Top Secret 11 - Die Rache - Robert Muchamore - E-Book

Top Secret 11 - Die Rache E-Book

Robert Muchamore

0,0
8,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Top Secret: der Countdown zum atemraubenden Finale beginnt...

Cherub-Agent Dante Scott hat eine düstere Vergangenheit – die ihn prompt einholt, als er sich zusammen mit Lauren und James undercover in eine Motorrad-Gang einschleusen soll: ausgerechnet in jene Gang, deren brutaler Boss Dantes Familie ermordet hat! Seitdem sind zwar einige Jahre vergangen, doch die Zeit hat Dantes Wunden noch lange nicht geheilt. Und jetzt ist er bereit, alles dafür zu tun, um seine Familie zu rächen ...

Überzeugende, sympathische Charaktere und temporeiche Action: "Top Secret" ist brillante Action mit Tiefgang und aktuellen Themen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 504

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
cbt ist der Jugendbuchverlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe
Gesetzt nach den Regeln der Rechtschreibreform
© 2009 der Originalausgabe by Robert Muchamore
Die englische Originalausgabe erschien unter dem Titel »CHERUB: Brigands« bei Hodder Children′s Books, London. © 2012 der deutschsprachigen Ausgabe bei cbt/cbj, München in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München. Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten Übersetzung: Tanja Ohlsen Lektorat: Kerstin Weber Umschlagkonzeption: init.büro für gestaltung, Bielefeld KK · Herstellung: AnG Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-12004-7V003
www.cbt-jugendbuch.dewww.penguinrandomhouse.de

DER AUTOR

Robert Muchamore, Jahrgang 1972, lebt in London und arbeitet dort als Privatdetektiv. Er hasst das Landleben, bärtige Frauen, Ketchup und Mayonnaise, Schnulzfilme und Leute, die zehn Minuten lang an der Bushaltestelle warten und erst dann anfangen, nach Kleingeld zu kramen, wenn sie vor dem Busfahrer stehen. Er hat einen sehr schwarzen Humor und seine Lieblingsfernsehserie ist Jackass.

Inhaltsverzeichnis

DER AUTORTeil I
Kapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12
Teil II - Viereinhalb Jahre später
Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30Kapitel 31Kapitel 32Kapitel 33Kapitel 34Kapitel 35Kapitel 36Kapitel 37Kapitel 38Kapitel 39Kapitel 40Kapitel 41Kapitel 42
EpilogCopyright

Was ist CHERUB?

CHERUB ist Teil des britischen Geheimdienstes. Die Agenten sind zwischen zehn und siebzehn Jahre alt. Meist handelt es sich bei den CHERUB-Agenten um Waisen aus Kinderheimen, die für die Undercover-Arbeit ausgebildet wurden. Sie leben auf dem Campus von CHERUB, einer geheimen Einrichtung irgendwo auf dem Land in England.

Warum Kinder?

Kinder können sehr hilfreich sein. Niemand rechnet damit, dass Kinder Undercover-Einsätze durchführen, daher kommen sie mit vielem durch, was Erwachsenen nicht gelingt.

Wer sind die Kinder?

Auf dem CHERUB-Campus leben etwa dreihundert Kinder. Unser 16-jähriger Held heißt James Adams. Er ist ein angesehenes Mitglied von CHERUB und hat bereits mehrere Missionen erfolgreich abgeschlossen. Zu seinen engsten Freunden auf dem Campus gehören Bruce Norris und Shakeel Dajani.

James′ Schwester Lauren ist dreizehn und gilt bereits als eine der besten Agentinnen von CHERUB. Ihre besten Freunde sind Bethany Parker und Greg »Rat« Rathbone.

Das CHERUB-Personal

Die Größe des Geländes, die speziellen Trainingseinrichtungen und die Kombination aus Internat und Geheimdienststelle bringen es mit sich, dass CHERUB mehr Personal als Schüler hat. Dazu gehören Köche und Gärtner ebenso wie Lehrer, Ausbilder, Krankenschwestern, Psychiater und Einsatzspezialisten. CHERUB wird von der Vorsitzenden Zara Asker geleitet.

Die CHERUB-T-Shirts

Den Rang eines CHERUB-Agenten erkennt man an der Farbe des T-Shirts, das er oder sie auf dem Campus trägt. Orange tragen Besucher. Rot tragen Kinder, die auf dem Campus leben, aber zu jung sind, um schon als Agenten zu arbeiten. (Das Mindestalter ist zehn Jahre.) Blau ist die Farbe während ihrer hunderttägigen Grundausbildung. Ein graues T-Shirt heißt, dass man auf Missionen geschickt werden darf. Dunkelblau tragen diejenigen, die sich bei einem Einsatz besonders hervorgetan haben. Lauren und James haben ein schwarzes T-Shirt, die höchste Anerkennung für hervorragende Leistungen bei mehreren Einsätzen. Wenn man CHERUB verlässt, bekommt man ein weißes T-Shirt, wie es auch das Personal trägt.

Teil I

1

Der Motorradclub »The Bandits« war ein Club wie viele andere auch: HarteJungs auf schweren Maschinen, die Gewalt verbreiten und Bürger in Angst und Schrecken versetzen.

Die Bandits, 1966 von einem amerikanischen Kriminellen gegründet, waren nicht die größte Motorradgang und auch nicht die brutalste oder berühmteste, und so ging man allgemein davon aus, dass sie nach dem Tod ihres Gründers– der 1969 bei einer Schießerei im Gefängnis starb– untergehen würde. Doch anstatt sich aufzulösen oder von einem größeren Club »einverleibt zu werden«, wie es in der Bikersprache hieß, expandierten die Bandits sogar, wie es sich ihr Gründer– als er noch auf seiner Harley-Davidson auf den Freeways von Los Angeles herumkurvte– niemals hätte träumen lassen: 1985 zählten die Bandits über dreitausend vollwertige Mitglieder in siebzig Clubs in den Vereinigten Staaten und hundert weiteren in der ganzen Welt, abgesehen von ungefähr zehn Mal so vielen Verbündeten und Anhängern.

Doch nur ein vollwertiges Mitglied der Bandits durfte das gestickte Clubabzeichen in den Clubfarben tragen: einen Straßenräuber mit Cape, der eine abgesägte Schrotflinte schwingt.

Auszug aus der Bikerbiographie Unterwegs mit den Bandits

Von den insgesamt elf Clubs in England wurden die South-Devon-Bandits nur von den Londonern in Sachen Macht und Einfluss übertroffen. Zwar bestand das Clubhaus aus nichts als ein paar Scheunen auf einem sechs Hektar großen Gelände, das neben dem reichen Ort Salcombe lag, aber an einem klaren Tag konnte man über die Videokameras, die auf dem Stacheldrahtzaun installiert waren, die Millionärsyachten unten am Meer sehen.

Dante Scott war der acht Jahre alte Sohn von Scotty, dem Vizepräsidenten der Bandits in South Devon; ein selbstbewusster Bursche, der sich mit jedem anlegte, der ihn wegen seines strubbeligen roten Haars aufzog. Er liebte die Abende, die er zusammen mit seinem Vater in dem klapprigen Clubhaus verbrachte, zumeist mittwochs und freitags, wenn seine Mutter nach Plymouth zur Abendschule fuhr.

Die Biker spielten Poolbillard, tranken Alkohol, rauchten Hasch, fluchten und konnten es nicht leiden, wenn ihnen Kinder vor die Füße stolperten. Dantes Mutter hatte ihm verboten, draußen vor dem Clubhaus zu spielen, weil dort nie jemand aufräumte und daher Glassplitter und Metallteile herumlagen, doch er hatte sich noch nie verletzt, und seinem Vater war es sowieso egal, solange Dante nur beschäftigt war.

Dante setzte sich gerne hinter das Lenkrad eines kaputten Fords und tat so, als könne er Auto fahren, oder er baute eine Rampe aus alten Holzteilen und ließ leere Bierfässer den Hang hinunterrollen. Meistens waren auch noch andere Kinder da. Für Fußball war das Gelände zu abschüssig, also spielten sie Verstecken oder Fangen, am liebsten im Dunkeln mit Taschenlampen. Und das Beste war, wenn Teeth kam und ihnen Unterricht im Boxring gab.

Obwohl keiner der Bandits als Teddybär durchging, war Teeth der furchterregendste von allen: groß und muskelbepackt, mit scharfen Sporen an seinen Stiefeln und einer Fahrradkette, die seine dreckigen Jeans zusammenhielt und die er augenblicklich aus dem Bund reißen konnte, um damit jeden windelweich zu schlagen, der sich mit ihm anlegen wollte.

Die Namen der Biker strotzten zumeist vor Ironie: Little George war so groß wie ein Haus, Fatty so dünn wie eine Bohnenstange und Teeth hatte nur noch weiches Zahnfleisch und ein paar braune Backenzähne im Mund. Er verlor kein Wort darüber, wie er seine Zähne eingebüßt hatte, und als Dante ihn einmal danach fragte, antwortete er nur: Du hättest erst mal den anderen sehen sollen!

Teeth war Rausschmeißer in einem Nachtclub und nebenbei Drogendealer, doch am liebsten wäre er professioneller Wrestler geworden. Er war sogar schon ein paar Mal im Fernsehen aufgetreten, aber zu den Stars in den Wrestling-Magazinen, die sich in Dantes Zimmer stapelten, gehörte er nicht gerade.

In einem großen Raum in der Hauptscheune stand ein alter Boxring mit ausgefransten Seilen und unebenem Boden, und dort zeigte Teeth Dante und allen anderen Jungen, die es interessierte, wie man richtig boxt, wie man Karatetritte setzt und jemanden in den Schwitzkasten nimmt und noch viele andere Sachen, von denen Dante seiner Mutter lieber nichts erzählte – weil sein Dad sagte, dass sie dann ausrasten würde.

Jeden Mittwochabend fand das obligatorische Clubtreffen statt, auch Kirche genannt, und alle Mitglieder auf der ganzen Welt waren verpflichtet, daran teilzunehmen. Diese Kirchenabende mochte Dante am liebsten. Die Frauen und Freundinnen der sechzehn vollwertigen Clubmitglieder bereiteten das Essen zu und betranken sich an der Bar, während die Männer in einem kleinen Nebengebäude, der sogenannten Kapelle, ihr Treffen abhielten.

Neben Dante war auch Joe immer dabei. Er war der Sohn des Commanders, des Clubpräsidenten von South Devon. Dante und Joe besuchten zusammen die vierte Klasse und waren gute Freunde. An diesem besonderen Mittwoch hatten sich die beiden mit Chicken Wings, Cocktailwürstchen, Pommes Frites und Cola vollgestopft und sich dann eine kräftige Ohrfeige und die Androhung von noch weiteren eingefangen, weil sie ein älteres Mädchen namens Isobel bei den vor der Tür stehenden Motorrädern in eine Pfütze geschubst hatten.

Danach rülpsten die Jungen eine Weile lautstark, um Joes streberhaften elfjährigen Bruder davon abzuhalten, sich auf sein Buch zu konzentrieren, bevor sie ein wenig miteinander kämpften und sich gegenseitig um den Boxring herumjagten. Schließlich rannten sie völlig außer Atem zur Bar zurück, um sich mit Muffins und Fanta neue Energie zu holen.

Nach ein paar Boxrunden wurde es ihnen jedoch langweilig, und daher waren sie ganz zufrieden, als die Kirche endlich vorbei war und Teeth aus der Kapelle kam. Die meisten Bandits gesellten sich zu den Frauen und den Clubanhängern an der Bar, während Teeth am Poolbillard-Tisch und dem blinkenden Spielautomaten vorbeiging, den Kopf zwischen den Seilen um den Boxring hindurchsteckte und die beiden Achtjährigen abklatschte.

»Wie geht′s meinen beiden kleinen Champions?«, fragte Teeth mit breitem, zahnlosem Grinsen. Beim Sprechen rollten sich seine Lippen nach innen, weshalb er Schwierigkeiten mit dem S und dem T hatte, worüber sich allerdings niemand lustig zu machen wagte.

Beide Jungen hatten während ihres Spiels bereits mehrmals Bekanntschaft mit dem Boden des Boxringes gemacht und waren dreckig und staubig, ihre Gesichter hochrot und verschwitzt.

»Zeigst du uns was Neues?«, fragte Joe atemlos, setzte sich hin und ließ die Beine über den Rand des Ringes baumeln.

»Kickbox-Übungen«, sagte Teeth ernst.

Die beiden Jungen stöhnten.

»Aber das ist so laaangweilig«, beschwerte sich Dante. »Zeig uns lieber was Cooles, so wie diesen Geheimgriff, von dem du uns erzählt hast und mit dem du jemandem so auf den Hinterkopf geschlagen hast, dass ihm die Augen aus dem Kopf gefallen sind.«

»Dafür seid ihr zu jung«, erklärte Teeth fröhlich. »Raffinierte Tricks machen noch keinen guten Kämpfer aus.«

Er schlüpfte aus den Schuhen, sprang mit seinen löchrigen Socken in den Ring und zog sich einen riesigen Schaumstoffhandschuh über.

»Ich sag euch was: Ihr zeigt mir ein paar gute Schläge und Tritte, und dann zeige ich euch vielleicht, wie man jemandem die Schulter ausrenkt. Dante, du fängst an.«

In der nächsten Viertelstunde jagten ihn die beiden Jungen durch den Ring und traktierten den Sparringshandschuh so mit Tritten und Schlägen, dass Teeth ins Schwitzen kam. Schließlich gesellten sich ein paar ältere Mädchen zu ihnen, und Teeth zeigte ihnen einen geschickten Daumengriff, mit dem man jeden Jungen auf Abstand bringen konnte, der seine Pfoten an verbotenen Stellen hatte. Dante und Joe sahen an die Seile gelehnt zu.

»Wozu der Aufwand, Sandra?«, erkundigte sich Dante unschuldig. »Du bist doch so hässlich, dass dir sowieso kein Junge zu nahe kommt.«

Die dreizehnjährige Sandra hatte die Haare streng zurückgebunden und eine Stimme wie ein Nebelhorn.

»Trau dich her und sag das noch mal«, forderte sie ihn heraus. »Ich reiß dir deinen bescheuerten kleinen Kopf ab.«

»Meine Cousine glaubt, dass du schon mit der Hälfte der Jungs aus der zehnten geschlafen hast«, fügte Joe hinzu.

»Ach ja?«, höhnte Sandra und stemmte die Hände in die Hüften. »Die muss gerade reden, nach allem was sie angestellt hat mit …«

»He, he, he!«, unterbrach sie Teeth. »Spielt ordentlich! Wenn ihr anfangt zu kreischen und zu heulen, gehe ich wieder an die Bar und besaufe mich.«

Dante warf Sandra eine freche Kusshand zu und Joe hob den Sparringshandschuh auf.

»Wollen wir noch ein wenig Sparring machen?«, fragte er Dante.

»Zu k. o.«, keuchte dieser mit Blick auf die Uhr an der Wand hinter dem Ring. »Lass uns was trinken.«

Gerade als die Jungen aus dem Ring sprangen, betraten ihre Väter – der Commander und Scotty – den Raum. Nach Ende der Kirche hatten die beiden noch über eine Stunde im Clubbüro zusammengesessen.

Scotty war vierunddreißig, groß und grobschlächtig, mit kantigem Kinn und dem gleichen strubbeligen roten Haar wie sein Sohn. Der Commander war zwanzig Jahre älter, klein und gedrungen, mit einem albernen Hitlerbärtchen und Armen voller Tätowierungen. Beim Anblick seines Kahlkopfs und des dicken Bauchs musste Dante immer unwillkürlich an einen Kegel denken.

»Ist Martin hier?«, schrie der Commander so wütend, dass die Adern an seinem Hals hervortraten. Dann wandte er sich an Teeth. »Hat mein Martin mit dir gesprochen?«

Teeth schüttelte den Kopf. Dante wunderte sich, denn Martin war der Letzte, der in einen Boxring steigen würde.

»Ich habe ihm gesagt, er soll mit dir reden«, erklärte der Commander und stampfte dann ins Nebenzimmer.

Joe grinste Dante an und flüsterte erfreut: »Mein Streberbruder kriegt einen Tritt!«

Noch bevor er das näher erläutern konnte, kam der Commander zurück und schleifte den elfjährigen Martin am Kragen seines weißen Schulhemdes hinter sich her.

»Was hab ich dir gesagt, du Rotznase?«, brüllte der Commander. Sandra und die anderen Mädchen wichen zurück, als Martin gegen die Wand gestoßen wurde.

»Ich soll mit Teeth reden«, erwiderte Martin verlegen. »Hab ich vergessen.«

»Und was hast du stattdessen getan?«, schrie der Commander und riss seinem Sohn das Buch aus der Hand. »Harry Potter!«, schnaubte er. »Die ganze Nacht lang liest du Bücher über irgendwelche Drachen, und morgen gehst du wieder in die Schule und lässt dich verprügeln. Was ist bloß los mit dir?«

»Blödsinn«, rief Martin trotzig. »Mit Prügeln löst man keine Probleme!«

Ein scharfes Klatschen erklang, und Martin hatte eine Ohrfeige im Gesicht. Dann wandte sich der Commander an Teeth und Scotty. »Gestern hab ich den kleinen Sack hier in der Küche erwischt, wie er sich bei seiner Mama ausgeheult hat. Er sagt, dass ihn die Kinder in der Schule hänseln. Könnt ihr euch das vorstellen? Mein Sohn als Prügelknabe der Schule? Also hab ich ihn heute Abend hierhergeschickt, damit ihm Teeth ein paar Dinge beibringt. Und was macht er stattdessen?«

Joe freute sich ganz offensichtlich, dass sein großer Bruder Prügel einsteckte, und konnte nicht widerstehen, seinen Senf dazuzugeben. »Er kann nichts dafür, Dad! Er ist einfach der geborene Loser!«

Teeth zeigte sich da schon etwas mitfühlender. »Das ist gar nicht so schwer, Martin. Nach vier oder fünf Lektionen weißt du Bescheid, wie du dich verteidigen kannst. Ich treffe mich gerne mit dir ein paar Nachmittage nach der Schule und helfe dir.«

»Ich will aber nicht lernen, wie man kämpft«, widersprach Martin zornig. »Ich regle das auf meine Art!«

»Und was ist deine Art?«, wollte der Commander wissen. »Dich bei Mami auszuheulen? Oder die gemeinen Hunde mit einer Tüte Bonbons zu bestechen?«

»Ich bin Pazifist«, erklärte Martin und sah seinen Vater finster an. »Ich bin nicht wie du, Dad. Ich will nicht zur Eisenstange greifen und jemandem den Rücken brechen wie du bei dem Kerl, der jetzt im Rollstuhl sitzt.«

Der Commander packte Martin und stieß ihn erneut gegen die Wand.

»Wenn du nicht in diesen Ring steigst, bist du derjenige, der hier im Rollstuhl sitzt! Und wenn ich dich das nächste Mal beim Lesen erwische, stecke ich dir das verdammte Buch in den Hintern!«

Martin wurde vom Boden hochgerissen und einfach in den Ring geworfen. Er stöhnte auf, als er mit der Hüfte aufschlug. Mittlerweile hatten die Leute den Lärm bemerkt und kamen aus der Bar angelaufen, um zu sehen, worüber sich der Commander so aufregte.

»Ein Schritt aus dem Ring, und ich brech dir deinen dürren Hals!«, warnte der Commander.

Martin hielt sich die schmerzende Hüfte und stolperte zur anderen Seite des Ringes, aber er versuchte gar nicht erst, zu flüchten. Stattdessen packte er den Kragen von Teeths Bandits-Clubjacke, die über dem Eckpfosten hing, und spuckte auf das Abzeichen.

Dante klappte der Unterkiefer herunter. Das Abzeichen. Das Heiligtum eines jeden Bikers. Man musste in einer überfüllten Bar nur aus Versehen daran stoßen, und schon wurde man verprügelt. Hätte ein Erwachsener auf Teeths Abzeichen gespuckt, wäre er wahrscheinlich nicht mehr lebend davongekommen.

»Das ist genau das, was ich von dir und deinem dämlichen Motorradclub halte!«, schrie Martin zornig, spuckte erneut und zeigte seinem Vater den Mittelfinger.

»Du kleiner Scheißkerl!«, knurrte der Commander, packte das oberste Seil und wollte in den Ring steigen.

»Oh ja, du großer mutiger Mann!«, höhnte Martin. »Komm und zeig deinen ganzen Kumpels, wie du deinen elfjährigen Sohn verprügelst!«

Joe mochte seinen Bruder nicht besonders, aber er wollte auch nicht zusehen müssen, wie er starb.

»Martin!«, flehte er. »Halt deine blöde Klappe! Dad bringt dich um!«

»Ach, verpiss dich doch!«, schrie Martin zurück. »Du machst doch auch nur alles nach, was Dad macht!«

Inzwischen hatten sich noch mehr Leute aus der Bar um den Ring versammelt. Als sich herumsprach, dass Martin auf Teeths Abzeichen gespuckt hatte, machte sich Unmut breit.

Teeth wollte nicht, dass der extrem jähzornige Commander Martin etwas antat, was er später bereuen würde. Also packte er seinen Präsidenten um die Taille und zog ihn von den Seilen herunter. Obwohl er doppelt so groß war wie der Commander, musste er sich ziemlich anstrengen, um ihn festzuhalten. Scotty und ein weiterer Biker kamen ihm zu Hilfe.

»Er ist nur ein Junge, der sich aufspielt«, sagte Scotty. »Beruhige dich. Ich weiß doch, dass du ihm nicht wirklich etwas antun willst.«

»Das ist nicht mein Sohn!«, kreischte der Commander, deutete auf Martin und drohte: »Wenn ich dich in die Finger kriege, breche ich dir jeden einzelnen Knochen im Leib!«

Teeth war auch nicht gerade erfreut darüber, dass sein Abzeichen beschmutzt worden war. Martin hatte seiner Meinung nach eine Abreibung verdient – aber nicht, von einem Erwachsenen in Grund und Boden gestampft zu werden.

»Das ist mein Abzeichen, und ich muss es verteidigen«, erklärte er, als sich der Commander endlich so weit beruhigt hatte, dass ihn die drei Biker loslassen konnten. »Aber ich werde mich nicht mit einem kleinen Kind prügeln und du auch nicht.«

»Damit lasse ich ihn nicht durchkommen!«, antwortete der Commander. »Er ist schließlich alt genug, um zu wissen, was das Abzeichen für uns bedeutet!«

»Jemand von seiner Größe …«, überlegte Teeth, und dann fiel sein Blick auf Dante. »He, Dante, willst du die Ehre des Clubs verteidigen?«

Dante, der sich mit Joe in eine Ecke des Raumes zurückgezogen hatte, stellte überrascht fest, dass ihn plötzlich alle anstarrten.

»Hä?«, stieß er hervor.

Teeth beugte sich zu Dante herunter und flüsterte ihm zu: »Martin ist zwar einen Kopf größer als du, aber nur Haut und Knochen. Den schaffst du locker. Willst du in den Ring steigen und für die Ehre meines Bandits-Abzeichens kämpfen?«

Dante wusste nicht recht, was er sagen sollte. Teeth war einer der Erwachsenen, die er am liebsten mochte, und normalerweise hätte er alles für ihn getan. Aber es war nicht gerade normal, dass ein Erwachsener einen Jungen darum bat, in den Ring zu steigen, um einen anderen Jungen zu verprügeln.

Scotty ging neben seinem Sohn in die Hocke.

»Wir müssen etwas unternehmen, um den Commander zufriedenzustellen«, erklärte er im Flüsterton. »Du kennst seine Launen. Wenn wir zulassen, dass er Martin selbst in die Mangel nimmt, wird der Junge höchstwahrscheinlich mit gebrochenem Schädel im Krankenhaus enden.«

Dante sah Teeth abschätzend an.

»Soll ich es ihm leicht machen?«

Teeth schüttelte den Kopf.

»Der kleine Mistkerl hat gerade auf mein Abzeichen gespuckt. Er verdient Schmerzen. Ich will nur nicht, dass der Commander ihn umbringt.«

Dante betrachtete die beiden Männer neben ihm, die er am meisten auf der Welt bewunderte.

»Okay, ich kämpfe.«

Martin wirkte jetzt zunehmend ängstlicher. Er stand immer noch auf der anderen Seite des Rings und hatte mit angesehen, wie sein Dad weggezerrt worden war, hatte aber keine Ahnung, was stattdessen auf ihn zukam – bis Teeth nun die Glocke am Ring läutete. Mittlerweile waren fast vierzig Leute im Raum.

»Ladys und Gentlemen!«, verkündete Teeth. »Nachdem mein geliebtes Bandits-Abzeichen durch diesen mickrigen kleinen Kerl dort entweiht wurde, freue ich mich, verkünden zu können, dass wir einen kühlen Kopf bewahrt haben. Die Ehre der Bandits wird von jemandem in Martins eigener Gewichtsklasse verteidigt werden, und zwar von Dante Scott!«

Die meisten Leute waren betrunken und jubelten laut, als Teeth Dante in den Ring hob und sein Dad seinen Namen rief und zu Sprechchören aufforderte. Auf einmal erschien Dante der Ring riesig, und er fühlte sich furchtbar einsam.

»Bring den Streber um, Dante!«, schrie Sandra. »Schlag ihm den Schädel ein!«

»Nimm die Fäuste hoch, Martin«, verlangte Joe. »Sei nicht so ein Feigling!«

Alle brüllten irgendetwas, bis auf den armen Martin, der auf der anderen Seite des Rings stand und die Schultern hängen ließ. In Dantes Kopf überschlugen sich die Gedanken und dann fielen ihm zwei Dinge gleichzeitig ein. Erstens trug er keine Handschuhe, keinen Mundschutz oder irgendwelche andere Schutzkleidung, und niemand hatte irgendetwas von Regeln gesagt. Und zweitens war es in der Schule so, dass sich die Kinder nach einer Prügelei gegenseitig die Hände reichen mussten, und die Lehrer sie in der nächsten Stunde nebeneinander sitzen ließen.

Dante hatte das Gefühl, in zwei Welten zu leben. Da war zum einen die Welt seiner Lehrer und seiner Mutter, in der man nicht fluchen durfte und immer nett zueinander sein sollte. Zum anderen war da die Welt der Bandits, die Drogen verkauften, Verräter erstachen, sich betranken, Autos stahlen und es völlig in Ordnung fanden, einen Jungen in einen Boxring zu stellen und ihm zu sagen, er solle einen anderen Jungen windelweich prügeln, weil dieser auf eine Jacke gespuckt hatte.

»Keine Hinhaltetaktik, Dante!«, rief der Commander. »Wisch mit dem kleinen Stinker den Boden auf!«

Dante trat von den Seilen weg und sah, wie Martin in die entgegengesetzte Ecke des Rings zurückwich. In die Ecke gedrängt zu werden, ist für einen Boxer das Schlimmste, was es gibt, aber Martin hatte noch nie im Leben geboxt und verschränkte nur abwehrend die Arme vor dem Gesicht.

Dante schoss vor und schlug zu. Überrascht stellte er fest, wie schnell Martin auswich und dachte – hoffte – schon, dass der Kampf vielleicht ausgeglichener sein würde, als alle annahmen. Er ließ einen Karatetritt folgen und traf Martin mit seinem Turnschuh mitten in den ungeschützten Bauch.

Die Menge johlte auf, als Martin zur Seite taumelte. Von den Anfeuerungsrufen bestärkt, schlug Dante weiter auf den älteren Jungen ein, als dieser gegen die Seile fiel und ihm von dort entgegenkippte. Er traf ins Gesicht, in den Magen und dann, mit einem besonders befriedigenden Schlag, die weiche Spitze von Martins Nase.

Blut spritzte über Dantes Arm und über sein T-Shirt, während Martins Beine nachgaben. Dante erschrak angesichts der Menge an Blut, doch der Jubel gab ihm das Gefühl, der König der Welt zu sein. Das Publikum spielte verrückt, und Dante fühlte sich groß und schrecklich zugleich. Ganz vorne in der Menge hüpfte Sandra auf und ab und kreischte: »Kill ihn! Kill ihn! Schlag ihm den Schädel ein!«

Martin schluchzte und machte keinerlei Anstalten, aufzustehen, obwohl ihn ein paar wenig mitfühlende Seelen aufforderten, ein Mann zu sein und wieder hochzukommen.

Teeth hielt symbolisch seine Bandits-Jacke hoch und läutete die Glocke am Ring.

»Die Ehre ist wiederhergestellt!«, rief er und sah dann den Commander an. »Bist du damit zufrieden, Boss?«

Es wurde still im Raum, während der Commander sich seine Antwort überlegte.

»Der Junge hat bekommen, was er verdient hat«, nickte er schließlich. »Ich bin zufrieden.«

Teeth stieg, ganz offensichtlich erleichtert, in den Ring.

»Holt mir bitte mal jemand etwas Eis für Martins Nase?«

Als Dante aus dem Ring kletterte, fand er sich plötzlich vor dem Commander wieder.

»Was für eine nette kleine Bulldogge«, strahlte dieser, umarmte Dante kurz und steckte ihm einen Zehn-Pfund-Schein zu. »Willst du auch mal das Bandits-Abzeichen tragen?«

»Klar«, antwortete Dante, während sich die anderen Bandits mit Sprüchen wie »Du hast die Ehre des Clubs gerettet« um ihn versammelten und ihm die Hand schüttelten.

Hinter ihm im Ring hatte Teeth gerade Martin dazu gebracht, sich aufzusetzen. Blut lief ihm aus der Nase und tropfte auf die Holzbretter. Teeth hielt ihm ein Taschentuch an die aufgeplatzte Lippe und Martin bedankte sich immer und immer wieder bei ihm, denn er wusste nur zu gut, dass es noch viel schlimmer hätte kommen können, mit seinem Vater als Gegner.

Während Dante in Richtung der leeren Bar ging, betrachtete er das Blut auf seinem Arm, das langsam trocknete.

»Du warst einsame Spitze!«, rief Joe begeistert und rannte seinem Freund hinterher. »Wie du meinem Bruder die Nase eingeschlagen hast! Oh, Mann, wenn ich nur an deiner Stelle hätte sein können!«

Dante antwortete nicht und ging einfach weiter.

»Alles okay?«, erkundigte sich Joe unsicher. »Er hat dich doch nicht getroffen, oder? Und du hast einen Zehner von meinem Vater gekriegt!«

»Halt einfach die Klappe!«, befahl Dante. Er war völlig durcheinander und versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen. Wäre Joe nicht neben ihm gewesen, hätte er am liebsten geheult.

2

Als sie den Club verließen, war es bereits elf. Dante schnallte seinen Helm fest und umklammerte die Taille seines Vaters, als dieser den Zweizylinder-Motor anließ. Manche Bandits fuhren wunderschöne Motorräder mit Sonderlackierung und teuren Chromteilen. Scotty jedoch zog eines vor, das man nur als Schrottbike bezeichnen konnte.

Seine zwanzig Jahre alte Harley-Davidson Softail hatte fast 290 000 Kilometer auf dem Buckel und jede Menge Roststreifen in dem mattgrauen Lack. Das Sitzleder war so gesprungen, dass man die Federn sehen konnte, und nur Scottys Liebe hielt die Maschine noch am Leben, obwohl es schon längst billiger gewesen wäre, eine neue zu kaufen.

Familie Scott lebte fünfzehn Minuten vom Clubhaus entfernt in einer ländlichen Gegend. Dante liebte es, auf dem Motorrad seines Vaters zu sitzen, besonders nach der Schule, wenn er sich eine coole Lederjacke anziehen und seinen Helm aufsetzen konnte, während seine Schulkameraden in einen Kleinbus stiegen. Aber jetzt hatte er seine Schlafenszeit bereits um zwei Stunden überschritten, die Straßen waren menschenleer, und den ganzen Heimweg über befürchtete Dante, dass er einschlafen und vom Bike fallen könnte.

Um seine drei anderen Kinder nicht zu wecken, stellte Scott den Motor aus und fuhr die Auffahrt zum Haus im Leerlauf entlang. Das Haus erhielt ganz offensichtlich weniger Liebe und Zuwendung als seine Harley. Die Auffahrt war ziemlich zugewuchert und das Küchenfenster, durch das ein wenig Licht fiel, war mit Holzbrettern vernagelt, nachdem Dantes Bruder Jordan vor einigen Monaten einen Kricketball durch die Scheibe gepfeffert hatte.

In einem Carport neben einem Haufen Kinderfahrrädern hielt Scotty schließlich an. Gähnend stieg Dante vom Motorrad und setzte den Helm ab.

»In der Küche ist noch Licht«, stellte Scotty fest. »Deine Mutter liegt wahrscheinlich auf der Lauer. Erzähl ihr bloß nichts von dem Kampf!«

Dante zog eine Augenbraue hoch, während er seine Jacke öffnete.

»Ich weiß, Dad. Ich bin ja nicht blöd.«

»Oh!«, stieß Scotty hervor, als er das getrocknete Blut auf Dantes T-Shirt sah. »Zieh das aus!«

»Es ist eiskalt!«, beschwerte sich Dante.

»Beeil dich, bevor sie rauskommt und nachsieht, was wir hier so lange machen!«, drängte Scotty ihn und steckte den Hausschlüssel ins Schloss. Dante zog sich schnell das T-Shirt über den Kopf, und da er nichts hatte, worin er es hätte verstecken können, warf er es einfach hinter einen Busch, während sein Vater bereits das Haus betrat.

Dantes Mum Carol stand in der Küchentür. Sie trug einen rosa Morgenmantel und Pantoffeln, und doch war sie unverkennbar eine Bikerbraut, wie die Schlangentätowierung zeigte, die sich von ihrem Knöchel bis unters Knie erstreckte.

»Mach mir jetzt bloß keine Szene«, bat Scotty und sah seine Frau flehend an, während Dante die Tür hinter sich schloss.

Carol war wütend, sprach aber dennoch leise, um die elf Monate alte Holly nicht zu wecken, die im Elternschlafzimmer am oberen Ende der Treppe schlief.

»Szene?«, zischte sie. »Du hast vielleicht Nerven! Dante ist acht Jahre alt, und er hat morgen Schule! Weißt du, was es mich morgen kosten wird, ihn aus dem Bett zu kriegen?«

»Tut mir leid«, erwiderte Scotty leise. »Ich hab mit dem Commander unser Bauvorhaben besprochen und das hat sich einfach ewig hingezogen.«

Dante setzte einen Fuß auf die Treppe.

»Aufs Klo und Zähne putzen!«, befahl Carol ihm. »Und dann ab ins Bett, aber leise! Die anderen schlafen oben schon längst!«

»Kann ich ein Glas Wasser bekommen?«, fragte Dante.

»Ich bringe es dir rauf«, erklärte Carol. »Und wo ist dein T-Shirt?«

Als Dante keine Ausrede einfiel, sprang sein Vater für ihn ein: »Er hat mit Joe herumgetobt und es ausgezogen, weil ihm heiß war. Wir haben es dann zwar gesucht, aber nicht mehr gefunden. Ich muss morgen früh sowieso noch mal hinfahren und am Bike arbeiten, dann sehe ich bei Tageslicht noch mal genauer nach.«

Carol wedelte Dante mit einem pinkfarbenen Fingernagel vor der Nase herum.

»Ich habe es satt, dass du ständig Sachen verlierst, Dante. Wenn das T-Shirt nicht wieder auftaucht, geht dein Geburtstagsgeld dafür drauf.«

Normalerweise hätte Dante protestiert, aber er war so müde, dass er kaum noch stehen konnte.

»Verdammt noch mal, Scotty«, schalt Carol, als Dante sich die Treppe hinaufschleppte. »Ich bitte dich nur um zwei Abende in der Woche und du bringst ihn nicht mal zu einer vernünftigen Uhrzeit zurück!«

Das kleine Badezimmer der Scotts war schmutzig und voller dreckiger Kleidung und feuchter Handtücher, die zwischen Pfützen auf dem Boden herumlagen. Neben der schlammverkrusteten Rugby-Ausrüstung seines Bruders lagerte dort auch ein Haufen von Deodorants und Cremes seiner sechzehnjährigen Schwester Lizzie.

Nachdem er kurz auf der Toilette gewesen war und sich etwa zwanzig Sekunden lang die Zähne geputzt hatte, lief Dante den engen Gang entlang und öffnete leise die Tür zu dem Zimmer, das er sich mit Jordan teilte. Der Dreizehnjährige schnarchte. Ein Fuß hing über der Bettkante, die Decke hatte er sich über den Kopf gezogen.

Jordan war launisch und würde Dante sicherlich einen Knuff verpassen, wenn dieser ihn störte. Also schlich Dante sich so leise wie möglich zu seinem Bett, zog Trainingshose, Unterhose und Schuhe auf einmal aus und streifte eine Pyjamahose über, bevor er sich das Kissen aufschüttelte und unter die Bettdecke kroch.

Als er aufwachte, lag er auf dem Rücken und hatte Jordans Unterhose vor der Nase. Sein Bruder lehnte sich gerade über Dantes Bett, zog die Vorhänge zurück und spähte aus dem Fenster.

»Was machst du denn da?«, beschwerte sich Dante schläfrig. »Nimm gefälligst deine blöden Eier aus meinem Gesicht!«

»Kennst du dieses Auto?«, fragte Jordan ernst.

Dante drückte auf den Knopf seiner Projektor-Uhr. 02:07 leuchtete es rot an der Decke auf. Er schob sich unter Jordan hinweg ans Fenster und hörte Männerstimmen. Wütende Männerstimmen. Sein Herz schlug schneller.

»Vielleicht ist es die Polizei?«, vermutete Dante nervös, als er sich neben Jordan aufs Fensterbrett stützte und auf die Auffahrt hinunterblickte.

Hier draußen auf dem Land gab es keine Straßenlaternen, und so war es nachts meist stockdunkel. Aber jetzt mussten Küche und Wohnzimmer hell erleuchtet sein, da durch die Läden und Bretter vor den Fenstern genügend Licht fiel, um die Umrisse eines Ford Mondeo und einer Harley Sportster, einer Sonderanfertigung, zu erkennen.

»Das ist das Motorrad vom Commander«, erklärte Dante.

Jordan schüttelte den Kopf.

»Der fährt zwar eine Sportster, aber nicht die da.«

Dante war stolz, mehr zu wissen als sein großer Bruder.

»Doch. Erinnerst du dich an das Barcelona-Rennen im letzten Sommer? Da hat er die genommen, als er die Orangefarbene nicht zum Laufen bekommen hat.«

»Stimmt«, gab Jordan zu. »Und den Mondeo habe ich auch schon am Clubhaus gesehen.«

Während die beiden Jungen hinaussahen, drangen undeutliche Worte durch die Dielenbretter zu ihnen.

»Ich schleiche mich runter und lausche«, sagte Dante und sprang aus dem Bett.

Jordan packte ihn am Arm.

»Bloß nicht! Dad kriegt die Krise, wenn er dich erwischt!«

»Ich bin ganz unauffällig«, behauptete Dante selbstbewusst und wies auf das Regal neben seinem Bett mit der Uhr und einer Packung Taschentücher. »Mum hat mir mein Wasser nicht gebracht, also kann ich einfach behaupten, ich hätte Durst.«

Jordan ließ ihn los. Er liebte zwar seinen kleinen Bruder, aber er war auch neugierig, und schließlich war es nicht seine Sache, wenn Dante angeschrien wurde.

»Aber pass auf«, mahnte er. »Bleib nicht zu lange da unten!«

Im Gang und im Bad brannte Licht. Dante schlich sich in Pyjamahosen und Socken die Treppe hinunter. Unten angekommen stellte er fest, dass die Stimmen seinem Vater, dem Commander und einem großen, langhaarigen Bandit gehörten, den alle nur Felicity nannten, weil er angeblich einer Schauspielerin aus der alten Sitcom »The Good Life« ähnlich sah.

Sie stritten sich über den Umbau des Clubhauses. Mit seinen acht Jahren verstand Dante nicht genau, worum es ging, wusste aber, dass das Grundstück, auf dem das Clubhaus der Bandits stand, eine Menge Geld wert war. Einige Mitglieder, darunter der Commander, wollten die Scheunen abreißen und Läden, Restaurants und Wohnblocks bauen lassen. Doch eine kleinere Gruppe, angeführt von seinem Vater, wollte es lieber so behalten, wie es jetzt war, und nicht verkaufen.

Es war zu riskant, am Fußende der Treppe stehen zu bleiben, wo er vom Bogendurchgang zum Wohnzimmer aus gesehen werden konnte, also ging Dante in die Küche. Leise schob er den Toaster beiseite und lehnte sich über die Arbeitsfläche der Küchenzeile, um durch den Spalt in der Durchreiche sehen zu können.

Sein Vater saß an dem kleinen Esstisch im Wohnzimmer – sie hatten kein eigenes Esszimmer –, sein Hinterkopf nur einen knappen halben Meter von Dantes neugieriger Nase entfernt. Felicity saß ihm gegenüber, während der Commander aufgestanden war und Dantes Wrestlemania-Kugelschreiber zwischen Daumen und Zeigefinger hielt.

»Unterschreib einfach«, verlangte der Commander, und zum ersten Mal, seit Dante wach war, war sein Tonfall etwas ruhiger. »Du bist der Einzige, der die ganze Sache verhindert, Scotty.«

»Unsinn«, widersprach Scotty und Dante sah, wie er den Kopf schüttelte. »Bei der Abstimmung stand es neun zu vier bei zwei Enthaltungen.«

»Diese Jungs stehen hinter dir«, erklärte der Commander. »Wenn du deine Meinung änderst, tun sie es auch. Und die Abstimmung ist sowieso nicht relevant. Wir brauchen deine Unterschrift. Präsident, Vizepräsident und Clubsekretär müssen das Geschäft genehmigen.«

Der Commander ließ sich jetzt aufs Sofa fallen und fuhr wieder etwas lauter fort: »Weißt du, wie viele Leute ich für die Baugenehmigung auf diesem Grundstück schmieren musste, Scotty? Der halbe Stadtrat hat seine Häuser umsonst renovieren dürfen, und die Frau des Bürgermeisters trägt eine hochkarätige Uhr. Und das alles aus der Kasse meiner eigenen Baugesellschaft, nicht auf Kosten des Clubs.«

»Dir geht′s nur ums Geld«, meinte Scotty achselzuckend. »Aber was passiert mit dem Club? Wir geben eine dreißigjährige Tradition auf und sind ganze drei Jahre ohne Clubhaus. Da werden uns die Mitglieder davonlaufen, und unser Club in South Devon geht ein.«

Der Commander bedachte Scotty mit einem ebensolchen Dummer-Junge-Blick, wie Dante ihn aus der Vorschule von seinem Lehrer kannte, wenn er sich Leim auf den Schoß gekleckert hatte.

»Wir mieten uns einen Gemeindesaal oder eine Schulsporthalle«, erklärte er. »Und wenn das Projekt fertig ist, dann hat South Devon das beste Bandits-Clubhaus des Landes, wahrscheinlich sogar der ganzen Welt!«

»Diese Scheunen haben eine Seele«, widersprach Scotty. »Natürlich wäre was Neues ziemlich schick, aber Geschichte und Tradition kann man nicht kaufen.«

»Scotty, Jungs wie ich und Big Ted brauchen das Geld«, unterbrach ihn Felicity. »Wir sprechen hier von zweihunderttausend für jedes vollwertige Clubmitglied.«

»Und zwar garantiert, von Badger Properties«, fügte der Commander hinzu. »Sieh dich doch um, Scotty! Du wohnst in einem Dreckloch! Mit der Kohle könntest du die Hypotheken bezahlen, das Haus in Ordnung bringen, dir ein vernünftiges Bike kaufen und hättest immer noch genügend übrig, um mit den Kindern nach Disneyland oder sonst wohin zu fahren.«

Bis jetzt hatte Dante nur Ohren für die Argumente seines Vaters gehabt: dass die Pläne des Commanders das Clubgelände zu einer Touristenfalle machen würden und dass die Clubmitglieder mit ihrem Geld auf Nimmerwiedersehen verschwinden würden. Aber sobald Dante das Wort Disneyland hörte, wechselte er die Seiten und wollte, dass sein Dad auf der Stelle den Stift nahm und unterschrieb.

Doch Scotty stand auf und sah auf die Uhr.

»Es ist nach zwei Uhr morgens«, gähnte er. »Wir haben das jetzt schon sechs, zehn oder sogar zwanzig Mal durchgesprochen. Jeder weiß, wo ich stehe, und jetzt gehe ich ins Bett.«

Dante verzog das Gesicht, als sich die Flugzeugreise zu Mickey Mouse und Co. in Schall und Rauch auflöste. Im nächsten Moment zuckte er zusammen und rutschte schleunigst von der Arbeitsfläche, als er die Hand seiner Mutter auf seiner Schulter spürte.

»Du neugieriges Blag«, sagte sie zornig und zog ihren Sohn zum Kühlschrank. »Du solltest doch schlafen! Wenn du morgen früh anfängst zu jammern, weil du aufstehen und in die Schule gehen sollst, dann wird es dir verdammt leid tun!«

Dante sah seine Mutter forschend an. Manchmal wurde sie so böse, dass man besser sofort tat, was sie sagte, doch jetzt sah sie nicht ganz so böse aus, daher entschloss er sich, einen auf Mitleid zu machen.

»Ich bin nur runtergekommen, weil du vergessen hast, mir ein Glas Wasser zu bringen!«

Seine Mutter nahm ein Glas aus einem Schrank, knallte die Schranktür wieder zu und füllte es mit kaltem Wasser.

»Da«, sagte sie und reichte es ihm. »Und jetzt verschwinde!«

Dante war gerade im Flur, als im Wohnzimmer die Hölle losbrach. Sein Dad brüllte, dann krachte der Tisch um und der Commander brüllte zurück.

»Ich habe viel Geld und Arbeit in die Sache gesteckt, Scotty. Ich werde dieses Haus nicht verlassen, bevor diese Papiere unterschrieben sind!«

»Meinst du etwa, du kannst mich dazu zwingen?«, schrie Scotty. »Da kennst du mich aber schlecht! Verschwinde aus meinem Haus, du Scheißkerl!«

Unter Scottys Weste schwollen seine Muskeln an und er sah aus, als könnte er den Commander mit einem einzigen Niesen in Stücke reißen. Dante war mächtig stolz auf seinen Dad. Doch dann zog Felicity plötzlich eine Pistole aus seiner Lederweste.

»Setz dich wieder hin und unterschreib!«, befahl der Commander.

»Du glaubst, du kannst das mit Gewalt durchziehen?« , brüllte Scotty ungläubig. »Nach all den Jahren? Da tötest du mich besser gleich, denn ich werde das zur Abstimmung bringen und dann bist du raus aus dem Club!«

Der Commander lächelte. »Die Buchhalter haben einige Unregelmäßigkeiten in den Büchern des letzten Jahres gefunden, als du Clubsekretär warst. Ich habe es bereits mit dem Londoner Club und dem Landespräsidenten besprochen. Bislang haben sie die Angelegenheit mir überlassen, aber du stehst kurz vor einem Disziplinarverfahren und wirst unehrenhaft aus dem Club entlassen werden.«

»Totaler Blödsinn!«, fuhr Scotty auf. »Wie viel hast du ihnen dafür bezahlt?«

»Genug«, grinste der Commander. »Das ist alles, was du wissen musst.«

Von seiner Position aus hatte Dante den besten Blick auf das Geschehen im Wohnzimmer, während der Krach auch Jordan und Lizzie auf die Treppe hinter ihm gelockt hatte. In diesem Moment schoss seine Mum aus der Küche mit der Schrotflinte in der Hand, die normalerweise in einer Tüte auf dem Küchenschrank lag.

»Dante, nach oben!«, befahl sie, lud die Flinte durch, lief ins Wohnzimmer und zielte auf Felicity. »Ich glaube, ihr beide geht jetzt besser!«

Scotty hob erschrocken die Hände.

»Carol, pass auf mit dem Ding«, warnte er. »Das ist geladen!«

»Was du nicht sagst«, gab sie zurück, als Dante auf halber Höhe der Treppe stehen blieb. »Mir sind eure Baupläne scheißegal, aber es ist zwei Uhr morgens, ich bin wach, meine Kinder sind wach, und ich will, dass ihr zwei aus meinem Haus verschwindet. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?«

Der Commander betrachtete die doppelläufige Flinte und lächelte. »Carol, leg doch bitte dieses Ding weg!«

»Weißt du was?«, fuhr Scotty plötzlich auf und sah den Commander finster an. »Ich brauche das alles nicht mehr. Ich unterschreibe und nehme meine zweihunderttausend. Ich habe mich einer Bruderschaft verschrieben, nicht einem Unternehmen, also könnt ihr auch mein Bandits-Abzeichen haben und es euch sonst wohin stecken!«

Dantes Mum senkte die Schrotflinte, während sein Dad sich nach dem Kugelschreiber auf dem Boden bückte. Der Commander stellte den Tisch wieder auf und befahl Felicity, die Papiere aufzuheben und die Seiten zu suchen, die Scotty unterschreiben sollte.

Carol sah in den Flur zurück.

»Ihr Kinder geht sofort wieder ins Bett!«, rief sie. »Ich will nicht nach oben kommen müssen!«

Dante ging ein paar Stufen weiter, doch seine beiden älteren Geschwister schalteten auf stur und blieben auf der obersten Treppenstufe stehen.

»Ich will nicht nach oben kommen müssen, ihr drei!«, wiederholte ihre Mutter.

»Ich versuche ja, vorbeizukommen«, protestierte Dante, was ihm einen vernichtenden Blick von Lizzie eintrug, doch im selben Augenblick erklang aus dem Schlafzimmer ihrer Eltern Babygeschrei.

»Oh Klasse«, seufzte Carol und wandte sich wieder zu den Männern um. »Jetzt brauche ich eine Stunde, bis Holly wieder schläft!«

»Ich gehe schon«, erbot sich Lizzy müde und lief zur Wiege im Elternschlafzimmer, wobei sie vor sich hin murmelte: »Ist ja auch ganz egal, ich schreibe morgen ja bloß einen Spanischtest.«

Inzwischen waren die Papiere wieder auf dem Esstisch ausgebreitet. Scotty hatte endlich unter dem Sofa zwischen Spielzeugautos und Blöcken Dantes Stift zu fassen bekommen und sah, als er wieder aufstand, dass Felicitys Pistole auf den Boden gerichtet war. Felicity starrte dumpf den Commander an und erwartete seinen nächsten Befehl.

»Okay«, sagte der Commander und sein alberner Schnurrbart zitterte selbstzufrieden. »Drei Unterschriften an den Stellen mit den Haftzetteln.«

Scotty war es ernst damit, die Dokumente zu unterschreiben, aber das Grinsen des Commanders und das fröhliche Wippen seiner riesigen Stiefel machten ihn wütend. Scotty liebte die Bandits genauso wie seine Familie – vielleicht sogar noch mehr –, und der Gedanke daran, sein Abzeichen abzugeben und das Highwayman-Tattoo wegbrennen zu lassen, war einfach zu viel für ihn.

Mit einer plötzlichen, kraftvollen Bewegung schoss Scotty in die Höhe und stieß Felicity dabei den Kugelschreiber in die Luftröhre. Blut spritzte hervor. Dante und Jordan schlichen ängstlich die Treppe herunter, um zu sehen, warum ihre Mutter aufgeschrien hatte.

»Schieß jetzt, Carol!«, schrie Scotty.

Dantes Mum hob die Flinte, als Felicity zur Wand zurückstolperte. Der Stift steckte dem riesigen Kerl in der Kehle und er erstickte an seinem eigenen Blut, doch er schaffte es noch, die Pistole leicht anzuheben.

Und dann wurden zwei Waffen gleichzeitig abgefeuert.

Zwei orangefarbene Feuerstöße schossen aus der Flinte heraus und verteilten ihre Kugeln um Felicitys Kopf und Körper herum, wobei auch die Wände viele kleine Löcher abbekamen. Die Pistole gab einen schärferen Knall von sich. Die Kugel landete in Scottys Kniescheibe, denn Felicity hatte nicht mehr die Kraft, höher zu zielen, und dennoch gelang es ihm am Ende seines achtunddreißigjährigen Lebens, das Geschoss in einem solchen Winkel abzufeuern, dass es Scottys Wadenbein durchschlug und hinten an der Wade wieder austrat, nachdem es die Hauptschlagader durchtrennt hatte.

Scotty stöhnte auf und griff nach Felicitys Pistole, bevor er das Bewusstsein verlor und auf den Teppich stürzte.

Der Commander hatte sich unter den Tisch geduckt und kroch jetzt ebenfalls auf die Pistole zu, während Carol das Gewehr durchlud.

Carol kannte den Commander, seit sie sich als vierzehnjährige Ausreißerin auf der Suche nach billigem Marihuana beim Clubhaus herumgetrieben hatte. Aber sie wusste, dass er sie umbringen würde, jetzt, da er wütend war. Sie war ganz ruhig.

Im Vergleich zu der Notwendigkeit, ihre Kinder zu beschützen, erschienen Carol die Konsequenzen eines Mordes nebensächlich. Doch die Flinte ließ sich erstaunlich leicht durchladen. Ein hohles Geräusch erklang. Das Gewehr war leer.

3

Carol drehte sich um. Jordan stand am Fußende der Treppe, Dante auf halber Höhe.

»Raus!«, schrie sie den Jungen zu, ließ die Flinte fallen und rannte zur Tür. »Raus aus dem Haus! Sofort!«

Jordan lief seiner Mutter zur Tür nach, Dante beeilte sich, die restlichen Treppenstufen nach unten zu kommen, und duckte sich, als der Commander Felicitys Pistole abfeuerte. Es war ein blinder Schuss unter dem Tisch hervor, der die Wand durchschlug und im Schrank auf der anderen Seite die Töpfe klirren ließ.

Der Commander stieß den Tisch mit dem Fuß um und zielte beim zweiten Schuss genauer. Er traf Carol in den Rücken, als sie nach dem Türriegel griff. Ihr Körper schlug gegen die Milchglasscheibe, versperrte Jordan den Weg und zwang ihn, wieder in den Flur zurückzulaufen.

Der Commander trat aus dem Wohnzimmer und zog eine Blutspur von der schnell größer werdenden Lache um Scotty hinter sich her.

»Komm, Jordan!«, flehte Dante, der die Treppe Richtung Elternschlafzimmer hinaufrannte.

Doch Jordan war klar, dass er ein Rennen gegen eine Kugel nicht gewinnen konnte, nicht treppauf. Vielleicht um sein eigenes Leben zu retten, vielleicht aber auch, weil er wusste, dass er verloren war und er Dante die Chance zur Flucht geben wollte, packte Jordan das erstbeste, was ihm in die Finger kam, und griff den Commander an.

Es war ein Metalleimer voller Regenschirme und Spielzeug von Holly. Während die Sachen durch die Luft flogen, sprang Jordan verzweifelt nach vorn, um dem Commander einen Tritt zu verpassen. Er war genauso groß wie dieser, und sein Angriff sowie der Inhalt des Eimers zwangen den Commander, sich wieder ins Wohnzimmer zurückzuziehen – doch zugleich drückte er ab und schoss Jordan in den Bauch.

Der Teenager stürzte zu Boden. In einem Regen von Schirmen, Legosteinen und Plüschtieren senkte der Commander den Lauf der Pistole und jagte Jordan noch eine Kugel in den Kopf.

In diesem Moment erreichte Dante das Elternschlafzimmer. Seine Beine brannten, sein Magen rebellierte. Im Zimmer war es eng, aus den kaputten Schranktüren quollen Kleider hervor und die Wiege der kleinen Holly stand in schrägem Winkel zwischen dem Doppelbett und der Heizung. Holly strampelte mit den Beinchen in der Luft, kaute an ihrer Faust und gab kleine Laute von sich, mit denen sie verlangte, dass jemand sie hochhob und wieder in den Schlaf wiegte.

Lizzie hatte durch die offene Schlafzimmertür alles mit angesehen. Sie hatte das Fenster aufgerissen, um zu springen, wollte aber Holly nicht zurücklassen und überlegte verzweifelt, ob sie es mit dem Baby im Arm wagen sollte.

Der Commander trat über Jordan hinweg und rannte die Treppe hinauf. Dante knallte die Tür zu, drehte den Schlüssel herum und verschaffte ihnen damit ein paar Sekunden Zeit.

»Geh zum Fenster!«, schrie Lizzy, gab Dante einen Stoß und packte dann den großen Kleiderschrank. Mit aller Kraft zog sie an dem dünnen, laminierten Sperrholz, das schließlich knarrend vor die Tür fiel. Metallbügel klirrten im Inneren, und von den selten benutzten Koffern, die auf dem Schrank gelegen hatten, stiegen Staubwolken auf.

»Kommt raus, dann mach ich′s kurz!«, tobte der Commander und schoss durch die obere Hälfte der Tür. Dante und Lizzie duckten sich und der Schuss ging in die Wand.

»Was sollen wir machen?«, schrie Dante, als die Tür erbebte; der Commander musste sich mit der Schulter dagegengeworfen haben.

»Erinnerst du dich, wie Jordan dich mal herausgefordert hat, aus dem Fenster zu springen, und du dir den Knöchel verstaucht hast?«, fragte Lizzie hektisch, während der Commander ein zweites Mal gegen die Tür prallte und es schaffte, das Schloss zu sprengen und den umgekippten Schrank ein paar Zentimeter zu verschieben. »Glaubst du, du kannst das noch mal machen, und zwar ohne dich zu verletzen?«

»Klar, das ist zwei Jahre her«, nickte Dante. »Ich bin jetzt größer.«

»Gut«, sagte Lizzie. »Du springst, ich lass Holly zu dir runter und komme dann nach.«

»Okay«, nickte Dante eilig.

Wieder warf sich der Commander gegen die Tür. Der Spalt war jetzt fast breit genug, dass er sich hindurchquetschen konnte. Holly gefiel der Krach nicht und sie begann zu schreien, als Dante sich aufs Fensterbrett schwang. Auf einmal bemerkte er die Wärme an seinen Beinen, aber erst als er den nassen Fleck in seinem Schritt sah, begriff er, dass er sich vor Angst in die Hosen gemacht hatte.

»Los!«, schrie Lizzie, als Dante in die Tiefe sah, drei Meter bis zu dem ungepflegten, vom Regen aufgeweichten Rasen. Dante musste an den letzten Sprung denken und zögerte, bis der Commander erneut gegen die Tür knallte.

Ein scharfer Schmerz durchzuckte sein Bein, als er auf dem Boden landete und mit der bloßen Schulter in den Schlamm klatschte. Als er sich wieder aufrappelte, beugte sich Lizzie bereits aus dem Fenster und hielt die zappelnde Holly am ausgestreckten Arm nach unten.

Dante stellte sich auf die Zehenspitzen und griff nach Hollys molligen Füßchen.

»Hast du sie?«, schrie Lizzie.

»Ich glaub schon«, antwortete Dante. Er musste sich weit in die Höhe recken und war nicht ganz sicher, in welche Richtung das Baby kippen würde, wenn Lizzie es losließ.

Ein lautes Krachen ertönte, das Zeichen dafür, dass der Commander den Schrank überwunden hatte, der ihm den Weg versperrte.

»Nimm sie!«, kreischte Lizzie. »Warte nicht auf mich, lauf los!«

Dante stolperte zurück, als er Hollys Gewicht übernahm und ihre Knöchel umklammerte. Das Baby schwankte gefährlich; Kopf und Körper waren viel schwerer als die Beine.

Dante keuchte erschrocken auf, als Hollys Kopf an der verputzten Hauswand entlangstreifte. Holly brüllte und Dante versuchte verzweifelt, nicht hinzufallen, damit sie nicht auch noch mit dem Kopf auf dem Boden aufschlug. Endlich gelang es ihm, sie fest an seine Brust zu pressen.

Inzwischen stand der Commander mitten im Schlafzimmer. Doch Lizzie konnte nicht springen, ehe Dante und Holly aus dem Weg waren, und noch bevor sie überhaupt eine Chance hatte, zerrte sie der Commander vom Fenster weg.

»Ich wünschte, ich hätte mehr Zeit für so ein süßes Ding wie dich«, lachte er dreckig.

Lizzie trat, spuckte und kämpfte mit den Ellbogen, ohne dem Unvermeidlichen entrinnen zu können. Das Letzte, was sie sah, war ihre eigene, an einem zerbrochenen Spiegel platt gedrückte Nase, als ihr der Commander die Pistole an den Hinterkopf setzte.

Der Schuss hallte hinaus in die Dunkelheit um das alte Farmhaus herum. Holly zappelte und schrie, als Dante mit ihr wegzulaufen versuchte. Der Wind war schneidend kalt auf seiner nackten Brust, und mit seinen Socken glitt er immer wieder im Schlamm aus.

Dennoch wagte er einen Blick zurück und sah, wie der Commander aus dem Schlafzimmerfenster zielte. Das Gelände war offen, aber es war dunkel und der Commander kein guter Schütze. Er gab zwei Schüsse ab. Der erste ging weit daneben, doch der zweite schoss so dicht über Dantes Kopf hinweg, dass er es pfeifen hörte, bevor die Kugel irgendwo zwischen Büschen und Blättern einschlug. Dann folgten keine weiteren Schüsse mehr und Dante begriff, dass der Commander keine Munition mehr hatte. Es war Felicitys Pistole, und selbst wenn es ein Reservemagazin gab, so hatte es der Commander nicht.

Dante erreichte das Ende des Gartens, duckte sich unter dem Lattenzaun hindurch und begann, über das Brachfeld einer Nachbarfarm zu laufen.

»Bitte, Holly«, flehte Dante und streichelte seiner strampelnden Schwester über den Kopf. »Du musst leise sein!«

Sie blutete. Entsetzt dachte er daran, dass seine Mutter ihn immer ermahnt hatte, niemals Hollys Kopf zu berühren oder gar zu stoßen, weil Babyköpfe so empfindlich seien. Hatte er ihr vielleicht einen Hirnschaden zugefügt, als sie die Wand gestreift hatte?

Auf dem matschigen Boden, ohne Schuhe und mit Holly im Arm kam Dante nur sehr langsam voran. Er wusste, dass er es nie schaffen würde, über die drei Felder bis zum Haus des Zwiebelfarmers Norman zu laufen – der Commander würde ihn locker einholen.

Von klein auf hatte Dante auf diesen Feldern gespielt und kannte jede Menge gute Verstecke, doch die nutzten ihm gar nichts, solange Holly aus Leibeskräften brüllte. Er spielte mit dem Gedanken, Holly hier zurückzulassen und Hilfe zu holen. Ein Baby war kein brauchbarer Zeuge, also gab es auch keinen Grund für den Commander, Holly umzubringen. Aber der Commander war wütend und brauchte vielleicht gar keinen Grund, oder vielleicht würde er Holly auch einfach als Geisel nehmen.

Am liebsten hätte sich Dante auf den Boden geworfen und geweint. Er hatte gesehen, wie seine Mutter, sein Vater, sein Bruder gestorben waren, er hatte gehört, wie seine Schwester gestorben war, vielleicht war der Tod auch für ihn die beste Lösung. Aber andererseits war er fest entschlossen, den Commander nicht gewinnen zu lassen.

»Scht«, schniefte er, blieb stehen und duckte sich hinter einen Busch, um Holly sanft zu wiegen, damit sie sich beruhigte. Im Mondlicht sah er, wie sein Atem sich in der Luft kräuselte und seine Socken im Matsch versanken.

Und dann hatte er plötzlich einen genialen Einfall. Er wischte seinen kleinen Finger an seinen Pyjamahosen ab, dort, wo sie am wenigsten verdreckt waren, und stecke ihn Holly sanft in den Mund. Holly bekam gerade Zähne und biss so fest zu, dass er normalerweise aufgeschrien hätte, aber er unterdrückte den Schrei und stellte erleichtert fest, dass Hollys Gebrüll in ein leises, zufriedenes Gurgeln überging. Sie zappelte auch nicht mehr so stark, sodass er sie besser halten konnte.

Dante sah, wie der Commander in den Garten kam, rasch mit einer Taschenlampe herumleuchtete und den Busch, hinter dem sich Dante versteckte, in einen Lichtkegel tauchte. Dann blieb der Commander stehen und zog ein Handy hervor.

»Nein, hier ist nicht Scotty«, meldete er sich. »Ich bin′s … Ich kann mein eigenes Handy nicht benutzen … Halt den Mund und hör zu. Hier bei Scotty ist eine Riesenschweinerei passiert. Du musst mit Benzin herkommen. Wir müssen alles niederbrennen … Keine Einzelheiten am Telefon, tu einfach, was ich sage! Ich muss diesen verfluchten Jungen finden, bevor er den Mund aufmachen kann. Hol das Benzin und komm so schnell wie möglich her!«

Während der Commander Scottys Handy in seiner Lederjacke verstaute, ratterten Dantes Gedanken. Eine Flucht über die Zwiebelfelder war unmöglich, der Lichtstrahl der Taschenlampe würde ihn sofort einfangen. Vielleicht schaffte er es unbemerkt bis zur Straße, aber in dieser Gegend hier waren die Straßen nachts menschenleer. Und mit Holly würde er auch nicht weit kommen. Wahrscheinlich würde er als Erstes demjenigen in die Arme laufen, mit dem der Commander gerade telefoniert hatte.

Er überlegte, ob er sich ins Haus zurückschleichen sollte, um die Polizei zu rufen, aber wenn er dabei gesehen wurde, saß er in der Falle. Außerdem hatte er gar keinen Schlüssel und konnte nur durch die Hintertür hinein – und genau da stand der Commander.

Dante hatte nur eine Chance: Er musste sich eines der Fahrräder schnappen. Sein eigenes BMX-Rad nutzte ihm allerdings nichts, denn damit konnte er nicht schnell fahren und gleichzeitig Holly festhalten. Doch an dem Fahrrad, mit dem Lizzie jeden Morgen zur Schule fuhr, war hinten eine große Tasche befestigt, in die sie ihren Rucksack und die Hockeysachen steckte.

Es war kein sehr guter Plan, aber der einzige, den Dante hatte. Er sah, wie der Commander am Ende des Gartens auf die Felder abbog, und nutzte die Bäume und Büsche als Deckung, um selbst zum Carport neben dem Haus zurückzulaufen.

Die Fahrräder lehnten an der Ziegelsteinmauer und daneben stand die schäbige alte Harley aufgebockt auf ihrem Ehrenplatz. Das Haus war immer noch hell erleuchtet, und in den nach draußen fallenden Lichtstrahlen konnte Dante zum ersten Mal seinen Aufzug begutachten. Er schauderte.

Seine Socken und die Beine seiner Pyjamahosen waren schlammverschmiert, der Rest seines Körpers war völlig verdreckt und der dunkle Urinfleck in seinem Schritt hatte sich ausgebreitet. Er stellte sich vor, was Jordan wohl sagen würde, wenn er sah, dass Dante sich vor Angst in die Hosen gemacht hatte – doch dann traf ihn die Erkenntnis wie ein Hammerschlag: Sein Bruder würde nie wieder etwas zu ihm sagen.

Dante versuchte, den Gedanken abzuschütteln, und sah sich vorsichtig um. Er stand im Schutz des Hauses, und der Commander lief weiter über die Felder, doch wenn Holly wieder anfing zu heulen, würde er es immer noch hören können. Dummerweise brauchte Dante aber beide Hände, um Jordans Rennrad beiseitezuziehen und an Lizzies Fahrrad zu kommen.

Er duckte sich und hob Hollys Kopf vorsichtig von seiner Schulter. Normalerweise trug er sie höchstens von der Haustür zum Auto, und wenn er sie tatsächlich mal länger halten musste, war sie erstaunlich schwer.

»Gutes Mädchen«, flüsterte Dante, doch als er die Hand von Hollys Nacken nahm, sah er erschrocken das blutige Dreieck, das sich von dem Riss in ihrem Kopf auf ihrem Schlafanzug ausgebreitet hatte. Holly gab keinen Laut von sich, als er sie auf den Betonboden legte und seinen Finger aus ihrem Mund zog.

Das Baby blieb ruhig, hielt die Augen geschlossen, die Wangen schweißnass. Holly atmete, aber sie wirkte so steif und leblos, dass sie Dante an eine Plastikpuppe erinnerte.

»Es tut mir leid, dass ich dir den Kopf angeschlagen habe«, sagte Dante leise, während er Lizzies Fahrrad von den Wandhaken nahm und den Klettverschluss der Tasche aufriss.

Schnell warf er Lizzies Prüfungsbuch für Geschichte und ihren Biologieordner hinaus und legte stattdessen Holly vorsichtig hinein. Dann zog er den Klettverschluss wieder zu, aber so locker, dass sie noch Luft bekam.

Natürlich war Dante wesentlich kleiner als die sechzehnjährige Lizzie. Um aufzusteigen, musste er das Rad stark auf eine Seite neigen, und vom Sattel aus erreichten seine Füße nicht mehr den Boden. Doch nach einem etwas wackeligen Start fuhr er schließlich die Auffahrt entlang und blickte ein letztes Mal über die Schulter hinweg zurück.

Die Bäume an der Straße würden ihm Deckung geben, aber Dante hatte Angst, dass der, mit dem der Commander telefoniert hatte, die Auffahrt erreichen würde, bevor er selbst weg war. Als er endlich zur Straße kam, schaltete er die Fahrradlampe ein, sah sich nach rechts und links um und trat in die Pedale.

4

Salcombe war nicht gerade eine Hochburg des Verbrechens. Die Polizei befasste sich hauptsächlich mit Parksündern, kleineren Drogendelikten und Einbrüchen in selten genutzten Ferienhäusern. Selbst die Bandits zogen es vor, nicht in ihren eigenen Garten zu pinkeln, und hielten ihre Machenschaften hinter dem hohen Stacheldrahtzaun ihres Clubhauses verborgen.

Ein brennendes altes Farmhaus mit fünf Leichen war das spektakulärste Verbrechen seit Jahrzehnten. So etwas hatte die sechsundzwanzigjährige Polizeibeamtin Kate McLaren noch nie gesehen. Die Feuerwehr ging zunächst von Brandstiftung aus, doch da das Haus nicht ganz niedergebrannt war, ließ sich im Rücken der verkohlten Leiche an der Eingangstür eindeutig eine Schusswunde feststellen.

Natürlich waren die Medien vor Ort und teilten sich zwischen dem Tatort und dem Parkplatz an der sechs Kilometer entfernten Polizeistation von Kingsbridge auf. Fotografen, Journalisten und Übertragungswagen mit Satellitenschüsseln parkten in Zweierreihen auf der Straße und warteten auf die Pressekonferenz.

Es hatte noch keine offizielle Stellungnahme gegeben, aber es war allgemein bekannt, dass es sich bei zwei der Toten um Bandits handelte, und die meisten Journalisten zogen daraus den Schluss, dass zwischen den Bandits und einer lokalen Gang namens Headless Corpses ein alter Streit aufgeflammt war.

Währenddessen lag der Hauptzeuge schweigend in einem kleinen Raum, ausgestattet mit Spielzeug und Kissen, einem Einwegspiegel, einer Videokamera über der Tür und anatomisch korrekten Puppen, mit denen Kinder die entsetzlichen Dinge nachspielen konnten, die sie erlebt hatten.

Da Kate McLaren die einzige weibliche Diensthabende gewesen war, hatte sie die Mutterrolle übernommen. Dantes Kleider waren zur forensischen Untersuchung geschickt worden. Während ihn ein Arzt durchcheckte, war sie zu seiner Beruhigung an seiner Seite geblieben und hatte ihn dann nach oben gebracht, damit er heiß duschen konnte. Danach hatte sie den Manager von Woolworth dazu überredet, früher zu öffnen, damit sie Unterwäsche, Trainingsanzug und Turnschuhe für einen Sieben- bis Neunjährigen kaufen konnte. Die ganze Zeit über hatte Dante, ebenso wie in den darauffolgenden vier Stunden, kein einziges Wort gesprochen.

Als Kate nun den kinderfreundlichen Raum betrat, erschien es ihr darin viel zu warm. Dante musste es allerdings noch viel wärmer sein, denn er hatte sich unter allen Kissen und Plüschtieren versteckt, die er finden konnte. Das leise Klicken der Tür ließ ihn aufsehen und er schob sich ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht, bevor er sich wieder tot stellte.

»Du hast ja gar nichts gegessen«, sagte Kate leise, als sie das Tablett am Boden betrachtete.

Da sie nicht wusste, was Dante mochte, hatte sie Milch, Saft und Cola bereitgestellt, dazu zwei verschiedene Sandwiches, Kekse, Obst, Chips und Schokolade.

»Ich kann dir besorgen, was du magst, Dante. Fish und Chips, Schinkensandwich, ein Happy Meal.«

Die Kissen über Dante bewegten sich, und der Junge grunzte trocken. Kate lächelte in der Hoffnung, dass sie endlich einen Durchbruch erzielt hatte.

»Hast du gerade gesagt, dass du ein Happy Meal möchtest? Was hast du am liebsten, Dante? Einen Burger? McNuggets?«

»Bin ich dann happy?«, fragte Dante ironisch.

Kate verspürte einen schmerzhaften Stich der Trauer, als sie sich vorstellte, was Dante wohl mit angesehen haben musste. Es war zwar tatsächlich ein Durchbruch, dass er jetzt redete, aber sie war keine Psychologin und hatte keine Ahnung, was sie erwidern sollte.

»Als ich so alt war wie du, habe ich Schlümpfe gesammelt«, erklärte sie. »Kleine blaue Männchen mit weißen Mützen. Meine Eltern haben Gutscheine bekommen, wenn sie getankt haben, und für zehn Coupons bekam man einen Schlumpf.«