Toni Krahls Rocklegenden - Toni Krahl - E-Book

Toni Krahls Rocklegenden E-Book

Toni Krahl

4,5

Beschreibung

Mit einer Beatles-Platte fing alles an. Toni Krahl ist dreizehn, als er sie hört. Die Musik packt ihn und lässt ihn nicht mehr los. Auch in der DDR ist der Siegeszug des "yeah, yeah, yeah" nicht aufzuhalten, entstehen Gruppen, die nicht nur Hits covern, sondern mit eigenen Titeln ihre Fans begeistern. Als Frontmann von CITY spielt Toni bald in der ersten Riege - und kann berichten von unerhörten Freiheiten und absurden Grenzen, von unvergessenen Songs und dem Megahit "Am Fenster", von Auftritten diesseits und jenseits der Mauer, von legendären Bands und Musikerkollegen. Mit Schwung präsentiert Toni Krahl in seiner Autobiografie Rockgeschichten aus dem Osten und erzählt, wie sie sich seit nunmehr fünfundzwanzig Jahren fortschreiben.

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Bildnachweis: Olaf Telle

ISBN eBook 978-3-355-50027-2 ISBN Print 978-3-355-01840-1

© 2016 Verlag Neues Leben, Berlin Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin unter Verwendung eines Fotos von Susann Welscher

Die Bücher des Verlags Neues Lebens erscheinen in der Eulenspiegel Verlagsgruppe.

www.eulenspiegel.com

ToNi KRahLs

ROck LEgeNDen

Inhalt

TONI – DER STECKBRIEF

DAS LICHT DER WELT, DIE BEATLES, LANGE HAARE, MOSKAU, REBELLION

DIE ERSTE GITARRE, LONDON, DIE KRAHLS UND DIE KAHANES

DIE ERSTEN SONGS, DIE ERSTE BAND

ALEX, MOKKA-MILCH-EISBAR, HOOTENANNY

PRAG UND DIE FAMILIENGESCHICHTE, PRAG UND DER FRÜHLING

DER KLEINE PROTEST UND DAS GROSSE FLITZEN

DAS – VORLÄUFIGE – ENDE VOM LIED

DAS KNASTABENTEUER

DAS RECHTSANWALTSERLEBNIS

DER WEG NACH GANZ OBEN BEGANN AUCH IN DEN SIEBZIGERN GANZ UNTEN …

DIE LEGENDE UND DIE LEGENDÄRE MUSIKSCHULE

DIE ERFOLGSSTRASSE ZUR PAPPE UND IN DIE CITY

DER FENSTER-AUSBLICK ZUM WELTRUHM

SANKT-PAULI-LEGENDEN-LEGENDEN

DAS GRÖSSTE FIASKO – DER RITTERSCHLAG

CITY IN WOODSTOCK AN DER PANKE

DIE BÜRDE DES ERFOLGS: BANDKRISE UND NEUE HORIZONTE

TONI-FELIX KRULL-KRAHL, DER VERHINDERTE SIMULANT

NEVER CHANGE A WINNING TEAM

DER TÄTOWIERTE. UND DER ZUGEDRÖHNTE

GOLD IN GRIECHENLAND

AUS DER TRAUMLANDTRAUM UND REIN INS CESłAW- UND INS OLGA-LAND

WIR SÜSSEN BERLINER JUNGS AUF SALAMI-SAFARI

IM COGNAC-HIMMEL UND RUBEL-TRANSFER

VON SCHUTZENGELN UND ANDEREM SCHROTT

ZWISCHEN SAMOGON UND »EISZEIT«: ÜBERLEBENSTRAINING AN DER TRASSE

WIR LÖSTEN UNS GERADE AUF, OHNE ES ZU WISSEN

ROCK FÜR DEN FRIEDEN. ANKÜNDIGUNG IM UMBENENNUNGSPOKER

RENDEZVOUS IM JUSTIZ-PALAST

HEISSE LUFT STATT BALKANFEUER UND EIN DESERTEUR

ENDLICH KOMPLETT

EIN NEUER MANAGER. EINE LEISTUNGSSCHAU

CITY-SCHWOOF IM VERGNÜGUNGSPARK

NEUE TEXTE, NEUE SCHEIBE

OHNE BASS UND OHNE HAARE – MIT CITY DURCH DIE ACHTZIGER JAHRE

DIE KOLLEGEN ROCKER, EIN LUSTIGES VÖLKCHEN

AUSLÄNDERHASS

FEUER UND EIS UND EINS IM ANDEREN

CASABLANCA, KENNZEICHEN D UND KUNSTPREIS

DIE GITARREROS UND DIE ORTIS

DIE GITARREROS ROCKEN 750 JAHRE BERLIN

ALJOSCHA ROMPE, FALCO RICHTER UND FINGERFOOD IN GENF

FÜR ARMENIEN UND HAPPENING IN WEISSENSEE

DIE LEGENDE VOM KOMITEEFUNKTIONÄR UND RESOLUTIONÄR

PRIVATER KNIRSCH IM GETRIEBE DER WELTGESCHICHTE UND EIN PASS-PARADOXON DER DDR

WIR HABEN KEINE CHANCE, ALSO NUTZEN WIR SIE!

VON KPM ZU K & P UND IN DEN »HERBST IN PEKING« UND IN DIE CITY SOWIESO

DIE TATSÄCHLICHE DEUTSCHE WIEDERVEREINIGUNG

DIE BESONDERE VERTRIEBSTAGUNG

MIT »KLING KLANG« IN DIE CHARTS

TAMARA: ABSCHIED UND AUFERSTEHUNG

DER PRODUZENT

DIE ZEIT DER OSTIVALS

DAS NEUE CITY-JAHRTAUSEND

TONI DER SEHER UND DIE GROSSINDUSTRIE

SILBERSTREIFEN AM HORIZONT

HOLLYWOOD RIEF: NACH BABELSBERG

DAS EWIGE YEAH-YEAH-YEAH

FÜR IMMER JUNG & AUSGESTÖPSELT

VON LEGENDÄREN OSTROCKERN ZU OSTIGEN ROCKLEGENDEN

TONI

DER STECKBRIEF

Ich bin Toni Krahl. Geboren am 3. Oktober 1949 und zum Zeitpunkt dieser Erzählung 66 Jahre alt. Berliner.

Seit fünfzig Jahren ist die Musik mein Leben. Über vierzig Jahre stehe ich in der ersten Reihe von CITY. Wir haben in dieser Zeit mehrere tausend Konzerte zwischen Moskau und Havanna gegeben. Ich habe hunderte Gitarrensaiten zerfetzt, eine halbe Million Zigaretten verbrannt und ungefähr einen Hektoliter Feuerwasser vernichtet. Ich habe einige Achterbahnfahrten hinter mir.

Ich bin zum dritten Mal verheiratet und habe drei halbe Kinder. Eines brachte meine erste Frau mit in die Ehe, das zweite setzte ich in eine fremde Ehe und das dritte teile ich mir seit der Trennung mit seiner Mutter. Ich habe eine Schwester, eine Nichte, einen Enkelsohn und zwei Enkelneffen. Außerdem begleiteten mich drei Hunde und fünf Katzen durch die Zeit. Ich besuchte bis zum Abitur sieben Schulen und lebte zwischenzeitlich in zwei Kinderheimen. Insgesamt habe ich einiges erlebt. Viele Legenden davon werden auf den folgenden Seiten erzählt. Alles hat sich genau so abgespielt – oder eben ganz anders.

DAS LICHT DER WELT, DIE BEATLES, LANGE HAARE, MOSKAU, REBELLION

Ich habe zweimal das Licht der Welt erblickt. Das erste Mal am 3. Oktober 1949. Deswegen wurde der 1990 ja Feiertag. Gut, die erzählen es anders, damit der Personenkult international nicht so auffällt. Das zweite Mal war 1963.

Das Licht von 1963 war für mich vor allem ein akustisches Licht. Sozusagen. Das waren die Beatles mit ihrer ersten Single »Please Please Me«. Ich glaube, die B-Seite war »Love Me Do«.

Ich war in den Ferien in Berlin und hatte zu diesem Zeitpunkt genau das richtige Alter erreicht, mich für Musik zu interessieren. So kam es zu der Begegnung mit dieser Platte und sie in meinen Besitz. Meine Freunde Peter und André Kahane besaßen die. Als kleine schwarze Scheibe. Im Original! Die konnte man ja nicht einfach kopieren wie ’ne Mp3 heute oder ’ne CD. Zwei Jahre lang hatten Peter und André mit mir zusammen im Kinderheim in Cöthen zusammen gelebt, und seither waren wir eng befreundet. Sie hatten halt über irgendwelche West-Kanäle – Onkels, Tanten oder so – Zugriff auf solche tollen Sachen.

Wir sehen einander heute selten, aber doch hin und wieder. Peter ist Filmemacher geworden in der DDR, hat unter anderem den Film »Ete und Ali« gemacht und dreht auch heute noch Filme. André wurde Grafiker und hatte später an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee eine Dozentur. Aber damals, als Jungs, hatten sie eben diese Platte. Und die haben sie mir geborgt. Ich habe dann beschlossen, sie ihnen nicht zurückzugeben. Also beschlossen … Sagen wir so: Irgendwie ist es mir nicht gelungen, sie zurückzugeben. Jedenfalls war mir völlig klar: Dieser Sound war für mich gemacht!

Da ich zu diesem Zeitpunkt, außer in den Ferien, mit meinen Eltern in Moskau lebte, lief diese Initialzündung bei mir nicht über das Radio oder Fernsehen, sondern nur über diese eine Platte. Mein Vater arbeitete als Auslandskorrespondent für das »Neue Deutschland«, und in Moskau war mit Beatmusik im Radio überhaupt nichts los.

Der Beat war eine Steilvorlage für mich. Ich merkte sofort: Alles andere war dagegen antiquiert, angestaubt, altmodisch. Mit den Beatles kam auch, eben weil es eine Band war und kein Einzelinterpret wie Elvis oder Chuck Berry, so eine soziale Komponente dazu. Das waren vier Freunde, die sich verschworen hatten gegen die Welt und für sie, die neue Musik machten, neue Töne. Der alte Mief wurde weggeputzt. Für mich waren sie eingeschworene Freunde; Freunde zählen für einen Dreizehn-, Vierzehnjährigen viel. Viel mehr als alles andere.

Es gehörte für uns DDR-Bürger zu den Besonderheiten des Systems, dass es zu verschiedenen Zeiten verschiedene Kulturpolitiken und -verträge und also auch verschiedene Platten von West-Künstlern zu kaufen gab. Oder auch nicht. Und so erschien nach meiner Erinnerung irgendwann in Moskau auch eine Beatles-Platte mit kyrillischen Buchstaben für die Titelangaben. Ich hatte aber eben nur diese Platte von den Kahanes.

Es ging dann weiter in kurzen Schritten. Schnell kamen die Rolling Stones, The Kinks, The Who und wie sie alle hießen an mein Gehör, und zwar schon in Moskau. In meinem Freundeskreis dort war eine Beatles-Single ein wunderbarer Einstieg, um geadelt zu werden. Man traf sich, und da waren andere, die hatten auch Schallplatten. Zum Beispiel brachte ein Diplomatensohn welche aus Jugoslawien mit. Der wohnte wie ich mit vielen anderen Ausländern in einem Wohnblock, wie es ihn für die diplomatischen, Handels- und ähnliche Vertreter gab, extra abgeschottet und bewacht. Wir wohnten eben nicht im DDR-Wohnblock, sondern in einem internationalen. Der befand sich auf dem Prospekt Mira. Prospekt nennt man im Russischen sehr breite, repräsentative Straßen. Wie die Champs Élysées, nur viel breiter, länger, größer. »Mir« heißt Frieden. Also wohnten wir auf der Allee des Friedens.

Übrigens nannte man die Beatles damals in Moskau Schutschki, also Käferchen. Offenbar war es zu einer Falschübersetzung des Namens der Combo gekommen, die der neuen Richtung ein wenig die Brisanz nahm. Ob nun versehentlich oder als vorsorgliche List durch und gegen wen auch immer: Aus martialischen Schlägern (Beatle) wurden possierliche Käferchen (Beetle), ins Russische übersetzt eben Schuk oder Schutschok, im Plural Schutschki.

Das Beatfieber hatte sich rasant weltweit verbreitet und auch vor Moskau nicht halt gemacht. Für mich keine Frage: Das ist was Neues, der Aufbruch. Und ich bin dabei! Und dieses damals Neue hat mich bis heute musikalisch geprägt und auch mein ganzes ästhetisches Empfinden. Bis hin zu der dazugehörigen Mode. Was relativ einfach zu erledigen war: Man ist einfach nicht mehr zum Friseur gegangen, schon hatte man die Haare so, dass sie ein bisschen über die Ohren standen. So richtig durfte das aber nicht zu sehen sein, sonst wurde man sofort angezählt.

Natürlich kam diese Attitüde aus dem Westen. Was heute meist vergessen wird: Auch im Westen war das alles zunächst nicht gern gesehen. Beim Establishment und auch beim Fußvolk. In Ablehnung und Akzeptanz unterschieden sich Ost und West mal um Wochen, mal um Monate. Jedenfalls haben die Erwachsenen, glaube ich, Herpes bekommen, wenn sie uns ertragen mussten. Unser Aussehen, unseren Musikgeschmack, »das ewige yeah, yeah, yeah«, das war ja nicht nur Ulbricht, das hätte genauso gut von Ludwig Erhard sein können. Auch Elvis war wohl angepisst, auch wenn das nicht groß propagiert wird. Geheuer war ihm das alles nicht, zumal die Beatles ihn vom Thron geschubst haben, damals.

Ohne dass ich schon die Ambitionen hatte, selber in die Saiten zu greifen, diese Art zu leben und des Protests und das auch nach außen zu zeigen: Das war’s für mich. Bisschen wilder ging es dann mit den Rolling Stones zu, alles ruppiger, provokanter, und trotzdem: Die Wegbereiter, auch in mein Herz, waren eben die Beatles.

Als ich 1965 zurückkam nach Berlin, gab es in meiner Klasse an der Alexander-von-Humboldt-Schule und anderswo immer so Lager: Beatles oder Stones. Aus Moskau kannte ich das nicht. Ich habe diese Alternative nie akzeptiert und mich in beiden Lagern wohlgefühlt, habe mich da nie entscheiden wollen und auch nicht entscheiden müssen. So schlimm allerdings, dass man sich auf die Schnauze gehauen hätte, war es an meiner Schule nicht.

Meine ersten Versuche, so einer zu werden, ein Beatnik, absolvierte ich mit dem Federballschläger vor dem Spiegel: Posen, Blicke, die wild und provokant sein sollten … Was mir offenbar ein wenig gelang. Die Erwachsenen haben schon reagiert auf die Ergebnisse dieser Übungen: »So sieht man nicht aus, geh mal wieder zum Friseur und lass dir die Haare schneiden!«

Mit fünfzehn, sechzehn dann Rollkragen, Parker-Kutte, Kletterschuhe und all diese Dinge. Ja, eine echte Ami-Kutte. Und Jeans. Ich hatte außerdem – das war besonders chic – anstatt einer Schultasche so einen kleinen antiquarischen Hebammenkoffer. Da passte zwar nicht alles rein und die Hefter sahen immer ein bisschen gerollt aus, aber damit lag ich ganz weit vorn. Diese Köfferchen waren ein alternatives Ausstattungsmerkmal bis in die achtziger Jahre hinein, als die DDR-Jugendlichen den Blues- und anderen Bands landesweit hinterhergereist sind.

Was in den Sechzigern auch nicht fehlen durfte und ein Erkennungszeichen war: die Ostermarsch-Rune, das Peace-Zeichen. Das war verhasst bei den Funktionären, auch bei Lehrern und ganz besonders bei den Genossen unter den Lehrern. Die witterten dahinter sofort die pazifistische Haltung, die man tatsächlich auch ausdrücken wollte. Über dieses Symbol und was es bedeuten sollte, gab’s immer Diskussionen. Also, man war erst mal glücklich, wenn man so ’n Ding besaß, und zwar im Original und nicht nachgemacht. Einen Button aus dem Westen. Man hat schon erkannt, dass er nicht selbstgemalt war. Und ich hatte so ’n Ding. Dass das logisch nicht zueinander passte – Ami- und also Krieger-Kutte und Peace-Zeichen –, interessierte uns nicht, das haben wir nicht großartig hinterfragt. So lief man im Osten und im Westen rum. Und in Berlin war man ja sehr, sehr nah am Westen dran, mit Hörfunk und mit Fernsehen, und auch die familiären Bande waren in Berlin deutlich enger als vielleicht in Mecklenburg.

Aber ich hatte keine Westverwandtschaft, eigentlich überhaupt keine Verwandtschaft außer Mutter, Vater und Schwester. Was ja nicht ganz untypisch war für Familien mit ähnlicher Geschichte wie der meinen. Ich hatte also keine wirklichen Bezugsquellen aus erster Hand, musste das alles immer irgendwo tauschen, abhandeln. Man kannte jemanden, der wen kannte … Was man haben musste, hat man schon irgendwie gekriegt.

Ich war aus Moskau zurück- und in die neunte Klasse gekommen. In Moskau hatte ich die achte abgeschlossen und mich allein dadurch, dass ich in der Sowjetunion zur Schule gegangen war, für die EOS, die Erweiterte Oberschule, qualifiziert. Wer es auf die EOS schaffte, war auf einer gehobenen Schule. Auf die Alexander-von-Humboldt-Schule in der Oberspreestraße gingen, auch dadurch bedingt, dass die Oberspreestraße zu Berlin-Köpenick gehört, viele Kinder von Künstlern, Schauspielern, Malern, Komponisten, Intellektuellen, die da in Köpenick in ihren schmucken Häusern wohnten. Man hat neue Freundschaften gesucht und auch schnell geschlossen, und für uns alle waren Musik, Theater, Kunst überhaupt wahnsinnig wichtig. Ich fand auch schnell Anschluss zu Schülern der oberen Klassen, zu Jaecki Schwarz oder Gabriele Heinz zum Beispiel oder auch zu Henry Hübchen. Mit dabei auch Aljoscha Rompe, die spätere Spaßpunk-Ikone. Möglicherweise fiel mir der Einstieg auch leichter durch meinen Freund Peter »Pitti« Plessow, der später als Schauspieler den berühmten »Meister Nadelöhr« übernahm und der zu diesem Zeitpunkt sicher noch nicht wusste, dass er schwul war oder werden würde.

Reinhard Böhm ging in meine Parallelklasse. Reini wurde ein ganz passabler Filmkomponist und ist – und das tat weh – im letzten Jahr gestorben. Wir haben ihm auf unserem »Danke Engel«-Album das Lied »War gut« zum Abschied nachgereicht. Peter Timm aber war in meiner Klasse und ein ziemlich renitentes Funktionärssöhnchen. Nachdem er aus politischen Gründen inhaftiert und dann vor die Wahl gestellt worden war, in die DDR oder die BRD entlassen zu werden, reiste er Anfang der siebziger Jahre aus und drehte im Westen Filme. 1988 schrieb CITY für seinen Film »Fifty-Fifty« die Filmmusik. Später hat er »Go Trabi Go«, »Manta, der Film« und andere erfolgreiche Filme gemacht. Ja, es gab da so einige Kandidaten auf unserer Schule …

DIE ERSTE GITARRE, LONDON, DIE KRAHLS UND DIE K AHANES

Meine erste Gitarre war gar nicht meine, sondern die meiner Schwester. Für meine Schwester – sie war sechs Jahre älter und ist es heute, wer würde das denken, immer noch, 1943 in Leeds geboren, in England, während der Emigration der Eltern –, für meine Schwester war Musik nicht so wichtig, und wenn, dann hörte sie eher Volksmusik und Folklore. Das hatte sie sich von meiner Mutter angenommen. Es war mehr so Friedensbewegtes: Pete Seeger, Harry Belafonte, Peter, Paul and Mary, in diese Richtung. Die standen ganz hoch im Kurs bei meiner Mutter und damit eben auch bei meiner Schwester. Bei einem unserer späteren England-Besuche durfte sie – und darum habe ich sie sehr, sehr beneidet, ich selbst war aber noch zu klein dafür – für vierzehn Tage in ein Jugendcamp fahren. Organisiert wurde das vom kommunistischen Jugendverband und dem YCND, der Youth Campaign for Nuclear Disarmament, der Jugendkampagne für nukleare Abrüstung. Dort war sie, und also für mich beneidenswert, genau mit den richtigen Kandidaten zusammen; alternative Leute, die die Protestbewegung in England sehr stark beeinflusst, teilweise dominiert haben.

Mein Vater arbeitete in England als Korrespondent, meine Mama war mit ihm als Ehe- und Hausfrau dorthin gegangen. Während dieser Zeit lebten meine Schwester und ich im Kinderheim des Ministeriums. MAI hieß das, Ministerium für Außenhandel und innerdeutschen Handel. In diesem Heim lebten die Kinder von Eltern, die im Auftrag der DDR im Ausland tätig waren – in Handelsvertretungen, Botschaften oder eben auch als Journalisten. Na, und in den großen Ferien durften wir unsere Eltern in England besuchen. Dass wir nicht bei ihnen lebten, lag übrigens daran, dass es in einigen Ländern keine DDR-Schule gab. In Moskau gab es die zwar, eine Botschaftsschule, aber dort bin ich in eine normale russische Schule gegangen. Mein Vater wollte das so.

Seit meine Schwester in England in diesem Jugendcamp gewesen war, hatte sie eine Gitarre, eine Wander-Klampfe mit Nylonsaiten. Sie versuchte manchmal, ein bisschen darauf zu klimpern, ohne ernsthafte Ambitionen. Ich habe die Klampfe irgendwann annektiert, sprich, in mein Zimmer geholt. Meine Schwester lebte zu diesem Zeitpunkt in unserer elterlichen Wohnung schon mit ihrem späteren Mann zusammen. Ich war fünfzehn, sie waren einundzwanzig und interessierten sich nicht sonderlich für Musik und auch nicht für die Gitarre. So hatte ich die Klampfe und befasste mich damit intensiver, das heißt, ich lernte die ersten Akkorde.

Noch mal in kurz: Als meine Eltern in England lebten, waren wir beide im Kinderheim. Als meine Eltern dann in Moskau arbeiteten, ging ich mit ihnen nach Moskau, während meine Schwester in Berlin blieb und eine Lehre als Schriftsetzerin machte. Nach der Lehre besorgte mein Vater für sie einen Job in Moskau, und so kam sie noch für ein Jahr zu uns. Als wir dann alle nach Berlin zurückgekehrt sind, studierte sie an der Hochschule für Ökonomie in Karlshorst. Mein Vater hatte da studiert und beste Verbindungen dorthin, er war ja Doktor der Ökonomie und hatte in Karlshorst promoviert.

Dieses Schicksal drohte nun auch mir, obwohl meine schulischen Ergebnisse nicht sonderlich waren. Nicht, weil ich so doof war, sondern weil ich mich für alles, was mit der Schule zusammenhing, überhaupt nicht interessierte. Ich glaube aber, auch mit ’nem Vierer-Abitur hätte mich mein Vater an seiner alten Hochschule untergebracht. Das war das Damoklesschwert, das über mir schwebte. Sozusagen war das Privileg des väterlichen Status zugleich die Drohung.

Also, 1965 war ich aus Moskau zurückgekommen, und aufgrund dieses Freundeskreises in Schöneweide-Köpenick gab es bald eine Vernetzung mit Leuten von anderen EOS, etwa zur Heinrich-Hertz-Oberschule, genannt H2O, oder zur Kant-Oberschule oder eben auch über meine Freunde Peter und André Kahane, mit denen ich während der Zeit des Englandaufenthalts meiner Eltern zusammen im Kinderheim in Cöthen gewesen war. Ihr Vater, Max Kahane, war ebenfalls Korrespondent beim »Neuen Deutschland« und hatte eine ähnliche Biografie wie mein Vater; Emigrant, Spanienkämpfer und hatte auch diesen jüdischen Hintergrund, sodass sie nicht nur Genossen, sondern auch Freunde waren. Als die Kahanes in Indien arbeiteten und mein Vater in London, teilten wir Kinder uns in die Ferien. Wenn ihre Eltern da waren, wohnte ich bei ihnen, manchmal für zwei, drei Wochen, andersrum wohnte Peter bei uns, wenn meine Eltern in Berlin waren. Auch sonst übernachtete ich so oft wie möglich bei meinen Freunden, denn die Kahanes wohnten in Niederschönhausen, im hohen Berliner Norden, in Pankow, ich in Schöneweide, im Süden, also nicht gleich um die Ecke. Da fuhr ich dann mit der S-Bahn bis Pankow und weiter mit der Straßenbahn. Was immer eine schöne Reise war: Die S-Bahn-Strecke zwischen Schönhauser Allee und Pankow führte im Grunde genommen fast durch den Westen, und die Station dauerte auch wesentlich länger als die anderen Stationen, vielleicht acht Minuten, trotz des irren Tempos. Eine Reise mit leichtem Kribbeln, wenn man durch diesen stillgelegten Bahnhof Bornholmer Straße fuhr, quasi durch Niemandsland. In Pankow stieg ich aus und fuhr mit der Straßenbahn noch ein paar Stationen bis zum Kurt-Fischer-Platz, dann war ich da und blieb meist für zwei, drei Tage bei Kahanes.

Zu dieser Zeit machten wir auch die ersten Partys, meistens in irgendeiner Wohnung oder in einem Haus, wo die Eltern gerade verreist oder aus sonst einem Grund nicht anwesend waren. Da spielte auch die damalige Partydroge Alkohol eine Rolle, bei mir aber nicht … Es hat mir nicht geschmeckt. Getraut hätte ich mich schon, es hat einfach nicht geschmeckt.

Das waren die wunderbaren Jahre der Oberschulzeit.

DIE ERSTEN SONGS, DIE ERSTE BAND

In unserem Mietshaus in Oberschöneweide wohnte Reiner Köchling. Der war genauso alt wie ich und wohnte eine Etage höher. Unsere beiden Zimmer lagen schräg versetzt einander gegenüber, sodass wir uns über den Hof aus’m Fenster oft bis in die Nacht unterhielten. Wenn wir nicht eh zusammen in einem Zimmer gesessen haben. Außerdem war er seit der 9. Klasse auch mein Klassenkamerad.

Ich hatte die Gitarre meiner Schwester, er hatte ebenfalls eine Gitarre und zudem denselben Bazillus. Wir drückten uns als ersten Lick »Poor Boy« von den Lords aus Westberlin drauf: »Didip-didi-dip«. Gespielt haben wir das in A-Dur. So 1965. Dafür brauchten wir drei Harmonien mit Mollparallelen. Also Tonika, Dominante, Subdominante und Fis-Moll als Moll-Parallele zu A-Dur. Ah nee, da kam noch dumdumdum … egal. Wie wir die Harmonien gefunden haben, weiß ich heute nicht mehr, auch nicht, ob Köchling sie zuerst draufhatte oder ich. Auf jeden Fall: Wir waren beide ungefähr gleich begabt und gleich weit. Den Text hörte man sich ab. Mein Englisch war Schulenglisch, nicht mehr. Für die Nummer reichte das allemal, der Text war ja nicht wirklich kompliziert oder philosophisch. Und wir haben dann beschlossen, 1967 war das, eine Band zu gründen. Köchling entschied sich, Bass zu spielen. Wahrscheinlich dachte er sich, das sind nur vier Saiten, die sind einfacher zu bedienen und man hört sowieso nicht so genau, was der da am Bass macht. Nee, mit Paul McCartney, der ja auch Bass spielte, hatte das eher nichts zu tun.

Und wir hatten noch einen Freund, Peter Gross, aus unserem Wohngebiet, der war musikalisch sehr gebildet und hatte über lange Zeit Klavierunterricht genommen. Sein Vater war ein professioneller Musiker an der Staatsoper oder so. Der spielte Keyboard, nun ja, eher so eine Art Harmonium, wo man noch treten musste. Irgendein Thomas spielte Schlagzeug, aber das Ass, das wir hatten, war unser Sänger Frank Pfeifer. Der Bandname war bezeichnend für eine Oberschülerband: »Wurzel minus 4«. Wir spielten internationale Hits nach, eben besagten »Poor Boy« von den Lords, einige Nummern von den Bee Gees und vor allen Dingen Stones. Frank war eine perfekte Kopie von Mick Jagger, konnte Stimme und Bewegungen seines Idols total imitieren und war schlicht und einfach eine Rampensau. Wahrscheinlich wegen dieser Vorzüge wurde er 1972 auch der erste Sänger meiner späteren Heimat CITY. Ich schrubbelte bei Wurzel minus 4 mehr schlecht als recht die Gitarre, eine schwarze »Musima Eterna«, die mir Henry Hübchen etwas zu teuer verkauft hatte. Sie sah aber toll aus, hatte drei Tonabnehmer und, das Wichtigste, einen Jammerhebel. Geil!

ALEX, MOKKA-MILCH-EISBAR, HOOTENANNY

Um unseren Freundeskreis herum gründeten sich noch andere Bands, zum Beispiel die »nameless«, die Band von Pitti Plessow. Die spielten tolle Beatmusik. Team 4 mit Thomas Natschinski segelte auch im Schatten dieser Schule, und die hießen eben nicht am Anfang »Thomas Natschinski und Gruppe« und später »Team 4«, sondern erst »Team 4« und wurden dann umbenannt. Genauso wie »Hootenanny« in »Oktoberklub«. So wie man später versuchte, CITY umzubenennen. In diesem Umfeld trieb sich auch Hartmut König herum. Er hatte zu diesem Zeitpunkt bereits den FDJ-Gassenhauer »Sag mir, wo du stehst« verzapft. Später wurde er ein einflussreicher FDJ-Funktionär, Mitglied des ZK der SED und zum Schluss sogar stellvertretender Kulturminister. Wir wurden schon damals keine Freunde.

Man traf sich, wenn man nach der Schule Zeit und Lust hatte, in der Mokka-Milch-Eisbar in der Karl-Marx-Allee. Dahin kamen die jungen Leute aus verschiedenen Berliner Schulen, es war der angesagte Treff, dort musste man sein, wenn man dazugehören wollte. Das war ja damals alles neu: der Alex, das Kino »International«, die Gebäude, die Gaststätten, dieses ganze Angebot. Es war zwar ein ganzes Ende weg von unserer Schule, aber eben neu und attraktiv und mit der S-Bahn auch wieder nicht gar so weit … »Mokka-Milch-Eisbar« hieß auch ein früher Hit von Thomas Natschinski. Nach der Mokka-Milch-Eisbar traf man sich auch im Kino »International«, gleich nebenan, beim Hootenanny-Klub, der stark unter dem Einfluss von Perry Friedman stand, der mich sehr beeindruckte. Er wirkte immer authentisch und war so’n Folklore-Teddy. Genauso kam er rüber mit seiner gutmütigen Ausstrahlung und auch durch seinen kanadischen Akzent. Seinen Sohn Mike Friedman treffe ich in der Jetztzeit noch ab und an. Auch er macht Musik, mal in Kanada, mal in Deutschland.

Hootenanny war eine Form des geselligen, gemeinschaftlichen Singens, die damals, in den sechziger Jahren, in den USA aufkam. Einer der Protagonisten war Pete Seeger, der vor einiger Zeit hochbetagt gestorben ist und das Protestieren dieses ganze lange Leben durchgehalten hat. Der kanadische Kommunist Perry, jüdischer Herkunft, war mit Pete bekannt, zupfte, durch ihn inspiriert, ebenfalls das Banjo und brachte Hootenanny als junger Mann mit in die DDR, die ihm ab 1959 eine einladende, gewogene Heimat wurde. Die Hootenannys waren ein großer Erfolg mit großer Anziehungskraft auf DDR-Jugendliche. Aber, aber: überwiegend in Englisch. Daraus ergab sich der Partei- und FDJ-Auftrag, der Muttersprache den ihr gebührenden Platz zurückzuerkämpfen. Alsbald wurde der Verbesserungsvorschlag der Partei- und Staatsführung übererfüllt und der Oktoberklub glänzte mit vielen deutschsprachigen Liedern.

Was Besonderes dort waren die Auftritte von Reiner Schöne, der Schauspieler war, aber auch unbedingt mit der Gitarre brillieren wollte. Der hatte eine Bühnenpräsenz, eine Ausstrahlung! Man hing an seinen Lippen. Dort habe ich auch zum ersten Mal Tamara Danz getroffen, die sängerisch noch nicht groß auffiel, aber schon ein sehr auffälliges Mädchen war. Leider hatten wir keine Affäre. Ich war ja auch erst sechzehn, siebzehn.

Reiner Schöne durfte 1968 in Westberlin gastieren und blieb dort. Ein Zeitlang war er ein recht bekannter Schauspieler. Während die erwähnte Tamara noch einige Jahre im Oktoberklub blieb, ehe sie Anfang der Achtziger die Frontfrau der »Silly-Familie« und schließlich DIE Rocklady der DDR wurde.

PRAG UND DIE FAMILIENGESCHICHTE, PRAG UND DER FRÜHLING

So ging es durch die frühen Jahre, durch die Schulzeit. Da wurde viel diskutiert, debattiert, wurden Platten ausgetauscht, sofern man was zum Tauschen hatte, oder Bücher, vorzugsweise aus dem Westen. Biermanns »Drahtharfe« wurde per Hand abgeschrieben und verbreitet. In dieser Zeit fuhren wir des Öfteren nach Prag, Pitti Plessow, eine Chrille Schmidt aus seiner Klasse und dann noch eine Schönheit, die hieß Liane … Wir sind zu viert mehrere Male dorthin gefahren, quartierten uns in kleinen Herbergen ein und – ganz abgesehen von der Attraktivität von Prag mit der Altstadt – schnupperten ein bisschen Westluft. An den Kiosken konnte man auch Westzeitschriften kaufen.

Viel Geld brauchten wir für diese Reisen nicht. Zum einen hatten wir ein Lehrlingsgehalt, da wir Abitur mit Berufsausbildung machten. Das waren wohl 60 Mark im Monat in der 11. Klasse. Später, in der 12., sollte es sogar 70 geben. Ich bekam großzügigerweise zusätzlich etwas von meinen Eltern. In den Ferien ging ich ins KWO, ins Kabelwerk Oberspree, und arbeitete als Kabeltrommelrausnehmer oder als Kabeltrommelwechsler. Die Kabelfrauen haben da an riesigen Maschinen die Kabel umsponnen, und wenn die Trommel voll war, machten sie »huhu«, dann musste ich hinrennen, die volle Trommel rausnehmen und eine neue reintun. Handlangerarbeit, aber schwer. Ich war also finanziell gut ausgestattet, hatte als Schüler keine Geldsorgen, und das hat sich – Gott sei Dank – bis heute so erhalten. Ich bin zwar nie zu Reichtümern gekommen, habe solche Ansprüche auch nie gehabt, aber Geldsorgen hatte ich in meinem Leben nicht.

So konnten wir eben auch paarmal nach Prag fahren, vor allem 1967/68, weil die Atmosphäre dort immer verlockender wurde, gerade wegen dieser kleinen Freiheiten, die man spürte, dieser Offenheit.

Ich hatte zudem noch eine besondere Affinität zu dieser Stadt, weil meine Eltern während der Nazizeit in Prag ihren ersten Emigrationspunkt genommen und sich dort auch kennengelernt haben, so um 1936 herum. Mein Vater war direkt nach seiner Entlassung aus dem Zuchthaus Brandenburg dorthin gegangen. Im Frühling 39 wurde Prag ja dann von den Deutschen besetzt.

Witzigerweise habe ich bei meinen Pragaufenthalten eine Frau getroffen, die eine Freundin meiner Mutter aus jener Zeit war. Meine Mutter hatte mir eine alte Adresse dieser Frau gegeben – Karla Jung, so hieß sie –, und die stimmte noch. Ich steckte ihr einen Zettel in den Briefkasten, und sie kam dann zu mir ins Hotel. Ich glaube, sie war einst verliebt in den Bruder meiner Mutter, der Peter hieß. In mir hat sie wohl ein bisschen diesen Bruder meiner Mutter gesehen. Sie erzählte mir auch die Geschichte, wie sich meine Eltern kennengelernt und als verliebtes Paar noch rechtzeitig den Absprung nach England hinbekommen haben. Den die Familie meiner Mutter nicht mehr geschafft hat. Deren Geschichte, soweit bekannt, endete dann in Theresienstadt beziehungsweise verlor sich dort. Ich glaube, dass meine Großmutter dort starb.

Also, das Kennenlernen meiner Eltern geschah so: In der Emigration unterstützten die Wohlhabenden die Armen. Meine Mutter kam aus gutem Haus, mein Papa aus bescheidenen Verhältnissen; sein Vater, also mein Großvater, war zwar Weltkriegs-»Held«, aber doch nur Schneider. Zudem kam mein Vater ja geradewegs aus dem Zuchthaus Brandenburg, war also nicht von einer gesicherten Existenz aus geordnet nach Prag übergesiedelt, wie Wohlhabende das bis Kriegsbeginn tun konnten. Nach Prag allerdings nur bis zum Anschluss der »Rest«-ČSR. Mein Vater gab damals Schülernachhilfeunterricht, und jemand mokierte sich meiner Mutter gegenüber oder auch nur in ihrem Beisein über den kahlköpfigen Nachhilfelehrer. Woraufhin sie konterte, dass es nicht darauf ankäme, was auf dem Kopf wäre, sondern in ihm. Das wurde brühwarm meinem Vater berichtet, der sich logischerweise nun für das jüdische Fräulein zu interessieren begann. Er konnte es so einrichten, dass er an einem von ihrer Familie ausgerichteten Mittagstisch der Mildtätigkeit oder auch Solidarität landete. Wer weiß: Wenn sie sich nicht kennengelernt und zusammen für England entschieden hätten, vielleicht wären sie beide gar nicht aus Prag weggegangen. Hätten also denselben Weg nehmen müssen wie die Familie meiner Mutter … Sie sind aber nach England entwischt, und das heute bekannteste Ergebnis dieser Flucht ist wieder ein Glatzkopf.

Durch diese Geschichte meiner Eltern hatte ich irgendwie ein positives Grundgefühl, eine Zuneigung zu den Tschechen. Mir war alles dort sehr angenehm.

Und dann kam es zu der wilden Unterbrechung dieses Prager Frühlings, den ich ja selber mit herbeigesehnt und von dem ich gehofft hatte, es würde etwas davon zu uns, in die DDR, überschwappen. Dass es auch bei uns liberaler zugehen würde. Wirtschaftspolitische Dinge wie Ota Šik und seine sozialökonomischen Thesen haben mich da nicht interessiert, auch die ganzen Parteitage nicht.

DER KLEINE PROTEST UND DAS GROSSE FLITZEN

Was von der einen Seite »Tauwetter« und »politische Öffnung« genannt wurde, hieß von der anderen Konterrevolution. So marschierten am 21. August 1968 die Truppen des Warschauer Pakts in Prag ein, und ich tat eigentlich nur das, was meiner Meinung nach ein junger Mann, wie ich es damals war, tun musste. Ich protestierte dagegen, ich war absolut gegen diese Intervention, gegen den Einmarsch der Russen und ihrer Verbündeten, und habe versucht, es kundzutun bei einer Protestkundgebung in Berlin, die ich selbst mit einigen Freunden organisierte.

Da war wieder Frank Pfeifer aus meiner Band Wurzel minus 4 mit im Spiel. Zu viert fuhren wir in die tschechoslowakische Botschaft, die sich damals am Senefelder Platz befand, also Frank Pfeifer, Michael Pasig und Peter Schwarzbach, der im Alter und auch ein Freund meiner Schwester war und mit uns zusammen im Kinderheim Cöthen bei Bad Freienwalde gelebt hatte. Wir wollten dort unsere Sympathie bekunden, hatten aber nichts Schriftliches vorbereitet und nichts dabei. In der Botschaft lag ein Buch aus, in dem man sich mittels Eintragung solidarisch erklären konnte. Da haben wir zwei, drei Sätze reingeschrieben … dass wir an der Seite des tschechoslowakischen Volkes stünden, uns solidarisch erklärten. In der Botschaft gaben sie uns noch ein paar Lichtpausen mit vom Parteitag des KPCˇ, der in der DDR nur der »illegale Parteitag« genannt wurde. Diese Lichtpausen haben wir nicht mal gelesen. Wir dachten aber, wir müssten noch mehr machen, müssten auf die Straße, eine Protestkundgebung organisieren. Und haben uns dafür die sowjetische Botschaft Unter den Linden ausgesucht. Nach unserer Auffassung der beste und richtige Adressat für unsere Ansage. Wir schrieben auf kleine Zettelchen das Datum, die Uhrzeit, den Ort und worum es gehen soll und verteilten die in Jugendklubs, bei Jugendtanzveranstaltungen, wo immer wir uns gerade rumtrieben … Wir hofften, dass dort dann Tausende – lächerlich! – Leute stehen und protestieren würden. So kam’s natürlich nicht. Wir waren insgesamt vielleicht vierzig oder fünfzig Männekin, gut erkennbar an unseren Outfits. In Parker-Kutten, Römerlatschen, vielleicht noch mit ’nem kleinen tschechoslowakischen Fähnchen am Revers standen wir da in Dreiergrüppchen oder zu viert oder zu fünft.

Genauso wie wir standen auch noch andere in kleinen Grüppchen da, Leute in unserem Alter, jedenfalls nicht viel älter, aber statt mit Ami-Kutte waren die mit Popelin-Anorak und Handgelenktäschchen uniformiert. Ebenfalls sehr gut erkennbar. Bevor wir uns also, ich sag jetzt mal in Polizeideutsch: zusammenrotten konnten, kamen zwei Mannschaftswagen mit Uniformierten, vielleicht zehn, fünfzehn Leute auf jedem, die runtersprangen. Das hieß: Der Zugriff sollte stattfinden. Vielleicht auch nur eine Personenkontrolle? Was da genau vonstatten ging, bekam ich nicht mit, denn wir sind sofort abgehauen, sind einfach losgerannt. Pfeifer und ich liefen in Richtung Friedrichstraße, Alex und die hinter uns her. Aber nicht die in Uniform, sondern die in den Anoraks. Auf Höhe der Humboldt-Uni rannten wir beide dann rüber zur Hedwigskathedrale und dort durch einen schmalen Durchgang zur Französischen Straße. Und wie wir beide da laufen, hält doch zufällig ein Trabbi, und mein Vater fragt uns, wo wir hinwollen. Er kam aus seiner Redaktion, die sich wohl in der Mauerstraße, im alten Berliner Zeitungsviertel, befand. Wir beide sprangen in den Trabbi, antworteten ihm, wir wollten zur Mokka-Milch-Eisbar, und er fuhr sofort weiter.

Diese Begegnung gehört zu den großen Rätseln meines Lebens: Ob es nun der reine Zufall war, dass ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt und in dieser Not mein Vater da vorbeikam …? Ich habe es nie herausbekommen, hatte aber auch nie eine Idee, wie ein solcher Nichtzufall zusammengeschoben worden sein könnte. Also, unser Fahrziel hat ihm zwar nicht gepasst, er brachte uns aber trotzdem hin.

Unser Plan war, zu schauen, ob vielleicht noch der eine oder andere von unserem Demoversuch dorthin kommen würde. Das war dann auch der Fall, und so erfuhren wir, dass Flori und Fränki Havemann verhaftet worden waren. Die waren aber bei unserer Aktion gar nicht dabeigewesen, sondern schon vorher wegen eigener Aktivitäten verhaftet worden. Auch Thomas Brasch und Bettina Wegner. Nachdem wir diese Neuigkeiten ausgetauscht hatten, sind wir dann nach Hause gegangen. Eigentlich war diese Kiste gegessen. Dachten wir.

DAS – VORLÄUFIGE – ENDE VOM LIED

Unmittelbar vor diesem August, am Anfang der Sommerferien 1968, hatten Frank Pfeifer und ich beschlossen, zusammenzuziehen, also eine WG aufzumachen. Was damals nicht üblich war. Es hieß auch nicht WG, wir wollten uns einfach gemeinsam eine Bude nehmen. Was schon darauf hindeutet: Wir waren so ’ne Art best buddies. Wir hatten vier Tage Schule und zwei Tage Ausbildung, ich zum Betriebsschlosser im KWO, er zum Kaminbauer. Wir wollten zusammenziehn, um ein noch wilderes Leben zu führen und gemeinsam an einer großen Musikkarriere zu schrauben, und hatten uns dafür in Wendenschloss eine Einzimmerwohnung gesucht. Die kostete keine 25 Mark, war also bezahlbar für uns, zumal ich darauf spekulierte, dass ich in der 12. Klasse ja 70 Mark Lehrgeld pro Monat bekommen würde.

Als ich meinem Vater offenbarte, dass ich ausziehen wollte – ich war ja bereits achtzehn –, fragte er mich, wovon ich leben wollte. Worauf ich ihm sagte, dass ich auf Unterstützung vom Kindergeld hoffte und somit auf 150 bis 200 Mark kommen würde. So hatte ich jedenfalls gerechnet. Mein Vater war keineswegs begeistert, sondern sehr, sehr skeptisch. Er sagte: Wenn du das machst, dann – das prophezeie er mir – würde ich in einem halben Jahr von der Schule fliegen und vermutlich in einem Jahr im Knast sein. Mein Vater war eben ein kluger Mann. Er kannte, als studierter Ökonom, nicht nur seinen Staat, sondern auch seinen Sohn sehr gut. Dass ich das alles in sechs Wochen schaffen würde, damit allerdings hatte auch er nicht gerechnet.

Mein Vater war nicht unbedingt der Emotionsbolzen. Dafür war in der Familie meine Mutter zuständig – warmherzig, kulturinteressiert, ihre Sache waren die Dinge der Herzensbildung. Mein Vater war eher der Ideologe und Analytiker, heute würde man sagen: der Pragmatiker.

Aber zurück zur Mokka-Milch-Eisbar: Wir glaubten also, die Sache sei gegessen. Natürlich haben wir uns auch weiterhin fürchterlich aufgeregt über den Einmarsch und die Berichterstattung. Und dann, am 12. September – die Schule hatte schon wieder begonnen – passierte es …

Mein Freund Rainer Köchling war bei der Aktion vor der sowjetischen Botschaft zwar nicht dabeigewesen, wusste aber davon, weil ich es ihm erzählt hatte. Er wiederum hatte es seiner Mutter erzählt, nicht aus böser Absicht, einfach nur, weil er es interessant fand. War es ja auch. Sehr sogar. Seine Mutter, eine stramme Genossin, alleinerziehend mit zwei Kindern, hatte in der DDR damals kein so leichtes Leben, vor allem nicht unter den Genossen. Scheidungen unter SED-Mitgliedern waren zu jener Zeit noch ein Problem, ein hochmoralisches und überhaupt. Ein Problem in der Parteigruppe. Zehn Jahre später dann nicht mehr, aber 1968 schon noch. Vielleicht war das auch ein Grund dafür, dass die Genossin Köchling ein besonders wachsames Auge auf ihren Sohn warf. Jedenfalls behielt sie diese Erzählung ihres Sohnes nicht für sich. Es kam, wie es kommen musste.

Als mein Vater an diesem 12. September nach Hause kam, beorderte er mich sofort ins Arbeitszimmer und eröffnete mir, dass für mich eine Vorladung in die Keibelstraße – das Berliner Polizeipräsidium – vorläge, wegen »Klärung eines Sachverhalts«. Am Freitag, dem 13. September um 8 Uhr hatte ich mich einzufinden. Also am nächsten Morgen.

Mein Vater wusste inzwischen, worum es ging. Auch durch Köchlings Mutter. Wir haben nun die ganze Nacht diskutiert. Als er irgendwann zu dem Schluss kam, dass Diskussionen nicht halfen, mich von meiner Anschauung abzubringen, dass ich mich im Recht fühlte und dieses auch zu vertreten gedachte, versuchte er, mir wenigstens ein paar Verhaltensregeln mit auf den Weg zu geben. Er war ja ein erfahrener Staatsfeind und auch verhör- und knasterfahren. Allerdings in dem anderen System.

Ich bin also nicht in die Schule, sondern in die Keibelstraße gefahren und war auch pünktlich da. Dort begann die Prozedur der »Klärung eines Sachverhalts«, was allerdings recht schnell in eine Vernehmung umschlug. Anders gesagt: Es war ein Verhör.

Die wussten ganz genau Bescheid und hatten Fotos vorliegen, auf denen ich klar zu erkennen war. Ich habe auch dort meine Meinung vertreten, dass ich den Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen nicht richtig fände und dass es mein gutes Recht sei, ja sogar meine Pflicht, gerade als junger Sozialist, vor Fehlern zu warnen und zu mahnen. Das ging bis in die Nacht hinein, bis sie mich dort im Präsidium in eine kleine Zelle sperrten. Aber nicht länger als eine Stunde vielleicht, dann erschien der Haftrichter und las mir den Haftbefehl vor – und ich war verhaftet.

Ich wurde von dort aus mit einem geschlossenen Barkas, der speziell für solche Transporte hergerichtet war – da waren vier kleine Blechkabinen eingebaut, Zellen, in denen man nicht stehen, nur sitzen konnte –, an einen anderen Ort gebracht. Wir fuhren vielleicht zwanzig Minuten oder eine halbe Stunde. Natürlich wusste ich nicht, wo entlang und wohin. Ich konnte ja nicht rausgucken. Ich fand mich plötzlich in einem Gefängnis wieder. Bis zum Tag meiner Entlassung wusste ich nicht, wo ich eigentlich war.

Als wir da ankamen, musste ich raus aus dem Barkas, und das lief schon recht rüde ab. War eben Knast. Es ging dort grob zu und auch ziemlich militärisch. Erst einmal nackig machen, auch reingucken in den Neuankömmling, und ich bekam ’ne komische blau eingefärbte NVA-Uniform. Dann ging’s die Treppen hoch, einen Gang entlang. Es war ein Knast, wie man ihn in alten Schwarzweiß-Filmen sieht, so Gänge, an denen auf einer Seite die Zellentüren liegen, auf der anderen Seite ein Lichtschacht, der über mehrere Etagen geht. Die Wände zu den Zellen waren recht dick, vielleicht einen halben Meter, darin eingelassen schwere Eichentüren. Aus Kaiser Wilhelms Zeiten. Auch das, wie man es in diesen Filmen sieht: In der Mitte der Türen ein Guckloch und so ein Ding zum Aufschieben, wo man durchgucken, aber auch was durchreichen konnte, wenn es Essen gab.

In der Zelle fand ich ein Stück Seife, Zahnbürste und -pasta und ein Handtuch. Dann krachte die Tür hinter mir zu.

Es musste mittlerweile nach Mitternacht sein. Totenstille. Es dauerte dann auch keine drei Minuten und das Licht in der Zelle ging aus. Ich saß nun da drin und wusste nicht, wie mir geschehen war. Ich konnte überhaupt zum ersten Mal ein wenig zur Besinnung kommen. Ehrlich gesagt, ich hatte Schiss.

In der Zelle standen zwei Betten, Pritschen, die eine davon hochgeklappt. Auf der anderen lag eine einfache Matratze, ohne Federung. Es gab ungefähr in zwei Meter Höhe ein Fenster in der Größe eines Lichtschachtfensters für einen Keller. Das Glas war so ein Drahtglas, wie häufig auf’m Bau oder in Werkstätten. Das Fenster konnte man in der Mitte öffnen, wenn man auf’m Schemel stand und rankam, aber vor dem Fenster war eine Sichtblende angebaut, damit man nicht rausgucken konnte. Da kam also die Frischluft nur durch diese Lücke, und davor war dann noch ein Gitter.

Ich war nun also dort, es war stockdunkel, und ich habe mich dann wirklich hingelegt. Es ging noch ein paarmal dieser Türspion. Ich habe dann nachgedacht: Was ist hier eigentlich passiert? Von null auf eins im Gefängnis! Bin ich jetzt ein Verbrecher? Klärt sich hier noch irgendwas auf? Ist das eine Ordnungsmaßnahme? Sieht nicht so aus. Wissen meine Eltern Bescheid?