere Geschäfte sah, jenseits des Bahnhofs und des Warenhauses. Er sah einen Frisiersalon, einen Teeladen und ein Café: COFFEE SHOP HONG KONG.

Harry Sweeney machte kehrt, ging den Gang entlang, ließ Bahnhof und Warenhaus hinter sich und ging auf das Café in den grauen Schatten zu. Dann stand er vor dem dunklen Schaufenster und der verschlossenen Tür. Sweeney klopfte und wartete. Alles verschlossen, alles dunkel. Er klopfte erneut und zog an der Tür. Kein Licht, keine Reaktion …

Zu spät, flüsterte die Stimme eines Japaners, dann war sie verschwunden, die Leitung tot, die Verbindung unterbrochen.

Wieder hörte Harry Sweeney ein unterirdisches Grummeln und spürte, wie der Boden zitterte. Er drehte sich von der Tür weg und ging auf die Sperre zu, zeigte seine Dienstmarke, ging durch das Tor und die Treppe hinunter auf den Bahnsteig. Links die Züge nach Asakusa, rechts die Züge nach Shibuya. Nach Osten oder Westen, Norden oder Süden, unter der Stadt, heimwärts strebende Menschen, Männer, die nach Hause fuhren.

Aber nicht heute Nacht und nicht hier: Der Bahnsteig war verlassen, und Harry Sweeney wartete allein auf einen Zug, schaute in den Schlund des Tunnels, starrte in die Dunkelheit, wartete auf das Licht. Langsam und unsicher kam ein einzelner Japaner die Treppe zum Bahnsteig herunter. Er war klein, aber stämmig, trug einen blassen, von Schweiß und Alkohol fleckigen Sommeranzug. Er baute sich vor Harry Sweeney auf, reckte seinen Kopf, roch so, wie er aussah, war so betrunken, wie er klang: Amerika! Amerika! He du, Amerika!

Harry Sweeney trat einen Schritt zurück, aber der Japaner machte einen Schritt nach vorn: Du behaarter Feigling! Du glaubst, du hast den Krieg gewonnen, aber so leicht lassen wir Japaner uns nicht besiegen!

Er stand da, starrte Harry Sweeney durch seine Brille an und wiederholte den Satz noch einmal, aber langsamer und lauter. Dann sprang er plötzlich vor, packte Harry Sweeney an beiden Armen und versuchte, ihn auf die Strom führende Trasse zu stoßen. Er war zu schwach und zu betrunken, doch Harry Sweeney konnte sich nicht aus seiner Umklammerung befreien.

Ein anderer, ebenfalls betrunkener Mann gesellte sich zu ihnen: Ich Korea, Amerikas Freund, rief er und zerrte den Japaner von Harry Sweeney weg, gerade als ein Windstoß aus dem Tunnel über den Bahnsteig fauchte, Papierschnipsel und Zigarettenkippen aufwirbelte und Müllreste um ihre Füße wehte. Harry Sweeney hielt seinen Hut fest, als der Zug in den Bahnhof fuhr und sich das Kreischen der Räder und Bremsen in seine Ohren bohrte. In diesem Augenblick unternahm der Japaner einen weiteren Angriff, doch der junge Koreaner schlug ihn mit einem Hieb zu Boden. Gehen, sagte der Koreaner. Weggehen.

Harry Sweeney stieg in den Zug. Die Türen schlossen sich, und der Zug fuhr los. Er schaute auf den Bahnsteig hinaus: Der junge Koreaner stand über dem bewusstlosen Japaner und ging dessen Taschen durch, dann waren sie verschwunden. Harry Sweeney drehte sich in dem hell erleuchteten, halb besetzten Wagen um. Er setzte sich und nahm den Hut ab. Dann zog er sein Taschentuch hervor und wischte sich über Gesicht und Nacken. Er steckte das Taschentuch ein und setzte den Hut wieder auf. Er sah im Wagen auf und ab und betrachtete die Fahrgäste. Hier ein Mann, da ein Mann, mit Anzug und Krawatte, schlafend oder lesend, mit einem Buch oder einer Zeitung. Rückseiten und Titelseiten, in Händen oder vor ihren Füßen: Eine davon lag auf dem Boden, ein Einzelblatt, eine Sonderausgabe der Mainichi Shimbun. Harry Sweeney beugte sich vor, hob das Blatt auf und las die Schlagzeile: PRÄSIDENT SHIMOYAMA VERMISST; Auf dem Weg zur Eisenbahndirektion verschwunden; Die Polizei ermittelt noch (Stand 17.00 Uhr).

Harry Sweeney betrachtete erneut die Passagiere, die Männer in Anzügen, die lasen oder schliefen. Männer nach der Arbeit, Männer auf dem Heimweg. Vielleicht, vielleicht auch nicht. Harry Sweeney faltete das Blatt zusammen und steckte es in die Tasche. Der Zug hielt in Kanda. Harry Sweeney setzte erneut den Hut ab, nahm sein Taschentuch und wischte sich über Gesicht und Nacken. Der Zug hielt in Ueno. Harry Sweeney steckte das Taschentuch ein und setzte den Hut wieder auf. Er stand auf und ging durch die Wagen ans vordere Ende des Zuges. Der Zug erreichte die Endstation in Asakusa, und die Türen öffneten sich. Harry Sweeney trat auf den Bahnsteig. Er ging die Treppe hinauf zur Sperre, zeigte seine Dienstmarke vor und ging hindurch. Ein anderer Eingang zu einem anderen Warenhaus, auch im Untergeschoss: Das Matsuya war geschlossen und dunkel. Harry Sweeney ging die Treppe zur Tōbu-Linie hinauf, nahm aber nicht die zweite Treppe zu den Bahnsteigen. Er verließ den Bahnhof, trat auf die Straße und blieb stehen. Mit dem Rücken zum Bahnhof und dem Warenhaus. Zu seiner Rechten lag die Kamiya Bar, zu seiner Linken der Fluss Sumida. Die Geschäfte hatten bereits geschlossen, die Verkaufsstände packten zusammen, Sweeney sah die Menschen auf ihrem Heimweg an ihm vorbeigehen. Sie gingen vorbei und verschwanden. In die Nacht, in die Schatten. Männer verschwanden, Männer lösten sich auf.

Harry Sweeney wandte sich um, ließ den Bahnhof und das Warenhaus hinter sich, überquerte die Avenue R in Richtung Sumida. Er betrat den Sumida-Park und durchquerte ihn. Dann kam er ans Flussufer. Dort stand er und sah auf den Fluss hinaus. Das schwarze Wasser floss träge. Keine Brise, keine Luft. Nur der strenge Geruch der Abwässer, der Gestank von Exkrementen. Exkremente der Menschen, der Männer. Der Gestank war immer hier und blieb. Harry Sweeney zog eine Packung Zigaretten aus der Tasche und zündete sich eine an. Vor ihm der Fluss, hinter ihm die Straßen und der Bahnhof. All die Straßen und Bahnhöfe. Sweeney schaute über den Fluss in die Dunkelheit, dorthin, wo die Mündung sein musste, wo das Meer war. Auf der anderen Seite des Meeres lag die Heimat. Irgendwo in der Nacht hinter ihm bellte ein Hund, Reifen quietschten. Ein gelber Zug verließ den Bahnhof und überquerte eine eiserne Brücke. Die Brücke führte über den Fluss auf die andere Seite. Ostwärts, nordwärts. Zur Stadt hinaus, weg von der Stadt. Männer verschwanden, Männer lösten sich auf. In der Stadt, aus der Stadt. Auf den Straßen, in den Bahnhöfen. Namen und Leben verschwanden und lösten sich auf. Begannen neu, begannen von vorn. Ein neuer Name, ein neues Leben. Ein anderer Name, ein anderes Leben. Sie gingen niemals heimwärts und kamen nie zurück. Der Zug verschwand, der Zug löste sich in Luft auf.

Harry Sweeney kümmerte sich nicht weiter um die Brücke und schaute wieder auf den Sumida hinaus. So still und schwarz, so weich und warm. Einladend und gastfreundlich, verlockend, so verlockend. Keine Namen mehr, kein Leben. Keine Erinnerungen oder Visionen, keine Insekten oder Geister. So verlockend, wirklich verlockend. Schluss mit all dem, Schluss damit. Das Verbrechensmuster geht dem Verbrechen voraus. Die Zigarette verbrannte ihm die Finger. Sweeney warf die Kippe in den Fluss, den dreckigen, stinkenden Fluss. Exkremente der Menschen, der Männer. Er wandte sich ab, ließ den Sumida hinter sich. Er ging zurück zum Bahnhof, wieder die Treppe hinunter. Weg vom Sumida und seinen Verlockungen. Weg von Mustern und Verbrechen. Es verschwand und löste sich auf. In der Nacht und den Schatten. Unter der Stadt, unter der Erde.

Da sind Sie ja wieder, lachte Akira Senju, der Mann, der nicht sterben wollte, der eigentliche Herrscher dieser Stadt, ihr heimlicher Kaiser. Vor aller Augen saß er in seinem Shimbashi-Palast, im Herzen seines florierenden Imperiums, im obersten Stock seines glänzend neuen Gebäudes, in seinem luxuriösen modernen Büro, an seinem antiken Schreibtisch aus Rosenholz. Er trug einen teuren, maßgeschneiderten Anzug, schmauchte eine dicke ausländische Zigarre, griff in eine Schublade, zog ein Blatt Papier heraus und reichte es Harry Sweeney über den Tisch: Das sollte Sie eine Weile beschäftigen, Harry-san.

Harry Sweeney warf einen Blick auf das Blatt, auf dem eine Liste von Namen aus Formosa stand und aus Korea. Sweeney faltete das Blatt, steckte es in die Jacketttasche und erhob sich, um zu gehen.

Sie bleiben heute nicht auf einen Drink, Harry, fragte Akira Senju. Natürlich nicht, entschuldigen Sie, Sie sind ein beschäftigter Mann, ich weiß. Ich war durchaus überrascht, dass Sie angerufen haben und hergekommen sind. Ich dachte, Sie hätten alle Hände voll zu tun, Ihren vermissten Präsidenten zu finden. Sehr unachtsam, das muss ich schon sagen, Harry. Einfach so einen Präsidenten zu verlieren. Überall im Radio wird davon berichtet, in allen Zeitungen. Das sieht überhaupt nicht gut aus, sehr unachtsam. Es macht die Leute ängstlich und nervös. Unsere kaiserlichen Herrscher, unsere fremden Retter verlieren einfach so einen Präsidenten, den eigenen Schoßhund, die eigene kleine Marionette. Also, wenn Sie noch nicht mal den Präsidenten der Nationalen Eisenbahngesellschaft beschützen können, wenn er einfach so am helllichten Tag entführt wird, wen können Sie dann beschützen, Harry? Und wenn Sie ihn nicht finden und retten können, wen können Sie dann retten?

Harry Sweeney machte an der Tür kehrt. Sie sind sich ziemlich sicher, dass er entführt wurde, oder?

Was könnte denn sonst passiert sein, Harry? Wenn Sie jemanden feuern, sollten Sie mit einer Reaktion rechnen. Wenn Sie dreißigtausend Männer feuern, sollten Sie mit dreißigtausend Reaktionen rechnen, nicht wahr? Extreme Reaktionen, gewaltsame Reaktionen. Ein Mann löst sich doch nicht einfach so in Luft auf. Nun ja, manche schon. Aber nicht Präsidenten. Präsidenten, nun, die werden normalerweise … Tja, die werden umgebracht, Harry.

Harry Sweeney lächelte: Wir werden sehen.

Das werden wir, Harry, das werden wir. Ich wundere mich nur, warum Sie nicht da draußen sind, Gewerkschaftsköpfe einschlagen und Kommunistenknochen brechen. Das würde ich tun, Köpfe einschlagen und Knochen brechen. Ich würde die Stadt auf den Kopf stellen und sie niederbrennen, wenn es sein muss. Wenn ich das tun müsste, um meinen Mann zurückzubekommen, dann würde ich das tun, Harry.

Wieder lächelte Harry Sweeney: Tja, aber ich bin nicht Sie.

Ach, wirklich, lachte Akira Senju. Nun, reden Sie sich ruhig ein, was Sie sich einreden müssen, Harry. Ich weiß, wie es ist, ich verstehe das. Aber denken Sie daran: Wann immer Sie eine Liste von Kommunisten brauchen, von Roten, um Köpfe einzuschlagen und Knochen zu brechen, dann wissen Sie, wo Sie mich finden können. Sie wissen, wo ich bin. Ich bin hier, um zu helfen. Sagen Sie das General Willoughby. Ich bin Ihr Mann, Harry-san. Ich bin Ihr Mann.

Scheiße, fluchte Harry Sweeney in einer Telefonzelle im Foyer des Dai-ichi Hotels. Er hängte den Hörer ein und verließ die Telefonzelle. Er ging durch das Foyer und reichte der Garderobenfrau seinen Hut. Die Japanerin gab ihm einen Zettel und verbeugte sich. Harry Sweeney lächelte, bedankte sich, drehte sich um und ging die Treppe hinunter in die Kellerbar. Schummriges Licht und laute Stimmen. Ausländische, amerikanische Stimmen. In einer Ecke wurde gepokert, in einer anderen Pingpong gespielt, sie sangen »Roll Me Over in the Clover«, klatschten und lachten. Sie tranken, bis sie betrunken waren. Harry Sweeney setzte sich auf einen Hocker an der Bar und nickte dem japanischen Barkeeper zu. Der Barkeeper, mit weißem Hemd und schwarzer Fliege, kam herüber: Was darf’s sein, Harry?

Das Übliche bitte, Joe, sagte Harry Sweeney.

Joe stellte ein Glas vor Harry Sweeney auf den Tresen. Er nahm eine Flasche Johnnie Walker und schenkte ein: Und Sie sagen immer noch nicht, wenn es genug ist, Harry?

So bin ich, Joe. Kein Eis, kein Soda, kein Genug.

Joe füllte das Glas bis zum Rand und stellte die Flasche daneben. Sie war hier, ist aber wieder gegangen, Harry.

Harry Sweeney nickte. Er streckte die Hand nach dem Glas aus, umklammerte es, beugte sich vor und senkte den Kopf in Richtung Glas. Er lächelte und nickte erneut.

Joe schüttelte den Kopf: Da drin werden Sie sie nicht finden, Harry. Das wissen Sie.

Nachschauen kann man ja mal, oder?

Wieder schüttelte Joe den Kopf.

Eine junge Frau in einem roten Kleid ging an der Bar entlang. Sie hatte große Augen, eine große Nase, hielt ein Glas in der Hand und rauchte. Sie stellte das Glas auf den Tresen neben Harry Sweeney, legte ihre Hand auf den Hocker neben ihm und fragte: Erwarten Sie Gesellschaft?

Ich versuche, keine Erwartungen zu haben, antwortete Harry Sweeney.

Aber Sie hätten nichts dagegen?

Gegen was?

Etwas Gesellschaft?

Kommt auf die Gesellschaft an.

Die Frau setzte sich, drehte sich zu Harry Sweeney und hielt ihm die Hand hin. Sie hatte einen breiten Mund und volle Lippen. Sie lächelte und stellte sich vor: Gloria Wilson.

Harry Sweeney.

Ich weiß, sagte Gloria Wilson. Wir sind Nachbarn.

Ach, tatsächlich?

Ja, tatsächlich, lachte Gloria Wilson. Sie sind im vierten Stock, ich bin im dritten. Im NYK-Gebäude.

Na, wer hätte das gedacht.

Halb so wild, sagte Gloria Wilson. Die Welt ist klein, finden Sie nicht, Mr. Sweeney? Und das alles gehört Sir Charles. Wir alle sind seine Untertanen. Sie, ich, alle hier im Raum. Wir alle sind seine Kinder, Mr. Sweeney.

Sie sollten vorsichtig sein, Miss Wilson. Die Wände haben Ohren. Wenn der General mitbekommt, wie Sie über ihn reden, wird ihm das womöglich nicht gefallen. Vielleicht ist er dann beleidigt.

Ganz sicher, Mr. Sweeney. Aber ihm würde auch die Farbe meines Kleides nicht gefallen, oder? Darüber wäre er wohl auch beleidigt. Er ist leicht wegen irgendetwas beleidigt, der arme Kerl.

Harry Sweeney nickte Joe zu: Gib der Dame bitte noch von dem, was immer sie da trinkt.

Ich hoffe, Sie wollen damit nicht andeuten, ich wäre eine Art Trinkerin, Mr. Sweeney, sagte Gloria Wilson. Das bin ich nämlich nicht.

Harry Sweeney schüttelte den Kopf: Überhaupt nicht, Miss Wilson. Wo ich herkomme, nennt man so etwas Höflichkeit.

Und woher kommen Sie, Mr. Sweeney?

Aus Montana.

Billings? Missoula? Helena?

Nein.

Great Falls? Butte?

Nein.

Na, jetzt bin ich aufgeschmissen, Mr. Sweeney. Sie haben gewonnen.

Eigentlich nicht, sagte Harry Sweeney. Anaconda.

Es muss sehr schön dort sein. Der weite Himmel.

Sie waren noch nie in Montana.

Nein, aber ich würde gern mal dort hinfahren.

Wie kommen Sie darauf?

Ach, einfach so, seufzte Gloria Wilson. Aus keinem besonderen Grund, Hauptsache, es ist nicht Muncie, Indiana, schätze ich.

Ist Muncie, Indiana, denn so schlimm?

Ja, lachte Gloria Wilson. So schlimm.

Und wie lange sind Sie schon weg aus Muncie, Indiana?

Womöglich zu lang.

Zu lang? Sie wollen also nach Hause?

Nein, Mr. Sweeney, sagte Gloria Wilson. Ich möchte nicht nach Hause. Manchmal träume ich, ich wäre zu Hause in Muncie. Aber wenn ich dann aufwache, wenn ich die Augen aufschlage und mich in meinem Zimmer umschaue, dann bin ich sehr froh, dass ich nicht zu Hause in Muncie bin. Dann bin ich erleichtert, dass ich noch hier in Tokio bin.

Im Königreich von Sir Charles?

Nun ja, man kann nicht alles haben, oder, Mr. Sweeney? Das wäre nicht fair.

Aber Sie fühlen sich schuldig, dass Sie nicht nach Hause wollen.

Ja, Mr. Sweeney, das tue ich! Ich fühle mich schrecklich schuldig.

Harry Sweeney hob langsam sein Glas und achtete darauf, den Whisky nicht zu verschütten: Freut mich, Sie kennenzulernen, Miss Wilson.

Gloria Wilson erhob ihr Glas, berührte damit vorsichtig das Glas in Harry Sweeneys Hand, lächelte und sagte: Ganz meinerseits, Mr. Sweeney.

Darauf, dass wir nicht in Anaconda oder Muncie sind, sagte Harry Sweeney, stieß sanft an und stellte sein Glas vorsichtig ab.

Worauf Sie wetten können! Aber trinken Sie nicht?

Ich schaue dieser Tage nur zu.

Da müssen Sie aber eine Menge zu sehen kriegen, lachte Gloria Wilson.

Mehr, als Sie ahnen.

Aber es stört Sie nicht, wenn ich mein Glas trinke?

Es würde mir das Herz brechen, wenn nicht, Miss Wilson.

Dann werde ich das tun, sagte Gloria Wilson. Sie nahm einen Schluck, dann noch einen: Und sei es nur, damit Ihnen das Herz nicht bricht, Mr. Sweeney.

Sie sind sehr freundlich, Miss Wilson. Danke.

Ach, eigentlich nicht, sagte Gloria Wilson. Aber danke. Und bitte nennen Sie mich Gloria, Mr. Sweeney.

Dann müssen Sie mich Harry nennen, wenn es Ihnen nichts ausmacht.

Überhaupt nicht, Harry. Sie sind berühmt.

Weswegen, Miss Wilson? Entschuldigung, Gloria.

Sie wollen mich hochnehmen, Harry Sweeney. Sie wissen genau, weswegen. Sie waren in der Zeitung. Sie sind der Mann, der all diese Banden hochgehen lässt. Das weiß jeder.