Toria - Marlin Dexter - E-Book

Toria E-Book

Marlin Dexter

4,8

Beschreibung

Eine junge Frau findet nach bitteren Enttäuschungen die wahre Liebe. Doch ihr märchenhaftes Glück droht an einem schweren Schicksalsschlag, der sie fürs Leben zeichnet, zu zerbrechen. „Spannende Unterhaltungsgeschichte mit ernstem Hintergrund“ (Wienerin) „Die Autorin arbeitet einfühlsam und berührend Persönliches auf.“ (News) „Die Autorin verpackt ihr heikles Anliegen in eine bezaubernde Liebesromanze, um den Leser vorsichtig und im gefühlvollen Rahmen mit der Problematik vertraut zu machen. Die erotischen Erlebnisse und offenen Gefühlsbekenntnisse der Titelheldin lassen den Leser unmittelbar und hautnah empfinden, sie machen ihn betroffen und befreien ihn zugleich von Unbehagen und Befangenheit ... Toria reißt immer wieder bewusst aus der herbeigeführten Besinnlichkeit, unterhält mit Spannung und Humor ... erzählt in bahnbrechender Weise von der seelischen und körperlichen Verbundenheit zweier Menschen. Der Autorin gelingt es, den Leser bis zur letzten Seite zu fesseln und ihn für ihr menschliches Anliegen sensibel zu machen.“ (Modern Times)

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für meine Tochter Victoria, in Liebe

Inhalt

Aufbruchstimmung

Wie alles begann

Tiefe Wunden

Ernüchterung

Fehlentscheidung

Endspiel

Überraschung

Alte Freunde, neue Liebe?

Fehltritt

Der Vorsatz

Paukenschlag

Der Traummann

Wie neu geboren

Blankes Entsetzen

Getrübtes Wiedersehen

Glückstrahlend

Die einzig wahre Liebe

Wendepunkt?

Die Erfüllung aller Wünsche

Überstanden

Pläne und Ängste

Flucht

Grausame Wahrheit

Die Diagnose

Das Experiment

Ein Hauch von Zuversicht

Der neue Freund

Abschied

Heimkehr

Ein Anschein von Normalität

Rückhalt

Ermutigende Aussicht

Die größte Hürde

Feuerprobe

Versöhnung

Konfrontation

Spätes Geständnis

Der englische Freund

Der Antrag

Himmel auf Erden

Die Lüge

Rechtfertigung

Die alles entscheidende Frage

Das Geschenk

Aufbruchstimmung

Endlich ein neuer Anfang, dachte ich. Monate hatte ich gebraucht, um mit der Enttäuschung fertig zu werden und die Vergangenheit abzuschließen. Plötzlich war mir, als hätte ich es geschafft. Die Kränkung war wie weggeblasen. Ich fühlte mich bereit, mein Leben wieder voll Zuversicht in meine tatkräftigen Hände zu nehmen.

Mit einem Satz sprang ich aus dem Bett und öffnete das Fenster. Aus dem Garten kam mir ein Hauch milder Frühlingsluft entgegen und erfüllte mein Schlafzimmer. Ich schloss die Augen und ließ die jungen Sonnenstrahlen auf mein Gesicht fallen. Es schien, als wollten sie nicht nur die Natur aus ihrem Winterschlaf, sondern auch meine Lebensgeister wecken.

Als ich die Augen öffnete, lag der Garten vor mir, so karg und doch malerisch schön in seinem Winterkleid, wie es mir schon lange nicht mehr zu Bewusstsein gekommen war. Die alten Kastanienbäume umspannten ihn weitläufig mit ihren ausladenden Kronen. Ein Dickicht aus noch kahlen Fliederbüschen umrandete ihn wie undurchdringliches Mauerwerk. Die riesigen Tannen zu beiden Seiten der Einfahrt trugen dichte grüne Äste und ließen vergessen, wie kalt und schneereich der Winter gewesen war. Auf den knorrigen Rosenstöcken, die meine Mutter vor vielen Jahren entlang der Terrasse gepflanzt hatte, wagten sich die ersten Knospen hervor und suchten vorsichtig die wärmende Sonne. Überall kündigten sich Frühlingsboten an. Auf dem gepflegten Rasen behaupteten sich die kleinen Veilchen nur schwer, dennoch bildeten sie hier und dort lila Flecken. In wenigen Tagen würden auch die zahlreichen Tulpen, deren Triebe sich mühsam durch die harte Erde gebohrt hatten, in voller Blüte stehen.

Von meinem Schlafzimmerfenster aus konnte ich die Gartenmauer nicht mehr ausmachen. Schon als Kind war mir der Garten riesig vorgekommen, fast wie ein Park – einst eine endlose Spielwiese, jetzt eine friedliche Zuflucht vor dem Treiben der nahen Großstadt.

Vor sechzig Jahren hatten meine Eltern das Grundstück und die Villa am Fuße des Brunner Bergs an der südlichen Grenze von Wien erworben. Der Krieg hatte an der Villa schwere Schäden hinterlassen, doch in jahrelanger Kleinarbeit hatten meine Eltern jedes Detail des Gebäudes originalgetreu in Stand gesetzt und ihm so den Glanz der Gründerzeit zurückgegeben.

Prinzessin im Schloss hatte ich als kleines Mädchen am liebsten gespielt. Eingehüllt in Gardinen und weiße Spitzenunterröcke meiner Großmutter war ich durchs Haus gefegt, stets in ungeduldiger Erwartung des Märchenprinzen, der mich auf seinem weißen Pferd entführen sollte. Doch mein Bruder war längst zu alt gewesen, um als Prinz zu taugen, und hätte nicht im Traum daran gedacht, eine Prinzessin zu retten. Er hatte meine Aufmachung nur lächerlich gefunden. Das Lachen war ihm erst beim Fangenspielen vergangen, als ich stets schneller gewesen war als er.

Unweigerlich kam mir diese Erinnerung, als die kleine Katrin ihren älteren Bruder durch die Bäume hetzte und er mit ihrem Tempo nicht mithalten konnte. Sie sahen mich am Fenster stehen, und Katrin rief zu mir herauf: »Guten Morgen, Tante Victoria! Das Frühstück ist fertig. Kommst du herunter?«

»Ja«, antwortete ich, »ich habe einen Bärenhunger, obwohl ich mich noch nicht so viel bewegt habe wie ihr!« Schon waren beide wieder verschwunden.

Erst jetzt fiel mir auf, dass die Morgenluft noch recht kühl war. Mich fröstelte ein wenig, außerdem war ich tatsächlich sehr hungrig. Also schloss ich das Fenster, zog mir eilig meine Jeans und einen warmen Pullover an und lief hinunter zum Frühstück. Ein herrlicher Geruch von frischem Toast und Kuchen kam mir auf der Treppe entgegen. Im Speisezimmer waren schon alle versammelt: mein Bruder Richard, seine Frau Dagmar und ihre Kinder Katrin und Daniel. Eine Atmosphäre familiärer Geborgenheit erwartete mich, und endlich stand mir wieder der Sinn danach, sie in vollen Zügen zu genießen.

Mein Bruder würde nächstes Jahr vierzig werden, doch den Altersunterschied von zehn Jahren sah man ihm keineswegs an. Seine kräftige, mittelgroße Statur verriet jugendlichen Tatendrang. Das dichte, brünette Haar unterstrich die markanten Linien seines Gesichts, die viel weniger von fortgeschrittenem Alter als von Durchsetzungskraft zeugten. Seine leitende Position als Geschäftsführer und mittlerweile Inhaber der väterlichen Firma erforderte klares Vernunftdenken, das auch sein privates Verhalten deutlich beherrschte. Und trotzdem wusste jeder, der ihn näher kannte, dass sich hinter dem kühlen Blick seiner dunklen Augen ein ausgeprägter Familiensinn verbarg.

Während sich Richard gern als strenger Vater sah, war Dagmar der ruhende Pol der Familie. Sie hatte ihren Beruf als Volksschullehrerin aufgegeben, um sich ganz ihren privaten Verpflichtungen zu widmen. Ich bewunderte sie oft, mit welcher Besonnenheit sie an Probleme heranging, dass sie nie die Beherrschung verlor und auch im Umgang mit ihren Kindern stets Gelassenheit bewahrte.

Dagmar und ich hatten uns vom ersten Tag an bestens verstanden – eine Seltenheit unter Schwägerinnen und umso erstaunlicher, als wir uns in Temperament und Aussehen grundlegend unterschieden. Sie, die sanfte Blonde, war herzlich, aber zurückhaltend. Ich dagegen, dunkelhaarig, mit einem leicht südländischen Einschlag, den ich von meiner Mutter geerbt hatte, fiel durch ein lebhaftes Wesen und eine offenere Art auf. Ich konnte meine Gefühle meist nur schlecht verbergen, war mitunter sogar hitzig und aufbrausend. Vielleicht faszinierte uns am anderen gerade das, was dem eigenen Charakter fremd war. In jedem Fall verband uns eine ehrliche Freundschaft, deren Bande viel stärker waren als die rein familiäre Beziehung.

»Hallo Victoria«, sagte meine Schwägerin, »du kommst gerade recht, der Kuchen ist frisch aus dem Backrohr. Du musst ihn unbedingt probieren!« Ich nahm dankend an und gesellte mich zu der morgendlichen Runde.

Tatsächlich konnte ich mich dem einladenden Duft von Dagmars goldgelbem Kuchen nicht entziehen und lud mir gleich drei Stück davon auf meinen Teller. Gierig stürzte ich mich darüber. »Sieh an«, bemerkte mein Bruder mit Verwunderung, »dein Appetit ist ja zurückgekehrt!«

»Endlich schmeckt dir etwas«, freute sich Dagmar, »seit Monaten isst du viel zu wenig. Du hast sicher drei oder vier Kilo abgenommen.«

»Keine Ahnung«, antwortete ich und schluckte hinunter, »aber das wird sich jetzt alles ändern!«

Das war das Stichwort gewesen. Dagmar und Richard sahen einander kurz an, dann richteten sie ihre Blicke gleichzeitig auf mich. Meine Antwort nahm ihre Frage vorweg. »Ja, es geht mir viel besser. Ich glaube, ich bin jetzt darüber hinweg. Ich werde noch einmal ganz von vorne anfangen.«

Erleichterung und Freude standen ihnen in die Gesichter geschrieben, und Dagmar platzte in ungewöhnlich lebhafter Weise hervor: »Das ist großartig, Victoria, endlich! Wir waren schon in Sorge um dich. Du hast dir alles sehr zu Herzen genommen.«

»Wir freuen uns wirklich, dich wieder so optimistisch zu sehen«, pflichtete ihr mein Bruder bei, »ich wusste ja immer, du machst deinem Namen alle Ehre!«

Katrin und Daniel hatten bisher schweigsam an ihren Cornflakes gekaut, doch jetzt wollten sie es genau wissen.

»Wieso«, fragte Daniel, »was heißt denn Victoria?«

»Es ist Latein und bedeutet Sieg oder Siegerin«, klärte ihn sein Vater auf.

»Und wen hast du besiegt?« fragte Katrin verwirrt.

»Den Kummer, der mich in den letzten Monaten quälte«, war die ehrliche Antwort.

»Ach so«, sagte Daniel, der dem Gespräch nun endlich folgen konnte, »du meinst, weil dich Onkel Michael betrogen hat und du dich deswegen von ihm hast scheiden lassen!«

Es ist immer wieder ein Erlebnis – ob heiter oder schmerzlich –, mit welcher Offenheit Kinder die Dinge beim Namen nennen. Sie suchen nicht nach Umschreibungen und höflichen Formulierungen, sie sagen die Wahrheit gerade heraus. Uns Erwachsenen ist dies oft peinlich, und wir tadeln unsere Kinder für die Ehrlichkeit, die wir selbst den anerzogenen Tabus opfern.

»Daniel!« ermahnte ihn sein Vater, doch die Zurechtweisung schien mir unbegründet.

»Lass ihn, Richard, er hat doch Recht! Genau so war es: Michael hat mich betrogen – und das nicht nur einmal! Und jetzt ist es schon ein halbes Jahr her, dass wir geschieden sind. Wie beschönigend man es auch formuliert, es bleibt doch immer dieselbe miese Tatsache, die deprimierendste Zeit meines Lebens. Aber an so einem herrlichen Frühlingsmorgen wollen wir keine traurigen Geschichten aufwärmen!« versuchte ich vom Thema abzulenken. »Nach dem Frühstück werde ich einen kleinen Waldspaziergang machen. Wer ist dabei?«

»Ich!« rief Katrin in heller Begeisterung.

»Ich auch!« schloss sich Daniel an. »Dürfen wir auch mit den Fahrrädern fahren?«

»Meinetwegen«, antwortete ihr Vater, »aber ihr bleibt in Reichweite von Tante Victoria. Ihr fahrt nur so weit voraus, dass sie euch noch sehen kann, verstanden?« Mit einhelligem Nicken stimmten sie zu. Auch schienen sie von der Aussicht angetan, dass ihre Eltern an dem morgendlichen Ausflug nicht teilnehmen wollten. Und bevor sie es sich anders überlegten, wollten die Kinder lieber in zehn Minuten zur Abfahrt bereit sein.

Wie alles begann

Pünktlich erschienen die Kinder mit ihren Fahrrädern beim Gartentor. In Windeseile waren die Räder vom gröbsten Winterstaub gereinigt und die Reifen aufgepumpt worden. Eingepackt in warme Windjacken machten wir uns auf den Weg.

Knapp fünfhundert Meter legten wir auf einer asphaltierten Straße zurück, dann erreichten wir schon den Waldweg. Er führte leicht bergauf, den Waldrand entlang. Der Boden war fest und für die geländegängigen Fahrräder ideal. Katrin und Daniel hielten das Versprechen, das sie Ihrem Vater gegeben hatten und ersparten es mir, sie unentwegt beobachten zu müssen.

Herrlich, ich konnte meinen Spaziergang so richtig genießen! Die frische Luft tat mir gut. Immer wieder holte ich tief Atem, um die belebende Wirkung des jungen Frühlings in mir aufzunehmen. Die warmen Sonnenstrahlen waren eine Wohltat nach den kalten Wintermonaten.

Das anregende Gezwitscher der Vögel durchdrang die morgendliche Stille. Nur wenige Menschen waren schon unterwegs. Hie und da traf man einen Jogger oder jemanden, der seinen Hund spazieren führte. Als der Weg flacher wurde, packte mich der Ehrgeiz, und ich versuchte den Joggern nachzueifern. Langsam und gleichmäßig begann ich zu laufen. Dann steigerte ich das Tempo, merkte aber schon nach kurzer Strecke, dass meine Kondition sehr zu wünschen übrig ließ. Also blieb ich stehen und atmete kräftig durch.

Plötzlich kam mir der unvermeidbare Gedanke: Michael hatte mich einst zum Joggen überredet. Es werde mich fit, schlank und gesund erhalten, hatte er gemeint, doch ich hatte es viel mehr aus Liebe zu ihm getan.

In gemütlichem Tempo lief ich weiter, doch der Gedanke an Michael ließ mich nicht mehr los. In den letzten Monaten hatte ich so oft voll Bitterkeit an ihn und das Ende unserer Ehe gedacht. Jetzt war es irgendwie anders. Plötzlich war in meiner Erinnerung auch wieder Platz für all das Schöne, das wir in den gemeinsamen acht Jahren erlebt hatten. Ob ich ihm verziehen oder nur die Enttäuschung verwunden hatte? Es war ohne Bedeutung. Die Bilder unseres gemeinsamen Lebens liefen vor meinen Augen ab, ohne dass mich die Gefühle überwältigten.

Ich lernte Michael kurz nach meinem einundzwanzigsten Geburtstag kennen. Damals war ich gerade aus London zurückgekehrt, wohin mich meine Eltern nach der Matura geschickt hatten. Sie hatten eine Menge Geld in meine Englischkenntnisse investiert, da sie ein Sprachdiplom einer englischen Universität für beruflich nützlich hielten. Ich selbst zerbrach mir damals noch nicht den Kopf über meine Karriere – die Idee mit London war nur ein willkommenes Ausbrechen von Zuhause.

Tatsächlich sollten keine Erwartungen enttäuscht werden: in den zwei Jahren lernte ich, mich der englischen Sprache wie meiner Muttersprache zu bedienen, schaffte das Diplom und erlebte überdies eine ausgelassene, unvergessliche Zeit in England.

Da es die Natur mit mir recht gut gemeint und mich mit einer als attraktiv empfundenen Erscheinung versehen hatte, gestaltete sich mein Eintritt in neue Gesellschaftskreise mühelos. Mein umgängliches Wesen erleichterte mir zusätzlich das Knüpfen neuer Kontakte. Ich genoss es, die unterschiedlichsten Menschen kennen zu lernen, wovon das Umfeld der Universität eine wahrlich große Auswahl bot.

In regelmäßigen Abständen organisierte man Studentenparties, auf denen sich die Neulinge am Unicampus trafen. Dort begegnete ich etlichen durchgeknallten Typen, die mich in ihren zweifelhaften Bann zogen. Zwei von ihnen hatten es mir besonders angetan: Greg, der Besitzer einer Modelagentur, der mich zu Fotoshootings für Frauenmagazine überreden wollte, und Pete, der Manager einer kleinen Theatertruppe, der mich für eine Rolle in seiner Inszenierung von Othello engagierte.

Die Idee mit der Schauspielerei fand ich anfangs sehr reizvoll, doch bald zweifelte ich an meinem Talent, und so blieb es bei meiner einmaligen Bühnenerfahrung. Hingegen war ich von der Vorstellung, als Model zu posieren, nur wenig angetan. Diese Art von Karriere hätte weder meinen Neigungen entsprochen, noch hätte sie die Zustimmung meiner Eltern gefunden. Dennoch überredete mich Greg, bei einigen unbedeutenden Modeschauen mitzumachen, was eine willkommene Abwechslung war und leicht verdientes Geld brachte.

Warum mir Greg und Pete unter all den schillernden Figuren besonders in Erinnerung blieben, lag freilich nicht nur an den verrückten Jobs. Mit beiden hatte ich eine intime Beziehung. Greg, der große blonde Amerikaner, betörte durch sein selbstsicheres Auftreten und seinen unübertrefflichen Charme. Er nannte mich seine Exotin wegen meiner dunklen Augen und Haare. Er gab mir das Gefühl, etwas Besonderes zu sein, wofür ich im Alter von neunzehn freilich sehr empfänglich war.

Pete dagegen wirkte anfänglich eher zurückhaltend, fast schüchtern. Seine Persönlichkeit entfaltete sich erst auf der Bühne, wo der unscheinbare Vorstadtjunge aus Manchester über sich hinauswuchs. Obwohl Pete äußerlich nicht gerade mein Typ war, bewunderte ich ihn, er und sein leidenschaftliches Schauspiel faszinierten mich. Ihm verdankte ich auch die glühende Begeisterung für englische Literatur und den allmählich in mir reifenden Entschluss, dieses Fach in Wien weiterzustudieren.

Beide Beziehungen hinterließen für mein weiteres Gefühlsleben kaum prägende Spuren. Es war in beiden Fällen eine schöne Erinnerung – es war in keinem Fall die große Liebe gewesen. Sowohl Greg als auch Pete hatten mich in Welten entführt, die ich bisher nicht gekannt hatte. Dafür dankte ich ihnen, dafür liebte ich sie. Beide Beziehungen gingen ohne große Wehmut auseinander.

So vergingen die zwei Jahre in London wie im Flug. Gerne wäre ich noch länger geblieben, doch meine Eltern drängten darauf, dass ich wie vereinbart heimkehren müsse, um eine ordentliche Berufausbildung zu beginnen.

Als ich ihnen von meinen Plänen, englische Literatur an der Universität Wien zu studieren, erzählte, war das Verständnis nur gering. Ein Jusstudium wäre ihr Wunsch gewesen mit dem Ziel, Richterin oder Anwältin zu werden oder eine leitendte Position in einem internationalen Konzern zu übernehmen. Ich müsse nicht unbedingt das Baufach erlernen, da mein großer Bruder ohnehin die väterliche Firma übernehmen wolle. Aber ausgerechnet Literatur? Welchen Beruf wolle ich damit ergreifen? Könne ich damit Geld verdienen? Es galt, eine Menge Vorurteile aus dem Weg zu räumen und eine große Überzeugungskraft meinerseits aufzubieten. Doch ich ließ mich nicht beirren, die Entscheidung war gefallen: schließlich gab es kein Argument gegen brennendes Interesse und wahre Begeisterung.

Voll gepackt mit Motivation stürzte ich mich in meine Studien. Auch wenn sich das Leben an der Wiener Uni nicht so bunt und abwechslungsreich gestaltete wie in London, fand meine Leidenschaft ausreichenden Nährboden.

So kam es, dass ich eines Tages im ersten Semester hingebungsvoll einer Shakespeare-Vorlesung lauschte, als mir plötzlich eine Stimme zuflüsterte: »Verstehst du alles, was der da draußen erzählt?«

Ich zog die Augenbrauen hoch und lächelte den Typ zu meiner Rechten an. »Du nicht?«

»Keine Spur!« war die ehrliche Antwort, und wir mussten beide lachen.

Mein attraktiver Sitznachbar war mir schon vorher aufgefallen, doch es gefiel mir, dass er mich angesprochen hatte. Nach der Vorlesung führten wir unsere Unterhaltung bei einer Tasse Kaffee in der Mensa fort, und er erzählte mir, dass ihn die bloße Neugier in eine Shakespeare-Vorlesung gelockt habe, dass er aber lieber bei seinen Gesetzesbüchern bleiben wolle.

So traf ich Michael. Und so verliebte ich mich in ihn – damals, bei unserer ersten Begegnung –, in seine große, schlanke Gestalt, sein braunes, leicht naturgewelltes Haar, in jenen verschmitzten, verführerischen Ausdruck um die grünen Augen. Dass auch er sich auf den ersten Blick in mich verliebt hatte, sagte er mir erst viel später.

Michael war damals – mit seinen knapp dreiundzwanzig Jahren – schon im letzten Abschnitt seines Jusstudiums. Prüfung für Prüfung absolvierte er in rekordverdächtigem Tempo. Es imponierte mir, welch ungeheuren Ehrgeiz er aufbrachte, um sein Berufsziel zu erreichen. Als Rechtsanwalt wollte er in die namhafte Kanzlei seines Vaters eintreten und dort das große Geld machen. Seine Zielstrebigkeit und das damit verbundene Selbstbewusstsein verliehen seinem Auftreten jene Unwiderstehlichkeit, der ich in meiner jugendlichen Naivität rettungslos erlag.

Seiner großen Leidenschaft, dem Tennisspielen, verdankte Michael seine sportlich durchtrainierte Figur. Bevor wir uns kannten, verbrachte er seine Freizeit fast ausschließlich auf dem Tennisplatz. Naturgemäß trieb Michael auch das Tennisspielen bis zur Perfektion. Er spielte große Turniere und war während der Schulzeit sogar einmal österreichischer Jugendmeister gewesen.

Auch unsere Freundschaft entwickelte sich auf dem Tennisplatz. Ich spielte miserables Tennis, und Michael trainierte mich, mir immer wieder versichernd, dass ich in Wahrheit ein Talent sei. Im Tennisclub führte mich Michael bald als seine neue feste Freundin ein und setzte mich damit ganz unweigerlich den eifersüchtigen Sticheleien der weiblichen Mitglieder aus.

Obwohl sich Michael selbst gerne als Draufgänger sah, bemühte er sich, unsere Beziehung nicht zu überstürzen. Daran lag auch mir sehr viel. Behutsam kamen wir uns näher, und ich fühlte, dass wir einander immer mehr bedeuteten.

Wir kannten uns fast sechs Wochen, als wir zum ersten Mal miteinander schliefen. Und da wusste ich es: mit Michael war es anders – anders als alles, was ich sexuell bisher erlebt hatte. Nie zuvor hatte ich Leidenschaft so intensiv empfunden, hatte ich das sinnliche Verlangen bis in jede Faser meines Körpers verspürt. Ich merkte, wie ich Michael immer mehr und mehr verfiel. Die erotische Hingabe unserer Beziehung stärkte zusätzlich meine Gefühlstiefe, überzeugte mich davon, dass ich ihn wahrhaft liebte und er von demselben überwältigenden Empfinden für mich erfüllt war. Ich war überglücklich. Alle meine Wünsche und Hoffnungen kreisten um Michael. Die Momente der innigen Zweisamkeit sollten für uns niemals enden.

Nur manchmal stimmte es mich ein wenig traurig, dass Michael keinen Sinn für Romantik und Zärtlichkeit hatte. Ich aber sehnte mich nach beidem sehr und versuchte ihm meine Empfindungen zu vermitteln – vergeblich. So wenig Michael einen Sonnenuntergang genießen konnte, so wenig konnte er sich einfach nur an mich kuscheln. Er liebte mich immer impulsiv, heftig, hingebungsvoll – niemals sanft und anschmiegsam. Aber wie sollte ich ihm Zärtlichkeit erklären, wenn er dieses Verlangen nicht kannte? Wie sollte ich ihm die Schönheit eines Regenbogens beschreiben, wenn er darin nur eine physikalische Erscheinung sah? Bald musste ich erkennen, dass meine Bemühungen fruchtlos blieben, also behielt ich meine Sehnsüchte für mich.

Es schien ganz natürlich, die Zukunft gemeinsam zu planen. Wir mieteten zusammen ein Appartement und stimmten überein, es stilvoll einzurichten. Der Nachmittag, an dem unsere Wohnzimmermöbel geliefert wurden, sollte unvergesslich bleiben. Bekleidet in schmutzigen Overalls, umringt von Plastikhüllen und Verpackungskartons, nahm mich Michael plötzlich in den Arm und meinte: »Wenn ich mein Studium beendet habe, könnten wir eigentlich heiraten. Was hältst du davon?«

Ich war völlig sprachlos, da ich in diesem Augenblick mit allem anderen als einem Heiratsantrag gerechnet hätte. Andererseits war es auch kein Antrag, wie ich ihn mir erträumt hatte – an einem romantischen Ort, im Mondschein, in festlicher Kleidung. Er war vielmehr typisch – was Formulierung, Ort und Zeit anlangte – für Michaels nüchterne, fantasielose Gefühlswelt. Und trotzdem war ich unsagbar glücklich. Ich nickte, fiel ihm um den Hals und küsste ihn.

Ein halbes Jahr später heirateten wir. Es war ein rauschendes Fest mit den beiden Familien, zahlreichen Freunden und dem ganzen Tennisclub. Meine Eltern waren überglücklich, denn sie mochten Michael sehr gern und hielten ihn überdies für eine vielversprechende Partie. Vielleicht war es besser, dass sie es nicht mehr erlebten, wie unsere Ehe endete.

An Kinder dachten wir vorerst nicht. Er wolle keine Kinder in die Welt setzen, meinte Michael, bevor er sich beruflich etabliert habe. Außerdem waren wir uns einig, dass auch ich vorher mein Studium abschließen müsse.

Bis dahin vergingen aber noch volle drei Jahre, in denen unsere Ehe von Höhepunkten getragen und nur selten von Konflikten überschattet wurde; drei Jahre, in denen die Vorzüge und Schwächen des anderen zur alltäglichen Normalität wurden, in denen ich Michaels intellektueller Sachlichkeit oft mit Unverständnis begegnete, in denen er wiederum meine temperamentvollen Gefühlsausbrüche mit wehrlosem Erstaunen über sich ergehen ließ; drei Jahre, in denen unsere vielen gemeinsamen Interessen und Gewohnheiten – wir trieben regelmäßig Sport, gingen oft ins Theater, fühlten uns wohl in geselligem Freundeskreis – über unser grundverschiedenes Wesen hinwegtäuschten; drei Jahre, in denen ich trotz allem aus Überzeugung zu mir selbst und zu jedem, der es hören wollte, sagte, dass wir eine glückliche Ehe führten.

Tiefe Wunden

Laute Stimmen aus der Entfernung rissen mich unsanft aus meinen Gedanken.

»Du bist so blöd!« hörte ich Katrin schreien. »Kannst du nicht aufpassen?«

»Reg dich ab, es ist ja nichts passiert!« beschwichtigte Daniel.

Mit wenigen Schritten hatte ich die beiden erreicht und fragte nach dem Grund der Aufregung.

»Er ist mir an den hinteren Kotflügel gefahren«, beklagte sich Katrin, »ich wollte anhalten, da hat‹s auch schon gekracht.«

»Na klar«, verteidigte sich Daniel, »weil du auch ohne Grund stehen bleiben musst!«

»Das kann dir doch egal sein, du musst mir ja nicht so dicht auffahren!«

Jetzt hatte ich genug gehört. »Halt, halt, ihr beiden! Was soll das? Ich habe leider nicht gesehen, was passiert ist, aber so viel steht doch fest: es ist nichts kaputt und ihr habt euch nicht verletzt, oder?« Meine Feststellung fand schweigende Zustimmung. »Also bitte, denkt daran: Nicht zu knapp auffahren und nicht grundlos bremsen! Alles klar?«

Das Nicken war nicht überzeugend, aber der erste Zorn schien sich gelegt zu haben. »Und jetzt seid nicht mehr sauer aufeinander!« versuchte ich zu beruhigen. »Eine halbe Stunde seid ihr friedlich mitsammen Rad gefahren. Ich möchte, dass der Heimweg ebenso verläuft. Wir wollen doch alle keine Schwierigkeiten mit eurem Vater, oder?« Diesmal war das Nicken schon deutlicher, offenbar war es in ihrem Interesse, dass der kleine Vorfall unter uns blieb.

Wortlos schwangen sich die Kinder wieder auf ihre Fahrräder, und wir machten uns auf den Heimweg. Ich nahm mir vor, die beiden von nun an besser im Auge zu behalten. Schweigend zogen sie ihre Runden. Daniel aber verlieh seinem stillen Protest insofern Ausdruck, dass er seiner Schwester immer öfter davonfuhr. Einige Zeit beobachtete ich ihn, doch als sich sein Verhalten nicht änderte, holte ich ihn zu mir.

»So war das nicht ausgemacht«, ermahnte ich ihn, »du weißt genau, dass ihr zusammenbleiben sollt. Hör endlich auf zu schmollen, deine Schwester hat dir nichts getan!«

»Doch, sie muss immer petzen, dabei hat ihr Fahrrad keinen einzigen Kratzer abgekriegt!«

»Sie hat sich bloß geschreckt! Und dann musste sie ihrem Ärger Luft machen. Jetzt sei doch nicht mehr nachtragend! Fahr wieder mit ihr, bitte, und gib auf sie acht! Du bist schließlich der Ältere und solltest daher auch der Klügere sein.« Mit diesen Worten war es mir gelungen, an den brüderlich-männlichen Stolz zu appellieren. Er schien zufrieden gestellt, flüsterte ein überlegenes »Okay!« und sprang auf sein Rad.

Tatsächlich verfehlte unsere kleine Unterhaltung ihre Wirkung nicht. Ich musste lächeln, als ich die beiden beobachtete. Der große Bruder versuchte ein Vorbild für die kleine Schwester zu sein, und sie genoss es, dass er sich um sie bemühte. Mit seinen elf Jahren war Daniel nur knapp zwei Jahre älter als Katrin, doch in dieser Situation schien er den Vorsprung des Alters voll auszukosten.

Die beiden waren mir in den letzten Monaten sehr ans Herz gewachsen. Ich liebte sie, als wären sie meine eigenen Kinder, und dem lebhaften Temperament nach hätten sie es tatsächlich sein können. Nur dem Aussehen nach gerieten beide nach ihrer Mutter. Katrin war Dagmars Ebenbild, zierlich und blond, mit hellem Teint und anmutigen, ebenmäßigen Gesichtszügen. Ihre langen Wimpern betonten jenen reizvollen und zugleich unschuldig wirkenden Augenaufschlag, der die Lider nur langsam über die himmelblauen Augen gleiten ließ und mit dem sie eines Tages die Männer betören würde. Daniel war dunkler in Haut- und Haarfarbe und auch kräftiger gebaut. Die Ähnlichkeit mit seiner Mutter drängte sich vor allem in der erfrischenden Natürlichkeit seines Lachens auf, das nicht nur seine vollen Lippen, sondern sein ganzes Antlitz erstrahlen ließ. Auch der sensible Ausdruck, den ich bisweilen in seinen großen sprechenden Augen lesen konnte, erinnerte mich an Dagmars Gefühlstiefe und Großherzigkeit.

Sosehr Katrin und Daniel auf den ersten Blick als Geschwister unverkennbar waren, sosehr unterschieden sie sich in ihrem Wesen. Katrin war für andere offener und zugänglicher und konnte von sich aus ihre Gefühle kundtun. Daniel war verschlossener und zurückhaltend und wartete viel eher darauf, dass man sich um ihn bemühte und ihm Zuneigung entgegenbrachte.

Es machte mich glücklich, dass wir drei in den letzten Monaten eine innige Freundschaft geschlossen hatten. Seit meiner Rückkehr in mein Elternhaus hatten wir viel Zeit miteinander verbracht. Ich spielte und bastelte mit ihnen, und wir waren oft gemeinsam unterwegs. Tante Victoria wurde mit der Zeit zu einer Vertrauten, der sie ihr Herz ausschütten konnten, wenn sie sich von ihren Eltern missverstanden fühlten. Katrin kam meist von selbst und klagte ihr Leid; Daniel rückte erst dann mit seinen Problemen heraus, wenn ich ihn mehrmals eindringlich gefragt hatte, warum er schlechter Laune sei.

So gut es ging, versuchte ich zu vermitteln und Streit zu schlichten. Doch vielleicht waren die Kinder mir selbst eine noch viel größere Stütze als ich ihnen. Sie freuten sich darauf, Zeit mit mir zu verbringen. Oft warteten sie schon ungeduldig, wenn ich nach Hause kam, um gemeinsam etwas zu unternehmen. Sie boten mir jene Ablenkung, die ich dringend benötigte. Mit ihrer aufgeweckten Art rissen sie mich aus meinen trübseligen Gedanken und schafften es, mich die Enttäuschung vergessen zu lassen.

Katrin vermochte darüber hinaus noch viel mehr. Mit ihren neun Jahren konnte sie besser zuhören und mehr Trost spenden als manch Erwachsener. Immer wieder umarmte sie mich und flüsterte mir zu: »Sei doch nicht traurig, Tante Victoria! Auch wenn Onkel Michael dich nicht mehr lieb hat, ich habe dich sehr lieb.« Wahrscheinlich half mir die kleine Katrin mehr als jeder andere über meine Scheidung hinweg.

Scheidung. Da war es wieder in meinen Gedanken, dieses Wort, dieses Ereignis, von dem ich mit Gewissheit behauptet hätte, dass es niemals mir selbst passieren würde.

Und es passierte gerade dann, als wir uns beruflich und finanziell gefestigt hatten. Michael war in die Fußstapfen seines Vaters getreten und ein erfolgreicher Anwalt geworden. Ich hatte mein Studium abgeschlossen und arbeitete als Lektorin für englische Literatur an der Universität. Wir hatten erreicht, was wir uns vorgenommen hatten. Man beneidete uns um unsere vorbildliche Ehe, unser soziales Ansehen, unseren gehobenen Lebensstandard.

Aber gab es Ziele für unsere gemeinsame Zukunft? Kinder? »Warum nicht«, meinte Michael scherzhaft, »bevor wir zu alt dafür sind!« Und ich gab ihm Recht. Auch wenn mir mein Beruf große Freude bereitete, fühlte ich mich mit meinen achtundzwanzig Jahren reif genug, um an Nachwuchs zu denken. Auch meine Eltern waren von unseren Plänen begeistert.

Doch wie so oft im Leben kam es anders. Am Ostersonntag desselben Jahres wurden meine Eltern schuldlose Opfer eines Verkehrsunfalls. Sie starben bei einem Frontalzusammenstoß, verursacht von einem alkoholisierten Autofahrer.

Dieses tragische Ereignis schnitt eine tiefe Wunde in mein Leben. Die zwei Menschen, denen ich so viel verdankte, und die mir öfter verständnisvolle Freunde als gestrenge Eltern gewesen waren, wurden brutal aus ihrem aktiven Leben gerissen. Es war ein unfassbarer, sinnloser Tod – ohne Vorbereitung, ohne Abschied, ohne Trost für meinen Bruder und mich. Die Endgültigkeit des Todes traf uns mit aller Härte.

Nie wieder würden wir alle gemeinsam auf der Terrasse der Villa sitzen und den amüsanten Geschichten meines Vaters lauschen; nie wieder würden wir hitzige Diskussionen über Probleme führen, die jede Generation anders beurteilt; nie mehr würden wir jenen Rückhalt verspüren, den uns unsere Eltern trotz mancher Meinungsverschiedenheit geboten hatten.

Ich vermisste meine Eltern, und Richard ging es ebenso. Ihm aber blieb nur wenig Zeit zu trauern, dennn es galt, die elterliche Firma nun ganz allein zu führen. Zwar hatte Richard die Geschäftsführung schon vor einigen Jahren offiziell übernommen, doch unser Vater war ihm stets mit Rat und Tat beigestanden. Auch Katrin und Daniel litten sehr unter dem Tod ihrer Großeltern, und Dagmar war vor die schwierige Aufgabe gestellt, sowohl ihrem Mann als auch ihren Kindern über den schmerzlichen Verlust hinwegzuhelfen.

Ich selbst fand in meiner Trauer nur wenig seelische Unterstützung. Michaels Bemühen mir beizustehen konnte ich nicht einmal leugnen, doch mehr als das beruhigende Gefühl, dass ich auf ihn zählen konnte, vermochte er nicht zu geben.

Das Leben ging weiter. Ich kniete mich mehr denn je in meine Arbeit und schob den Gedanken an Kinder vorerst von mir weg. Da ich gerade zwei geliebte Menschen auf so tragische, sinnlose Weise verloren hatte, war ich nicht bereit, neues Leben in die Welt zu setzen.

Meine Arbeit war mir Herausforderung und Befriedigung zugleich. Bis in die Abendstunden hielt ich Seminare ab und diskutierte anschließend mit Studenten und Kollegen. Meist begannen unsere Gespräche mit einem Sachthema und setzten sich in angeregtem Geplauder fort.

Mitunter war es spät, wenn ich nach Hause kam. Michael betonte immer wieder, dass er großes Verständnis für meinen beruflichen Ehrgeiz habe, doch es war nicht zu übersehen, dass er meine spätabendlichen Studien missbilligte. Wenn ich abends nach ihm heimkam, war er wenig gesprächig und meist ziemlich gereizt. Niemals aber hätte er sich beschwert oder mir gar Vorwürfe gemacht. Er ging einfach jeder klärenden Aussprache aus dem Weg. Lieber wartete er darauf, dass die Dinge von selbst ins Lot kamen.

Es ließ sich totschweigen, aber nicht bestreiten: irgendetwas stand zwischen uns. Es war eine Unzufriedenheit entstanden, die uns Unbehagen bereitete, die wir aber nicht definieren konnten. War es das Kind, das wir geplant hatten unmittelbar vor dem Tod meiner Eltern? Oder war es dieser Verlust selbst, der etwas – der mich – verändert hatte? Vielleicht aber waren es die unerwarteten Ansprüche, die ich auf einmal an meinen Mann stellte: Ich suchte Trost, ich wollte, ich brauchte ihn! Doch Michael konnte ihn mir nicht geben. Nie sollte ich es erleben, dass ich mich an seiner Schulter ausweinen konnte, dass er mir sanft die Tränen wegwischte, mir zärtlich übers Haar strich und mir leise ins Ohr flüsterte, dass alles wieder gut werden würde.

Warum tat es plötzlich so weh, dass Michael zu diesen Gefühlen nicht fähig war? Hatte ich die tröstende Schulter in all den Jahren nicht genauso vermisst wie jetzt? Hatte es denn nie einen Anlass dafür gegeben? Oder war ich immer allein stark genug gewesen?

Es gab darauf nur eine Antwort: ich hatte Michael immer so geliebt wie er war – zielstrebig, dynamisch, leidenschaftlich, aber auch unromantisch und unsensibel. Die Stärken seiner Persönlichkeit hatten mich großzügig über seine Gefühlsschwäche hinwegsehen lassen. Erst jetzt sah ich seine Unfähigkeit, Trost zu spenden, als einen schwerwiegenden Mangel seines Charakters an. Doch Michael würde sich nicht ändern, das war klar, und so kam ich zu der Überzeugung, dass ich nur aus eigenen Kräften mein seelisches Gleichgewicht wiederfinden konnte.

Ich gab es auf, nach Gefühlskundgebungen zu suchen, die ich ohnehin nicht bekommen würde. Mit den Monaten verblasste auch das Entsetzen über den schrecklichen Tod meiner Eltern, und es verschwand der vormals tiefe Wunsch nach Trost und seelischem Beistand. Ich spürte, wie meine eigenen Kräfte zurückkehrten und dass ich allmählich lernte, Unabänderliches zu akzeptieren.

Für die kommenden Weihnachtsferien planten Michael und ich eine dreiwöchige USA-Reise. Wir wollten uns einen Wagen mieten und von New York aus Richtung Süden fahren. Wir wollten den Alltag hinter uns lassen und ein Stück Freiheit genießen. Meine Idee zu dieser Reise schien Michaels ungeteilte Zustimmung zu finden. Auch er dachte wohl, dass uns das gemeinsame Erleben ohne tägliche Zwänge guttun werde.

Am späten Nachmittag des ersten Dezember – ein Datum, das ich nie mehr vergessen sollte – holte ich die Flugtickets samt Gutschein für den Mietwagen im Reisebüro ab. Als ich die Unterlagen in Händen hielt, stieg unaufhaltsam meine Vorfreude auf die bevorstehende Reise. Kurzerhand beschloss ich, Michael daran teilhaben zu lassen. Ein Blick auf meine Armbanduhr bestärkte mich in meiner Absicht. Es war achtzehn Uhr. Zweifellos würde ich ihn zu dieser Zeit noch in der Kanzlei antreffen.

Es war nur ein kurzer Fußmarsch vom Reisebüro bis zu Michaels Kanzlei in der Wiener Innenstadt. Ich sprühte so voll Energie, dass ich nicht auf den Lift wartete, sondern die drei Stockwerke des alten Hauses ohne Pause hinauflief. Vor der Eingangstür verschnaufte ich kurz, wartete ein paar Sekunden, bevor ich klingelte. Ich horchte, aber nichts rührte sich. Ich klingelte ein zweites und schließlich ein drittes Mal.

Ich war verwundert, überlegte. Für gewöhnlich war um diese Zeit auch die Sekretärin noch im Büro. Aber vielleicht war Michael allein, telefonierte und hatte das Läuten nicht gehört. Versuchsweise griff ich an den Türknauf und drehte ihn. Siehe da, die Tür war nur ins Schnappschloss gefallen und ließ sich problemlos öffenen. Also musste Michael noch hier sein.

Leise trat ich ein. Die schwere Eingangstür fiel hinter mir zu. Vorzimmer, Warteraum und Sekretariat waren menschenleer. Die hohen fensterlosen Räume wirkten bedrückend. Die großen Doppelflügeltüren standen offen. Nur die rot gepolsterte Tür zu Michaels Büro war geschlossen. Wie magisch davon angezogen, ging ich auf sie zu. Ich hatte die Hand schon zum Anklopfen gehoben, als ich aus dem Büro eigenartige Geräusche vernahm: lautes Stöhnen und verspieltes Gelächter wechselten sich ab. Ich zuckte zusammen. Kein Gedanke mehr ans Anklopfen. Instinktiv drückte ich die Türschnalle und stand im nächsten Augenblick im Büro.

Auf dem beigen Ledersofa lag ein ebenso blasses Geschöpf, spärlich bekleidet in roter Unterwäsche. Die langen blonden Haare ließen keinen Zweifel: es war die Sekretärin. Über sie gebeugt war ein Mann – mein Mann – mit nacktem Oberkörper und zerzausten Haaren. Er kniete vor dem Sofa, hielt sie fest umschlungen und küsste sie.

Entgeistert blickten sie hoch, als sie mich im Zimmer stehen sahen. Die Sekretärin stieß einen kurzen Entsetzensschrei aus, und Michael stammelte mit weit aufgerissenen Augen ein fassungsloses »Vicky!«. Blitzschnell war er auf den Beinen und suchte verzweifelt nach Hemd und Schuhen. Die Sekretärin sprang auf, sammelte ihre verstreuten Kleider vom Boden auf und verschwand im nächsten Zimmer.

Regungslos, fast apathisch war ich da gestanden und hatte das Schauspiel beobachtet. Für einen Augenblick trafen sich Michaels Augen und meine. »Lass dir doch erklären!« stotterte Michael, als er hektisch versuchte sein Hemd anzuziehen. Entsetzen und Abscheu überkamen mich. Diese jämmerliche Gestalt, die wie ein Hampelmann – verlegen, mit hochrotem Kopf – vor mir herumhüpfte, war also mein Ehemann, den ich acht Jahre lang geliebt und bewundert hatte.

Nein, ich wollte nichts hören. Ich hatte nur einen Gedanken: so schnell wie möglich weg! In der nächsten Sekunde drehte ich mich um und lief zum Ausgang. Ich riss die Eingangstür auf und rannte die drei Stockwerke hinunter. Hinter mir hörte ich Michael schreien, ich solle warten, er könne mir alles erklären.

Vergessen war die Reise, verschwunden die Vorfreude darauf. Auf der Straße lief ich weiter, getrieben und verfolgt von den abstoßenden Bildern in meinem Kopf. Irgendwann sprang ich in ein Taxi, doch nach Hause konnte ich nicht.

Ernüchterung

Auf unsere morgendliche Radwanderung folgte ein geruhsamer Sonntagnachmittag. Während die Kinder im Garten spielten, saßen Dagmar, Richard und ich auf der Terrasse. Ihre südseitige, windgeschützte Lage ermöglichte es uns, die warme Frühlingssonne in voller Zügen zu genießen. Als sich Richard zu einem Nachmittagsschläfchen zurückzog, nützte Dagmar sofort die Gelegenheit, um mit mir unter vier Augen über das morgendliche Thema zu sprechen.

»Ich freue mich so sehr, dass du deine Scheidung jetzt überwunden hast«, sagte sie fröhlich.

»Ja endlich!« pflichtete ich ihr bei. »Endlich kann ich ohne Wehmut über diese Trennung sprechen. Es ist vorbei. Ich habe die Verbitterung hinter mir gelassen. Michael war acht Jahre lang das Wichtigste in meinem Leben, und wir hatten eine herrliche Zeit zusammen, die ich nicht missen möchte. Irgendwann, so hoffe ich, werden nur die schönen Seiten unserer Ehe in meiner Erinnerung weiterleben, und das deprimierende Ende wird verblassen. Michael ist ein Teil meiner Vergangenheit, und meine Zukunft ohne ihn wird mindestens ebenso schön werden.«

»Ich bewundere dich, du bist eine starke Frau!«

»Oh nein, das scheint nur so. Diese Trennung seelisch, geistig und körperlich zu vollziehen, war ein verdammt harter Weg für mich, das kannst du mir glauben. Du weißt selbst, dass ich all die Jahre nur Augen für Michael hatte, ich vertraute ihm blind und war ihm immer treu, obwohl ich – weiß Gott! – Gelegenheiten genug für Seitensprünge gehabt hätte. Der Vertrauensbruch tat sehr weh und war der Grund, warum ich so lange so enttäuscht war.«

»Aber das wäre doch jeder, dessen innige Beziehung nach Jahren völlig unerwartet auseinanderbricht. Dass man so eine Enttäuschung nicht von heute auf morgen verwinden kann, ist ganz natürlich. Ich würde unter solchen Umständen mindestens ebenso leiden wie du. Nicht auszudenken, wie ich empfinden würde, sollte ich Richard in den Armen einer anderen Frau ertappen!« Dagmar wirkte nachdenklich. Ich sah es ihr an, dass diese Vorstellung sie mit Schaudern erfüllte.

»Keine Angst, Dagmar, Richard ist nicht der Typ für Seitensprünge. Ich kenne meinen Bruder gut genug, um zu behaupten, dass er zu seiner Familie absolut loyal ist. Er mag mitunter verschlossen und unnahbar wirken – das hat er von unserem Vater –, aber er würde dich und die Kinder niemals hintergehen. Ihr bedeutet ihm mehr als alles andere auf der Welt. Treue und Verlässlichkeit gehören zu den großen Stärken der Bergmanns, auch wenn dies – wie in meinem Fall – nicht unbedingt belohnt wird.«

»Du wirst dich in jemanden verlieben, der diese Eigenschaften schätzt und sie erwidert. Entschuldige, wenn ich das so sage, aber offensichtlich hat Michael deine Liebe und dein Vertrauen nicht verdient. Du weißt, dass wir ihn immer sehr gern hatten, aber dass er dich betrügen würde, hätten wir ihm nicht zugetraut.« Ungewohnte Leidenschaft bebte in ihrer Stimme. Ich merkte, dass es Dagmar ein Bedürfnis war, endlich offen über meine Trennung sprechen zu können.

»Ich werde es niemals vergessen«, fuhr sie fort, »wie du damals im Dezember aus diesem Taxi stiegst, mit einer Reisetasche in der Hand, und sagtest: ›Dagmar, darf ich in mein altes Zimmer wieder einziehen? Ich habe Michael verlassen.‹ Im ersten Moment war ich wie vom Blitz getroffen. Niemals hätte ich das erwartet. Wir hielten eure Ehe stets für sehr glücklich.

Erinnerst du dich, wie oft ich dich damals fragte, was passiert sei? Aber du schienst meine Fragen nicht einmal zu hören. Wortlos gingst du ins Wohnzimmer, warfst dich auf die Couch und starrtest auf den Teppich. Du warst vollkommen ruhig, nicht hysterisch, fast teilnahmslos. Ganz plötzlich, nach vielleicht zehn Minuten, sahst du mich an und sagtest so leise, dass ich es kaum hören konnte: ›Er betrügt mich mit seiner Sekretärin.‹ »

Ich erinnerte mich ganz genau an das Bild, das Dagmar skizzierte – an die Fassungslosigkeit in ihrem Gesicht und an ihr verzweifeltes Bemühen, mich zum Reden zu bringen.

»Du musst wissen, Dagmar«, versuchte ich zu erklären, »ich war damals wie in Trance. Mein Innerstes sträubte sich gegen die Wahrheit. Auch wenn mich die schrecklichen Bilder gnadenlos verfolgten, empfand ich außer dem blanken Entsetzen gar nichts – keine Traurigkeit, keine Kränkung, keine Enttäuschung. Das Erlebte wollte nicht in mein Bewusstsein dringen. Wahrscheinlich hoffte ich, dass alles nur ein böser Traum gewesen war. Auf dich muss ich den Eindruck gemacht haben, als hätte ich den Verstand verloren.«

Dagmar lächelte gezwungen. »Nein, aber ich wusste beim besten Willen nicht, wie ich dir helfen sollte. Hättest du geweint, hätte ich dich in die Arme nehmen und trösten können. Aber du wolltest nur in Ruhe gelassen werden. Du nahmst deine Reisetasche und gingst wie ferngesteuert hinauf auf dein Zimmer. Dort hast du dich eingeschlossen. Ich kam mir so hilflos vor, ich hätte so gerne etwas für dich getan.«

»Das weiß ich, aber zu diesem Zeitpunkt konnte mir niemand helfen, ich mir selbst am wenigsten.« Mit neugierigen Augen schien Dagmar auf die fehlenden Einzelheiten der Geschichte zu warten. Also erzählte ich weiter.

»Ich ließ mich aufs Bett fallen und starrte vor mich hin. Beiläufig bemerkte ich, dass in meinem Zimmer nichts verändert worden war. Die zartrosa Bettdecke, die Jugendstillampe auf der Kommode, mein selbst restaurierter Schreibtisch – alles war so, wie ich es bei meinem Auszug hinterlassen hatte. Sogar der alte Stoffhund, mein Liebling aus Kindertagen, saß wie gewohnt auf dem Polster, als hätte er auf mich gewartet.

Immer und immer wieder spielte sich vor meinem geistigen Auge die peinliche Szene ab. Erst das Vorfahren eines Wagens und das Zuschlagen einer Autotür rissen mich aus meinen Gedanken. Ich musste mir nicht erst durch einen Blick aus dem Fenster Gewissheit verschaffen – die Geräusche waren unverkennbar: Michael war gekommen.

Im nächsten Moment klopftest du schon an meine Tür, um mir meinen ungebetenen Besucher anzukündigen. Natürlich war dir Michael bis zu meinem Zimmer gefolgt, denn kurz darauf hämmerte er bereits heftig gegen die Tür und rief: ›Bitte Vicky, mach auf! Ich kann dir alles erklären!‹

Diesen Satz, dachte ich, habe ich doch schon gehört. Mehrmals sogar. Ich schrie, er solle mich in Ruhe lassen, doch ich ahnte, dass Michael seinen Willen durchsetzen würde. Eure Diskussion vor meiner Tür wurde lauter. Immer wieder versuchtest du ihn aufzuhalten und wegzuschicken – vergeblich.

Jetzt erfasste mich eine heftige Erregung. Mein Herz schlug bis zum Hals, mein Puls raste. Ich hätte doch wissen müssen, dass er mich hier in meinem Elternhaus zu allererst suchen würde! Offenbar hatte ich darauf keinen Gedanken verschwendet. Ich wusste nur, dass ich ihn nicht sehen und nicht sprechen wollte. Doch wie sollte ich eine Begegnung jetzt noch verhindern? Die Schreie vor meiner Tür und das Rütteln an der Türschnalle trieben mir Schweißperlen auf die Stirn.

Welch ungeheurer Gefühlsausbruch, wie untypisch für Michael, kam es mir in den Sinn. Jahrelang hatte ich darauf gewartet, dass er seinen Gefühlen freien Lauf lassen und aus sich herausgehen würde. Jetzt legte ich keinen Wert darauf. Plötzlich erschreckte mich ein Gedanke: wie weit würde er in seiner wesensfremden Aufregung gehen? Würde er völlig die Beherrschung verlieren und die Tür aufbrechen? Nein, dazu durfte es nicht kommen. Mir anzuhören, was er zu sagen hatte, schien unvermeidbar. Also stand ich vom Bett auf und versuchte durch einige tiefe Atemzüge ruhiger zu werden.

»Zuerst war ich erleichtert«, unterbrach mich Dagmar, »als die Tür aufging. So aufgebracht, so wild entschlossen, hatte ich Michael noch nie erlebt. Er wirkte beinahe gefährlich. Ich hatte fast ein wenig Angst, als du ihn in dein Zimmer gelassen und die Tür hinter ihm geschlossen hast.«

»Das wäre nicht nötig gewesen. Es kam, wie ich vermutet hatte: Michael hatte erreicht, dass er mich unter vier Augen sprechen konnte, und sofort gewann er seine Fassung zurück. Eines jedoch vermochte er nicht, was er sonst immer tat – mir in die Augen zu sehen. Er stand mitten im Zimmer mit gesenktem Kopf wie ein begossener Pudel. Keine Spur von dem selbstsicheren Auftreten und der gefestigten Persönlichkeit, die mich immer so beeindruckt hatten. Was jetzt unter der Fassade zum Vorschein kam, erschütterte mich. Fast hatte ich Mitleid, als er völlig verlegen stammelte: ›Es ist nicht so wie du denkst, Vicky!‹

Ich sagte nichts, schaute ihn nur an, zwang ihn, meinen Blick – wenn auch kurz – zu erwidern. Er musste in meinen Augen gelesen haben, dass ich nicht gewillt war, mir einen derartigen Unsinn anzuhören, denn mit dem nächsten Atemzug fuhr er entschlossen fort: ›Na gut, Victoria, was willst du von mir hören?‹

›Die Wahrheit!‹ sagte ich, und ich wusste, wenn er mich Victoria nannte, war er bereit, ernsthaft mit mir zu reden.

Nervös ging er im Zimmer auf und ab, scheinbar auf der Suche nach den passenden Worten. ›Du willst die Wahrheit – gut, du sollst sie wissen! Nach dem plötzlichen Tod deiner Eltern hast du dich verändert, oder sagen wir, unsere Beziehung hat sich verändert. Sie hat ihren Schwung, ihre Lebenskraft verloren. Früher waren wir trotz Hektik in Studium und Beruf viel gemeinsam unterwegs, besuchten Freunde, trieben Sport. Jetzt verkriechst du dich hinter Büchern, verbringst die meiste Zeit mit deinen Kollegen und Studenten. Ich weiß auch, wie beliebt du bei ihnen bist und dass einige ernsthaft auf dich stehen. In jedem Fall dürftest du dich in ihrer Gegenwart wohler fühlen als in meiner, denn ich sehe dich kaum noch!‹

Ich traute meinen Ohren nicht. Michael konnte tatsächlich über seine Gefühle sprechen, er konnte es formulieren, was ihn bewegte, was ihn störte. Jetzt plötzlich konnte er mir Vorwürfe machen – und mehr, als mir in diesem Augenblick lieb war.

›Außerdem‹, fuhr er fort, ›schlafen wir viel seltener miteinander, und ich habe den Eindruck, dass es uns beiden an der nötigen Lust fehlt und nicht mehr denselben Spaß macht wie früher.‹

Endlich sind wir beim Thema, dachte ich und meinte zynisch: ›Aber mit deiner Sekretärin macht es dir wieder so richtig Spaß!‹

Michael senkte seinen Blick, schwieg, doch tausend Worte hätten sein Eingeständnis nicht deutlicher ausdrücken können. Dies traf mich wie ein Stich ins Herz. Aber ich durfte es mir nicht anmerken lassen – nicht jetzt. Hier und jetzt sollte er nicht erleben, wie sehr er mich verletzt hatte.

›Und wie lange geht das schon so – mit dir und deiner Sekretärin?‹ Kaum waren mir diese Worte über die Lippen gekommen, bereute ich es schon, denn im Grunde wollte ich es nicht wissen. Auch nur ein einziges Mal mit einer anderen zu schlafen genügte schließlich, um mein Vertrauen zu zerstören.

›Keine Ahnung‹, stotterte er, ›ein paar Wochen vielleicht. Ich weiß es nicht einmal, denn es ist nicht wichtig. Nur du bist wichtig …‹

Plötzlich kam er auf mich zu, hob die Arme, als wollte er sie um mich legen. Instinktiv wich ich einen Schritt zurück.

›Ich verstehe‹, seufzte er und ließ die Arme sinken, ›trotz allem sollst du wissen, dass ich dich liebe und alles andere keine Bedeutung für mich hat.‹

Ich fühlte, wie mich meine Kräfte verließen, dass ich nicht mehr in der Lage war, diese Unterhaltung fortzusetzen. ›Du solltest jetzt gehen!‹ forderte ich ihn auf und ging zur Tür. Ich öffnete sie, um mein Verlangen zu bekräftigen. Er verstand sofort, wie ernst es mir war und dass es keinen Sinn hatte, auf eine Fortsetzung unseres Gesprächs zu bestehen. Er sah mich an, seufzte und ging hinaus. Bevor ich die Tür hinter ihm schließen konnte, drehte er sich noch einmal um und flüsterte: ›Es tut mir leid, Vicky.‹ »

Fehlentscheidung

Dagmar sah mich verwundert an. »Er bat dich nicht, mit ihm nach Hause zu kommen?«

»Nein«, sagte ich, »ganz im Gegenteil! Er ließ danach zwei Wochen nichts von sich hören. Erst kurz vor Weihnachten rief er mich an der Uni an und bat mich um eine Aussprache.«

»Das begreife ich nicht. Zuerst tritt Michael fast die Tür ein, um dich sprechen zu können, und dann meldet er sich so lange nicht?«

»Er erklärte mir später, dass ihn unsere emotionsgeladene Begegnung dazu bewog, mich erst einmal in Ruhe zu lassen. Er wolle nicht in offenen Wunden bohren, meinte er. Vielmehr solle man diese erst ein wenig verheilen lassen, bevor man an die Bekämpfung der Krankheit gehe. Oder mit anderen Worten: Er wollte lieber abwarten als aktiv ein Problem lösen – eben typisch Michael!«

»Aber wozu dann diese heftige Konfrontation? Wozu erzwang er dieses Gespräch mit dir?«

»Du hast Recht, das war für einen betont sachlichen Menschen wie Michael äußerst ungewöhnlich. Es kann kein überlegtes Vorgehen gewesen sein sondern reine Panik – der Schock, dass plötzlich etwas eingetreten war, mit dem er niemals gerechnet hatte, die Angst, dass seine Untreue plötzlich Konsequenzen haben könnte.«

Dagmar schüttelte verständnislos den Kopf. In ihrem Gesicht konnte ich lesen, wie sehr sie Michaels Verhalten verachtete. »Und wie ging es dir nach dieser schrecklichen Konfrontation – nachdem Michael gegangen war?«

Ich überlegte kurz. »Meine Erregung verflog, ich war wieder ganz ruhig. Und ich empfand gar nichts außer einer ungeheuren Leere. Ich legte mich wieder aufs Bett. Meine Gedanken kreisten um die schrecklichen Bilder in der Kanzlei und die Vorwürfe, die mir Michael gemacht hatte. Ich war viel zu durcheinander, um zwischen den beiden Themen eine Beziehung herstellen zu können. Ich fühlte mich bloß hintergangen und betrogen.

In jener Nacht schlief ich nur wenig. Es muss kurz vor Mitternacht gewesen sein, als ich endlich einschlief. Irgendwann – es war noch stockdunkel draußen – wachte ich wieder auf, bemerkte, dass ich in Straßenkleidern auf dem Bett in meinem Jugendzimmer lag. Plötzlich fiel mir alles wieder ein: und da erfasste mich zum ersten Mal eine unendliche Traurigkeit. Ich fühlte, dass das Leben, das ich mir in den letzten Jahren aufgebaut und wie selbstverständlich für meine Zukunft geplant hatte, zu Ende gehen würde. Ich fühlte, wie mich Enttäuschung und Verzweiflung zu überwältigen drohten.

Ich vergrub mein Gesicht im Kopfpolster und ließ meinen Tränen freien Lauf. Ich weinte wie ein Kind – endlich! – schluchzte laut und heftig. Es war befreiend, der ganze aufgestaute Kummer brach aus mir hervor. Irgendwann, als es draußen bereits hell wurde, schlief ich wieder ein.«

Niemandem außer Dagmar hätte ich meine Gefühle so freimütig offenbart. Ihr konnte ich mich völlig anvertrauen und dabei sicher sein, dass jedes Wort unter uns blieb. Dagmar konnte stundenlang zuhören, wenn es nötig war. Allein dadurch gab sie einem das Gefühl von Hilfe und Anteilnahme. Sie verstand es, sich in andere hineinzudenken und hatte stets ein paar verständnisvolle Worte bereit.

»Damals«, sagte sie, »waren Richard und ich ziemlich ratlos, wie wir dir am besten helfen konnten. Schließlich kamen wir überein, dass die Geborgenheit deiner Familie das Wichtigste für dich wäre, und nur auf dein eigenes Verlangen hin wollten wir dir mit Rat und Tat zur Seite stehen.«

»Und damit habt ihr völlig richtig gehandelt, ihr beide und die Kinder. In den acht Wochen, die ich damals bei euch verbrachte, fühlte ich mich tatsächlich sehr geborgen. Die Kinder akzeptierten die Erklärung, dass ich Streit mit Onkel Michael hatte, und du und Richard, ihr wart für mich da, ohne mich mit Fragen zu quälen, ihr gabt mir einfach das Gefühl, auf euch zählen zu können und nicht allein zu sein.

So hatte ich in diesen wenigen Wochen Zeit und Möglichkeit, über meine Ehe nachzudenken und Abstand zu den Ereignissen zu gewinnen. Nachdem ich den ersten Schock überwunden hatte, versuchte ich innerlich wieder zur Ruhe zu kommen – ein schwieriges Unterfangen, denn schon bei meinem ersten Treffen mit Michael vor Weihnachten stellte sich heraus, dass unsere Ehekrise kaum zu bereinigen war.

Ich weiß nicht mehr, was ich mir alles von dieser Aussprache erwartete: Einsicht, wie sehr er mich verletzt hatte? Reue und das Versprechen, dass er mich nie wieder betrügen würde? Hoffnung, dass er begreifen würde, es könne keine Beziehung ohne gegenseitiges Vertrauen geben? Ich ging zu unserer Verabredung mit sehr gemischten Gefühlen – Wut, Enttäuschung, Zweifel, aber auch ein klein wenig Freude, ihn wiederzusehen.

Wir hatten uns in einem kleinen Café hinter der Oper verabredet. Michael wartete an einem Ecktisch und erblickte mich sofort, als ich das Lokal betrat. Er stand auf und kam mir charmant lächelnd entgegen. Und da war er wieder, der verführerische Glanz seiner Persönlichkeit, dem ich von Anfang an erlegen war: die sportlich elegante Erscheinung, das selbstsichere Auftreten, der einnehmende Blick seiner lebhaft verspielten Augen.

Ich machte mir nichts vor, ich liebte Michael immer noch, und er gefiel mir wie am ersten Tag. Doch schon im nächsten Moment plagte mich die ungewisse Frage, wie viele Frauen, von denen ich nichts wusste, seiner Ausstrahlung ebenfalls schon verfallen waren.

Er nahm mir den Mantel ab, umarmte mich vorsichtig und küsste mich leicht auf die Wange. Ich ließ ihn gewähren, erwiderte seine Liebkosungen aber nicht. Er setzte sich mir gegenüber. Offenbar kostete es ihn keine Überwindung mehr, meinem Blick zu begegnen. Nach kurzem Smalltalk und wiederholtem Stillschweigen nahm er plötzlich meine Hand und sah mich ernsthaft an.

›Es tut mir ehrlich leid, Vicky!‹ sagte er mit eindringlicher Stimme. ›Ich wollte dir nicht wehtun, bitte verzeih mir! Ich habe immer nur dich geliebt, alles andere war völlig bedeutungslos, ein Fehltritt, eine Entgleisung; vielleicht eine Begleiterscheinung an langen Arbeitstagen – sonst nichts! Meine Sekretärin verließ danach sofort die Firma, und ich werde sie nie wiedersehen. Bitte komm nach Hause, du fehlst mir!‹

Im ersten Moment war ich von seinen reumütigen Worten wie gebannt. Doch dann erkannte ich, dass sie mich nur versöhnen sollten, das eigentliche Thema aber nicht berührten. Es schien, als wollte Michael sein schlechtes Gewissen in einem einzigen Atemzug erleichtern. Und war er tatsächlich so oberflächlich wie er sich selbst darstellte? Brauchte er Sex als Begleiterscheinung an langen Arbeitstagen, wie andere ins Fitnessstudio gehen?

Es folgte auch kein einziges weiteres Wort des Vorwurfs, ich hätte mich verändert und ihn vernachlässigt – im Gegenteil. Als ich das Gespräch darauf bringen wollte, nahm er alle Anschuldigungen zurück und meinte, er habe mich damals nur im Affekt so heftig kritisiert nach dem Motto Angriff sei die beste Verteidigung.«

Dagmar schien fassungslos. »Du meinst, die ganze Szene in deinem Zimmer war reiner Selbstschutz des in flagranti ertappten Ehemannes?«

»Schon möglich. Der eigenartige Sinneswandel kam mir jedenfalls sehr unglaubwürdig vor. Michael ging es ganz offensichtlich nur darum, eine noch tiefere Ehekrise abzuwenden. Unsere unterschiedlichen Auffassungen über Treue und Vertrauen wurden im Laufe des Gesprächs immer deutlicher. Nach seiner Definition war er mir gefühlsmäßig nie untreu geworden, denn seine ganze Liebe – so beteuerte er – gehöre nur mir. Mit meinem Verständnis jedoch, dass seelische Liebe und körperliche Treue untrennbar seien, und eine Basis des gegenseitigen Vertrauens bildeten, blieb ich allein.

So kam es, dass ich unsere Unterhaltung ziemlich mutlos beendete und keine Chance sah, wieder mit Michael zusammenzuleben. Seine Betroffenheit darüber, dass ich nicht sofort zu ihm zurückkehren und auch nicht Weihnachten mit ihm feiern wollte, war offenkundig. Spätestens jetzt musste er begriffen haben, wie ernst die Situation war. Auf sein Drängen hin versprach ich ihm schließlich ein Wiedersehen nach den Weihnachtsfeiertagen, und wir verabschiedeten uns in bedrückter Stimmung.«

»Ja, ich erinnere mich«, bestätigte Dagmar, »du kamst damals recht niedergeschlagen nach Hause.«

»Und nicht nur damals. Auch die weiteren vier Male, die ich mich mit ihm traf, brachten kaum Annäherung in unseren Auffassungen. Für Michael schien alles wieder im Lot zu sein: die Sekretärin war weg, er hatte sich entschuldigt und wollte nie wieder fremdgehen. Und ich glaubte ihm sogar, denn all seine Beteuerungen klangen zutiefst aufrichtig. Ja, er bemühte sich inständig, mich zurückzugewinnen. Er erinnerte mich an all das Schöne, das wir gemeinsam erlebt hatten, versuchte mich davon zu überzeugen, dass es noch viel schöner kommen werde. Also warf ich schlussendlich alle Zweifel über Bord und redete mir ein, es sei nur fair, Michael eine zweite Chance zu geben.«

»Aber glaubst du nicht«, unterbrach mich Dagmar, »dass du zu früh zu ihm zurückgegangen bist, denn wenn ich dich richtig verstehe, fehlte eurem Neubeginn die nötige Vertrauensbasis.« In Dagmars Stimme klang ein leichter Unterton von Missbilligung. Und sie hatte Recht.

Ich nickte. »Wenn ich ehrlich zu mir bin, muss ich zugeben, dass es mein eigener sehnlicher Wunsch nach der Fortsetzung unserer Ehe war, der mich Michael diesen Vertrauensvorschuss gewähren ließ. Michael vertiefte diesen Wunsch, jedesmal wenn wir uns trafen, er gestand mir seine Liebe, offenbarte mir, wie sehr er mich vermisste, bat mich inständig, zu ihm nach Hause zu kommen. Also gab ich meinem Herzen einen Stoß und zog wieder in unserem Appartement ein.

»Tut es dir leid aus heutiger Sicht?«

»Natürlich! Aber ob eine Entscheidung richtig oder falsch ist, erkennt man oft erst viel später. Ich wäre niemals zu Michael zurückgegangen, wenn ich geahnt hätte, was mir noch bevorstehen würde. Damals musste ich wohl so handeln. Meine Gefühle für Michael waren einfach zu stark, um ihn aufzugeben. Dass ich diese Entscheidung schon nach wenigen Monaten bitter bereuen würde, konnte ich ja nicht ahnen.«

Die kleine Katrin kam plötzlich über die Terrassentreppe heraufgelaufen. »Mir ist so kalt!« rief sie und zitterte am ganzen Körper.

»Warum bist du dann nicht längst im Haus?« ermahnte sie Dagmar und rieb ihr über Rücken und Oberarme, um sie zu wärmen. »Weil Daniel unbedingt die Pingpong-Partie zu Ende spielen wollte!«

»Und wer hat gewonnen?« wollte ich wissen.

»Er natürlich. Er gewinnt ja immer!« antwortete sie verärgert.

»Geh und sag deinem siegreichen Bruder, dass es in zehn Minuten Tee und Kuchen gibt. Er soll alle Spiele wegräumen und anschließend sofort ins Haus kommen. Und du kommst gleich wieder, du zitterst ja jetzt schon!«

Sichtlich erfreut darüber, dass sie ihrem Bruder nicht beim Aufräumen helfen musste, kam Katrin der Aufforderung ihrer Mutter nach.

Es war tatsächlich viel kühler geworden, auch Dagmar und mich fröstelte ein wenig. Die ersten warmen Sonnenstrahlen hatten uns alle dazu verleitet, zu lange im Freien zu bleiben. Ich sah auf die Uhr und stellte mit Erstaunen fest, dass wir fast zwei Stunden geplaudert hatten. Die Sonne stand schon tief im Westen. Es war höchste Zeit, ins Haus zu gehen.

Während Dagmar den Teekessel aufsetzte, deckte ich im Wohnzimmer den Tisch für eine gemütliche Nachmittagsjause. Im Nu war die ganze Familie versammelt. Richard heizte den offenen Kamin an, um – wie er meinte – »die Erfrorenen wiederzubeleben«. Das flackernde Feuer strahlte knisternde Wärme ab, und wir drängten uns davor, um die steifen Finger aufzutauen. Vollendete Wohltat aber schenkte erst Dagmars duftender Tee.

Endspiel

Es war ein Abend im Kreise der Familie, wie wir ihn früher oft erlebt hatten, an kühlen Tagen versammelt vor dem Kaminfeuer im Wohnzimmer der Villa. Damals als unsere Eltern noch lebten und Michael dabei war.

Der Geist unserer Eltern war in der Villa auch jetzt noch gegenwärtig. Das elegante Flair, das sie dem Gebäude verliehen hatten, war unverändert geblieben. Die Exklusivität der Einrichtung trug ihren Stempel: die prachtvollen Jugendstilschränke und Kommoden, die kostbaren Deckenleuchter, die handgeknüpften Teppiche, die wertvollen Gemälde alter Meister. Es waren Schätze, die unsere Eltern im Laufe von Jahrzehnten in der Villa zusammengetragen hatten. Und Richard, Dagmar und ich waren entschlossen, dieses Andenken zu pflegen und zu bewahren. Obwohl unsere Eltern die Villa samt Inventar meinem Bruder und mir zu gleichen Teilen hinterlassen hatten, wäre ich nie auf den Gedanken gekommen, auch nur ein einziges Stück aus dem Gebäude wegzutragen. Dieses Juwel unangetastet zu lassen war auch ganz und gar in meinem Sinn.

So manches wertvolle Stück hatte seine eigene, sonderbare Geschichte, wie es in den Besitz unserer Familie gelangt war. Mit gespanntem Vergnügen hatten wir den Erzählungen unseres Vaters gelauscht, die davon berichteten, wie er in den Nachkriegsjahren bei der Restaurierung einiger schwer beschädigter Kirchen und Paläste mitgearbeitet und als Lohn dafür nicht Geld, sondern ein edles altes Möbelstück erhalten hatte. Unübertroffen in ihrem Unterhaltungswert war dabei die Geschichte des venezianischen Kronleuchters geblieben, den in den Fünfzigerjahren ein italienischer Adeliger beim Wetttrinken gegen unseren Vater verspielt hatte und der seither als dunkelblauer Blickfang das Wohnzimmer zierte.

Richard erinnerte noch manchmal an diese Anekdoten, doch der traurige Beigeschmack schmälerte das Vergnügen. Unsere Eltern fehlten uns sehr. Auch Dagmar hatte sie gern ihre Eltern genannt, da sie zu ihren eigenen Eltern, die geschieden waren und in Übersee lebten, kaum noch Kontakt hatte.

Einer allerdings fehlte in dieser gemütlichen Kaminrunde niemandem mehr – Michael. Mein Bruder hatte längst nur noch Verachtung für ihn übrig, Dagmar konnte ihm nicht verzeihen, was er mir angetan hatte, und die Kinder hatten ihn schon fast vergessen.

Zu den Kindern hatte Michael ohnehin nie ein besonders herzliches Verhältnis gehabt. Sie hatten ihn gemocht, weil er ihnen gelegentlich Geschenke mitgebracht hatte. Zeit und die Muße, um mit ihnen zu spielen, etwas gemeinsam zu unternehmen oder ihnen einfach nur zuzuhören, hatte Michael aber nie gehabt. Es war ihm eher lästig gewesen, wenn sie versucht hatten ihn zu beschäftigen, und meist hatte er auch eine passende Ausrede bereit gehabt.

Kinder merken sofort, wer ihnen mit Offenheit und Aufrichtigkeit zugetan ist und wer lediglich seine verwandtschaftliche Pflicht erfüllt. Sie empfinden nur für jene Menschen ehrliche Zuneigung, die ihnen mit ungeschminkter Herzlichkeit begegnen. Wer Michael kannte, wusste, dass er dazu nicht in der Lage war. Er konnte auf überragende Weise charmant und umgänglich sein. Beides entsprang aber vielmehr seiner persönlichen Eitelkeit als der Gabe, einfühlsam auf andere einzugehen.