Tomorrowmind - Gabriella Rosen Kellerman - E-Book
SONDERANGEBOT

Tomorrowmind E-Book

Gabriella Rosen Kellerman

0,0
19,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 19,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Schöne neue Arbeitswelt?

Mobiles Arbeiten zu flexiblen Zeiten klingt total verlockend. Doch ist unsere hybride New-Work-Welt auch gut für unsere Psyche? Gabriella Kellerman und Martin Seligman unterziehen sie einem Tiefen-Check: Durch zunehmende Digitalisierung sind unsere Arbeitsqualifikationen immer schneller überholt, was wiederum zu höherer Mitarbeiterfluktuation in den Unternehmen führt. Hinzu kommt die neue Volkskrankheit der Einsamkeit, weil soziale Bindungen unter den Mitarbeitern fehlen. Die Folge sind Burn-out und Stresserkrankungen.

Tomorrowmind zeigt Ihnen, mit welchen wissenschaftlich fundierten Methoden und praktischen Übungen Sie sich mental gesund halten können. Es spricht nicht nur Einzelne an, sondern bewusst auch Unternehmen. Denn Firmen und Mitarbeiter stehen vor der gemeinsamen Aufgabe, ein Mindset für die Zukunft zu entwickeln. Nur wenn unsere Gehirne mitkommen, können alle erfolgreich sein!

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 412

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Zum Buch:

Schöne neue Arbeitswelt?

Mobiles Arbeiten zu flexiblen Zeiten klingt total verlockend. Doch ist unsere hybride New-Work-Welt auch gut für unsere Psyche? Gabriella Kellerman und Martin Seligman unterziehen sie einem Tiefen-Check: Digitalisierung führt dazu, dass unsere Job-Skills immer schneller überholt sind. Entweder wir lernen ständig dazu oder wir werden arbeitslos. Dazu kommt Einsamkeit, weil soziale Kontakte wegfallen. Die Folge sind Burnout und Stresserkrankungen.

Dieses hochaktuelle Buch zeigt, mit welchen wissenschaftlich fundierten Methoden und praktischen Übungen wir uns gehirngerecht zukunftsfit machen können. Es spricht nicht nur Einzelne an, sondern bewusst auch Unternehmen. Denn Firmen und Mitarbeiter stehen vor der gemeinsamen Aufgabe, ein gesundes Mindset für die Zukunft zu entwickeln. Nur wenn der Kopf mitkommt, können alle erfolgreich sein.

Zu den Autoren:

Dr. med. Gabriella Rosen Kellerman ist Top-Expertin für mentale Gesundheit am Arbeitsplatz und Mitglied der Geschäftsführung der Coaching-Plattform BetterUp. Zuvor arbeitete sie im Bereich der Psychiatrie und in der Forschung der funktionellen Magnetresonanztomografie.

Prof. Dr. Martin E.P. Seligman lehrt an der University of Pennsylvania, Philadelphia. Seine Forschungsschwerpunkte sind Depression, Optimismus, Positive Psychologie. Weltbekannt wurde er v.a. mit seiner Theorie der Erlernten Hilflosigkeit.

Gabriella Rosen Kellerman & Martin Seligman

TOMORROW

MIND

DAS TOOLKIT FÜR MENTALE STÄRKE, GESUNDHEIT UND MEHR FREUDE AN DER ARBEIT

Aus dem Amerikanischen von Judith Elze & Katrin Harlaß

Die Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel Tomorrowmind: Thriving at Work with Resilience, Creativity, and Connection, Now and in an Uncertain Future bei Atria Books, einem Imprint von Simon & Schuster, Inc.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter www.dnb.de abrufbar.

Aus dem Amerikanischen von Judith Elze & Katrin Harlaß

© 2023 Gabriella Rosen Kellerman, Martin Seligman, and BetterUp Inc.

© der deutschsprachigen Ausgabe 2023 Ariston Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Alle Rechte vorbehalten

Redaktion: Jordan Wegberg, Berlin

Umschlaggestaltung: Christine Hartig, Hamburg

unter Verwendung eines Motivs von AdobeStock_Vögel_412837222

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN: 978-3-641-29218-8V001

Für Jesse

Gabriella Rosen Kellerman

Im Gedenken an Aaron Temkin Beck (1921–2021)

Mentor, Freund und Vorbild

Martin Seligman

Inhalt

Einführung

Wie man dieses Buch lesen sollte

Kapitel 1: Unser Gehirn bei der Arbeit

Das Geheimnis erfolgreicher Nahrungssuche: Anpassungsfähigkeit, Generalistentum und Kreativität

Ackerbau: Die Arbeit mutiert zum Job

Arbeit mit Maschinen: Die Industrialisierung erzeugt Unbehagen

Kapitel 2: Die doppelte HerausforderungAutomatisierung und die Wildwasserwelt der Arbeit

Das Tempo des Wandels

Die Natur des Wandels

Der psychologische Tribut des Wildwassers

Kapitel 3: Unser historischer VorteilDie Wissenschaft vom Gedeihen

Die Ursprünge

Rückschlag

Glaubenskrise

Die Gründung der Positiven Psychologie

Kapitel 4: Die Bausteine der Resilienz

Was wir meinen, wenn wir über Resilienz reden

Emotionsregulation

Optimismus

Geistige Beweglichkeit

Selbstmitgefühl

Selbstwirksamkeit

Die resiliente Organisation

Kapitel 5: Die Suche nach dem Sinn Wichtig sein in der modernen Wirtschaft

Definitionen: Sinn und Zweck

Wie weitverbreitet ist die Suche nach Sinn?

Die Vorteile einer sinnstiftenden Arbeit

Wodurch wird Arbeit sinnstiftend?

Wie der Einzelne Sinnstiftung am Arbeitsplatz fördern kann

Über die Wichtigkeit als Alternative zum Sinn

Warum ist Wichtigkeit so wichtig?

Das Wichtigkeitsglas füllen

Kapitel 6: Schneller RapportBeziehungsaufbau unter Druck

Verbundenheit und Wohlbefinden

Verbundenheit und Arbeitsleistung

Verbundenheit und Kundenerlebnis

Was Verbundenheit behindert: Zeit, Raum und »wir«/»sie«

Kapitel 7: Schneller Rapport IIBeziehungsaufbau durch Zeitwohlstand, Synchronizität und Selbstwerdung

Zeitwohlstand

Synchronizität

»Sie« sind »wir«

Achtsames Zuhören

Kapitel 8: ProspektionDie Superkraft des 21. Jahrhunderts

Prospektion: Eine für unsere Zeit entscheidende psychologische Fähigkeit

Prospektion für Softwareteams

Prospektion und Ruhezustandsnetzwerk

Das Zwei-Phasen-Modell der Prospektion

Bildung des Prospektionsmuskels: Phase 1

Bildung des Prospektionsmuskels: Phase 2

Korrektur des Innovatoren-Bias

Die Prospektion messbar verbessern

Kapitel 9: Wenn wir alle kreativ sind

Kreativität: Unsere einzigartige menschliche Gabe

Das kreative Gehirn

Der kreative Mensch

Die kreative Idee

Das kreative Team

Bildung des kreativen Muskels: Einführung in die Kreativitäts-»Hygiene«

Kreativitäts-»Hygiene« auf individueller Ebene

Kreativitäts-»Hygiene« auf Team- und Organisationsebene

Kapitel 10: Zukunftsfähige ArbeitskräfteDie proaktive Organisation

Hilfe für Leidende: Die Tradition der sozialen Wohlfahrt

Learning & Development: Förderung der Befähigten?

Die Herausforderungen einer fragmentierten Vorgehensweise zur Mitarbeiterentwicklung

Die proaktive Organisation

Schluss

Anhang

Whole-Person-Modell

Dank

Anmerkungen

Register

Einführung

Lange bevor Graeme Payne zum »Inbegriff menschlichen Versagens« wurde, noch bevor Computer überhaupt auf der Bildfläche erschienen, war Plan A für ihn die Armee.

Payne wuchs in den 1970er-Jahren als ältestes von drei Kindern einer Mittelschichtfamilie im neuseeländischen Christchurch auf. Schon als Kind mochte er strukturierte Aktivitäten, bei denen er neue Fertigkeiten erlernen musste. Rugby war eine seiner frühen Leidenschaften und gehört für ihn und seine Söhne auch heute zu den wichtigsten Familienaktivitäten.

In der Highschool trat Graeme der Jugendorganisation der neuseeländischen Streitkräfte bei, den New Zealand Cadet Forces, wo er schnell aufstieg und seine Disziplin die Bewunderung der Kameraden auf sich zog. Zudem entwickelte er einen Hang zum Basteln und Bauen. Als das örtliche Freilichtmuseum Ferrymead Heritage Park ein mächtiges Flugabwehrgeschütz geschenkt bekam, trommelte er ein paar Freunde zusammen, um bei seiner Restaurierung mitzuhelfen. Sobald es wieder in altem Glanz erstrahlte, nutzte Graeme diesen Erfolg, um die Gründung eines Militärmuseums zu initiieren.

Nicht jede seiner Ideen war von Erfolg gekrönt. Ein spontaner Ausflug ins Dudelsackspielen endete … ziemlich schnell.

Graemes Vater war Buchhalter, und so ist es nicht weiter überraschend, dass auch sein Sohn eine Vorliebe für Zahlen hatte. Wie er sich rückblickend erinnert, war es nicht das Rechnen, das ihn an der Buchhaltung am meisten interessierte. Es war das Lernen. Am Anfang jeder Buchprüfung standen das Erkunden und Entdecken, gab es die Notwendigkeit, die innere Funktionsweise eines Unternehmens – den Workflow, die Produktionssysteme – schnell und umfassend zu verstehen. Erst dann konnte man sich den Zahlen zuwenden. Graeme liebte gründliches Lernen, und es fiel ihm leicht. Die Tabellenkalkulationen störten ihn nicht weiter.

Jahrelang hatte er vorgehabt, nach der Highschool zur Armee zu gehen. Doch kurz vor seinem Abschluss bekam er Wind von einem Universitätsstipendium, das die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Arthur Young vergab (heute bekannt unter dem Namen Ernst and Young beziehungsweise EY). Aus einer Laune heraus bewarb er sich – und bekam es. Er nahm das Stipendium an und trat zugleich einer Reserveeinheit bei, um seine militärische Grundausbildung zu absolvieren.

»Ich habe mich Veränderungen immer gestellt«, sagt er in Erinnerung an diese spontane, richtungsweisende Entscheidung. »Wieso auch nicht? Was hat man denn schon zu verlieren?«1

***

Und Veränderungen waren für ihn und viele seiner Landsleute bereits im Gange – ob sie es wollten oder nicht. Nach Jahrzehnten einer blühenden Landwirtschaft, die Neuseeland einen der höchsten Lebensstandards der Welt beschert hatte, war die traditionelle Woll-, Fleisch- und Milchwirtschaft im Niedergang begriffen. An ihre Stelle trat neben der verarbeitenden Industrie zunehmend der neue Dienstleistungssektor, der heute in der Region Canterbury, zu der Christchurch gehört, 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts generiert.2

Auch im Bereich der Buchhaltung und Wirtschaftsprüfung vollzogen sich enorme Umwälzungen. Als Graeme seine Stelle als Finanzprüfer bei Arthur Young in Christchurch antrat, stand dem gesamten Büro ein einziger IBM-Computer zur Verfügung. Wenige Jahre später hatte jeder Mitarbeiter einen sogenannten »Luggable« auf dem Tisch.3 Ältere Partner waren den neumodischen Geräten gegenüber misstrauisch. Sie betrachteten sie nicht so sehr als Werkzeuge der Zeitersparnis, sondern eher als Spielerei. Stattdessen bevorzugten sie ihre eigenen »Textverarbeiter« – nicht die von der elektronischen Sorte, sondern die in Menschengestalt, vornehmlich Frauen, die aufgezeichnete Sprachmemos abtippten.

Graeme dagegen begeisterte sich für die neue Technologie. Es gefiel ihm, ihre Funktionsweise zu ergründen. Er nutzte ihre Programme, um Diagramme zu erstellen, und erleichterte sich die Arbeit mithilfe von Software, die Berechnungen schneller und zuverlässiger durchführte, als er es auf seinen alten Notizblöckenvermocht hätte. Stunden verbrachte er damit, sich anhand von Büchern die Grundlagen der Informatik beizubringen.

»Ich war Frühanwender«, sagt er mit einem kleinen Lächeln, »und besaß sogar den Apple Newton.«

Als geborene Führungskraft tat Graeme sein Bestes, um den Menschen in seinem Umfeld bei der Anpassung zu helfen. Mit Unterstützung eines Kollegen produzierte er ein Video mit Anleitungen zum Umgang mit dem PC, das sie per Post an die Privatadressen der Partner von Arthur Young verschickten, damit die es sich zu Hause auf ihren Videorekordern ansehen konnten.

Mit der Zeit lernte das Unternehmen Graemes Fähigkeiten zu schätzen. Man bat ihn, ein Computerschulungsprogramm für ganz Neuseeland zu erstellen. Das tat er, und es funktionierte, auch wenn einige der älteren Partner sich weiterhin schwertaten. Graeme erinnert sich, dass einer von ihnen sich noch lange Zeit jede eingehende E-Mail von seiner Assistentin ausdrucken und vorlesen ließ.

Sogar für Graeme war es nicht immer leicht, mit dem Tempo der Veränderungen Schritt zu halten. Aber er wusste, was auf dem Spiel stand: nichts weniger als die Zukunft von Arthur Young. Außerhalb des Unternehmens veränderten Computer die Geschäfte der Firmenkunden rapide. Wirtschaftsprüfung beinhaltete nun ein Verständnis davon, wie diese neue Technologie in Geschäftsabläufe wie Datenspeicherung, Gehaltsabrechnung und Analytik eingebunden wurde.

Das Kreditwesen zum Beispiel hatte sich ein Jahrhundert lang auf Papierunterlagen verlassen: zuerst Notizbücher, dann Lagerhäuser voller Karteikarten. Die 1960er-Jahre brachten den Übergang zu elektronischen Aufzeichnungen. In den 1970er- und 1980er-Jahren wurde alles auf einem Großrechner in einem Rechenzentrum gespeichert. Der Schutz der Aufzeichnungen wurde damals gewährleistet, indem man den Zugang zu diesen Rechenzentren beschränkte – etwa durch einen Wächter an der Tür oder ein schweres Vorhängeschloss.

Dann kam das Internet.

Gewissermaßen über Nacht stand die Sicherheitswelt Kopf. Hacker schufen Computerviren, die sich über ungeschützte Netzwerke hermachten und schlimme Verwüstungen anrichteten. Für die globale Industrie war dies eine existenzielle und unmittelbare Bedrohung, und um ihr zu begegnen, entstand eine völlig neue Branche: die Informationssicherheit. 1995 stellte die Citibank Steve Katz als Chief Information Security Officer ein – den vermutlich ersten CISO (sprich SII-so) der Geschichte.4

Graeme erkannte Potenzial in diesem ganzen Chaos. Der neue Wilde Westen der Informationssicherheit benötigte Werkzeuge, und er hatte so seine Ideen. Während eines Arbeitsaufenthalts in Auckland entwickelte er ein Produkt namens »Advisor«, mit dessen Hilfe man flexibel verschiedene Arten von Computersystemen analysieren konnte.

Bei einem Treffen in Singapur erkannte ein gleichgesinnter US-Partner namens Bernie sofort dessen Wert. Er lud Graeme in die USA ein, damit er weiter daran arbeitete. Neugierig, aufgeschlossen und hungrig auf Neues legte Graeme 13 000 Kilometer zurück, um sich zunächst in Cleveland, dann in Atlanta niederzulassen und das erste Büro für Sicherheitsberatungvon Ernst und Young zu eröffnen. Noch war er kein Experte auf diesem Gebiet, aber das war damals niemand. Die Zeiten änderten sich zu schnell, und alte Weisheiten taugten nicht mehr für neue Probleme. Eine Welle neuer Möglichkeiten war im Anrollen. Graeme schnappte sich sein Surfbrett, um auf ihr zu reiten.

Heute ist der CISO in jedem größeren Unternehmen Standard. 41 Prozent der Unternehmensvorstände betrachten Erfahrung im Bereich Cybersicherheit als Schlüsselqualifikation für Leitungspositionen in Unternehmen. Bis 2024 wird der Markt für Cybersicherheit ein Volumen von 300 Milliarden US-Dollar erreichen. Ein weltweiter Mangel an Fachkräften in diesem Bereich bedeutet, dass 2,9 Millionen Stellen unbesetzt sind, während die finanziellen Verluste durch Cyberangriffe jährlich um 62 Prozent steigen und sich allein im Jahr 2020 auf eine BillionUS-Dollar beliefen.5

***

Im Jahr 2011 war Graeme bereit für eine neue Veränderung.

Jetzt war er tatsächlich Experte auf seinem Gebiet. Er hatte 15 Jahre lang als Sicherheitsberater die Welt bereist, und das Leben als »Straßenkrieger« zermürbte ihn so langsam. Seine beiden Jungs zu Hause in Atlanta brauchten mehr Unterstützung bei ihren vielen (strukturierten, fähigkeitsgesteuerten) Aktivitäten.

Als er das Angebot erhielt, als Vizepräsident für IT-Risiken und -Compliance bei Equifax einzusteigen, griff er zu. Es war genau die Art von festem Arbeitsplatz vor Ort, nach der er sich sehnte. Das Unternehmen war zwar ausgereift, dennoch gab es immer noch jede Menge zu tun und zu verbessern.

Im Jahr 2017 hatte Equifax die Daten von einer Milliarde Verbrauchern, 100 Millionen kleinen und mittelständischen Unternehmen und 100 Millionen Angestellten sowie 20 Billionen Eigentumsdaten und 20 Billionen Vermögensdaten in seinen Beständen. Im August drückte CEO Richard Smith es in einer Rede an der University of Georgia so aus: »Stellen Sie sich die größte Bibliothek der Welt vor, die Library of Congress – nun, Equifax verarbeitet tagtäglich die 1200-fache Datenmenge.«6

Bei derart großen Zahlen ging vieles schief. Und zwar oft.

So fand zum Beispiel Katie Manning, wohnhaft in Portland, Oregon, einen überquellenden Briefkasten vor, als sie im März 2015 von der Arbeit nach Hause kam – alles Briefe von Equifax, insgesamt 300 an der Zahl. Jeder einzelne war an sie persönlich adressiert, enthielt aber jeweils die vollständige Bonitätsgeschichte nebst Sozialversicherungsnummer und Kontoinformationen einer unbekannten Person.7

Das Unternehmen bat Graeme, Nachforschungen anzustellen. Schnell stellte sich heraus, dass Katie Manning kein Einzelfall war; auch andere hatten Hunderte oder gar Tausende von Briefen mit den persönlichen Daten von Fremden erhalten. Da die Berichte in Papierform vorlagen, schickte Equifax Mitarbeiterteams los, um sie persönlich abzuholen. Ein Adressat in Washington D.C. wurde paranoid und weigerte sich, die Tür zu öffnen. Stattdessen forderte er die Boten auf, sich spätabends auf einer öffentlichen Straße mit ihm zu treffen. Zur verabredeten Stunde mussten die Leute von Equifax dreimal mit ihren Autoscheinwerfern blinken, wie Spione in einem Krimi. Erst dann händigte der Mann die Berichte aus.

Ständig tauchten neue Schwachstellen und böswillige Akteure auf, und es kam häufiger zu Sicherheitslücken, als Graeme lieb war. Bei jedem einzelnen Vorfall versuchte sein Team, die Dinge besser zu verstehen, Korrekturen vorzunehmen und daraus zu lernen. Soweit er sich erinnern kann, wurde niemand entlassen.

***

Im Juli 2017 verbrachte Graeme das Wochenende seines 54. Geburtstags mit Frau und Söhnen unter der sengenden Sonne Georgias in der Natur. Als er an jenem Sonntag nach Hause kam, fand er auf seinem Anrufbeantworter etliche Anrufe seiner CISO Susan Maudlin vor.

Es waren keine guten Neuigkeiten. Jemand hatte eine Sicherheitslücke ausgenutzt, um auf eine von Graeme verwaltete Software zuzugreifen. Das volle Ausmaß der Sicherheitslücke war noch nicht bekannt, aber jetzt hieß es: Alle Mann an Deck!

Graeme selbst war zu diesem Zeitpunkt Chief Information Officer for Global Corporate Platforms. In seinen Zuständigkeitsbereich fiel auch das ACIS-Portal, ein Softwaresystem, mit dem Datensätze von Verbrauchern erfasst wurden, die Kreditauskünfte anfechten, Identitätsdiebstahl melden, eine Sicherheitssperre ihrer Konten einrichten oder eine Kopie ihrer Datensätze anfordern wollten. Eine unter dem Namen Apache Struts bekannte Software verband ACIS mit der Datenbank.

Vier Monate vor der Entdeckung der Sicherheitslücke waren 429 Angestellte von Equifax, darunter auch Graeme, per E-Mail auf ein Problem mit dieser Software hingewiesen worden. Die zuständigen Teams hatten die Schwachstelle untersucht und ein Patch aufgespielt, das sie für ausreichend sicher hielten.

Sie hatten sich geirrt. Hacker brachen ein und stahlen die Daten von 145 Millionen US-amerikanischen und 15 Millionen britischen Verbrauchern, darunter Namen, Sozialversicherungsnummern, Wohnadressen und Führerscheinnummern. Die Datenpanne gilt als die teuerste der Geschichte.8

Nach einem gewaltigen öffentlichen Aufschrei wurden mehrere leitende Mitarbeiter entlassen oder in den Vorruhestand geschickt.

Am Montag, den 2. Oktober 2017, hatte Graeme eine Besprechung in der Personalabteilung. Er dachte, es ginge um etwas ganz anderes. Stattdessen wurde er gefeuert.

Einen Tag später sagte der ehemalige CEO Richard Smith vor dem Kongress aus. Er machte eine Kombination aus »technischem Versagen« und »menschlichem Versagen« für die Sicherheitslücke verantwortlich, wobei er Letzteres einer einzelnen Person zuschrieb. Senator Al Franken gab dieser Person scherzhaft den Spitznamen »Gus«: »Warum liegt die Sicherheit der persönlichen Daten von 145 Millionen Amerikanern in den Händen eines einzigen Mannes? Warum hängt alles allein an Gus?«

Graeme, der plötzlich arbeitslos war und die Liveübertragung der Kongresssitzung zu Hause im Fernsehen mitverfolgte, wusste, dass sie von ihm sprachen. Er war Gus. Schon bald sickerte sein wahrer Name durch, ergänzt um den Zusatz »Inbegriff menschlichen Versagens«.

***

Wie fragwürdig es war, einen solchen systemischen Zusammenbruch einer Einzelperson anzulasten, war selbst dem Kongress klar. In einem Kongressbericht heißt es: »Einen Tag bevor der ehemalige CEO Richard Smith vor dem Kongress aussagte, wurde ein hochrangiger Mitarbeiter von Equifax entlassen, weil er eine E-Mail nicht weitergeleitet hatte – eine Handlung, zu der er gar nicht angewiesen war. Ein solches PR-Manöver erscheint vor dem Hintergrund sämtlicher Fakten unbegründet.«9

Die dezente Verbreitung dieser besser nachvollziehbaren Gegendarstellung konnte auch nicht mehr ändern, was inzwischen mit rasender Geschwindigkeit zur allgemein akzeptierten Realität wurde: Graeme Payne stand für alles, was schiefgelaufen war.

Die bittere Ironie lag darin, dass Graeme während seiner beruflichen Laufbahn aus der Sicht unserer heutigen Arbeitswelt bis dahin alles richtig gemacht hatte.

Er hatte Chancen früh erkannt. Seine Neugier, sein Lerneifer und seine geistige Beweglichkeit versetzten ihn in die Lage, sich in einem boomenden neuen Arbeitsfeld schnell Expertenwissen anzueignen. Immer wieder schöpfte er Motivation und Energie aus dem Sinn, den er in der Beherrschung neuer Fertigkeiten und der Entwicklung kreativer Produkte fand. Dank sorgfältiger Vorausschau ging er kalkulierbare Risiken ein und meisterte anschließend eine Herausforderung nach der anderen.

Kurz, Graeme Payne hatte einen Tomorrowmind, einen Zukunftsgeist.

Und dennoch: Irgendwie stand er 2017 plötzlich am Rande des Abgrunds.

Gefeuert zu werden, ist ein scheußliches Gefühl. Es greift auf tausenderlei Weise unser psychisches Wohlbefinden und unsere physische Gesundheit an. Nimmt man dann noch den extrem öffentlichkeitswirksamen Charakter von Paynes Kündigung hinzu, ist es kein Wunder, dass er ins Schleudern kam. In jenen Monaten litt er zutiefst unter einer Angst, welche die meisten von uns schon an vielen früheren Punkten seines Weges hätte zurückschrecken lassen.

»Als der Kongressbericht veröffentlicht wurde und mein Name überall im Internet auftauchte, dachte ich wirklich, das sei das Ende meiner beruflichen Laufbahn«, sagt Graeme. »Ich fing an, mir Gedanken über meine künftigen Berufsaussichten zu machen. Was würden potenzielle Arbeitgeber von meiner Verbindung zu Equifax halten?«10

Für viele leitende Angestellte seines ehemaligen Arbeitgebers war dies in der Tat das Ende. CISO Susan Maudlin ist seit ihrem Rücktritt nach der Datenpanne komplett aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden. Von CEO Richard Smith und CIO Dave Webb hat man ebenfalls nie wieder etwas gehört. 2018 entließ das Unternehmen eine Reihe weiterer Mitarbeiter – Hunderte von Menschen, die gezwungen waren, neu anzufangen, noch dazu mit einem Makel in ihrem Lebenslauf.

Wie viele von uns würden sich angesichts einer solchen Situation wie gelähmt fühlen? Wie viele würden am liebsten aufgeben?

Graeme Payne wählte einen anderen Weg.

In seiner tiefsten Verzweiflung wandte er sich an Freunde und ehemalige Kollegen. Er selbst hatte über die Jahre vielen Menschen geholfen, und diese waren jetzt bereit, sich zu revanchieren. »Freunde und Kollegen ermutigten mich, die Sache in einem positiveren Licht zu betrachten. Ihrer Meinung nach hatte ich anderen viel zu bieten, eben weil ich eins der größten Datendebakel der Geschichte miterlebt hatte.«

Genau die Fähigkeiten, die Graeme an die Spitze seiner Karriereleiter geführt hatten – Resilienz, geistige Beweglichkeit, Voraussicht und Kreativität, der Sinn, den er im Erwerb neuer Fähigkeiten fand –, alles dies holte ihn jetzt vom Abgrund zurück. Stets hatte er die Herausforderung gesucht, nach Gelegenheiten Ausschau gehalten, auch das größte Chaos zu meistern. Nun schöpfte er Mut aus seinen eigenen Stärken und seinem sozialen Netzwerk und begann, seine berufliche Laufbahn Stück für Stück wieder zusammenzusetzen.

Was damals wie eine unabwendbare persönliche Katastrophe aussah, hat sich mittlerweile in ein erfolgreiches neues Kapitel des Cybersecurity Consulting verwandelt. Graemes Freunde hatten recht. Unternehmen wollen von jemandem lernen, der aus erster Hand weiß, was man tun und was man lassen sollte. Graeme berät Firmenvorstände und leitende Angestellte in Sachen Cybersecurity Readiness. Er entwickelt auch weiterhin neue Fähigkeiten und Angebote, damit seine Beratungsfirma in neue Märkte hineinwachsen kann. »Einige der besten Lektionen im Leben lernen wir durch unsere Fehler«, sagt er. Heute trägt er das Etikett »Inbegriff menschlichen Versagens« mit spöttischem Stolz.

***

Wir beide – der Autor und die Autorin dieses Buches – fanden etwa zu der Zeit zusammen, als Graeme seinen Posten bei Equifax verlor. Damals hatten die dramatischen Herausforderungen, die unsere neue Arbeitswelt mit sich bringt – das rasante Tempo des technologischen Wandels, die plötzliche Disruption ganzer Branchen durch neue Mitspieler, die zunehmende Unsicherheit und Volatilität auf allen globalen Märkten –, unser Interesse bereits völlig in Beschlag genommen. Beide haben wir unsere berufliche Laufbahn der Verbesserung des psychischen Wohlbefindens gewidmet und waren beunruhigt angesichts der Unfähigkeit der Menschen, diesen sich auftürmenden Herausforderungen gerecht zu werden.

Dies alles war lange vor der Coronapandemie, die 2020 den aufkommenden Sturm in einen wahren Tornado verwandelte. Etwa die Hälfte der Arbeitnehmer in den USA hat mit Burnout zu kämpfen.11 76 Prozent sind der Ansicht, dass sich Stress am Arbeitsplatz negativ auf ihre persönlichen Beziehungen auswirkt.12 Extremer Stress am Arbeitsplatz verursacht jährlich Gesundheitskosten in Höhe von 190 Milliarden US-Dollar und führt zu Hunderttausenden unnötigen Todesfällen.13 Wir verbringen einen Großteil unserer wachen Zeit auf diesem Planeten bei der Arbeit und sind dort zu unglücklich, zu müde und zu krank.

Darüber, wie die sogenannte »Zukunft der Arbeit« die Wirtschaft verändern wird, ist schon jede Menge geschrieben worden. Aber wie wird sie uns verändern? Und wie können wir sichergehen, dass wir am Ende die Oberhand haben? Um uns diesen Fragen zu stellen, haben wir uns mit Hunderten von Unternehmen zusammengetan, die Millionen von Arbeitnehmern rund um den Globus beschäftigen.

In diesem Buch möchten wir unsere Antworten publik machen. Wir beginnen damit, dass wir unser Verständnis der heutigen Herausforderungen in der Vergangenheit verankern. Es ist nicht das erste Mal, dass unsere Spezies sich an eine neue Arbeitswelt anpassen muss.

Wie wir in Kapitel 1 sehen werden, hat sich unser Gehirn über Millionen von Jahren für eine bestimmte Art von Arbeit entwickelt, auf die sich unsere Vorfahren am besten verstanden: Jagen, Fischen und Sammeln. Und auch heute noch ist Nahrungssuche die Tätigkeit, für die unser Gehirn am besten geeignet ist. Das Gehirn des Sammlers eignet sich gut für einen Fünf-Stunden-Arbeitstag, für ein Leben in der Gemeinschaft, für das kreative Erkunden neuen Terrains und die ständige Aufrechterhaltung der Verbindung zur Natur.

Allerdings erfand ebendieses Gehirn etwa 10 000 Jahre vor unserer Zeitrechnung auch Technologien und Strukturen, die einen ersten grundlegenden Wandel unserer Arbeitswelt von der Nahrungssuche zum Ackerbau herbeiführten. Dies war ein extrem schmerzhafter Übergang, denn unsere Fähigkeiten als Nahrungssammler und das neue bäurische Leben passten nicht zusammen.

Jeder nachfolgende Wandel in den Arbeitsbedingungen – zunächst zur Landwirtschaft, dann zur Industrialisierung und schließlich zu unserer heutigen technologiegestützten Arbeitswelt – hat die Menschheit einen hohen Preis gekostet. In manchen Fällen einen derart hohen, dass Historiker und Anthropologen immer noch rätseln, wie es überhaupt dazu kommen konnte. Warum sind wir als Spezies zu so entfremdeten Arbeitsformen14 übergewechselt? Arbeitsformen, die unseren angeborenen Fähigkeiten so sehr zuwiderlaufen, dass ihre Ausübung menschliches Elend hervorruft? Der gesellschaftliche Gewinn waren eine höhere kollektive Produktivität und gesteigerte technologische Raffinessen. Doch dieser Gewinn wurde um den Preis des lang anhaltenden Leids von Milliarden Menschen erzielt, die nie in den Genuss dieser Vorteile gekommen sind.

Die aktuelle Transformation – eine lebendige und allgegenwärtige Zukunft – bedroht unser Wohlergehen auf eine ganz neue, unerwartete Weise. In Kapitel 2 beschreiben wir ausführlich, wie das schiere Tempo des Wandels dazu führt, dass wir schon jetzt unseren Arbeitsplatz zwei- bis dreimal schneller wechseln oder verlieren als auf dem Höhepunkt der Industrialisierung. Einer Schätzung zufolge werden bis 2030 die Arbeitsplätze von etwa 800 Millionen Arbeitnehmern weltweit durch Automatisierung wegfallen. Im selben Zeitraum werden bis zu 80 Prozent von uns aufgrund der Automatisierung Lohneinbußen hinnehmen müssen.15

Die Folgen kennen wir bereits: Im Jahr nach dem Wegfall von Arbeitsplätzen schnellen die Sterberaten um 50 bis 100 Prozent in die Höhe.16 Allein die Arbeitslosigkeit erhöht unser Herzinfarktrisiko um 35 Prozent, und zusammen mit der Arbeitsplatzunsicherheit erhöht sich die Quote fast aller wichtigen Kategorien von psychischen Problemen wie Depressionen, Angstzuständen und Substanzmissbrauch.

Ziehen wir nun noch die Risiken in Betracht, die sich aus dem neuen Charakter der Arbeit selbst ergeben. Beginnen wir mit den Aspekten, die zu sozialer Isolation führen. Dahin sind die Zeiten, in denen man 20 Jahre lang mit denselben Kollegen zusammenarbeitete, in denen es stabile, persönliche Arbeitsbeziehungen gab, die uns während unserer gesamten beruflichen Laufbahn unterstützten.

Die durchschnittliche Betriebszugehörigkeit von Arbeitnehmern im Alter von 25 bis 34 Jahren beträgt etwa 2,8 Jahre. Die Kollegen kommen und gehen, und wir genauso, was zu einer historisch einmaligen, unnatürlich hohen Fluktuationsrate in unseren Arbeitsgruppen führt.17 Schätzungsweise 25 bis 30 Prozent der Arbeitskräfte in den USA werden in den kommenden Jahren Fernarbeit leisten.18 Die Einsamkeitsrate hat sich in den letzten 20 Jahren verdoppelt und zu einem Anstieg bei Depressionen, Herzkrankheiten und in der Gesamtsterblichkeit geführt.

Hinzu kommen die Unbeständigkeit und Unsicherheit, die wir – ob persönlich oder als Unternehmen – selbst unter besten Umständen zu bewältigen haben. Firmen stellen fest, dass ihre Geschäftsmodelle über Nacht zusammenbrechen; ein Konkurrent, der bislang nur genervt hat, ist plötzlich Branchenführer. Teams erfahren, dass ein Produkt, an dem sie monatelang gemeinsam gearbeitet haben, inzwischen veraltet und die Gruppe in ein halbes Dutzend Einzelteile zersplittert ist, von denen jeder und jede in völlig neue Initiativen irgendwo anders auf der Welt rezykliert wird. 61 Prozent der Vollzeitbeschäftigten geben an, der Stress des modernen Arbeitsplatzes habe sie krank gemacht; dieses wilde Durcheinander ist für rund 120 000 zusätzliche Todesfälle pro Jahr in den USA und bis zu eine Million in China verantwortlich.19

***

Und trotzdem.

Wir sind nicht verloren.

Das wissen wir dank der Geschichten von bemerkenswerten Menschen wie Graeme Payne. Seine Geschicklichkeit im Umgang mit den reißenden Strömungen des Wandels und seine Fähigkeit, den Menschen in seinem Umfeld dabei unter die Arme zu greifen, sind tatsächlich bemerkenswert, aber er ist kein Einzelfall. Es gibt noch andere Paynes da draußen, die über einen Tomorrowmind verfügen und von denen wir lernen können.

Außerdem wissen wir es auch inzwischen, und zwar ziemlich gut: aufgrund jahrzehntelanger Forschung zum psychologischen Wohlbefinden und Gedeihen.

Wir beide haben dieser Wissenschaft als klinische Forscher und Innovatoren unser Leben gewidmet. Für Martin Seligman begann die Reise in den 1960er-Jahren an der University of Pennsylvania. In drei Jahrzehnten Forschung hat er nachgewiesen, unter welchen Bedingungen Menschen, die großem Stress ausgesetzt sind, entweder gedeihen oder straucheln. Allerdings frustrierte ihn sehr, dass die akademische Psychologie damals noch nicht bereit war, die logischen Schlussfolgerungen aus diesen Studien zu ziehen. Zwar wurden seine Erkenntnisse auf die Behandlung von Depressionen angewandt, also gewissermaßen durch die Linse der Psychopathologie betrachtet. Doch hätten sich seine Erkenntnisse noch viel konsequenter anwenden lassen, nämlich auf die Frage, wie man ein resilienteres, erfüllteres Leben führen und diese negativen Folgen von vornherein vermeiden kann.

In den 1990er-Jahren wurde Martin Seligman, wie wir in Kapitel 3 sehen werden, zum Vorreiter auf einem neuen Studiengebiet, der sogenannten Positiven Psychologie. Als Präsident der American Psychological Association und Begründer des Positive Psychology Center an der University of Pennsylvania hat er in den letzten 30 Jahren gezeigt, dass ein gedeihliches Leben möglich ist und dass wir in der Tat über ein enormes Wachstumspotenzial verfügen, solange wir bereit sind, uns diese Wissenschaft und ihre Kernprinzipien zu Herzen zu nehmen.

Gabriella Rosen Kellerman hat die ersten zehn Jahre ihrer beruflichen Laufbahn als ausgebildete Ärztin in der fMRI-Gehirnforschung, der Psychiatrie und im öffentlichen Gesundheitswesen zugebracht. Wie Seligman wollte sie mehr erreichen, als nur psychische Erkrankungen zurückzudrängen: Sie wollte großen Bevölkerungsgruppen zu einem besseren Leben verhelfen. Anfang der 2010er-Jahre erkannte sie die Chance, dieses Ziel mittels Behavioral Health Technology zu erreichen.

Nach ihrem Ausstieg aus der klinischen Medizin – einem Wechsel, der wie für so viele der in diesem Buch vorgestellten Personen für sie einen kompletten Neuanfang bedeutete – schloss sie sich dem aufkeimenden Digital Health Space an. 2014 leistete sie Pionierarbeit bei einem der ersten technologiegestützten verhaltensbasierten Gesundheitsangebote auf dem Markt, einem Produkt, das Millionen von Arbeitnehmern auf allen Ebenen zugutekam.

Seitdem hat sie verschiedenste Unternehmen in der Forschungs- und Entwicklungsarbeit angeleitet oder beraten. Unter anderem war sie Chief Product Officer bei BetterUp, einem Unternehmen, das sich auf die Förderung des Wohlbefindens von Arbeitnehmern mithilfe von Coaching, KI-Technologie und Verhaltenswissenschaft fokussiert.

Im Jahr 2017 gründete Gabriella Rosen Kellerman mithilfe des CEO von BetterUp, Alexi Robichaux, die BetterUp Labs, eine Organisation, die sich der Erforschung für das Wohlbefinden am Arbeitsplatz förderlicher Fähigkeiten widmet. Das Labor kooperiert mit Akademikern auf der ganzen Welt und nutzt die globale Entwicklungsplattform von BetterUp, um Zufriedenheit und Wohlbefinden am Arbeitsplatz zu messen und zu fördern. Martin Seligman bot sich aufgrund seiner lebenslangen Arbeit zu Optimismus, positiven Emotionen, sozialen Beziehungen und Wohlbefinden ganz natürlich als Partner an.

Wichtige Verbündete bei diesem Forschungsvorhaben waren vorausdenkende Führungskräfte großer Unternehmen, die darauf angewiesen sind, dass ihre Mitarbeiter so produktiv wie möglich arbeiten, und die begreifen, welchen Schwierigkeiten sich Arbeitnehmer heute gegenübersehen: zunehmendem psychischen Druck inmitten eines sich immer schneller vollziehenden Wandels. Die innovativsten Unternehmenschefs sind experimentierfreudig, daten- und wissenschaftsorientiert und glauben, dass es einen besseren Weg gibt. Diese Führungskräfte werden hoffentlich in dem vorliegenden Buch viele hilfreiche Hinweise finden. In zahlreichen Fällen waren sie auch direkte Partner bei der hier beschriebenen Forschung und verdienen Anerkennung dafür, erst einmal das Basiswissen geliefert zu haben.

***

Vielleicht sind Sie Manager, gehören zur Belegschaft oder sind Führungskraft eines Unternehmens. Vielleicht arbeiten Sie im Kundenservice eines Callcenters an vorderster Front oder in einem Produktionsteam hinter den Kulissen. Unabhängig von Ihrer Rolle haben Sie vermutlich dieses Buch zur Hand genommen, weil Sie verstanden haben, dass der Prozess, der unsere gesamte Arbeitswelt auf den Kopf stellt, nicht mehr rückgängig zu machen ist. Genau wie Graeme Payne haben Sie den enormen Druck zu Veränderungen gespürt und begriffen, dass Sie ihm immer wieder aufs Neue ausgesetzt sein werden.

Wandel lässt sich nicht aufhalten. Aber wir müssen ihm auch nicht zum Opfer fallen. Wir hoffen, dass dieses Buch zu Ihrem Leitfaden wird, Eselsohren bekommt, immer wieder gelesen und mit persönlichen Kommentaren versehen wird und Ihnen so dabei helfen kann, in einer zunehmend maschinengesteuerten Arbeitswelt als vollwertiger Mensch wieder zum Blühen zu kommen. Wir hoffen, dass dieses Wissen Ihnen hilft, die Flügel auszubreiten und höher zu fliegen, als Sie es sich je hätten vorstellen können.

Die hier beschriebenen Fähigkeiten lassen sich nicht über Nacht entwickeln. Sie erfordern Übung, Nachdenken und Hingabe. Mit der Zeit werden sie wie Superkräfte wirken und Sie verlässlich durch wilde Gewässer steuern, Ihnen helfen, das Gleichgewicht zu wahren und fokussiert und ermächtigt auf die Welt zu blicken. Das nennen wir Thriving oder auch Wohlbefinden und Zufriedenheit. Es ist die gelebte Erfahrung von Arbeit, wie wir sie alle verdienen und erreichen können.

Denken Sie nur an Graeme Payne – die Umschwünge, die Höhen und Tiefen, vom Nachwuchssoldaten über den Buchhalter und die IT zum Informationssicherheitsguru. Vielleicht kennen Sie ja sogar selbst jemanden wie ihn, eine Person, die beruflich alles durchgemacht und es irgendwie geschafft hat, wieder auf die Beine zu kommen oder gar die Oberhand zu gewinnen. Diese Leute sind real. Es sind ganz normale Menschen, wie wir alle. Was ermöglicht manchen von uns, diese turbulenten Wellen zu reiten wie Payne, während so viele andere untergehen?

Unser Labor hat in seinen Studien anhand der Daten von Hunderttausenden Arbeitnehmern in allen Branchen weltweit fünf psychologische Kräfte identifiziert, die für Zufriedenheit und Wohlbefinden am Arbeitsplatz im 21. Jahrhundert entscheidend sind:

Resilienz und geistige Beweglichkeit (R): die Grundvoraussetzung für das Gedeihen im WandelSinn und Wichtigkeit (M wie englisch meaning and mattering): die Motivation, die uns vorantreibtSchneller Rapport für das Anzapfen sozialer Unterstützung (S): die Verbundenheit, die wir für ein gedeihliches Leben und Arbeiten benötigenVoraussicht oder Prospektion (P): die Metafähigkeit, die uns den Wandel vorwegnehmen lässtKreativität und Innovation (I): unsere einzigartige menschliche Gabe, die nach ihrem Niedergang am Fließband heute eine neue Bedeutung am Arbeitsplatz gewinnt

PRISMA wäre ein praktisches Akronym (wenn auch in anderer Reihenfolge und ohne das A), das Sie verwenden können, um sich diese fünf Kräfte zu merken. Zusammengenommen bilden diese fünf Komponenten den »Tomorrowmind« – eine Denkweise, die uns ermöglicht, Veränderungen vorwegzunehmen, angemessen zu planen, mit Rückschlägen umzugehen und unser volles Potenzial auszuschöpfen.

In diesem Buch wird jede dieser Fähigkeiten detailliert beschrieben, einschließlich der Frage, warum sie für eine gedeihliche Zukunft der Arbeit wichtig ist und wie Sie sie entwickeln können. Dabei binden wir unsere eigenen neuen Forschungsergebnisse in die bereits vorhandene Literatur zum Thema ein, damit Sie ein möglichst umfassendes und aktuelles Verständnis der einzelnen Fähigkeiten bekommen.

Wie man dieses Buch lesen sollte

Bisher haben wir den Inhalt der Kapitel 1 bis 3 beschrieben, die die Grundlage für eine detaillierte Erörterung der einzelnen PRISMA-Kräfte bilden. Sollte Ihr Interesse vorrangig diesen Kräften gelten, können Sie gerne gleich zu Kapitel 4 übergehen, das mit der Resilienz einsetzt.

Psychologische Resilienz hilft uns, Niederlagen zu verkraften, ohne Schaden zu nehmen. Im besten Fall ähnelt die Resilienz der Antifragilität: der Fähigkeit, aus Herausforderungen gestärkt hervorzugehen. Wenn wir uns an Graeme Paynes Reaktion auf die rasante Entwicklung der Computertools seiner Kunden erinnern, so war sie für seine älteren Partner eine Bedrohung, während er selbst in ihr eine Chance sah, sich neue Fähigkeiten und Fertigkeiten anzueignen und zunutze zu machen, um neue Märkte zu erschließen.

Resilienz ist eng mit geistiger Beweglichkeit verbunden, der Fähigkeit, neue Ideen geschickt aufzugreifen und wieder zu verwerfen und ein Gleichgewicht zu finden zwischen opportunistischem Auskundschaften und gezielten Anstrengungen. Diese Fähigkeiten bilden die Grundvoraussetzung für einen psychologisch gesunden Umgang mit der Volatilität unserer neuen Arbeitswelt. Dank jahrzehntelanger wissenschaftlicher Forschung, zu der auch einige unserer Arbeiten gehören, wissen wir, dass diese Fähigkeiten gepflegt und gelehrt werden können.

Resilienz beschreibt, wie wir Veränderungen verkraften. Um das Warum geht es in Kapitel 5. Wir werden uns in einer Rolle nach der anderen neu erfinden müssen, und das erfordert große Anstrengungen. Die Motivation für dieses Sich-neu-Erfinden wird unserem Gefühl für Sinn und Zweck entspringen. Wie bleiben wir in einer Welt des sich ständig ändernden »Was« mit unserem beruflichen »Warum« verbunden?

Graeme Payne hatte sich viele Jahre als Erbauer und Schöpfer von Werten sehr stark auf sein Warum fokussiert. In seinen dunkelsten Stunden erkannte er die Chance, seine schreckliche Erfahrung in etwas Positives zu verwandeln, indem er seine hart erkämpften Lektionen in den Dienst neuer Kunden stellte. Das Verständnis von Sinn und Zweck hat uns zu dem neueren Konzept der Wichtigkeit geführt, das einen konkreteren, leichter umsetzbaren Rahmen bietet. Wir wollen uns alle wichtig fühlen, und mithilfe der richtigen Tools können wir dieses Gefühl sowohl als Einzelne wie auch als Organisationen pflegen.

Ebenso entdeckte Graeme in seiner schwersten Zeit, wie entscheidend soziale Unterstützung zum beruflichen Erfolg beiträgt. Aber was bedeutet erfolgreiche Beziehungspflege in unserem einsamen Arbeitsleben, bei ständig wechselndem Arbeitsplatz und häufig nur virtuellem Kontakt zu Kollegen? In den Kapiteln 6 und 7 stellen wir den »Schnellen Rapport« vor, eine soziale Fähigkeit, die wir allesamt perfektionieren müssen.

Wenn sich Teams zusammenfinden, auflösen und wieder neu zusammensetzen, über Kontinente, verschiedene Sprachen, Kulturen und Kompetenzen hinweg, werden wir um unseres eigenen Wohlbefindens und der Qualität unserer Arbeit willen in der Lage sein müssen, sehr schnell vertrauensvolle, sinnhafte Beziehungen zu unseren Kollegen aufzubauen. Einerseits fällt unserem 70 000 Jahre alten Gehirn ein derart schneller Beziehungsaufbau schwer. Andererseits kennen wir aus der Psychologie und den Neurowissenschaften eine ganze Menge Abkürzungen, die die Entwicklung einer solchen Fähigkeit möglich erscheinen lassen.

In Kapitel 8 kommen wir zur Prospektion: unserer Fähigkeit, uns die Zukunft vorzustellen und sie zu planen. Prospektion ist die Metafähigkeit für die Arbeitnehmer von heute. In einer Zeit raschen Wandels benötigen wir jeden noch so kleinen Vorsprung, den wir bekommen können, um vorwegzunehmen, was auf uns zukommt. Eine gute Voraussicht bringt Vorteile für unsere Karriere und unser Wohlbefinden. Wir werden untersuchen, was Prospektion ist und wie sie funktioniert, und Tools anbieten, die uns helfen, im Vorausdenken besser zu werden.

Eine besondere Form der Prospektion ist die Kreativität, die von Arbeitnehmerseite zunehmend verlangt wird. Vorbei sind die Zeiten der »Kreativabteilungen«. In Kapitel 9 untersuchen wir, was es heißt, in einer Zeit zu leben, in der von jedem und jeder erwartet wird, kreativ zu sein. Wir gehen auf die Hirnforschung zur Kreativität ein und schlüsseln unser Wissen darüber auf, wie Einzelpersonen, Teams und Organisationen mehr Innovation fördern können. Außerdem erweitern wir den Begriff der Kreativität, um zu zeigen, welche unterschiedlichen Formen sie annehmen kann. Erinnern wir uns noch einmal: Graeme Payne hatte unter anderem deshalb Erfolg, weil er nicht nur den Wandel begrüßte, sondern auch neue Lösungen für seine Kunden entwickelte. Er selbst hält sich nicht für einen Kreativen, sondern sieht sich als Konstrukteur, der gerne lernt. Dieses Mindset steht uns allen zur Verfügung. 

Im letzten Kapitel geht es um die Organisationen selbst. In Zusammenarbeit mit führenden Unternehmen haben wir in den letzten zehn Jahren viel darüber gelernt, warum manche Firmen so erfolgreich darin sind, gedeihliche Arbeitsbedingungen zu schaffen, während andere daran scheitern. Es gibt eindeutige historische und strukturelle Gründe, warum so viele Unternehmen immer wieder auf die gleichen unzureichenden Lösungen zurückgreifen. Wir schlagen einen kreativen Umbau dieser Strukturen zugunsten eines ganzheitlichen Systems vor, das für die Bewältigung künftiger Herausforderungen besser geeignet ist.

***

Es gibt eine Menge Bücher darüber, wie und warum sich die Arbeit verändert. Wir thematisieren hier aus der Sicht der Verhaltenswissenschaft, warum uns diese Veränderungen so schwerfallen und wie wir uns erfolgreich anpassen können. Die Geschichte hält eine Menge Lektionen darüber bereit, welchen hohen menschlichen Preis Veränderungen in der Arbeitswelt gekostet haben. Die Erkenntnisse, die wir in den letzten Jahrzehnten auf dem Gebiet der Positiven Psychologie und der Neurowissenschaften gewonnen haben, verschaffen uns einen einzigartigen Vorteil, der unseren Vorfahren nicht zur Verfügung stand. Unser Gehirn hat sich seit seiner Entstehung nur wenig verändert, aber die kollektiven wissenschaftlichen Bemühungen, zu denen es uns befähigt, liefern uns eine neue Gebrauchsanweisung dafür, wie wir ebendiese 70 000 Jahre alte Materie für unsere modernen Ziele nutzen können.

Wir beginnen ganz am Anfang, beim Gehirn und bei der Arbeit.

Kapitel 1: Unser Gehirn bei der Arbeit

Anfangs ging Wandel nur langsam vonstatten. Und wenn, dann wurde er vor allem durch das Wetter verursacht. Die frühe menschliche Spezies hatte es in Abständen von einem oder mehreren Jahrtausenden mit einem Wechsel von Eiszeiten und zwischeneiszeitlichen Erwärmungen zu tun.20 Der Meeresspiegel stieg und fiel dramatisch und machte große Landstriche zeitweise bewohnbar. Der Zyklus war so langsam, dass sich die frühen Menschen auf die altmodische Weise anpassen und entwickeln konnten: durch natürliche Selektion. Die europäischen Neandertaler zum Beispiel entwickelten angesichts des kalten Klimas kürzere Unterarme und Unterschenkel.21 So konnten sie sich leichter warm halten, denn kürzere Gliedmaßen bedeuten weniger Körperoberfläche.

Vor etwa 70 000 Jahren22 geschah jedoch etwas, das die Spielregeln unwiderruflich veränderte. Das Gehirn einer bestimmten Gruppe von Menschen – Homo sapiens, unserer Vorfahren – machte tiefgreifende Veränderungen durch. Unter anderem vergrößerte es sich, die Scheitel- und die Kleinhirnregion rundeten sich. Diese Regionen sind für Planung, Langzeitgedächtnis, Sprache, Werkzeuggebrauch und Selbstwahrnehmung mit zuständig.23 Die neue komplexe Intelligenz des Homo sapiens ermöglichte es uns, Umweltherausforderungen auf exponentiell klügere und schnellere Weise zu meistern. Seitdem ist auf der Erde nichts mehr so, wie es war.

Ein typisches Beispiel: Anders als sein Neandertal-Nachbar in derselben Klimazone besaß der Homo sapiens noch immer die längeren Arme und Beine der Tropenbewohner. Wie hielt er seine langen Gliedmaßen warm? Statt Tausende Jahre auszuharren, bis sich neue Körperteile entwickeln würden, löste er das Problem auf eine Weise, wie nur er es vermochte: durch Technologie.

Funde von Nadeln mit Nadelöhr beweisen, dass ihn Oberbekleidung warm hielt. Feuer konnte nach Belieben erzeugt werden, wie rundum laufende Schleifspuren an durchlöcherten Steinen zeigen – ein rudimentärer Motor, mit dessen Hilfe Reibung und schließlich Feuer erzeugt wurde.24 Überreste von Schlingen und Reusen zeugen von energieeffizienteren Formen der Jagd. Ihr größeres, kugelförmigeres Gehirn ließ diese frühen Menschen intelligenter arbeiten: in warmer Kleidung, mit säuberlich ausgelegten Fallen und einem knisternden Feuer in der Nähe.

Und das Beste ist, dass diese technologischen Neuerungen nicht ständig wieder neu erfunden zu werden brauchten. Stattdessen konnte Homo sapiens sehr detailliert darüber kommunizieren, und zwar dank seines herausragendsten, wichtigsten Werkzeugs: der Sprache. Eine komplexe, syntaktisch gestaltete Sprache25 befähigte jede Generation, auf dem Wissen der vorhergehenden aufzubauen. Sie ermöglichte den Austausch über abstrakte Inhalte sowie gemeinsame Vorstellungen, kollektive Bedeutungszuweisungen und Erfindungen.26 Sie musste nicht nur das Hier und Jetzt beschreiben; sie konnte auch alle in der Zukunft liegenden Möglichkeiten ansprechen.

Hinter diesen Durchbrüchen in sprachlicher, industrieller und häuslicher Hinsicht stand eine Reihe von kognitiven Fähigkeiten, die einzig und allein den Homo sapiens und damit auch uns auszeichnen. Das Konstruieren und Verstehen langer Sätze, das Auslegen von Fallen und die Herstellung von Mänteln aus rohen Fellhäuten erfordern ein Arbeitsgedächtnis, schrittweises Planen und die Fähigkeit, über das Hier und Jetzt hinauszudenken.27 Diese Vorteile machten den Homo sapiens zum »Sieger«, denn es gelang ihm, die harten Bedingungen zu meistern, die jede andere frühe menschliche Spezies auslöschten.

Dass Sie dies lesen können, verdanken Sie Ihrem erstaunlichen Gehirn – einem drei Pfund schweren, fußballgroßen, blassrosafarbenen, verschlungenen Klumpen Fleisch, der diese Worte unter einem Helm aus Kalzium verarbeitet – und all den erstaunlichen Gehirnen davor.

Das Geheimnis erfolgreicher Nahrungssuche: Anpassungsfähigkeit, Generalistentum und Kreativität

Über 95 Prozent unserer Geschichte hinweg bildeten das Jagen, Sammeln und Fischen die Lebensgrundlage des Homo sapiens. Das ist die »Arbeit« – die typische Kombination regelmäßiger, für den Lebensunterhalt erforderlicher Tätigkeiten –, für die unser Gehirn sich entwickelt hat. Dieses Jäger-und-Sammler-Hirn, das wir noch heute haben, werden wir brauchen, um in unserer so drastisch veränderten Arbeitswelt zu bestehen.

Drei Schlüsseleigenschaften des Jäger-und-Sammler-Hirns sind Generalistentum, Anpassungsfähigkeit und Kreativität. Unsere Vorfahren waren nicht nur Jäger und Sammler, sondern in erster Linie Generalisten. Alle mussten wissen, wie man Schlangen aus dem Weg geht, nahrhafte Beeren von giftigen unterscheidet, Raubtieren zuvorkommt, einen Haken beködert und Beute aufspürt. Sie lebten in kleinen voneinander abhängigen Stämmen und bildeten zu ihrem Schutz Verbände, die durch hohes gegenseitiges Vertrauen gekennzeichnet waren. Man nimmt an, dass die Frauen eher für das Sammeln und die Männer eher für das Jagen und Fischen verantwortlich waren, doch war die Rollenverteilung wohl relativ fließend, denn die einzelnen Stämme mussten ihre Strategien aufgrund schwankender Ressourcen immer wieder ändern. Wer schon einmal selbstständig war, kennt das: An manchen Tagen muss man Marketingexperte sein, an anderen Verwalter und am dritten Kundendienstmitarbeiter. Man muss alles können.

Und das machte die Arbeit interessant, ebenso wie die Tatsache, dass es ein Nomadenleben war. Jagen, Fischen oder Sammeln an immer wieder neuen Orten sorgte für Neuentdeckungen. Jeder Ort erforderte eine Anpassung – ans Klima, an die Tageslänge, an das Terrain – und bot zugleich die Gelegenheit, neue Fähigkeiten zu entwickeln. Wir glauben, dass die Jäger und Sammler nur drei bis fünf Stunden täglich gearbeitet haben.28 Dieser verkürzte »Arbeitstag« ließ viel Raum zum Lernen, vor allem aber auch für Freizeit, Geselligkeit und Erkundungen.

Entspanntes Erkunden wiederum förderte Kreativität und Innovation. Unsere Vorfahren nutzten ihr leistungsfähiges Gehirn, um sowohl für den Einzelnen wie für die Spezies insgesamt überragende Ergebnisse zu erzielen. Während die Archäologie für den Neandertaler nur wenig technologischen oder kulturellen Fortschritt belegen kann, entwickelten sich Kunst und Technik des Homo sapiens in rasantem Tempo. Waffen wurden immer komplexer und bestanden aus einer größeren Anzahl von Teilen. Hoch entwickelte Boote machten es möglich, bis nach Australien zu gelangen und Länder zu besiedeln, die für andere Spezies unerreichbar waren. Einfache Höhlenzeichnungen verwandelten sich in eine Fülle mythischer Kreaturen aus Elfenbein und Keramik.

In der Tat waren unsere Vorfahren als Wildbeuter derart innovativ, dass sie sich durch ihre Erfindungen selbst aus dieser Lebensweise hinausentwickelten. Einen Beitrag dazu leistete die Erfindung der Nahrungsmittellagerung, denn sie ersparte ihnen die Mühe, auf der Suche nach der nächsten Mahlzeit ständig unterwegs zu sein. Erwartungsgemäß wurde die Nahrungsmittellagerung dann immer weiter überarbeitet und verbessert. Die Lagertechniken entwickelten sich rasant – von der Nutzung von Tierhäuten über ofengebrannte Töpferware bis hin zu Kühleinheiten.29 Um 10 000 vor unserer Zeitrechnung war das Jagen und Sammeln einer völlig anderen Arbeitsform gewichen: dem Ackerbau.

Kreativität, Anpassungsfähigkeit und Generalistentum leisteten unserer Spezies viele Tausend Jahre lang hervorragende Dienste. Die nächste Epoche der Arbeit brachte eine ganze Reihe neuer Probleme mit sich, gepaart mit dem Erfordernis, dieselbe kognitive Maschinerie rasch umzunutzen.

Ackerbau: Die Arbeit mutiert zum Job

So alltäglich uns die Landwirtschaft heute auch vorkommen mag, ist doch kaum zu überschätzen, was für einen radikalen Wandel sie darstellte – es war der wohl folgenreichste sprunghafte Wandel der Arbeitswelt in der Menschheitsgeschichte. Durch Jagen, Sammeln und Fischen erntet man die reichen Gaben der Natur. Bei Ackerbau und Viehzucht muss der Mensch die Natur selbst verändern. Nahrungssuche und Ackerbau sind komplett unterschiedliche Lebensweisen, und die Nahrungssuche bringt dem Einzelnen so viele Vorteile, der Ackerbau dagegen so wenige, dass Archäologen kaum erklären können, warum die Menschen zu Letzterem übergewechselt sind.30

Wir wissen nur, dass der Ackerbau um 10 000 vor unserer Zeitrechnung in der Levante entstand, jenem Gebiet Westasiens, wo heute die Türkei, der Libanon, Israel, Jordanien und Syrien liegen. Wieder einmal ebnete das Wetter den Weg, diesmal in Form einer globalen Erwärmung. Davor hatten die Eiszeiten Trockenheit mit sich gebracht, da das Süßwasser in den Polkappen und den riesigen Eisschilden eingefroren war, die Europa, Asien und Nordamerika bedeckten. Das Kohlendioxid war in den kalten Meeren gebunden, sodass selbst die Pflanzen zu kämpfen hatten. Große Staubwolken wehten über die Erde. Auch wenn es zwischendurch wärmere Perioden gab, waren sie doch zu kurz und zu wechselhaft, als dass Ackerbau möglich gewesen wäre.

Am Ende der letzten Eiszeit führte die globale Erwärmung zu vermehrten Niederschlägen, einem Anstieg des Meeresspiegels und einer großen Zunahme des verfügbaren Kohlendioxids. Die Wälder schrumpften, und Grasflächen mit essbaren Wildkräutern breiteten sich aus. Anfangs ernteten unsere Vorfahren diese Wildkräuter nur, später wählten sie gezielt diejenigen aus, die sich kultivieren ließen.31

Die frühen Erkenntnisse über die Domestizierung von Tieren und die Kultivierung von Pflanzen bedeuteten zusammen mit der Vorratshaltung, dass ehemals nomadische Stämme über längere Zeiträume hinweg an einem Ort bleiben konnten. Das Jagen und Sammeln existierte neben dem Ackerbau weiter – selbst heute gibt es noch einige wenige Wildbeuterkulturen –, aber je ausgefeilter die Technologie wurde, je komplexer die Siedlungen und je lebhafter der Handel zwischen verschiedenen Regionen, desto mehr beherrschten die Agrargesellschaften den Planeten. Nomaden wurden sesshaft, die Bevölkerung wuchs rasant und man gewöhnte sich an eine neue Art zu arbeiten.32

Was Wildbeuter und Bauern im Gegensatz zu den meisten modernen Arbeitnehmern gemeinsam hatten, war die Verbindung zum Land. Beide waren der Gnade des Wetters ausgeliefert, das sie mithilfe von Geistern und Göttern zu verstehen suchten.

Aber damit enden die Gemeinsamkeiten auch schon.

Während die Jäger und Sammler der Natur folgten und umherzogen, um verfügbare Ressourcen zu finden, unterwarfen die Bauern die Natur ihren Bedürfnissen. Sie entfernten natürlich vorkommende Arten und ersetzten sie durch Kulturpflanzen. Auch die Viehhüter zwangen der Evolution ihren Willen auf, indem sie besonders fügsame Tiere, Lasttiere oder Nutztiere züchteten.

Die Unterwerfung der Natur erforderte Planung in einem nie da gewesenen Ausmaß. Die Jäger und Sammler nahmen, was verfügbar war. Sie brauchten nicht weiter vorauszudenken als bis zum Mittagessen am Donnerstag, denn es gab nichts, was sie dann anders gemacht hätten. Die Bauern hingegen mussten alle möglichen Widrigkeiten bedenken, die der Natur zu Gebote standen, um ihnen einen Strich durch die Rechnung zu machen.33 Der Planungshorizont reichte von Tagen (Festlegung des Ablaufs der Ernte) über Monate (zeitlicher Ablauf der verschiedenen Ernten) und Jahre (Züchtung der richtigen Pflanzen oder Tiere) bis hin zu Jahrzehnten (Vorratshaltung zur Vermeidung von Hungersnöten).

Es ist kein Zufall, dass die bedeutendsten architektonischen Wahrzeichen der Agrargesellschaften Kornspeicher sind – riesige Langzeitlagereinheiten für Getreide. Kornspeicher sind kollektive Sparkonten. Die frühen Bauern arbeiteten zusammen, um sie zu errichten und dann zu füllen. Führen Sie sich einmal die Denkweise eines solchen Arbeiters vor Augen: Wir könnten diese Nahrungsmittel brauchen, falls unsere Felder nichts hervorbringen. Ich werde dann vielleicht nicht mehr am Leben sein, aber meine Kinder schon. In jedem Fall macht es mich froh, um diese Vorräte zu wissen.

Die Fähigkeit, über die Zukunft nachzudenken, nennt sich Prospektion. Sie ist zumindest teilweise mitverantwortlich dafür, dass sich die Landwirtschaft entwickeln konnte. Dieser Grad an Zukunftsorientiertheit ist ein einzigartiges Kennzeichen des Homo sapiens und das Ergebnis einer Partnerschaft zwischen extrem leistungsfähigen Teilen seines Gehirns: dem Parietal- und dem Frontallappen.34 Auch die Jäger und Sammler handelten vorausschauend, etwa bei der Entwicklung von Mechanismen zur Lagerung von Fleisch und anderen Nahrungsmitteln. Aber erst der landwirtschaftlich orientierte Homo sapiens machte sich die Prospektion und insbesondere das Planen als beste Verteidigung gegen die Launen der Natur vollends zu eigen. Noch heute leben wir mit diesem Erbe: Analysen von Gedanken in Echtzeit zeigen, dass 74 Prozent unseres vorausschauenden Denkens mit Planen beschäftigt sind.35

Diese immens starke Fähigkeit hat allerdings auch eine Schattenseite. Die Jäger und Sammler wussten, was Angst ist, vor allem als Reaktion auf unmittelbare Gefahr: Leopard! Sturzflut! Unsere Kampf-oder-Flucht-Reaktion hat sich entwickelt, um die Menschen vor diesen akuten, sehr spezifischen Bedrohungen zu schützen.

Im Gegensatz dazu wussten die Bauern, was Sorge ist. In ihrem Bemühen, Kontrolle über die Natur zu gewinnen, lernten die Agrargesellschaften schnell eine Menge darüber, was alles schiefgehen kann. Dürre konnte eine ganze Ernte vernichten. Seuchen konnten das Vieh dezimieren – oder die Familie. Aufgrund einer Kombination aus schlechter Ernährung und Ansteckung durch Nachbarn und Tiere war es um die Gesundheit der frühen Bauern bekanntlich schlecht bestellt. Eine zunehmende Bevölkerungsdichte verschlimmerte diese Probleme noch. Die frühen Siedlungen wussten nicht, wie sie mit Abfall und menschlichen Exkrementen umgehen sollten, und so breiteten sich nur allzu oft Krankheiten aus.36

Anhaltende Sorgen vor weit entfernten, nicht greifbaren Ereignissen bezeichnen wir als Ängste.37 Unkontrollierte Ängste können sowohl für den einzelnen Menschen wie auch für die Gesellschaft katastrophale Folgen haben. Angststörungen bei Einzelpersonen können zu einer derartigen Lähmung in emotionaler Hinsicht führen, dass die Betroffenen überhaupt nicht mehr arbeiten können. Auf kollektiver Ebene können schwere Angstzustände zu schädlichen Entscheidungsmustern führen.

Mit der Angst haben wir unser erstes Beispiel für die Folgen des Missverhältnisses zwischen der Art von Arbeit, für die sich unser Gehirn entwickelt hat – dem Jagen und Sammeln –, und der sehr anderen Arbeitswelt, die sich unsere Spezies selbst erschaffen hat. Anders ausgedrückt: Seit der Agrarrevolution ist unser Gehirn nicht mehr für unsere Arbeit ausgelegt