Top Secret 8 - Der Deal - Robert Muchamore - E-Book

Top Secret 8 - Der Deal E-Book

Robert Muchamore

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Beschreibung

Sein achter Fall – sein Comeback

Der blutige Revierkampf der beiden mächtigsten Drogen-Gangs hält die Unterwelt in Atem – und ruft die CHERUB-Agenten auf den Plan: Der Beginn einer hochgefährlichen Mission! Genau das Richtige für James, um nach seiner Suspendierung endlich wieder undercover zu gehen. Tatsächlich gelingt es ihm, sich bei den berühmt-berüchtigten »Mad Dogs« einzuschleusen – und schon bald eine zentrale Rolle innerhalb der Gang zu spielen. Als sich James an einem Raubüberfall beteiligen soll, kann er seine wahren Agentenqualitäten erneut unter Beweis stellen ...

Überzeugende, sympathische Charaktere und temporeiche Action: "Top Secret" ist brillante Action mit Tiefgang und aktuellen Themen.

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Seitenzahl: 458

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Deutsche Erstausgabe Juli 2011Gesetzt nach den Regeln der Rechtschreibreform© 2007 der Originalausgabe by Robert MuchamoreDie englische Originalausgabe erschien unter dem Titel»CHERUB: Mad Dogs« bei Hodder Children’s Books, London.
© 2010 der deutschsprachigen Ausgabe bei cbt/cbj, München in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Alle deutschsprachigen Rechte vorbehaltenÜbersetzung: Tanja OhlsenLektorat: Birgit GehringUmschlagkonzeption: init. büro für gestaltung, BielefeldKK Herstellung: AnGSatz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-12001-6V005
www.cbt-jugendbuch.dewww.penguinrandomhouse.de

DER AUTOR

Robert Muchamore, Jahrgang 1972, lebt in London und arbeitet dort als Privatdetektiv. Er hasst das Landleben, bärtige Frauen, Ketchup und Mayonnaise, Schnulzfilme und Leute, die zehn Minuten lang an der Bushaltestelle stehen und erst dann anfangen, nach Kleingeld zu kramen, wenn sie vor dem Busfahrer stehen. Er hat einen sehr schwarzen Humor und seine Lieblingsfernsehserie ist Jackass.

Inhaltsverzeichnis

DER AUTORKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30Kapitel 31Kapitel 32Kapitel 33Kapitel 34Kapitel 35Kapitel 36Kapitel 37Kapitel 38Kapitel 39Kapitel 40Kapitel 41Kapitel 42Kapitel 43Kapitel 44Kapitel 45Kapitel 46Kapitel 47Kapitel 48EpilogCopyright

Was ist CHERUB?

 

CHERUB ist Teil des britischen Geheimdienstes. Die Agenten sind zwischen zehn und siebzehn Jahre alt. Meist handelt es sich bei den CHERUB-Agenten um Waisen aus Kinderheimen, die für die Undercover-Arbeit ausgebildet wurden. Sie leben auf dem Campus von CHERUB, einer geheimen Einrichtung irgendwo auf dem Land in England.

 

 

 

Warum Kinder?

 

Kinder können sehr hilfreich sein. Niemand rechnet damit, dass Kinder Undercover-Einsätze durchführen, daher kommen sie mit vielem durch, was Erwachsenen nicht gelingt.

 

 

 

Wer sind die Kinder?

 

Auf dem CHERUB-Campus leben etwa dreihundert Kinder. Unser fünfzehnjähriger Held heißt James Adams. Er ist ein angesehener CHERUB-Agent, der mehrere Missionen erfolgreich abgeschlossen hat. Die gebürtige Australierin Dana Smith ist seine aktuelle Freundin. Zu James’ engsten Freunden zählen außerdem Bruce Norris und Kyle Blueman.

James’ Schwester Lauren ist zwölf und gilt bereits als eine der besten Agentinnen von CHERUB. Ihre besten Freunde sind Bethany Parker und Greg »Rat« Rathbone.

 

 

 

Das CHERUB-Personal

 

Die Größe des Geländes, die spezialisierten Ausbildungseinrichtungen und die Kombination aus Internat und Geheimdienststelle bringen es mit sich, dass CHERUB mehr Personal als Schüler hat. Dazu gehören Köche und Gärtner ebenso wie Lehrer, Ausbilder, Krankenschwestern, Psychiater und Einsatzspezialisten. CHERUB wird von der Vorsitzenden Zara Asker geleitet.

 

 

 

Die CHERUB-T-Shirts

 

Den Rang eines CHERUB-Agenten erkennt man an der Farbe des T-Shirts, das er oder sie auf dem Campus trägt. Orange tragen Besucher. Rot tragen Kinder, die auf dem Campus leben, aber zu jung sind, um schon als Agenten zu arbeiten. (Das Mindestalter ist zehn Jahre.) Blau ist die Farbe während ihrer hunderttägigen Grundausbildung. Ein graues T-Shirt heißt, dass man auf Missionen geschickt werden darf. Dunkelblau tragen diejenigen, die sich bei einem Einsatz besonders hervorgetan haben. Lauren und James haben ein schwarzes T-Shirt, die höchste Anerkennung für hervorragende Leistungen bei vielen Einsätzen. Wenn man CHERUB verlässt, bekommt man ein weißes T-Shirt, wie es auch das Personal trägt.

1

Die Toilette in einer Hercules-Transportmaschine ist selbst für ein Flugzeug beengend klein. James Adams’ Schultern berührten zu beiden Seiten die Kunststoffwände, als er sich über die stählerne Kloschüssel beugte und auf die Spuren seines Mittagessens im desinfektionsmittelblauen Wasser schaute.

Von draußen rief seine Freundin Dana Smith: »Alles okay da drinnen?«

James hörte sie bei all dem Maschinenlärm nicht, denn er hatte gerade die Klospülung betätigt und sein Erbrochenes wurde weggesaugt. Er richtete sich auf und betrachtete sich im Spiegel.

Die vergangenen acht Tage hatte er im Dschungel von Malaysia verbracht, und obwohl er regelmäßig Sunblocker aufgetragen hatte, schälte sich seine Haut.

»James!«, rief Dana erneut und hämmerte an die Tür.

»Ich komme ja gleich!«

Der Pappbecherspender war leer, daher spülte James den bitteren Geschmack aus dem Mund, indem er das Wasser in die Handfläche laufen ließ und daraus trank.

»Habe ich dich gerade kotzen gehört?«

James gurgelte und spuckte aus. »Das muss an diesen ekligen Hamburgern liegen, die wir zu Mittag hatten...«

Doch mit dem Essen hatte es nichts zu tun, und Dana wusste das. »Du schaffst das schon, James«, redete sie ihm gut zu.

James trocknete sich die Hände an der Tarnhose ab und zog den Kopf ein, als er durch die niedrige Toilettentür in den riesigen Innenraum des Flugzeugs trat. Seine Hände zitterten so sehr, dass er fürchtete, die Toilette bald wieder aufsuchen zu müssen.

»Ich wusste gar nicht, dass du Höhenangst hast«, empfing ihn Dana grinsend, legte ihm eine schmutzige Hand in den Nacken und küsste ihn auf die Wange.

»Habe ich auch nicht«, wehrte James ab. »Mit Höhen komme ich gut klar, aber ein Sprung aus einem Flugzeug ist ja wohl ein bisschen was anderes.«

»Mich wundert’s, dass du schon so lange ein Cherub bist und noch nie einen Sprung gemacht hast. Ich habe einen in der Grundausbildung gemacht. Und wenn ich es mir genau überlege, bin ich sogar schon davor, als Rothemd, einige Male gesprungen.«

»Ich glaube, ich bringe das nicht«, argwöhnte James, als sie sich schwankend auf den Weg durch den großen Frachtraum machten und das Cockpit hinter sich ließen. Das Schwanken und Schaukeln bekam seinem Magen gar nicht gut.

Die Hercules C5 ist ein Flugzeug mit Doppelfunktion. Für Frachtflüge kann die Maschine mit Lebensmittelpaketen der Vereinten Nationen bis hin zu Challenger-Panzern beladen werden. Kommt das Fallschirmspringerregiment zum Einsatz, werden Sitzreihen auf den Boden geschraubt, und aus den Seitentüren kann binnen neunzig Sekunden eine ganze Kompanie Springer hinausgelassen werden.

Bei diesem Einsatz würden die Kapazitäten des Fliegers nicht ausgeschöpft werden: Nur zwölf Leute würden abspringen. Acht davon waren Zehn- bis Zwölfjährige am Ende ihrer einhunderttägigen Grundausbildung, James und Dana waren fertig ausgebildete Cherubs, und die letzten beiden Springer waren erwachsene Trainer.

Mr Pike war der Trainingsleiter. Er war taff, aber fair, und James brachte ihm großen Respekt entgegen. Bei Mr Kazakov, der erst vor einem knappen Monat eingestellt worden war, war er sich da nicht so sicher. Der Mann war ein Tyrann, was James nur zu gut wusste, nachdem er sich die letzten sieben Nächte ein Zelt mit ihm geteilt hatte.

Wie alle CHERUB-Trainer hatte Kazakov eine beeindruckende Statur. Von Geburt war er Ukrainer. Sein spärliches graues Haar war kurz geschoren, und die Narbe in seinem Gesicht hätte auch einer Actionfigur gut gestanden. Nach seinem Dienst bei den SpezNas — einer Spezialeinheit des russischen Geheimdienstes — und Kampfeinsätzen bei der Invasion von Afghanistan hatte Kazakov zehn Jahre lang SAS-Soldaten in Guerillakampftechniken ausgebildet, bevor er zu CHERUB gekommen war.

»Was treibt ihr zwei Turteltäubchen da eigentlich?«, dröhnte Mr Pike und deutete wütend auf die Absprunguhr.

Die helle LED-Anzeige über der Flugzeugtür zeigte an, dass es bis zum Zielgebiet nur noch einhundertsechsundachtzig Sekunden waren.

»Er macht sich in die Hose«, erklärte Dana.

Mr Pike schüttelte den Kopf. »Nicht zu fassen, dass du noch nie gesprungen bist.«

»Jetzt fangen Sie nicht auch noch an ...«, knurrte James, dem noch mulmiger wurde, als er feststellte, dass Auszubildende, die nur halb so groß waren wie er, bereits den Fallschirm auf den Rücken und das Gepäck vor die Brust geschnallt hatten. Einige von ihnen waren so klein, dass sie kaum über ihr Gepäck hinwegschauen konnten.

Mr Kazakov kontrollierte Springer für Springer: Er prüfte Helme, zog Gurte fest und brüllte herum, wenn etwas falsch war. Gerade knöpfte er sich den zehnjährigen Kevin Sumner vor. Ironischerweise hatte James diesem Jungen vor ein paar Monaten geholfen, seine Höhenangst zu überwinden.

»Was ist das, Sumner?«, tobte Kazakov beim Anblick einer Metallgabel, die sich durch den Stoff des Rucksacks auf Kevins Brust abzeichnete. Kazakov schnallte den Rucksack ab, riss den metallenen Gegenstand heraus und wedelte Kevin damit vor der Nase herum. »Ich habe dir gesagt, du sollst scharfe Objekte dick in etwas Weiches einwickeln! Willst du vielleicht darauf landen? Willst du dich an einem einsamen Inselstrand mit einer Gabel in der Brust wiederfinden, eine Bootsstunde von der nächsten Notaufnahme entfernt?«

James schnallte sich den Fallschirm um, als Kevin schuldbewusst antwortete: »Nein, Sir.«

»Zum Umpacken ist keine Zeit«, schrie Kazakov und warf die Gabel mit einem Schwall russischer Flüche scheppernd durchs Flugzeug. »Die kriegst du nicht wieder! Das wird dir eine Lehre sein, wenn du ab jetzt mit den Fingern essen musst.«

Anders als die Prüflinge musste James keine Ausrüstung mitschleppen, weil das Gepäck der Trainer mit dem Boot angeliefert wurde.

»Einhundertzwanzig Sekunden«, rief Mr Pike. »Hakt euch ein, Leute!«

Dana flüsterte Mr Pike etwas ins Ohr, während sich die acht Auszubildenden aufstellten und die Aufziehleine an ihrem Fallschirm — auch als Reißleine bekannt — in ein Metallseil einhakten, das über ihren Köpfen gespannt war. Die Kinder würden einen Static-Line-Sprung machen, was bedeutet, dass die Aufziehleine sich spannen und den Fallschirm automatisch öffnen würde, wenn sie abgesprungen waren.

Als der Countdown einhundert Sekunden unterschritt, marschierten sowohl Mr Kazakov als auch Dana zu James, der seinen Helm aufgesetzt hatte, sich aber immer noch mit seinem Fallschirm abmühte.

»Mach schon!«, brüllte Kazakov, und ein Spuckeregen ging auf James nieder. »Du bist erbärmlich. Eigentlich solltest du da vorne stehen und den Kleinen helfen!«

Kazakov ergriff James’ Fallschirmgurte und zog sie so stramm, dass es James die Schultern zusammenquetschte. Sein Magen verkrampfte sich, als ihn der große Russe drohend anstarrte.

»Ich kann das nicht«, erklärte er schwach. »Ich bin total am Ende!«

Dana mischte sich ein. »Mr Kazakov, ich habe mit Mr Pike über James gesprochen, und er hat die Absprungreihenfolge geändert. Ich springe als Letzte vor Mr Pike und James als Vorletzter, so kann ich ihn ermutigen, falls seine Nerven versagen.«

Kazakov sah James finster an. »Ich teile mein Zelt nicht mit Feiglingen. Entweder du machst den Sprung, oder du schläfst heute Nacht draußen bei den Spinnen und Schlangen!«

»Ich bin kein kleiner Auszubildender!«, empörte sich James. »Sie können mich nicht herumkommandieren.«

»Sie springen jetzt an sechster Stelle«, erklärte Dana und wies Kazakov diplomatisch in die Schlange der Auszubildenden an der Tür. »Ich werde mich um James kümmern. Sie sollten sich lieber einhaken.«

Als Mr Pike die Flugzeugtür öffnete und Sonnenlicht die düstere Metallröhre flutete, ertönte ein warnendes Summen. Die Zahlen auf der Absprunguhr begannen zu blinken, als der Countdown unter sechzig Sekunden fiel.

»Ich komme mir so blöd vor«, gestand James mit Blick auf die Kinder. »Manche von denen sind erst zehn!«

»Konzentrier dich!«, befahl Dana und fasste mit ihrer behandschuhten Hand nach seiner. »Du bist für so etwas ausgebildet. Jetzt hol tief Luft und bleib ruhig.«

»Einhaken, ihr beiden!«, rief Mr Pike von seinem Platz neben der Tür. »Noch achtzehn Sekunden.«

James kämpfte gegen Magenkrämpfe an, als Dana ihn zu den Auszubildenden zog, die sich längs des Flugzeugrumpfes aufgereiht hatten. Keiner von ihnen sah besonders fröhlich drein, allerdings war auch keiner von ihnen so aufgeregt wie James.

»Viel Glück, Kinder«, rief Kazakov. »Und denkt dran: drei Elefanten zählen, den Schirm checken und vorsichtig steuern, wenn ihr einem anderen Springer zu nahe kommt.«

James und Dana hakten sich in das Metallseil ein, und eine Ankündigung, die laut genug war, um auch in einem Kampfgebiet gehört zu werden, tönte aus dem Lautsprecher neben ihnen.

»Hier spricht der Kopilot. Wir befinden uns über dem Zielgebiet. Der Wind kommt mit neun Knoten aus Nordost, was uns nach meiner Berechnung ein Absprungfenster von achtundfünfzig Sekunden verschafft.«

James sah über die Helme der anderen hinweg, als auf der Countdown-Uhr eine dreifache Null aufleuchtete. Kaum zwanzig Zentimeter vor ihm stand ein elfjähriger Junge, Dana war direkt hinter ihm und hatte beruhigend den Handschuh auf seine Schulter gelegt, und trotzdem fühlte er sich allein.

Ein Teil von ihm hätte gerne den Fallschirm abgeworfen und sich wieder aufs Klo verkrümelt, der andere Teil wusste nur zu genau, wie viel Spott er sich damit auf dem Campus einhandeln würde. Und wenn er seine Nerven in den Griff bekam, wäre er in weniger als zwei Minuten unten.

»Ziel!«, verkündete der Kopilot.

Die Uhr schaltete von Rot auf Grün, und Mr Pike begann zu schreien: »Los, los, los!«

Um sicherzugehen, dass so viele Leute wie möglich den Absprung glatt schafften, standen die mutigsten Kinder — hauptsächlich die, die schon als Rothemden gesprungen waren — ganz vorne in der Reihe. Sobald der erste Springer draußen war, hatte der nächste bereitzustehen. Seine Zehenspitzen mussten über die Türschwelle ragen, und er wartete in gebückter Haltung die zwei Sekunden ab, die sein Vorgänger brauchte, um vom Flugzeug wegzukommen, dann sprang er hinterher.

Dadurch, dass zwischen den Absprüngen weniger als vier Sekunden lagen, bewegte sich die Schlange in langsamem Tempo vorwärts. Jedes Mal, wenn jemand sich in der Tür bereitstellte, hoffte James, dass er es vermasselte, damit sie aus dem Zielgebiet heraus waren, bevor er an die Reihe kam. Aber alle Auszubildenden hatten sechsundneunzig grauenvolle Tage darin investiert, sich als CHERUB-Agent zu qualifizieren. Sie waren hungrig, müde und zerschrammt und hatten viel zu viel durchgemacht, um sich jetzt noch von ihrer Furcht überwältigen zu lassen.

Also fand sich James schließlich in der Tür wieder, von eiskalter Luft und Sonnenlicht umspült und mit eingehakter Aufziehleine im Metallseil über seinem Kopf. Das Absprungfenster schloss sich in zweiundzwanzig Sekunden. James kauerte sich zusammen, und beim Blick nach unten wurde ihm entsetzlich schwindelig. Sie befanden sich unter der Wolkendecke, und der orangene Fallschirm des Springers vor ihm entfaltete sich gerade über sieben Kilometern goldenem Sand.

»Beweg deinen Hintern, James!«, schrie Mr Pike ungeduldig. »Noch siebzehn Sekunden. Spring!«

James stand wie angewurzelt. Er hatte das Gefühl, gleichzeitig kotzen und sich in die Hose machen zu müssen, und streckte die Hand nach dem Griff neben der Tür aus. Doch bevor er ihn zu fassen bekam, schlug Dana ihm die Hand weg und hieb ihm auf den Fallschirm, sodass er vornüberstürzte.

»Feigling«, spottete sie, tauschte mit Mr Pike ein Grinsen aus und nahm James’ Platz in der Tür ein.

James stürzte mit dem Gesicht voran auf den Strand zu. Was mit ihm geschah, war mehr, als sein Gehirn verarbeiten konnte. Seine Hose blähte sich auf, die Luft riss an seinem Helm und ließ den Kinnriemen in seinen Hals einschneiden. Es war schrecklich und wundervoll zugleich. Von allen Momenten in James’ Leben war dieser freie Fall aus fünfhundert Metern Höhe der abgefahrenste.

Über dem Schreck, aus dem Flugzeug gestoßen zu werden, hatte er vergessen, die drei Elefanten zu zählen. Doch das Sprungtraining, das er am Vortag durchlaufen hatte, spulte sich ab dem Moment wie automatisch ab, als er den kleinen Ruck spürte, mit dem sich die Aufziehleine straff zog, die ihn mit dem Flugzeug verband, seinen Fallschirm öffnete und sich dann löste.

»Fallschirm prüfen!«, rief James.

Beim ersten Blick nach oben bekam er nur gleißendes Sonnenlicht ab, doch zwei Sekunden später wurde es durch den aufgeblähten orangenen Nylonschirm gefiltert. Hätte der Fallschirm sich nicht geöffnet, hätte er weniger als fünf Sekunden Zeit gehabt, den Reserveschirm zu öffnen. Aber es schien alles so weit in Ordnung zu sein, also folgte er seinen Trainingsanweisungen und rief den nächsten Befehl.

»Abstand halten!«

Das helle Sonnenlicht verwandelte den Strand unter ihm in ein grelles, blendendes Weiß, aber er richtete den Blick nach unten und bemerkte erleichtert, dass die vorangegangenen Springer ein paar hundert Meter weit von ihm weg waren. Nach oben kann man durch den Fallschirm nichts sehen, daher gilt die Regel, dass man nur auf die Leute unter einem achten muss.

»Abdrift prüfen«, stieß James hervor, sah wieder nach unten und stellte fest, dass der Boden rasend schnell näher kam.

Die Wetterlage war ruhig und die Landezone riesig, sodass er seinen Flug nicht einmal über die Tragegurte steuern musste. James empfand das als große Erleichterung, denn man kann schlecht ein Gefühl für das Steuern eines Fallschirms entwickeln, wenn man im Sprungtraining Trockenübungen am Boden macht, und die häufigste Unfallursache bei unerfahrenen Springern ist die, dass sie vor der Landung zu heftig steuern.

Der letzte Teil des Sprungtrainings hatte der Landung gegolten: Man sollte wissen, woher der Wind weht, und die Füße in eine sichere Position bringen. Macht man das falsch, kann es passieren, dass man selbst in die eine Richtung fällt, während der Wind den Schirm in die andere zieht. Anstatt einfach einzuknicken, wird man dann in alle möglichen Richtungen gezerrt.

Daher erschrak James, als er nach unten sah und einen Krebs von der Größe eines Speisetellers erblickte. Sein Kopf war wie leer gefegt: Er wusste nicht mehr, von wo der Wind kam, oder wohin er selbst zeigte.

Er konnte sich nur abrollen und das Beste hoffen.

2

Im Sommer 2004 war es hauptsächlich einer CHERUB-Mission zu verdanken, dass der Kokainbaron Keith Moore und seine Gang, die KMG, zu Fall gebracht wurden. Viele Jahre lang dominierte die KMG die kriminellen Machenschaften in einem Gebiet, das sich von den nördlichen Vororten Londons bis hinab nach Oxfordshire erstreckte, und gab ihnen eine Art Ordnung.

Zwar verkaufte die KMG ausschließlich Kokain, doch das so erwirtschaftete Geld erschloss ihren Komplizen andere kriminelle Geschäftsfelder, von illegalen Rave-Partys bis hin zu bewaffnetem Raubüberfall. Nachdem mehr als ein Dutzend der wichtigsten Gangmitglieder verhaftet worden waren, entstand ein Machtvakuum, das zu einem blutigen Bandenkrieg führte.

Heute operieren in dem einst von der KMG beherrschten Gebiet mindestens fünf bedeutende Gangs. Keine davon kontrolliert ein bestimmtes Gebiet, aber den schlimmsten Ruf haben die Slasher Boys aus Luton (ihren Namen haben sie daher, weil sie angeblich mit Macheten auf ihre Feinde losgehen). Die Gang soll etwa achtzig Mitglieder zählen.

Die Slasher Boys haben fast ausschließlich jamaikanische Wurzeln, und die Anführer stehen angeblich in enger Verbindung mit Gangs in Jamaika, die ihre Insel als Zwischenstopp für illegale Drogentransporte aus Südamerika nutzen...

... Für die Mission, die Slasher Boys zu infiltrieren und zu unterlaufen, werden zwei CHERUB-Agenten von afrokaribischem Aussehen benötigt. Die Operation wird als äußerst riskant eingestuft...

(Auszug aus den Einsatzunterlagen für Gabrielle O’Brien und Michael Hendry, Januar 2007.)

 

Das Bedfordshire Halfway House war ein Wohnheim mitten in Luton, aber alle nannten es nur den Zoo.

Es stammte aus den Achtzigern und war von mehreren Generationen frisch entlassener junger Straftäter und Jugendlicher, die zu problematisch waren für Pflegefamilien, mit Graffiti beschmiert und demoliert worden.

Zu behaupten, der Zoo wäre ein klein wenig verrufen, war genauso, als würde man behaupten, ein klein wenig Kopfschmerzen davonzutragen, wenn einen ein Sattelschlepper überfuhr. Es hatte dort bereits alles an Skandalen gegeben: von Teenagerschwangerschaften bis zum Abstechen anderer Kinder unter der Dusche und einem Unfall, bei dem ein Radfahrer beinahe ums Leben gekommen wäre, weil ihm zwei betrunkene Mädchen einen Dachziegel auf den Kopf geworfen hatten.

Der Zoo minderte den Wert jedes Hauses in der Nachbarschaft um mindestens fünfzigtausend Pfund, und der einzige Grund, warum man ihn noch nicht geschlossen hatte, war, dass jedes Mal erbitterter Widerstand aufbrandete, wenn der Stadtrat ein Grundstück für einen Neubau ins Auge fasste.

Doch obwohl Gabrielle schon zwei Monate im Zoo wohnte, auf einer Matratze schlief, die nach weiß Gott was stank, und von Kids umgeben war, die rund um die Uhr Krawall machten, war sie glücklich. Sie war Weihnachten fünfzehn geworden und hatte sich vor Neujahr verliebt.

Michael Hendry war ein Cherub mit dunkelblauem T-Shirt und Gabrielles erster richtiger Freund. Seit sechs Monaten gingen sie miteinander. Anfangs war ihre Beziehung ein wenig mechanisch gewesen und hatte aus Kinobesuchen, Bowlen, Shoppen und anschließendem Knutschen in Michaels Zimmer bestanden. Das taten Kerry und Gabrielles andere Freundinnen jedenfalls mit ihren Freunden, und sie hatte eigentlich nur aus Neugier mitgemacht und um dazuzugehören.

Aber dann entwickelte sich mehr, und sie wurden zu einem der engsten Pärchen auf dem CHERUB-Campus. Dass ihre Freunde sich ausgeschlossen fühlten, störte das junge Glück nicht, und die Isolation während einer gemeinsamen Mission trieb die Dinge noch mehr voran.

Es war ein Donnerstag kurz nach zehn Uhr vormittags. Die meisten Kinder aus dem Zoo sollten eigentlich in der Schule sein, aber Lehrer sind ganz froh, wenn Schüler wie diese dem Unterricht fernbleiben, und wenigstens in der Hälfte der rund ein Dutzend Zimmer im dritten Stock saß jemand, der vom Unterricht suspendiert oder der Schule verwiesen war oder sich schlicht nicht aufraffen konnte, aus dem Bett zu steigen.

Gabrielles Zimmergenossin Tisha gehörte zu den wenigen Zoobewohnern, die tatsächlich morgens ihre Bücher packten und in die Schule gingen. Gabrielle passte das ganz gut, denn so konnte Michael vom Stockwerk der Jungen herunterkommen und ein paar gemütliche Stunden unter ihrer Bettdecke verbringen.

»Geh nicht ran«, bettelte Michael, als ihr Telefon klingelte.

Doch Gabrielle langte blind danach und hob es vom Vinylboden auf. Sie dachte, der Anrufer wäre ihre Einsatzleiterin Chloe Blake, aber auf dem Display erschien zu ihrer Überraschung ein anderer Name.

»Das ist Major Dee!«

Michaels dunkler Körper glänzte vor Schweiß, als er sich abrupt aufsetzte. »Na so was. Der zuckt doch sonst vor dem Mittagessen nicht mal mit der Wimper!«

»Major«, sagte Gabrielle mit ihrem weichen jamaikanischen Akzent. Als sie CHERUB beigetreten war, hatte sie sich für ihren Akzent geschämt und versucht, ihn abzulegen, aber karibische Wurzeln waren bei diesem Einsatz sehr hilfreich, und sie hatte überraschend leicht in ihre alte Sprechweise zurückgefunden.

»Morgen, Süße«, antwortete Major Dee. »Sag mir, was du anhast. Welche Farbe hat dein Slip?«

Major Dee war der Anführer der Slasher Boys, ein großer Mann mit einer ganzen Reihe Goldzähne im Mund und einem miesen Ruf. In Dees Augen hatten Frauen Essen zu kochen und Kinder zu kriegen. Gabrielle musste zehnmal schwerer arbeiten als Michael, um sich zu beweisen, und selbst jetzt noch behandelte Dee sie mit einem Mangel an Respekt, der jeden Jungen auf dem Campus ein blaues Auge gekostet hätte.

»Meine Höschen sind meine Sache«, erwiderte Gabrielle und tat, als fände sie seine Dreistigkeit lustig. »Wenn du mich so früh anrufst, sollte es wegen was sein, womit ich meine Brötchen verdienen kann.«

»Du kannst dir ein halbes Brot verdienen«, gab er zurück, was bei ihm hieß, dass er ihr fünfzig Pfund bezahlen würde. »Ist Michael da?«

»In voller Lebensgröße«, sagte Gabrielle.

»Ich hab hier einen, der will einen Beutel K. Ihr zwei holt einen aus dem Park und bringt ihn rüber.«

»Bist du zu Hause?«

»Ja, aber euer Mann sitzt im Green Pepper.«

Diese Anweisung überraschte Gabrielle. Das Green Pepper war ein Dealer-Café und wurde häufig von der Polizei überwacht. Unter den Tischen wurden kleinere Mengen Kokain und Marihuana weitergereicht, aber große Fische wie Major Dee gingen nur dorthin, um Blödsinn zu reden und das beste jamaikanische Essen in Luton zu genießen.

»Ich soll einen Kilo-Beutel ins Green Pepper bringen? Bist du auf einem Trip?«

Gabrielle hörte Dee mit der Zunge schnalzen, dann war er mit seiner Geduld am Ende: »Hör zu, du dumme Göre. Du spielst dich ständig auf und behauptest, du willst Geld verdienen. Ich kann keine tausend Fragen gebrauchen. Entweder du machst das jetzt, oder ich lege auf und du brauchst mir nicht mehr unter die Augen kommen.«

»Okay, ich hole es«, beschwichtigte ihn Gabrielle. »Ich sage ja nur, dass die Sache stinkt.«

»Ich weiß, der Übergabeort ist seltsam. Deshalb will ich ja ein Mädchen für den Job. Die Bullen haben keine zwei Gehirnzellen. Die werden glauben, dass du die Tusse von irgendeinem Gast bist.«

»Wie sieht der Bruder aus?«

»Welcher Bruder?«

Gabrielle stöhnte. Dee war ganz sicher high. »Der Kerl, mit dem ich mich treffen soll. Es sei denn, ich soll den großen Beutel an den Erstbesten übergeben, der mir über den Weg läuft.«

Major Dee klang unsicher. »Bring den Beutel einfach ins Green Pepper. Jemand wird dich dort erwarten.«

Die Verbindung brach ab, und Gabrielle sah Michael an.

»Lieferung?«, fragte der.

Sie nickte. »Aber eine komische. Er will, dass ich mit einem ganzen Kilo Koks ins Green Pepper spaziere.«

»Du hast ihm gesagt, dass das verrückt ist?«

»Er meint, dass die Polizei mich nicht verdächtigen wird, weil ich ein Mädchen bin ... Mann, ich weiß ja, dass die Cops nicht gerade Genies sind, aber einen weiblichen Drogendealer können die sich, glaube ich, schon vorstellen.«

»Wahrscheinlich ist Dee zugedröhnt«, überlegte Michael. »So wie ich den einschätze, hat er zwanzig Joints geraucht und war noch gar nicht im Bett.«

»Wenn ich verhaftet werde, ist die Mission im Eimer.«

Michael dachte nach, während sich Gabrielle ein T-Shirt anzog. »Wir machen es so: Wir holen das Koks aus dem Park, aber wenn du es hast, rufen wir Major Dee an und sagen, dass ein Streifenwagen um das Green Pepper kreist und du den Dealer woanders treffen musst. Er wird es nicht riskieren wollen, ein ganzes Kilo Kokain zu verlieren, egal, wie zugedröhnt er ist.«

»Hört sich gut an, dein Plan.« Gabrielle küsste Michael auf die Schulter und schmiegte sich an seinen Hals. »Aber die Sache gefällt mir trotzdem nicht.«

3

James öffnete die Augen und sah, dass sich der Krebs aufstellte und ihm mit den Scheren drohte. Doch die Drohgebärde hielt nicht lange an, und das Tier huschte in eine Wasserpfütze davon. James erreichte freundlichen Boden und hätte ihn gerne geküsst, aber zuerst musste er den Fallschirm loswerden, bevor sich der Wind darin fing.

Er rollte sich auf den Bauch und stellte erleichtert fest, dass ihm kein Körperteil wehtat. Stattdessen sah er eine Szenerie wie aus einer Softdrink-Werbung: Palmen, blauer Himmel und orange Fallschirme, die sich sachte in der warmen Brise blähten.

Dana hatte drei Sekunden nach James eine perfekte Landung hingelegt und lief zu ihm. Eine Fallschirm-Montur ist zwar nicht sonderlich feminin, aber Dana sah mit ihren wehenden blonden Haaren dennoch gut aus.

»Wie geht’s dir da unten?«, fragte sie schmunzelnd, als James den Fallschirmrucksack abstreifte und den Helm abschnallte.

Er war sich nicht sicher, wie er reagieren sollte. Dana war toll, und jetzt, wo er den Sprung geschafft hatte, fühlte er sich gar nicht so schlecht. Aber über den Umstand, von der eigenen Freundin aus einem Flugzeug geworfen zu werden, kann man nur schwer hinwegsehen.

»Du ...«

»Bist du verletzt oder nicht?«, fragte Dana sachlich und stemmte die Hände in die Hüften.

»Du hättest den Krebs sehen sollen...« James lächelte, als er auf die glitzernde Wasserpfütze zeigte.

»Ich habe dich hier liegen sehen. Ich dachte, du wärst vielleicht verletzt.« Dana war vorsichtig näher getreten und hauchte ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange, unsicher, wie er reagieren würde.

»Es war irre«, meinte James achselzuckend und nicht ganz so cool, wie er gerne geklungen hätte. »Die Landung habe ich vermasselt, aber ich glaube, es würde mir nichts ausmachen, das irgendwann noch mal zu machen...«

»Yessss!« Dana lächelte und wandte sich zum Gehen. »Wenn du okay bist, packe ich jetzt meinen Fallschirm.«

Grinsend kniete sich James in den Sand und begann, den knisternden Stoffberg zusammenzuraffen. Er stellte sich vor, wie er in fünfzig Jahren als alter Knacker seinen Kindern und Enkeln von dem Tag erzählen würde, an dem ihn seine Frau aus einem Flugzeug gestoßen hatte...

Über den ganzen langen Sandstrand verstreut, packten Springer ihre Fallschirme ein. Als James halb fertig war, piepte das Funkgerät in seiner Hosentasche zwei Mal.

»Ja«, sagte er.

Mr Pike klang, als würde er rennen. »James, Dana, ich bin gelandet, aber beim Blick durchs Fernglas habe ich ein paar hundert Meter vor euch einen Fallschirm gesehen, unter dem sich nichts tut. Lasst eure Ausrüstung liegen und seht sofort nach!«

Als sich James zum ersten Mal umgesehen hatte, waren die Fallschirme in etwa alle im gleichen Zustand gewesen. Jetzt blähte sich einer verdächtig auf, am Boden gehalten durch das Gewicht der Person, die noch daranhing.

Beim Lossprinten bemerkte James, dass Dana hinter ihm herkam. Sie war Triathletin, und bis James die halbe Strecke zu dem verunglückten Springer zurückgelegt hatte, war Dana in einer Sandwolke an ihm vorbeigeschossen.

Es wehte nur ein leichter Wind, und Dana fand in dem Gewirr aus Schnüren und Nylon ein zehnjähriges Mädchen.

»Jo, Schätzchen, was ist passiert?«

James kam hinzu, als Dana gerade die Stoffschichten beiseiteschob. Zuerst hatte sie befürchtet, dass Jo McGowan bewusstlos war, aber sie hatte tatsächlich nur einen leichten Schock. James zuckte zurück, als er sah, dass Jos Stiefel stark verdreht war. Sie hatte sich offensichtlich etwas gebrochen.

»Was ist los?«, ächzte Mr Pike und kam neben James zum Stehen.

James trat nach einem Stück Stahlbeton im Sand. »Sieht aus, als wäre sie bei der Landung auf dem Ding da aufgekommen und hätte sich den Knöchel verletzt.«

Kopfschüttelnd ließ Pike den Blick über die riesige Fläche glatten Sandes schweifen. »Wir haben diesen Strand genau geprüft«, sagte er missmutig. »Die Chancen, beim Landen auf etwas aufzuschlagen, stehen eins zu eine Million.«

Es schien, als wäre Jo nur am Knöchel verletzt, aber Dana wollte das Mädchen nicht bewegen, bis sie sich ganz sicher war. Sie klappte ein Sägemesser aus ihrem Leatherman und schnitt der Kleinen den Fallschirmrucksack von den Schultern.

»Tut es dir sonst noch irgendwo weh?«, fragte sie.

Kopfschüttelnd versuchte Jo, sich aufzusetzen. »Vielleicht ist der Fuß ja nur verstaucht«, schniefte sie. »Vielleicht wird es besser, wenn ich laufe.«

Aber als sie sah, dass ihre Stiefelspitze in die falsche Richtung zeigte, wusste sie, dass dem nicht so sein würde. Jo war ein hübsches Mädchen mit langen schwarzen Haaren, aber James hatte das Pech, den Moment zu erleben, in dem der Kleinen das Herz brach. Nach sechsundneunzig Trainingstagen war sie jetzt buchstäblich am Boden zerstört.

Jo war sportlich, klug, eine geborene Anführerin und so kurz davor, die Grundausbildung erfolgreich abzuschließen, wie man es nur sein kann. Aber ein Stück Schutt, das die letzte Flut angeschwemmt hatte, war ihr zum Verhängnis geworden, und die Grundausbildung durfte man nicht unterbrechen. Wenn die Zehnjährige wieder gesund war, würde sie noch einmal von vorne anfangen müssen.

Dana umarmte Jo fest und sprach beruhigend auf sie ein, erinnerte sie daran, dass sie noch sehr jung war und dass ihr wegen des Unfalls niemand einen Vorwurf machen konnte. Aber Jos Zukunft war gerade zusammengebrochen, und sie war untröstlich.

In der Zwischenzeit wühlte Mr Pike in Jos Rucksack und warf Ausrüstung in den Sand, bis er eine rote Tasche mit einem Erste-Hilfe-Set fand.

»Wir müssen den Stiefel abnehmen, bevor der Knöchel schwillt«, erklärte Mr Pike und zog eine Spritze mit einem Mittel zur örtlichen Betäubung hervor. »Das wird wehtun, daher werde ich dein Bein zuerst etwas betäuben.«

Obwohl Jos Verletzung ernst war, war sie behandelbar. Jetzt, wo Mr Pike die Sache wieder unter Kontrolle hatte, klang er viel ruhiger. Geübt schnitt er ein Loch in Joes gepolstertes Hosenbein, betupfte die Haut darunter mit Alkohol und riet ihr, wegzusehen, als er ihr die Nadel ins Bein stach.

»Es dauert einen Moment, bis es taub wird, aber danach wirst du dich gleich viel besser fühlen.«

Derweil hatten Mr Kazakov und die anderen Springer ihre Fallschirme eingepackt und kamen neugierig angelaufen.

Die Kinder plapperten, wie schlimm die Verletzung aussah, bis Mr Pike die Geduld verlor.

»Ihr habt alle eure Befehle und müsst um einundzwanzig Uhr am Treffpunkt sein«, schrie er. »Das Training ist nicht beendet, nur weil sich jemand verletzt hat. Wenn ihr es nicht rechtzeitig zum Treffpunkt schafft, kriegt ihr nichts zu essen. Ich rate euch also dringend, eure Ausrüstung in Ordnung zu bringen und euch auf den Weg zu machen!

Mr Kazakov, sorgen Sie dafür, dass Fallschirme und Springerkleidung eingesammelt und aufs Boot gebracht werden, damit der Rücktransport zum Festland erfolgen kann.«

Während Dana weiter Jo tröstete und Mr Pike ihre Stiefel aufzuschnüren begann, machten sich alle Kinder außer Kevin Sumner daran, sich aus ihren gepolsterten Springeranzügen zu schälen, unter denen sonnengebräunte Haut und leichte Dschungelkleidung zum Vorschein kamen.

»Sumner, was stehst du da rum?«, brüllte Mr Kazakov Kevin an. »Du gehst mir heute auf die Nerven! Ich sehe schon, dass du dir noch einen Tritt in den Hintern einfängst!«

James gefiel nicht, wie Kazakov auf Kevin herumhackte, und kam ihm zu Hilfe: »Jo ist seine Trainingspartnerin«, erklärte er. »Ihre Unterlagen sind in zwei Sprachen verfasst, und er kann die Mission nicht allein beenden, weil er Jos Instruktionen nicht versteht.«

Kazakov war unerfahren und schaute verwirrt, doch Mr Pike griff schnell ein: »Lust auf eine Dschungelwanderung, James?«

Kein Cherub hatte je Lust auf eine Dschungelwanderung gehabt, aber der Marsch war für Zehn- bis Zwölfjährige mit schwerem Gepäck geplant worden. James war fünfzehn, er würde es also durchaus schaffen.

»Also gut«, meinte er. »Aber ich werde mich nicht mit Instruktionen in irgendeinem Kauderwelsch abplagen. Ich hole mir das GPS vom Boot, und ich will die Koordinaten.«

Mr Kazakov hatte Einwände: »Kevin braucht eine Herausforderung, Sir. Das ist den anderen Kursteilnehmern gegenüber nicht fair!«

James wies auf Jo. »Seit wann ist die Grundausbildung fair? Ich sag Ihnen was, Mr Kazakov, ich bleibe hier und packe die Ausrüstung ein, und Sie können dafür den Zwanzig-Kilometer-Marsch so gestalten, wie Sie wollen.«

Dieser Vorschlag gefiel dem neuen Trainer überhaupt nicht.

»Keine Lust?«, hakte James nach.

Während sich James und Kazakov gegenüberstanden, leerte Kevin den Rucksack seiner Partnerin. Zusätzlich zu Jos Essensrationen nahm er noch einige wichtige Ausrüstungsgegenstände mit, die sie sich teilen mussten, und ersetzte seine Gabel. Während er dies tat, sah er Jo schuldbewusst an: »Ich komme mir vor wie ein Geier, der an deinen Knochen pickt.«

Trotz der Schmerzen brachte Jo ein aufmunterndes Lächeln zustande. »Du musst weitermachen, Kevin. Ich hoffe, du schaffst es. Du hast dir das graue Shirt verdient.«

Kevin versuchte, nicht zu weinen, als er nach Jos schmutziger Hand griff und sie fest drückte. »Du hast das hier nicht verdient. Du hast mir so oft geholfen. Ich wäre nicht hier, wenn...«

Mr Kazakov versetzte Kevin einen Stoß in den Rücken. »Beeil dich«, knurrte er. »Ich will den Springeranzug zurück, bevor du ihn nass heulst.«

»Mach dich lieber abmarschbereit, Kevin«, riet ihm Jo. »Mit James zusammen schaffst du das schon.«

James sah Kevin mitleidig an. »Ich muss noch meine Feldflasche füllen und ein paar Sachen für den Marsch packen«, erklärte er. »Also verabschiedet euch, und wir treffen uns in fünf Minuten drüben an dieser Sanddüne.«

Als er sich umdrehte, sah er, wie die anderen drei Paare Sonnenschutz auftrugen und ihre Rucksäcke für den vierstündigen Marsch in der glühenden Hitze von unnötigem Ballast befreiten.

Seine Gedanken gingen auf Wanderschaft, als er zu dem Holzboot mit ihrer Ausrüstung stapfte. Es hatte bei Flut am Strand angelegt und lag nun mehrere hundert Meter vom Wasser entfernt auf dem Sand.

James hasste Schularbeiten und hatte eingewilligt, beim Training auszuhelfen, anstatt zusätzliche Kurse in Schulfächern zu belegen. Ihm gefiel dieses Arrangement, auch wenn es ihn nicht gerade zum Liebling der Kinder machte, die er trainieren sollte. Aber jetzt arbeitete er schon vier Monate mit den Trainern zusammen und musste langsam feststellen, dass ihm das Quäntchen Rücksichtslosigkeit fehlte, das ein guter Trainer brauchte.

Als er in das kleine Motorboot stieg und versuchte, seinen Rucksack unter den Ausrüstungskisten und Essenskonserven zu finden, traten ihm Tränen in die Augen bei dem Gedanken daran, wie Kevin und Jo sich weinend an den Händen gehalten hatten.

4

Owen Campbell-Moore war ein Jamaikaner mit Rastazöpfen, der als Platzwart auf den Sportplätzen ein paar Kilometer entfernt vom Zoo arbeitete. Gabrielle und Michael fanden ihn in seiner Hütte auf einem Liegestuhl, die Füße in Socken auf einen Aufsitzmäher gelegt. Feuchtigkeit hing in der Luft, und es roch nach frisch gemähtem Gras und Heizofen.

»Wie geht es meinem Liebespärchen heute?«, fragte Owen fröhlich, als er Michaels Faust mit der seinen berührte. Beim Aufstehen stieß er mit seiner großen Wollmütze an das Wellblechdach.

»Uns geht’s gut.« Michael nickte, und Gabrielle lächelte zustimmend.

»Und was macht das Leben im Zoo?«, fragte Owen. Vor gut zwölf Jahren hatte er selbst dort gewohnt, und er ließ es sich nicht nehmen, immer danach zu fragen.

»Total irre, wie immer.« Gabrielle grinste. »Vor zwei Tagen hat sich ein Mädchen im Bad aufgeritzt, und sie haben immer noch nicht sauber gemacht.«

Owen schüttelte den Kopf und sog geräuschvoll die Luft ein. »Mein altes Zuhause. Ich vermisse es so«, meinte er und lachte dann auf. »Ihr wollt also einen Beutel K? Ich bin fast vom Stuhl gefallen, als Major Dee so früh angerufen hat.«

»Wir auch«, bestätigte Michael, während Owen seine Socken in schmutzige Arbeitsstiefel manövrierte und mit offenen Schnürsenkeln losstapfte.

Er zog Gartenhandschuhe an, nahm einen Schlüssel von einer riesigen Kaffeekanne und ging nach draußen Richtung Herrenumkleide. Owen trug tief sitzende Jeans, unter denen seine Boxershorts hervorschauten, aber der jugendliche Look passte nicht zu ihm.

Gabrielle folgte Owen und Michael in die geflieste Umkleide. Auf dem Boden lagen getrocknete Lehmklumpen mit Abdrücken von Fußballstollen, und hinter den Kleiderhaken und Bänken sah sie eine Toilette, in der nasses Klopapier am Boden und braune Spritzer am Sitz klebten.

»Braucht ihr mich hier drinnen?«, fragte sie gepresst, denn der Geruch nach kaltem Schweiß und verstopfter Toilette ließ sie würgen.

»Warte draußen«, schnaubte Owen und grinste Michael an. »Das hier ist nicht wirklich geeignet für die feinen Nasenlöcher von jungen Damen.«

Während Owen auf eine metallene Umkleidebank stieg und nach oben langte, um hinter einer Deckenfliese ein Kilo Kokain hervorzuholen, trat Gabrielle wieder an die frische Märzluft. Sie versuchte, die Erinnerung an den Gestank zu verdrängen, grub die Hände in die Taschen ihres Kapuzenpullovers und beobachtete, wie sich ihr warmer Atem in der Luft kräuselte.

Die Spielfelder waren leer bis auf einen Jungen, der etwa dreißig Meter weiter auf einer Betonbank hinter einem Tor hockte. Er war ein wenig älter als Gabrielle, vielleicht siebzehn: Adidas-Trainingsanzug, vor ihm ein Fahrrad auf dem Boden, ein Handy, das er sich an das pickelige Gesicht drückte. Hätte er Gabrielle nicht so erschrocken angesehen, als sie zu ihm hinüberblickte, hätte sie ihn nicht weiter beachtet.

Der Junge ließ das Telefon zuschnappen, sprang von der Bank und auf sein Rad und trat beim Davonradeln heftig wackelnd in die Pedale.

»Alles klar«, sagte Michael und steckte den Beutel mit dem weißen Pulver in einen Sportrucksack. Diesen reichte er Gabrielle, während Owen den Umkleideraum abschloss.

»Kennst du den Kerl auf dem Fahrrad?«, fragte Gabrielle, doch der Radler war bereits in der gleißenden Sonne verschwunden.

»Schön, mit dir Geschäfte zu machen, Owen«, sagte Michael und winkte dem großen Jamaikaner, der mit schleifenden Schnürsenkeln zu seiner Hütte zurückschlurfte. »Vielleicht treffen wir uns ja im Green Pepper.«

»Heute Abend wohl nicht.« Owen lächelte ihnen über die Schulter hinweg zu. »Meine Erika geht aufs College. Ich muss drei Kids babysitten.«

»Klingt heftig«, rief Michael und ging mit Gabrielle zum Tor.

»Ich glaube, wir werden verfolgt«, flüsterte Gabrielle.

Doch Michael war nicht überzeugt. »Bist du sicher? Ich meine, du bist ja schon etwas paranoid. Weißt du noch, wie wir mal vom Bowlen gekommen sind und...«

Gabrielle knurrte. Nur ein einziges Mal hatte sie gedacht, jemand verfolge sie zum Campus, und seitdem warf ihr Michael bei jeder Gelegenheit vor, sie leide unter Verfolgungswahn.

»Das hier ist anders!«, fuhr sie ihn an. »Dieser pickelige Kerl hat offenbar nicht erwartet, dass ich so schnell wieder aus der Umkleide rauskomme. Du hättest sein Gesicht sehen sollen, und er ist abgehauen, als hätte er eine heiße Kartoffel im Hintern.«

Michael sah sich um. »Na ja, wir können nur aufpassen, und das machen wir sowieso.«

»Ich weiß.« Gabrielle nickte und schwang sich den Rucksack auf den Rücken. »Aber ich fand die Sache von Anfang an komisch, und jetzt finde ich sie richtig komisch.«

»Wer könnte der Kerl sein?«, fragte Michael.

Gabrielle zuckte mit den Achseln. »Diese prollige Aufmachung ... Er sah aus wie ein Runt.«

Michael schüttelte den Kopf. Die Runts waren eine Jugendgang aus einem Wohngebiet auf der anderen Seite der Stadt. Sie dealten mit Drogen, stahlen Autos und brachen in Häuser ein, aber die meisten waren einfach Randalierer. Selbst die Anführer waren fast noch Teenager.

»Viel zu anspruchsvoll«, wandte Michael ein. »Du glaubst doch selbst nicht, dass die Runts jemanden ins Green Pepper schicken, um einen Deal zu arrangieren, und dann alle Kuriere von Major Dee überwachen, um rauszukriegen, wo er seinen Stoff versteckt...«

»Schon gut, du hast recht«, gab Gabrielle gereizt zu. »Das ist viel zu hoch für die Runts. Aber ich bin nicht paranoid. Der Kerl ist ausgeflippt, als er mich gesehen hat.«

»Vielleicht ein Cop«, meinte Michael.

Gabrielle zuckte mit den Schultern. »Der war zu jung für die Drogenfahndung. Aber vielleicht ein Informant?«

»Oder eine andere Gang? Der Major hat schließlich jeden von der Russenmafia bis zu seinem eigenen Onkel betrogen. Meinst du, wir sollten Chloe noch einmal anrufen?«

»Wozu?«, fragte Gabrielle. »Sie ist Einsatzleiterin, sie vollbringt keine Wunder. Ich weiß, was sie sagen wird: Wir können weitermachen und die Drogen ausliefern oder uns zurückziehen, wenn wir glauben, dass es zu gefährlich wird. Aber wenn wir mit einem Kilo von Major Dees Koks verschwinden, wird er unseren Kopf auf einem Silbertablett haben wollen.«

Mittlerweile hatten Michael und Gabrielle die Spielfelder verlassen und liefen an einer Gasbetonwand entlang. Auf der anderen Straßenseite reihten sich kleine Läden aneinander. Das Green Pepper war nur knapp drei Gehminuten entfernt, aber sie waren beide auf der Hut.

»Rufen wir den Major jetzt wegen der Polizei an oder nicht?«, fragte Michael und holte sein Handy aus der Jeans.

Aber er bekam keine Gelegenheit, zu telefonieren. Er hörte ein Geräusch hinter sich, und als er sich umdrehte, sah er drei Fahrräder über den Gehsteig heranrasen. Die Radler in den Trainingsanzügen hatten sich Schals vor die Gesichter gebunden, aber Gabrielle erkannte dennoch einen von ihnen. Sie hatte sein Gesicht auf einem Überwachungsfoto der Polizei gesehen. Es war ein Runt namens Aaron Reid: ein Zweiundzwanzigjähriger, der drei Jahre in der Jugendstrafanstalt verbracht hatte, weil er einen Schulkameraden fast zu Tode geprügelt hatte.

Michael begann zu rennen, während Gabrielle zwischen zwei geparkte Autos am Bordstein sprang. Zwei der Bikes setzten Michael nach, aber der Junge, den Gabrielle auf dem Sportplatz gesehen hatte, warf sein Fahrrad hin und zog ein Küchenmesser aus der Jacke.

»Gib das Päckchen her!«, befahl er.

Gabrielle trat rückwärts auf die Straße und sah entsetzt, dass frisches Blut an dem Messer klebte. Dennoch, der Junge war allein. Gabrielle hatte das CHERUB-Nahkampftraining für Fortgeschrittene durchlaufen und war der Meinung, es mit dem Jungen aufnehmen zu können.

Sie zog sich bis in die Mitte der Straße zurück, als der Kerl näher kam. Michael war mittlerweile um die nächste Ecke verschwunden, die beiden anderen Bikes folgten ihm.

»Rück es raus, dann kannst du gehen.«

»Du spinnst doch, Pickelgesicht«, spottete Gabrielle.

Ein vorbeifahrendes Auto hupte sie an. Der Fahrer sah, dass Gabrielle mit einem Messer bedroht wurde, doch er wich nur auf die andere Straßenseite aus und fuhr weiter.

»Du bist ein großer pickeliger Feigling«, höhnte Gabrielle. »Du hast doch gar nicht den Mumm dazu.«

Der Runt hechtete unbeholfen auf sie zu. Gabrielle sprang zur Seite, packte sein Handgelenk und drehte ihm den Arm auf den Rücken. Die lange Klinge schepperte zu Boden, als sie ihm ihr Knie in die Eier rammte, ihn herumwirbelte und seinen Kopf auf den Kotflügel eines Fiat Tipo schlug. Der erste Schlag machte ihn benommen. Der zweite hinterließ eine Beule in der Motorhaube, und der Runt hing leblos in ihrem Griff. Sie ließ los, und er fiel auf die Straße, sehr zum Erstaunen eines Mannes, der gerade aus der Metzgerei gegenüber kam.

Gabrielle blickte sich um, um sicherzugehen, dass sie außer Gefahr war. Sie war hin und her gerissen, was sie als Nächstes tun sollte. Ihr Gefühl riet ihr, Michael zu folgen, aber ihr Kopf sagte ihr, dass sie ihn wohl kaum einholen konnte, bevor er das Green Pepper erreichte. Und dann war da noch das Blut an dem Messer.

Wessen Blut?

Auf der anderen Straßenseite liefen die Leute zusammen, während Gabrielle zurück zu den Spielfeldern sprintete. Als sie durch das quietschende Metalltor jagte, bemerkte sie, dass die Türen zu beiden Männerumkleideräumen eingetreten waren. Ihre schlimmste Befürchtung bestätigte sich, als sie um die Ecke bog und die Tür zur Hütte aufstieß.

Owen lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Betonboden, eine Blutlache um den Kopf. Er war ein Riese gewesen, aber die Runts hatten ihn überrascht. Seine Kehle war mit dem langen Messer aufgeschlitzt worden, der Schnitt hatte ihn sofort getötet.

Gabrielle erkannte, dass sie sich in höchster Gefahr befand: Sie stand nicht nur an einem Tatort, sie war auch von Zeugen in dieser Gegend gesehen worden. CHERUB konnte sie zwar von der Mission abziehen und die Beweise manipulieren, sodass man ihr das Verbrechen nie in die Schuhe schieben konnte, aber sie würde zumindest verdächtigt werden, und die bloße Tatsache, dass sie gesehen worden war, konnte die Beweislage verkomplizieren und es unmöglich machen, die wahren Täter zu überführen.

Sie musste die Gegend schnell verlassen, dann Chloe anrufen und ihr mitteilen, dass Michael wahrscheinlich noch in Gefahr schwebte. Der Tod ist immer schockierend, und sie zitterte, als sie rückwärts aus der Hütte trat. Plötzlich zuckte sie erschrocken zusammen. Kaum zehn Meter neben ihr knallte eine Tür zu, und eine Jungenstimme sagte:

»Wir haben zwei Kilo, und Aaron sollte inzwischen den Beutel von der kleinen Schwarzen haben.«

Eine andere Stimme antwortete: »Sashas Junge hat gesagt, dass da wesentlich mehr als vier Kilo sein würden.«

»Und? Wo sollen die sein? Wir haben doch schon nachgesehen.«

Gabrielle zog sich vorsichtig in die Hütte zurück. Es klang, als kämen fünf oder sechs Runts aus der Umkleide. Sie erkannte, dass ihr Drang, nach Owen zu sehen, sie unvorsichtig gemacht hatte. Es war absolut logisch, dass nur ein kleines Team dem Kokain in der Sporttasche hinterherjagte, während ein größeres Team die Umkleideräume nach Major Dees Vorräten durchsuchte. Aber die Kerle waren außer Sichtweite und schienen aufbrechen zu wollen.

»Ich verschwinde hier, bevor die Bullen aufkreuzen«, erklärte ein sehr autoritär klingender Runt.

»Vergiss es«, widersprach eine jüngere Stimme, vielleicht von einem Dreizehn- oder Vierzehnjährigen. »Wir haben die Mädelsumkleide noch nicht gefilzt. In der Decke könnte Koks im Wert von weiteren zwanzig Riesen stecken.«

»Ich sag dir was, Kleiner: Du kannst ja hierbleiben und dir den Mord anhängen lassen, wenn die Bullen auftauchen. Ich geh jedenfalls nach Hause und fang an, mir das hier reinzuziehen.«

Lachen und Sticheleien ertönten. Die Jungen zogen einander auf, und alles klang auf absurde Weise normal, so als ob sie sich wegen eines Fußballspiels neckten und nicht, weil sie einen Drogendealer bestohlen und seinen Komplizen ermordet hatten.

»Wisst ihr was«, sagte einer, »ich will noch ein Foto von dem toten Rastaman machen, bevor wir abhauen.«

Dem Gelächter nach fanden die anderen das eine tolle Idee. »Aber lass es lieber nicht deine kleine Schwester sehen!«

Wieder Gelächter, und dann: »He, weißt du noch, wie deine Mum die Bilder von Brendas Titten auf deinem Handy entdeckt hat ... ?«

Drinnen in der Hütte überlegte Gabrielle, ob sie wagen sollte, über die Spielfelder wegzurennen. Allerdings waren draußen mindestens ein halbes Dutzend Jungen mit Fahrrädern, denen sie nicht würde davonrennen können.

Einer begann, zur Melodie von »Zehn kleine Negerlein« zu singen, während er mit seinen Kumpels zur Hütte stapfte: »Ein toter Rastaman, tot in seinem Loch, ein toter Rastaman, tot in seinem Loch ...«

Die anderen lachten, und Gabrielle sah sich rasch Owens Werkzeug an. Gleich würden die Runts sie finden. Sie brauchte dringend eine Waffe.

5

Michael war athletisch und schnell, aber als er um die Ecke auf die Hauptstraße einbog, saßen ihm die beiden Fahrradfahrer dicht im Nacken, und ihm war klar, dass sie ihn gleich eingeholt hatten. Er sprang hinter einen Briefkasten und versetzte dem ersten Fahrer einen kräftigen Stoß, als er vorbeijagte.

Das Fahrrad flog in einen Busch, und Aaron Reid stürzte auf eine niedrige Mauer unter einer Hecke, überschlug sich mehrmals und traf dann mit dem Kopf einen Betonpfosten.

Der zweite Kerl schaffte es, zu bremsen, bevor Michael ihn ansprang und mit einem Faustschlag gegen den Kopf vom Rad fegte. Doch dann sah er aus der Richtung, in die er gelaufen war, fünf weitere Räder auf sich zukommen.

Selbst mit einer CHERUB-Nahkampfausbildung war fünf gegen einen kein gutes Verhältnis. Die Kerle hatten Messer, und da sie es mit Major Dees Crew aufnehmen wollten, würde mindestens einer von ihnen eine Pistole tragen. Fünf Leuten auf Fahrrädern davonzulaufen war unmöglich. Er brauchte dringend Verstärkung aus dem Green Pepper, das nur eine knappe Gehminute entfernt war.

Michael schnappte sich den zweiten Fahrradfahrer und setzte ihn mit einem Schlag an die Schläfe außer Gefecht. In der Jackentasche des Kerls entdeckte er eine kleine Axt und riss sie mit einer Hand heraus, während er mit der anderen sein Handy aufklappte. Die fünf Fahrradfahrer waren jetzt kaum noch fünfzig Meter entfernt, und Michal suchte hektisch nach der Nummer des Green Pepper.

Die Axt in der einen Hand und das Handy am Ohr duckte er sich hinter den Briefkasten. Die Räder kamen näher, und Michael lauerte auf eine Lücke im Verkehr, um ein paar Sekunden Zeit zu gewinnen, indem er die Straßenseite wechselte.

Als er vor einem Lieferwagen über die Fahrbahn hechtete, antwortete eine Stimme. »Green Pepper.«

»Clive, hier ist Michael Conroy. Ihr müsst...«

Eine Hupe übertönte seine Worte.

»Wer?«, fragte der Inder knurrig, als Michael auf das Cafe zurannte.

»Ich mache eine Lieferung für Dee, aber die Runts sind hinter mir her. Ich bin auf der anderen Straßenseite, ich brauche Verstärkung!«

Die Antwort konnte er nicht hören, denn eine rote Ampel verschaffte drei Radfahrern die Gelegenheit, die Straße zu überqueren und die Verfolgung wieder aufzunehmen. Doch Michael war nur noch knapp zweihundert Meter von der schäbigen Fassade des Green Pepper entfernt.

»Platz da!«, schrie Michael, als eine Passantin die Arme ausstreckte und ihr Kind an sich riss, damit es nicht von Michael und seinen Verfolgern umgerannt wurde.

Michael musste ausweichen und hatte plötzlich einen Betonpfosten vor sich. Er streifte ihn mit dem Knie, und sein Telefon flog durch die Luft, als er sich drehte und gegen ein geparktes Auto fiel. Ein Griff nach dem Außenspiegel bewahrte ihn davor, zu Boden zu stürzen, doch in diesem Moment raste einer seiner Verfolger vorbei und stieß ihn in den Rücken.

Schwer atmend richtete er sich wieder auf. Er war zwischen einem Auto und einer Hecke eingeklemmt, der Runt, der ihn gestoßen hatte, war vor ihm, zwei weitere sprangen hinter ihm von ihren Rädern. Er trat einen Schritt von dem Auto weg und schwang wild die Axt.

»Also los, ihr Abschaum!«, schrie er und ließ seine Waffe durch die Luft zischen. »Ich habe keine Angst vor euch!«

Aber er hatte Angst, und es war eine große Erleichterung, vier maskierte Männer aus der fensterlosen Tür des Green Pepper stürmen zu sehen. Es knallte, als einer von ihnen mit einer Schrotflinte in die Luft schoss. Zwei seiner Kumpane waren mit Macheten bewaffnet, während der dritte eine Pistole und ein langes Samurai-Schwert schwang.

Major Dees Leute waren ernst zu nehmende Gangster. Viele von ihnen waren in den gewalttätigsten Vierteln von Jamaika aufgewachsen; sie hatten Rivalen getötet und im Gefängnis gesessen. Die Runts hingegen waren nur Kids, die sich weit in Major Dees Gebiet vorgewagt hatten und plötzlich ins Schwimmen kamen.

Eine zweite Schrotladung traf einen der Radfahrer, die noch auf der anderen Straßenseite waren. Die beiden Kerle hinter Michael schnappten sich ihre Räder zur Flucht, aber der vor ihm sah ihn herausfordernd an, zog das Sweatshirt hoch und ließ den Griff einer Automatikpistole sehen.

Noch drei bewaffnete Mitglieder von Major Dees Gang kamen aus dem Green Pepper. Damit stieg ihre Zahl auf sieben. Der mit dem Gewehr spähte nach einer Lücke im Verkehr, um Michael zu Hilfe zu kommen, aber Michael erkannte, dass er jetzt nicht warten durfte. Wenn der Runt Zeit bekäme, seine Waffe zu ziehen, würde es zu einer unangenehmen — möglicherweise tödlichen — Pattsituation kommen.

Er sprang vor, schwang die Axt und ließ sie seinem Gegner auf die Schulter krachen. Noch während der Runt rücklings in die Hecke stürzte, versuchte er, die Waffe zu ziehen, aber sein Arm war durch den Axtschlag gehandicapt, und Michael trat ihm das Knie in den Magen und riss ihm die Pistole aus der Hand.

Es floss Blut, als Michael die Axt aus der Schulter des Jungen zog und die Pistole einsteckte. Ein weiterer Schuss ließ ihn zusammenfahren, aber der galt — ohne sein Ziel zu treffen — den beiden anderen flüchtenden Radfahrern.

»Alles in Ordnung, Michael?«, erkundigte sich der Schütze.

Michael war völlig außer Atem. Unter der Maske hatte er den Schützen nicht erkennen können, aber er kannte Major Dees Stimme.

»Ich dachte, Sie wären zu Hause«, keuchte er.

Major Dee schüttelte den Kopf. »Ich hab drüber nachgedacht, was deine Freundin gesagt hat. Durch sie ist mir klar geworden, dass dieser Deal zum Himmel stinkt.«

»Wir sollten von hier verschwinden«, empfahl Michael.

Aber Major Dee sah den blutenden Runt an, der in der Hecke hing, richtete das Gewehr auf seinen Kopf und zog die Skimaske hoch.

»Die gute Nachricht ist, dass ich dich am Leben lasse«, erklärte er grinsend. »Aber sag deinen Freunden, dass wir hinter euch her sind!«

Er lachte auf, senkte den Lauf der Waffe und schoss dem Jungen aus nächster Nähe ins Knie. Blut spritzte Michael über die Schuhe, und der Runt schrie auf. Gleichzeitig tauchten zwei Limousinen in der Straße auf.

»Los, alle weg hier!«, schrie Dee.

Fünfzehn Sekunden später saß Michael mit Major Dee und einem anderen Gangmitglied im Auto, das die Hinterräder durchdrehen ließ.

Als sie davonfuhren, griff Michael in seine Hosentasche. Da fiel ihm wieder ein, dass er sein Telefon ja verloren hatte.

»Gib mir mal einer ein Handy«, bat er. »Ich weiß nicht, was mit Gabrielle passiert ist.«

Stuart war vierzehn, ein magerer Junge in einer übergroßen Daunenjacke. Er hatte sein Handy gezückt, um ein Bild von Owens Leiche zu schießen, und war überrascht, als ihn ein Spaten ins Gesicht traf. Mit blutender Nase stolperte er zurück und brach zusammen.

In der anderen Hand hielt Gabrielle eine kleine Harke — so eine, mit der man Blumen pflanzen kann. Sie stieß die drei Zacken einem älteren Jungen in den Bauch und riss sie wieder heraus.

Zwei Jungen ausgeschaltet. Bevor einer der fünf anderen den Schrecken verdaut hatte, war Gabrielle aus der Hütte und sprintete über das Pflaster vor den Spielfeldern.

Sie kam gerade einmal dreißig Meter weit, bis jemand sie an der Schulter packte. Abrupt blieb sie stehen und nutzte den Schwung ihres Gegners aus, um ihn über ihren Rücken zu rollen und hart auf dem Beton aufschlagen zu lassen.

Von den verbleibenden vier Jungs waren ihr nur zwei auf den Fersen, und beide waren langsamer als sie. Als sie sich dem Tor näherte, sah sie die Fahrräder der Runts an der Wand zwischen den Umkleideräumen lehnen. Auf Rädern würden die Kerle sie leicht einholen. Ihr blieb keine andere Chance, als sich selbst eines zu schnappen.

Sie schwenkte vom Weg ab und griff sich ein Muddy-Fox-Bike. Als sie das Bein über den Sattel schwang, trat ihr einer der Verfolger gegen das Hinterrad. Es hätte sie fast aus dem Gleichgewicht gebracht, aber sie schaffte es, im Sattel zu bleiben, und raste davon.

Die beiden Jungen schwangen sich auf ihre Räder, als sie durch das Tor auf die Nebenstraße schoss. Mitten auf der Fahrbahn umringten inzwischen über ein Dutzend Leute das blutige Messer und den pickeligen Jungen, den sie neben dem Fiat k. o. geschlagen hatte.