Torstraße 1 - Sybil Volks - E-Book

Torstraße 1 E-Book

Sybil Volks

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Beschreibung

Ein Jahrhundert, zwei Familien und ein Haus im Herzen Berlins Berlin, Torstraße 1: Das imposante Gebäude steckt voller Geschichte – und für Elsa voll persönlicher Erinnerungen. Hier kam sie 1929 zur Eröffnung des Kaufhauses Jonass zur Welt, als uneheliches Kind der Verkäuferin Vicky. Hier begann die große, unmögliche Liebe zwischen Vicky und Harry Grünberg, dem Sohn der jüdischen Kaufhausbesitzer. Und Elsas tiefe Freundschaft zu Bernhard, dessen Vater das Haus mit gebaut hat. Sie erleben, wie Familie Grünberg vertrieben wird, die Hitlerjugend einzieht und nach dem Krieg das Institut für Marxismus-Leninismus. Trotz Krieg und geteilter Stadt bleiben Vicky und Harry, Elsa und Bernhard einander verbunden. Ein Gesellschaftsroman und eine Erzählung von Liebe und Freundschaft in wechselvollen Zeiten ­– ausgehend von der wahren Geschichte des Hauses Verfilmt als TV-Serie von den Produzenten von »Babylon Berlin«

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Über das Buch

Ein Jahrhundert, zwei Familien und ein Haus im Herzen Berlins

Berlin, Torstraße 1: Das imposante Gebäude steckt voller Geschichte – und für Elsa voll persönlicher Erinnerungen. Hier kam sie 1929 bei der Eröffnung des Kaufhauses Jonass zur Welt, als uneheliches Kind der Verkäuferin Vicky. Hier begann die große, unmögliche Liebe zwischen Vicky und Harry Grünberg, dem Sohn der jüdischen Kaufhausbesitzer. Und Elsas tiefe Freundschaft zu Bernhard, dessen Vater das Haus mit gebaut hat.

Sie erleben, wie Familie Grünberg vertrieben wird, die Hitlerjugend einzieht und nach dem Krieg das Institut für Marxismus-Leninismus. Trotz Krieg und geteilter Stadt bleiben Vicky und Harry, Elsa und Bernhard einander verbunden.

Ein Gesellschaftsroman und eine Erzählung von Liebe und Freundschaft in wechselvollen Zeiten – ausgehend von der wahren Geschichte des Hauses.

Von Sybil Volks sind bei dtv außerdem erschienen:

WintergästeDie Glücksreisenden

SYBIL VOLKS

TORSTRASSE 1

ROMAN

 

 

 

 

Für Anne, mein großes Los

Willkommen, bienvenue, welcome

Elsa geht einen Schritt auf das Tor zu, den Eingang zur Torstraße 1. Hoch ragt das helle Gebäude in den Berliner Himmel, mit einer Reling um das Obergeschoss und geschwungenen Seitenflügeln. Wie immer, wenn sie sich in den achtzig Jahren ihres Lebens dem Haus genähert hat, gerät Elsas Herz aus dem Takt. Mal ist es Neugier gewesen, mal Trauer, Zorn oder Sehnsucht. Jetzt sind es Freude und Furcht. Freude auf diesen Abend, einen warmen, windigen Abend im Juni, an dem die Torstraße 1 nach Jahrzehnten der Besatzung und vielen Jahren Leerstand zu neuem Leben erwacht. Und Furcht, dass man sie heute zur Eröffnung nicht hineinlässt.

Sie hat die Kreuzung gemieden in den letzten Monaten, um sich überraschen zu lassen von diesem Augenblick. Wie würde es aussehen, wenn nach Jahren die Plane abgenommen war, die alle acht Stockwerke verhüllt hatte? Es war immer ein eindrucksvolles Haus, selbst in der Zeit, als die Mauern bröckelten und die Fenster erblindeten. Nun liegt es wie ein Schiff an der Kreuzung zwischen Torstraße und Prenzlauer Allee, bereit zum Ablegen.

Zur Eröffnung drängen sich die Menschen auf dem Platz vor dem Haus. Während Elsa sich Schritt für Schritt auf den Eingang zubewegt, hält sie Ausschau nach einem grauen Haarschopf in der Menge, einem ganz bestimmten, sehr eigenen Kopf. Ob Bernhard irgendwo unter all den Fremden ist? Ob er überhaupt kommen wird? Dann könnten sie hier und heute miteinander anstoßen – auf ihren und seinen Geburtstag und den Geburtstag dieses Hauses, das zur selben Stunde, als sie beide überstürzt zur Welt kamen, als Kaufhaus eröffnet wurde. Darauf, dass sie alle drei diese irrsinnigen acht Jahrzehnte überlebt haben. Ein Wunder, denkt Elsa, dass niemand von uns in Trümmer gegangen ist.

Sie fühlt nach dem Zettel in der Tasche, den sie für alle Fälle eingesteckt hat. Als Eintrittskarte sozusagen. Auf dem vergilbten Papier steht blau gedruckt: »Passierschein: Genosse/Genossin … ist berechtigt, … Paket aus unserem Hause zu nehmen. Datum … Unterschrift … Stempel«. Da hat sie sich selbst als Genossin Elsa Jonass eingetragen, mit dem Datum von heute und dem Stempel ihres vor Jahren geschlossenen Fotostudios. Den Passierschein hat sie Bernhard abgeluchst, als dieses Haus noch sein Arbeitsplatz war, während man zwischen sie und das Haus ihrer Kindheit eine Mauer gebaut hatte. Und als die Mauer weg war, hat Bernhard um das Haus lange einen großen Bogen gemacht. Aber jetzt ist es wieder offen, offen für sie beide, und diese Party hier, auch wenn es die Gastgeber nicht wissen, ist die Geburtstagsparty für ihn und sie und ihr Haus. Bernhard muss einfach kommen!

»Nicht einschlafen«, sagt hinter ihr eine Stimme. Elsa macht einen großen Schritt, verliert fast das Gleichgewicht. Die neuen Schuhe haben Absätze, wie sie seit Jahrzehnten keine getragen hat. Für die letzte Party des Lebens kann man noch einmal Schlange stehen, auch wenn die Füße schmerzen. Den Stock hat sie zu Hause gelassen. Auch ihre alte Kamera hat sie wieder aus der Tasche genommen und stattdessen Bleistift und Papier eingesteckt. Sie kann ja, nach jahrelanger Übung, jetzt wieder mit ein paar Strichen festhalten, was sie erinnern möchte. Als die Digitalkameras kamen, hat sie wie früher zu zeichnen begonnen. Sie muss kein Geld mehr verdienen mit der Knipserei.

Neben ihr steht eine junge Frau. Sie trägt Hosen und darüber eine Art Kleid. »Haben Sie vielleicht noch eine Einladung übrig?«, fragt Elsa. »Für die Einweihungsfeier?«

Einen Moment schaut die Frau sie fragend an. Ein Auge ist halb verdeckt, der Pony verläuft schräg über die Stirn. »Ach, Sie meinen die Club Opening Night?«, sagt sie, und Elsa nickt. »Nein, ich hab leider nur eine Karte.«

Richtig, das Kaufhaus ist jetzt ein Club. Aber man muss es »Klabb« aussprechen wie die junge Frau. Auch das Haus hat, wie Elsa selbst, oft den Namen gewechselt. Kaufhaus Jonass, Reichsjugendführung, Haus der Einheit, jetzt eben Soho House Berlin. Die Namen kamen und gingen mit den wechselnden Besitzern und Machthabern. Selbst die Straße, in der dieses Haus stand, hieß immer wieder anders. Torstraße, Lothringer Straße, Wilhelm-Pieck-Straße und nun wieder Torstraße.

»Soho House Berlin« ist auf die breite Häuserfront projiziert, in buntem Licht; die Buchstaben flackern, biegen und verzerren sich, tanzen und stürzen wie in einem Anfall von Schwindel von der Mauer. Dann kommen sie an einer anderen Stelle wieder über die Hauswand gekrochen. Elsa gefällt das, es passt zu dem Haus. Man denkt, die Vorstellung ist zu Ende, will die Arena verlassen – und eine Leuchtrakete zischt in den Himmel, das ganze Theater geht von vorne los. Na, das ganze hoffentlich nicht, denkt Elsa.

Vor diesem verschlossenen Tor hatte ihre Mutter eines Tages gestanden, mit ihr, der fast Vierjährigen, auf dem Arm. Sie war zur Arbeit im Kaufhaus geeilt und hielt plötzlich im Laufschritt inne. Viele Menschen drängten sich auf dem Platz vor dem Kaufhaus Jonass, doch niemand näherte sich dem quer über das Tor geklebten Plakat. Männer in Stiefeln und Uniformen standen unter dem Plakat und schrien. Gelächter schallte aus der Menge. Sie wollte weg von den brüllenden Männern und strampelte mit den Beinen, doch ihre Mutter rührte sich nicht und presste sie an sich, dass ihr die Luft wegblieb. Sie zog ihre Mutter an den Haaren und schlug ihr mit der kleinen Faust ins Gesicht. Da drehte sich die Mutter um, weg von dem Tor, weg von dem Plakat, weg von den Gestiefelten, und begann zu rennen. Tränen liefen ihr übers Gesicht. Und Elsa hatte damals gedacht, dass ihre Mutter weinte, weil sie sie geschlagen hatte. Den ganzen Tag hatte sie es gedacht und noch jahrelang.

»Stehen Sie auf der Liste?«

»Auf der Liste?« Elsa schaut auf verschränkte Arme und ein Gesicht, das ihr zu verstehen gibt: bis hierher und nicht weiter.

»Auf der Gästeliste. Einlass nur für Clubmitglieder und geladene Gäste.« Der Blick des Türstehers wandert über ihre weißen Haare, das faltige Gesicht und ihren Mantel, der in etwa so alt sein dürfte wie er selbst.

Elsa umklammert den Passierschein in ihrer Hand. Wenn Sie jetzt das Zauberwort wüsste, das Passwort, das ihr Einlass verschafft. »Ich bin …«

»Die Lady ist meine Grandma.« Eine Stimme in ihrem Rücken, amerikanischer Akzent. »Also seien Sie besser nett zu ihr.« Elsa wird am Arm gefasst und am Türsteher vorbeigeführt, der sie beide durchlässt und den jungen Amerikaner respektvoll grüßt. Der junge Mann hilft Elsa aus dem Mantel, reicht ihn der Garderobiere, nimmt den Chip entgegen und drückt ihn ihr in die Hand. Er hat graue Augen, ein spöttisches und zugleich herzliches Lächeln, das ihr irgendwie bekannt vorkommt, wie aus ferner, längst vergangener Zeit. Aber woher sollte sie diesen jungen Ami schon kennen?

»Ich bin … hier geboren, das wollte ich sagen.« Doch der junge Mann ist verschwunden. Elsa spricht in die Luft. »Hier in diesem Haus. Heute vor achtzig Jahren, auf den Tag genau!«

Sie hat das Tor passiert, auch ohne Passierschein. Doch nun, wohin? In der Eingangshalle stehen die Gäste in kleinen Grüppchen beisammen, lauter junge, auf lässige Weise schick gekleidete Menschen. Einige haben es sich in einer Ecke in Clubsesseln bequem gemacht, über ihren Köpfen schwebt auf einem großen Bild ein mit schwarzen Strichen gezeichneter Hai. Ob das der berühmte Finanzhai ist, fragt sich Elsa, von dem man in Zeiten der Finanzkrise täglich in den Zeitungen liest? Und ob man unter dem Wappen des Finanzhais wohl rauchen darf? Sonst ist es ja überall verboten neuerdings. Soll sie es riskieren, sich einfach eine anstecken? Lieber nicht, sonst geht bestimmt ein Rauchmelder los. Und die Blicke, die man da erntet. Dabei kann sie nichts dafür, es ist ein Geburtsfehler. Wenn einem eine alte Hexe zur Begrüßung auf Erden Rauch ins Gesicht geblasen hat, noch bevor man Sauerstoff atmen konnte, was soll man erwarten? Hier in diesem Haus ist es gewesen, die rauchende Alte als Hebamme und die Poststelle des Kaufhauses als Kreißsaal. Aus dem Mutterbauch auf den Packtisch, auch so etwas prägt – ihre Leidenschaft für Briefe, Briefkuverts, Briefträger hat sie ihr Leben lang behalten.

Heute will sie ihn endlich finden, den kleinen Raum in diesem riesigen Haus, in dem sie das Licht der Welt erblickt hat. Wird wohl Neonlicht gewesen sein. Gab’s das damals schon, Neonlicht? Ihre Mutter hat ihr die Poststelle nie gezeigt, solange sie als Verkäuferin im Jonass arbeitete und Elsa als Kind dort ein und aus gehen und nach Ladenschluss mit Bernhard zwischen Kleiderständern und Möbeln herumtoben und spielen durfte. Bevor die Hitlerjungen und -mädel kamen.

Doch nicht nur sie, auch Bernhard hat etwas zu suchen in diesem Haus, das sein Vater mitgebaut hat. Ein Zeichen hat er hinterlassen, das seinen Sohn betraf, und sein Leben lang ein Geheimnis daraus gemacht. Und Bernhard hat sein halbes Leben lang danach gesucht, immer wieder, während seiner Arbeit hier im Institut. Wenn er es noch finden wollte, war heute vielleicht seine letzte Chance.

Dann ist da noch dieser eine Raum zwischen all den Räumen, von dem sie nicht weiß, ob sie ihn suchen soll und finden möchte. Den einen Raum in diesem Haus, der Bernhards und ihr Raum war auf eine ganz besondere Weise. Wenn sie die Augen schließt, sieht sie zuerst die Schreibmaschine auf dem Tisch, die Schreibmaschine mit kyrillischen Buchstaben. Regale voller Bücher, den abgedunkelten Katalograum, den Staub, der im Sonnenstrahl flirrte, der auf Bernhards damals noch braunes Haar fiel. Noch jetzt, nach einem halben Jahrhundert, wird ihr schwindlig bei den Bildern, die auf die Bücherrücken und den Sonnenstrahl folgen.

Sie beschließt, Bernhard im ganzen Gebäude zu suchen. Vor den Aufzügen stauen sich die Wartenden, doch im Treppenhaus ist sie allein. Sie fängt ganz unten im Untergeschoss an und schaut in alle Räume. Im Kinosaal laufen Filme über die Clubs in Soho und Manhattan, die dem Soho House Berlin Pate gestanden haben. »In the Mood for Life« heißt das Filmprogramm, Englisch ohne Untertitel. Nichts für Bernhard. Aber das Kino ist schön, rote Samtvorhänge und breite Plüschsessel, in denen die Zuschauer versinken, während die Bilder über die Leinwand flackern. Und in der Ecke, sie traut ihren Augen kaum, steht ein alter Popcornautomat. Genau so ein Popcornautomat, wie sie ihn damals in der Femina-Bar betrachtet hat, bis ein GI kam und ihr eine knisternde Tüte in die Hand drückte.

Am Eingang zum Wellnessbereich erklärt man ihr, dass der Aufenthalt nur Clubmitgliedern gestattet sei. Also ebenfalls kein Ort für Bernhard. Da erst kommt ihr der Gedanke, und einen Moment knicken ihr die Knie ein, sodass sie sich an der Theke festhalten muss – vielleicht lassen sie Bernhard gar nicht hinein! Offiziell eingeladen war er ja nicht. Vermutlich hatte es Bernhard gekränkt, dass man Leute wie ihn nicht einlud, die jahrzehntelang hier gearbeitet hatten, Zeitzeugen einer Geschichte, die man womöglich lieber vergessen wollte.

Schritt für Schritt und Stufe für Stufe macht sie sich an den langen Aufstieg bis zur Dachterrasse. Im zweiten Stock hält sie einen Moment inne. Es kann doch nicht sein, dass noch ein Geruch von damals in den Räumen hängt, ein Geruch nach Möbelpolitur und Holz, Rasierwasser und Papier? Hier hatten Heinrich Grünberg und seine leitenden Angestellten ihre Kontore, mit wuchtigen, dunklen Tischen, gekrönt von blitzenden Schreibmaschinen. Zitternd vor Erwartung hatte sie, kaum bis zur Tischkante reichend, auf das Klingeln gewartet, das Klingeln am Ende der Zeile.

Später ist in Direktor Grünbergs Büro, den halbrunden Raum mit holzgetäfelter Decke, das Politbüro eingezogen, das sich nun in die Bar Politbüro verwandeln soll, wie der Schriftzug über dem Eingang verrät. In der Mitte des Raums unter dem Stern der Neonleuchten stehen ein paar Leute im Kreis und drehen Sektgläser in den Händen. Zwei junge Männer lehnen lässig an den Einbauschränken, in denen sich früher Zeitschriften und Akten stapelten, Sitzungsprotokolle des Zentralkomitees der SED. Einer der beiden Männer zeigt auf die gegenüberliegende Wand. Der andere fasst nach dessen Hand und ruft: »Aber doch kein Bild, chéri, das ruiniert ja die ganze Aura!«

Elsa muss lachen. Mehrere Köpfe wenden sich ihr zu. »Warum denn kein Bild?«, fragt Elsa. »Irgendwo steht hier bestimmt noch ein schickes Porträt von Wilhelm Pieck im Besenschrank.« Als sie hinausgeht, hört sie jemanden sagen: »Du, das ist eine geniale Idee von der Alten!«

Wo jetzt die Offices sind, die Lofts und Lounges, waren nach Kaufhauskontoren und Hitlerjugend die Büros von Wilhelm Pieck, Otto Grotewohl und anderen SED-Größen eingezogen. Da war sie nicht mehr ins Haus hineingekommen, aber Bernhard umso öfter. Jahrzehntelang ging er hier ein und aus, und heute Abend, wo sie ihn braucht, wo ist er? Sie sehnt sich mit jeder Minute mehr nach Bernhards klugen Augen und seinem dichten grauen Haarschopf.

Auf einmal wird ihr klar, dass es in diesem Trubel nur einen Ort gibt, wo sie ihn finden kann. Wenn er mit seiner Scheu vor Menschenmengen es irgendwo aushielt, dann auf der Dachterrasse, wo man die Augen in die Ferne schweifen lassen kann unter einem freien Himmel. Und womöglich, mit viel Glück, eine rauchen. Sie geht zurück ins Treppenhaus und macht sich an den Aufstieg. Vielleicht ist Bernhard da oben. Und sie zieht es auch dorthin, auf das Dach dieses Hauses. Ganz spürbar zieht es in ihrer Brust.

Auch damals, im Juni 1929, hatte das Gebäude schon eine Dachterrasse, mit einem Dachgartenrestaurant, und zur Eröffnung des Kaufhauses Jonass knallten die Sektkorken in den Himmel. Vielleicht hatte sie das Korkenknallen, das Sprudeln der Sektfontänen und das Gelächter missverstanden im Bauch ihrer Mutter. Hatte hinter der Bauchdecke gedacht, der ganze Trubel gelte ihrer Ankunft auf Erden.

Über diesen Tag und über ihren richtigen, ihren unbekannten Vater wird sie nie mehr erfahren als das, was Vicky auf Band gesprochen hat kurz vor ihrem Tod, stockend erst und dann hastiger, vom Ende aufgerollt bis zum Anfang, die Geschichte von Vicky und Harry und ihrer eigenen Geburt. Inzwischen hat es sich vermischt – das, was ihre Mutter erzählt, und das, was sie nicht erzählt hat, bis zum bitteren Ende nicht, und womit sie selbst sich die Pausen und Lücken ausgemalt hat. Nun lässt sich das Ganze nicht mehr entwirren. Was ist echt, was ist später hinzugefügt, was retuschiert und was niemals wahr gewesen? So ist es nun mal mit den Geschichten, sagt sich Elsa und macht einen weiteren Schritt auf dem Weg Richtung Dachterrasse und Himmel. Und damit, so hofft sie, einen Schritt Richtung Bernhard.

Die letzten Meter bis zum Eingang läuft er rückwärts. Wie er es in der Rehaklinik nach dem Herzinfarkt gelernt hat, rückwärtszulaufen. Eine gute Art, sich wegzubewegen, hat er damals gedacht. Man sieht genau, was man hinter sich lässt. Und nichts von dem, denkt er jetzt, was ich vor mir habe.

Vorsichtig setzt Bernhard Schritt für Schritt. »Rückwärts und sich vergessen«, summt er. Um diese Straßenecke hat er in den vergangenen Monaten meist einen großen Bogen gemacht. Wenn er es richtig bedenkt, schlägt er seit fast zwanzig Jahren Haken, um hier nicht entlangzugehen. Die Torstraße 1 ist mit zu vielen Erinnerungen verbunden. Guten und schlechten. Aber als das Haus nach so vielen Jahren Leerstand eingerüstet worden ist, wollte er plötzlich, dass alles blieb und nichts sich änderte. Es gefiel ihm nicht, dass aus seinem und Elsas Haus jetzt etwas ganz anderes werden sollte.

Vielleicht hat das etwas mit dem Altwerden zu tun. In den vergangenen Wochen hat er oft davon geträumt, wieder in das Institut zu gehen. So wie er es viele Jahre lang getan hatte. Jahre, in denen er zwischen der Redaktion seiner Zeitung und dem Institut hier im Haus gependelt war. Mit einer schweinsledernen Aktentasche in der Hand, in der sich tatsächlich immer Akten befanden. Und bis zum Ende seines Arbeitslebens hatte die Tasche eine eingedellte Brotbüchse aus Aluminium mit selbst geschmierten Stullen enthalten. Sein Körper steckte an jedem dieser Tage in einem Anzug, der nie wirklich gut saß.

Immer ist er aufgewacht aus seinen Träumen, kurz vor dem Ziel, die graubraune Fassade mit den vielen Fensterreihen schon in Sicht. Jedes Mal blieb er stecken auf seinem Weg. Jedes Mal war er umgekehrt vor dem Eingang des Instituts und hatte die Flucht ergriffen.

Doch vorgestern Nacht hat er nicht vom Institut, sondern vom Kaufhaus Jonass geträumt. Ist wieder ein kleiner Junge gewesen und mit Elsa durch die Etagen gelaufen, um Verstecken zu spielen. Weiße Wochen waren im Kaufhaus, Lichtgirlanden hingen von der Decke, die ganze Halle ein Glitzern und Funkeln. Elsa und er hockten hinter weißen Wäschebergen oder drapierten sich in meterlange Gardinen. Wie in einer Schneehöhle saß er in seinem Versteck unterm Tisch, hinter dem weißen Stoff, der bis zum Boden reichte. Schön warm war es hier, er hatte es nicht eilig, von Elsa gefunden zu werden. Doch dann hörte er Elsas Stimme, die nach ihm rief. Sich näherte, wieder entfernte und leiser wurde, immer leiser, bis sie kaum noch hörbar war.

Dieser Traum hat den Ausschlag gegeben, heute hierherzukommen. Dabei hat er noch vor ein paar Wochen zu Elsa am Telefon gesagt, er werde auf keinen Fall kommen. Er schaffe es einfach nicht. Hat es mit seinem Herzen begründet. »Was ja keine Lüge ist«, sagt er laut und erntet einen amüsierten Blick von einer jungen Frau, die an ihm vorbeigeht. Vorwärts natürlich. »Lass uns zusammen hingehen, Bernhard«, hat Elsa gesagt, »es bleibt doch trotzdem unser Haus.« Das hat sie sich all die Jahre nicht abgewöhnt, »unser Haus« zu sagen, konnte es genauso wenig lassen wie das Rauchen. Jetzt, wo er daran denkt, sehnt er sich nach Elsa. Er hätte sich nicht einfach tot stellen dürfen. Nun will er nichts mehr, als Elsa wiedersehen. Er greift in die Tasche seines Jacketts und fühlt nach dem kleinen Päckchen.

Bernhard dreht sich im Gehen um, schaut nun wie alle anderen nach vorne und hebt den Blick. »Soho House Berlin«, murmelt er und starrt auf die frisch renovierte Fassade, über die in hektischer Betriebsamkeit Leuchtbuchstaben tanzen. Mal sehen, ob die mehr Glück haben als all ihre Vorgänger. Er reiht sich ein in die Warteschlange vor dem Eingang.

»Ein Restaurant wollen sie hineinbauen«, sagt der junge Mann vor ihm zu seiner Begleiterin, »ein italienisches. Da dürfen dann alle rein. Aber der Rest bleibt zum Glück members only.«

Da ist Bernhard aber froh und erleichtert, dass auch Leute wie er hier zum Italiener dürfen. Denn er mag Pasta und liebt Pesto, aber es macht ihm keinen großen Spaß, für sich allein zu kochen. Anders war es, als er noch für zwei gekocht hat, für sich und Elisa. Seine Elisa, deren Name so ähnlich klang wie Elsa. Inzwischen ist auch Elisa Geschichte. »Komm endlich hier an, Bernhard«, hat sie gesagt. »Die Vergangenheit ist vorbei und der Sozialismus untergegangen.« Als ob er das nicht wüsste. Aber wo soll man hin mit vierzig Jahren Leben? Hat noch keiner das passende Skalpell erfunden, um die einfach aus dem Kopf zu schneiden. Obwohl, denkt er, eine Menge Leute scheinen es ja hingekriegt zu haben. Vielleicht sollte ich die mal fragen. Vielleicht ist von denen sogar heute jemand hier.

Bernhard ist innerlich wieder nach Rückwärtsgang zumute. Doch wenn Elsa kommt, sagt er sich, kann alles noch gut werden. Vielleicht können wir uns zusammen ein bisschen lustig machen über diese Ansammlung von feinem Tuch und Designerturnschuhen. Turnschuhe heißen die natürlich nicht, es turnt ja auch heute niemand mehr. Das neue Wort fällt ihm jetzt nicht ein. Immerhin, er kommt sich nicht unpassend gekleidet vor. Dafür hat Luise gesorgt. »Vater«, hat sie gesagt, »wenn ich dir eine Einladung für die Eröffnungsparty beschaffe, gehen wir vorher einkaufen. Du brauchst einen Anzug und Schuhe.« Ein Jackett hatte er zuletzt getragen, als sie in diesem Gebäude das Institut abgewickelt haben. Fast auf den Tag genau vor siebzehn Jahren. Er hat niemanden wiedergesehen seit diesem letzten Tag.

Und heute, an seinem achtzigsten Geburtstag, betritt er es also wieder, das Institut, aus dem ein Privatclub geworden ist. War mit seiner Tochter einen neuen Anzug und Schuhe kaufen gegangen, um an die Einladung zu kommen, obwohl er noch nicht einmal wusste, ob er zur Party gehen wollte. Er musste zugeben, dass dies der erste Anzug seines Lebens war, der wirklich passte. »Jetzt, wo es nicht mehr wichtig ist«, hat er draußen zu Luise gesagt, »habe ich plötzlich einen Arsch in der Hose.«

Endlich ist Bernhard am Eingang angekommen. Er fischt die Einladung für die Eröffnungsparty aus der Innentasche seines Jacketts – Luise hat Wort gehalten – und wird anstandslos durchgelassen. Drinnen scheint die Party schon in vollem Gange, obwohl draußen noch so viele Menschen stehen. Er dreht sich einmal vorsichtig im Kreis und bleibt stehen, weil er Elsa entdeckt hat. Doch die weißhaarige Frau, die er im Augenwinkel zu sehen geglaubt hat, entpuppt sich als eine Weißblonde.

Bernhard schaut sich noch einmal um. Rohe Wände, an denen abstrakte Bilder hängen, unverputzte Säulen, der provisorisch wirkende Empfangstresen. Eine lange rote Couch, sicher eine Extraanfertigung zu extraordinärem Preis. Nicht übel, wie sie da steht, als wäre es im Sinne der Betreiber, wenn sich hier zehn Leute nebeneinander niederließen, um ein wenig zu plaudern. Sehr schick und modern alles, aber wo war das alte Haus geblieben? Ob es seinem Vater heute hier gefallen würde? Wilhelm war immer so stolz darauf gewesen, an diesem Haus mitgebaut zu haben.

Sein Vater war in sein Kaufhaus Jonass verliebt, das seiner Ansicht nach nur zu einem Zweck gebaut war: Im Jonass konnten sich Menschen mit nicht allzu viel Geld ihre kleinen und größeren Wünsche erfüllen. Sie betreten das Kaufhaus und werden verzaubert, so hatte es Wilhelm immer beschrieben. Und hatte gelitten wie ein Hund, als die Nazis aus dem Kaufhaus heraus die reichsdeutsche Jugend führten und verführten. Auch als die SED einzog und später das Institut für Marxismus-Leninismus, haderte der Vater mit den Dingen. Das sei ein Kaufhaus, hatte er manchmal gesagt. Er sei für die neuen Zeiten und habe lange für sie gekämpft. Aber es wäre doch schön, wenn Jonass ein Kaufhaus geblieben wäre. Seinetwegen ein sozialistisches. Dabei schwang Vorwurf in seiner Stimme, als sei sein Sohn mitverantwortlich für das falsche Leben, das sein Haus Jonass führte.

Sein Leben lang hatte er später seinem Sohn beschrieben, wie prächtig die Verkaufsräume und Kontore geworden waren, wie herrlich das Dachgartenrestaurant und wie weit der Blick von der Dachterrasse reichte. »Unendlich weit, Bernhard«, hatte er dann immer gesagt und mit beiden Armen einen Kreis in die Luft gemalt. »Die ganze Stadt liegt einem zu Füßen. Man müsste fliegen können.«

Wenn es ums Jonass ging, konnte Wilhelm romantisch werden. Aber er, Bernhard, mochte am meisten den dramatischen Teil der Erzählung. »Jetzt die Geschichte mit dem Unfall, Vater«, hatte er immer gebettelt, wenn der sich zu sehr im Traum vom Fliegen verlor. »Und dann die Geschichte mit der Geburt.«

Himmel auf Pump

»Heute Eröffnung!«, verkündet ein Plakat unter dem großen Schriftzug JONASS & CO. Auf dem Dach flattern bunte Fähnchen im Wind. Der Baulärm, der noch bis vor Kurzem über die Kreuzung hallte, ist verstummt. Nun summt und brummt es im Innern des Kaufhauses hinter dem verschlossenen Tor.

In der weiten Eingangshalle laufen Lieferanten, Dekorateure, Verkäuferinnen durcheinander, zwischen ihnen kreuzen die Inhaber von einem Schauplatz zum nächsten. Heinrich Grünberg dirigiert Menschen mit Kisten und Kästen durch den Saal, die Lampen gehören in diese Ecke, nein, nicht zu den Uhren, Herrgottnochmal, und die Lederwaren auf die Tische im Seitenflügel rechts, bitte! Er legt gerade beim Aufbau eines Ausstellungstisches mit Hand an, als ein Fotograf und ein Journalist auf ihn zustürzen. Grünberg klopft die Hände an der Hose ab und begrüßt die Herren von der Presse. »Sie sind zu früh dran, meine Herren, kommen Sie doch bitte heute Abend wieder.« Dann winkt er eine Frau in grauem Kostüm herbei. »Frau Kurz, setzen Sie die beiden auf die Gästeliste!«

Alice Grünberg umkreist die Tafel in der Mitte der Halle, die sich unter Porzellan und Kristallgläsern zu biegen scheint. Sie nimmt einem Mädchen mit rotfleckigen Wangen die Serviette aus der Hand, faltet sie in Windeseile zu einem Fächer und setzt ihn auf den Teller. So geht das! Hinter dem Rücken seiner Mutter wirft Harry Grünberg dem Mädchen eine Kusshand zu, worauf ihre Wangen noch röter werden. Pfeifend läuft er durch die Halle und hält bei den Musikern inne, die in einer Ecke ihre Instrumente stimmen. Er streichelt über den glänzenden Hals einer Tuba und will das Instrument zur Brust nehmen, als sein Vater herbeieilt und gegen den Lärm anbrüllt: »Marsch, Marsch, auf die Dachterrasse! Da spielt die Musik.«

Harry zwinkert dem verschreckten Tubisten zu, schlendert weiter zu den eigens zur Eröffnung aufgebauten Kühlschränken und nimmt einer jungen Frau mit Verkäuferinnenhäubchen eine Flasche aus der Hand. »Komm, Elsie«, lächelt er sie an und lässt den Korken knallen, »die sind doch alle völlig meschugge!« Er gießt zwei Gläser randvoll, zieht Elsie hinter eine Säule und reicht ihr eines. Dann stößt er mit ihr an und fragt mit leichtem Zittern in der Stimme, das freudige Erwartung sein kann oder auch Furcht: »Wird Vicky kommen?«

Schon von Weitem sieht Vicky das riesige Gebäude, als sie sich der Kreuzung zur Lothringer Straße nähert. Heute, an diesem warmen, windigen Tag im Juni, wird dort das Kaufhaus Jonass eröffnet. Dieses Haus wird ihr neuer Arbeitsplatz werden, dieser Weg ihr täglicher Weg ins Büro. Es war anständig von Herrn Grünberg, sie nicht hinauszuwerfen. Eine kleine Stenotypistin, die ein Kind erwartet und keinen Mann dazu hat. Und das bei der heutigen Arbeitslosigkeit.

Sie hat dem Haus beim Wachsen zugeschaut in den vergangenen Monaten, Stein um Stein und Stock um Stock wuchsen dort inmitten von Gerüsten und Maschinen, Krach und Geschäftigkeit. Zwischendecken, Rohre und Leitungen wurden in und um das Stahlskelett gelegt. Und während das Haus wuchs, ist auch in ihr etwas gewachsen, Fleisch und Blut, Sehnen und Nerven um zarte Knochen. Seit Wochen freut sie sich auf diesen Tag, an dem das Jonass zum Leben erwacht. An dem sie Harry dort treffen wird. Und sie fürchtet sich auch. Dass man sie zur Eröffnung vielleicht doch nicht hineinlässt. Dass sie Harry nicht treffen wird.

Sie fasst nach ihrem Bauch und stützt sich an die Mauer des Nikolaifriedhofs, der dem Kaufhaus gegenüberliegt. In den Zweigen über den Grabsteinen singen die Amseln. Nur jetzt nicht schlappmachen, Mädchen, flüstert sie, du wirst heute noch gebraucht. Sie hat Herrn Grünberg überredet, bei der Eröffnungsfeier mithelfen zu dürfen. Erst wollte er nicht, in ihrem Zustand. »Aber Herr Grünberg«, hat sie gesagt, »ich fühle mich blendend und muss bei der Feier dabei sein!« Dazu hat sie ihn angestrahlt, als ginge es um ihr Leben. Ging es ja auch. Sie muss an diesem Abend bei Harry sein. Nur konnte sie ausgerechnet das Herrn Grünberg nicht sagen. Er hätte ihr die Tür vor der Nase zugeschlagen. Die Tür zum neuen Kaufhaus, zu ihrem Arbeitsplatz, zu seiner Familie und seinem Sohn Harry.

Auf der Kreuzung vor dem Kaufhaus Jonass stauen sich Automobile, Fahrräder und Menschen. Zur Eröffnung des ersten Kreditkaufhauses in Berlin strömen die Schaulustigen herbei und bilden eine Schlange vor dem Haupttor. Ein solcher Prachtbau muss Schätze bergen, und diese Schätze will man als Erster zu sehen bekommen. Es soll auch eine Tombola geben. Ein Büfett und Musik, am Abend ein Feuerwerk! Vicky hat den Platz vor dem Kaufhaus erreicht und schiebt sich durch die Menge zum Lieferanteneingang. Sie geht zum Aufzug für die Angestellten, um in die Chefetage zu fahren und sich von Herrn Grünberg an ihren Platz dirigieren zu lassen. Vielleicht begegnet sie dort Harry.

Die Gittertür des Aufzugs schließt sich. Die Kabine fährt mit einem Ruck in die Höhe, das Kind in ihrem Bauch hüpft mit und der Magen dazu. Ihr wird übel. Sie muss sich zusammenreißen in Grünbergs Gegenwart, darf sich und Harry nicht verraten. Er ist der Junior in der Firma, sie nur eine kleine Angestellte, mit der er öffentlich per Sie verkehrt. Wenn sie auf dem Gang Harrys Stimme hört, seine Schritte, beginnt ihr Herz schneller zu schlagen. Und wenn er sie ansieht mit seinen grauen Augen, seinem spöttischen und zugleich herzlichen Lächeln, hämmert es so laut, dass es jeder hören muss. Ein Wunder, dass Herr Grünberg keinen Verdacht geschöpft hat. Wahrscheinlich kann er sich einfach nicht denken, dass sein Sohn, selbst noch nicht volljährig, schon Vater werden soll.

Der Aufzug hält, wieder gibt es einen Ruck, die Tür öffnet sich, Abteilungsleiter Helbig stolpert herein. Vicky und Helbig blicken sich an, Gerd Helbig senkt den Kopf. Sein Blick bleibt auf Vickys Bauch haften, ihm treten Schweißperlen auf die Stirn. Das Kind versetzt der Bauchwand einen Tritt.

»Was schauen Sie so entsetzt, Sie sind ja nicht der Vater«, sagt Vicky zu Abteilungsleiter Helbig, der rot anläuft. Der Aufzug ruckt und die Tür geht auf. Beide stürzen auseinander.

Vor dem Chefzimmer bleibt Vicky stehen und lauscht, ob Harrys Stimme zu hören ist.

»Fräulein Springer!«, schrillt es in ihrem Rücken. »Sie möchten sofort mit mir in die Küche kommen.«

Die Personalleiterin, Frau Kurz, ist dagegen gewesen, dass Grünberg sie im Geschäft behielt. Sie ist auch dagegen gewesen, dass sie beim Fest half. Aber wo sie einmal da ist, soll sie ordentlich anpacken. In der Küche schnappt Vicky ein Tablett mit Kanapees und schiebt sich unter den Augen von Frau Kurz ein mit Ei belegtes in den Mund.

»Ihr Einsatzplan!«, gellt es beim Hinausgehen hinter ihr her, doch Vicky hat selbst einen Plan.

Als sie sich der Haupthalle des Kaufhauses nähert, hört sie das Stimmengewirr. Das Tor ist geöffnet und die Meute hereingelassen. In Paaren und Gruppen bestaunen die Menschen die Verkaufstische, überquellend von begehrenswerten Dingen. Dort ist eine festliche Tafel gedeckt, Porzellan mit Rosenmuster, böhmisches Kristall und Weintrauben aus Glas. An jeder Ecke steht ein Page in Uniform, der die Schätze bewacht. Arbeiterfamilien und Arbeitslose aus dem Scheunenviertel stauen sich um elektrische Bügeleisen und Eisenbahnen, Glockenhüte und französischen Wein. All diese Dinge, die in den letzten Jahren immer weiter aus ihrer Reichweite gerückt sind, wird es hier ab morgen »auf Pump« geben. Für ein Viertel des Kaufpreises konnte man sie nach Hause tragen, der Rest war auf Raten zu bezahlen. Das Kreditkaufhaus Jonass würde das Kaufhaus des Ostens werden.

Der Herr über dieses Reich, Heinrich Grünberg, hält eine Ansprache. Neben ihm steht seine Frau Alice. Zerbrechlich sieht sie aus am Arm ihres Mannes und zugleich streng. Ob sie eine wie sie jemals als Schwiegertochter akzeptieren würde? Grünbergs Rede wird über Lautsprecher in alle Abteilungen übertragen, seine letzten Worte gehen im Applaus unter. Schon drängen sich alle um die Tabletts mit den Gläsern und leckeren Häppchen. Winzige Häppchen, vor allem für eine so breite Männerhand, wie sie sich Vicky nun zögernd entgegenstreckt. Eine schwielige Hand, die das Zupacken gewohnt ist. Sie schaut in das verlegene Gesicht des Mannes, der in Zimmermannskluft gekommen ist. Er muss einer der geladenen Bauleute sein. Auch er hat das Gebäude wachsen sehen, ja sogar wachsen lassen in den vergangenen Monaten. Sein Blick wandert von den Schinkenröllchen und Käsewürfeln mit Trauben zu ihrem gewölbten Bauch unter der Schürze, und er lächelt sie einen Augenblick an, als wüsste er, dass sie jede Ermunterung brauchen kann. Als wüsste er auch sonst so einiges über sie, obwohl sie sich noch nie begegnet sind, oder doch jedenfalls über das Leben, auch wenn er nur ein paar Jahre älter sein wird als sie selbst. Sie hält ihm das Tablett gleich noch einmal hin.

Wenig später, als alle Schinkenröllchen und Trauben verputzt sind und sie ihr leeres Tablett auf die anderen stapelt, taucht Elsie auf. Ihre blonden Locken stehen ihr um den Kopf wie ein Heiligenschein, auf den schon so mancher hereingefallen ist. »Die Kurz sagt, wir sollen zur Tombola kommen und Glücksfee spielen.« Elsie grinst sie an. »Aber die moderne Glücksfee ist in der Feen-Gewerkschaft, nicht? Und da heißt es: wohlverdiente Pause und ab in den Himmel.« Sie zieht Vicky zum Aufzug. »Unser Weg führt jetzt steil nach oben.«

Wieder wird Vicky bei der Fahrt in die Höhe flau im Magen. Ist der Blick von dort oben wirklich so berauschend, wie Harry erzählt hat? Auf der Dachterrasse stehen Vicky und Elsie, die Arme um die Schultern der anderen gelegt, am Geländer und schauen über die Dächer der endlosen Stadt. Das Licht der Nachmittagssonne fällt auf die Kuppel des Doms, spiegelt sich in den Fensterfronten am Alexanderplatz, vergoldet Baukräne und Kirchtürme.

»Ist mir jetzt schwindlig vor Höhe oder vor Glück?«, fragt Elsie, den Blick in die Ferne gerichtet. Vicky antwortet nicht. Sie hat den ganzen Nachmittag noch kein Wort mit Harry gewechselt, ist nicht einmal in seine Nähe gekommen.

Ein paar Stunden später, es beginnt bereits zu dämmern, ordnet Vicky im Dachgartenrestaurant die Blumen in den Vasen. Die Tische für die geladenen Gäste sind mit weißen Damastdecken und Silberbesteck eingedeckt. Die Glastüren stehen zur Terrasse hin offen. In die Stimmen der Gäste mischt sich Musik, die Tanzkapelle spielt die ersten Takte eines Walzers. Während Vicky die Kerzen anzündet, geht es zu Ragtime über, und beim lang gezogenen Ton einer Trompete fällt Vicky das Streichholz aus der Hand. Sie steht da und sieht zu, wie die Glut einen schwarzen Fleck in das weiße Tischtuch frisst.

Der Abendhimmel hat sich rot gefärbt. Lächelnd reicht Vicky auf der Terrasse den Gästen die Gläser, auch wenn ihr das Tablett schwer wird. Auf einmal schweben die ersten Töne heran – ihr Lied! Vickys Herz setzt aus, stolpert dem Takt hinterher, zu dem sie das erste Mal mit ihm den Shimmy getanzt hat. »Ausgerechnet Bananen, Bananen verlangt sie von mir. Was braucht man beim Küssen von Obst was zu wissen. Da ist doch nicht Zeit dafür!« Bei diesem Tanz, da wurde man von Kopf bis Fuß durchgeschüttelt, und nach dem ersten Shimmy mit Harry, da hörte das Schütteln so bald nicht wieder auf. Seitdem hieß Harry, wenn sie allein waren, für sie nur noch Shimmy. Wo ist er? Sie muss jetzt und hier zu diesem Lied mit ihm tanzen!

Eine Hand streckt sich ihr entgegen, es dauert einen Moment, bevor Vicky begreift, dass der Herr im Smoking ein Glas von ihr möchte. Sie hält es ihm lächelnd hin, da schneidet jäher Schmerz in ihren Bauch. Das Glas fällt zwischen ihnen zu Boden, wie in Zeitlupe sieht sie es fallen, auf den Steinen der Dachterrasse zerschellen. Sie dreht sich um und lässt den verdutzten Herrn stehen. Harry, ich muss ihn finden, weiter kann sie nichts denken, während sie blind durch die Menge steuert. Ich sterbe. Harry. Ich muss dich finden.

Endlich, als sie schon eine Ewigkeit herumgeirrt ist mit dem schneidenden Schmerz im Bauch, entdeckt sie ihn. Neben seinem Vater, der dem Bürgermeister die Hand schüttelt, umringt von Menschen, steht Harry. Voller Furcht und Flehen richtet Vicky ihre Augen auf ihn. Ich sterbe. Harry. Du musst mir helfen. Nur eine Sekunde treffen sich ihre Blicke. Harry sieht sie an und sieht durch sie hindurch wie durch eine Fremde. Da wendet sie sich von ihm ab und flieht ins Innere des Kaufhauses.

Das Reden und Lachen dröhnt in ihren Ohren, ihr ist übel vom Essensdunst, vom Schweißgeruch, den die Menschen unter ihrer Parfümschicht ausströmen. Immer weiter zieht sie sich zurück, bis sie keinem Menschen mehr begegnet. Oben spielt nun die Musik, die unteren Etagen liegen verlassen da. Die Verkaufshallen sind verschlossen, von Posten bewacht. Sie kann nur schemenhaft sehen, tastet sich beim Gehen an der Wand entlang, auf der Suche nach einem Ausweg. Jeder Schritt kostet unendliche Kraft. Die nächste Woge des Schmerzes überrollt sie.

Rechts und links ein Klaps gegen ihre Wangen. Eine heisere, fremde Stimme: »Wach auf, Mädchen! Wach auf!« Zigarettenrauch brennt in ihren Augen, und als Vicky sie öffnet, erscheint in der Rauchwolke dicht vor ihr ein hageres Gesicht. »So is es brav, Mädchen!« Die Alte ist hässlich, denkt sie, aber es muss eine gute Hexe sein. Ihre Stimme klingt beruhigend, und die Hand, die ihr Handgelenk umfasst hält, ist angenehm kühl. Sie legt den Kopf auf den rauen Stoff zurück, einen Sack mit Aufdruck. »Deutsche Reichspost« liest Vicky, ohne zu begreifen, und will die Augen wieder schließen. Doch die Alte zwingt sie, sich aufzurichten. Wie eine Nussschale auf hoher See wird sie hin und her geworfen. Nur die kühlen Hände und die Stimme der Alten lotsen sie durch den Sturm. Ein Ufer kann sie nicht erkennen, sich nicht einmal vorstellen. Und doch ist unter allem Aufruhr in ihrem Inneren ein totenstiller Punkt.

Irgendwann ist noch jemand im Raum, legt sich ein zweites Paar Hände auf ihre Schultern, an ihren Kopf, kräftige Hände, kräftig und warm. Eine tiefe, ruhige Stimme spricht zu ihr. Und als ihr eigenes Wimmern und Stöhnen verstummt ist, erfüllt den Raum ein gellender Schrei. In den Schrei mischt sich ein Prasseln und Knarren wie von Schüssen, das durch das hoch gelegene schmale Fenster dringt. »Was ist das?«, fragt Vicky benommen. »Haben wir Krieg?«

»Unsinn!« Die Alte bläst Rauch durch die Nase. »Wir haben ein Kind.«

Vor dem Fenster fallen rot und grün leuchtende Kugeln herab. »Ein Feuerwerk«, sagt der Mann, der ihr den Rücken zuwendet und eine Zimmermannskluft trägt. »Das Kind muss eine Königin sein.«

»Schere und Bindfaden«, weist die Alte ihn an. Der Mann kramt in den Schubladen, überreicht ihr beides, ohne in Vickys Richtung zu schauen. Die Alte durchtrennt die Nabelschnur, verfrachtet das Kind auf die Paketwaage und verkündet: »Zweitausendachthundertfünfzig Gramm.«

»Ist ein Mädchen«, sagt der Zimmermann, und die Alte legt ihr das feuchtwarme Bündel auf den Bauch. »Vielleicht is der Vater ’n englischer Lord«, meint sie und steckt sich mit den noch blutigen Händen die nächste Zigarette an. »Oder ein Schessmusiker. Wo isser denn jetzt, der Herr Schimmy?«

»Elsa«, sagt Vicky, als sie die Arme um das Bündel schließt. »Sie soll Elsa heißen.«

Vicky und Elsie beugen sich von beiden Seiten über die Wiege. Vorsichtig streicht Elsie die Decke über der schlummernden Elsa glatt. »Pass mir bloß auf mein Patenkind auf!« Sie küsst ihre Freundin zum Abschied auf die Wange. »Und auf dich. Sieh zu, dass du wieder zu Kräften kommst!«

»So wie du vorgesorgt hast, kann ich mich ja nun wochenlang mästen. Und die Kleine gleich mit.« Vicky tätschelt ihren Bauch und Busen, doch ihr Lachen klingt erschöpft. »Weiß nicht, wie wir’s ohne dich geschafft hätten, Elsie. Hoffentlich kann ich mich mal revanchieren. Willst du nicht auch ein paar uneheliche Bälger kriegen? Welche Väter kämen denn zurzeit infrage?«

»Erstens nein und zweitens niemand.« Elsie wirft ein Bein in die Höhe und fasst die Zehen mit den Fingerspitzen. »Wenn ich was kriegen will, dann ein Engagement in der Girlsreihe bei Charell.«

Vicky seufzt. »Girlsreihe war einmal. Ich kann mich nicht mal bücken, ohne vor Schmerz zu jaulen.« In ihre letzten Worte schrillt die Türklingel, sie zuckt zusammen. »Jetzt schon? Aber er …«

Elsie geht zur Tür. »Na, dann gehe ich mal besser.« Im engen Treppenhaus stößt sie beinahe mit Harry zusammen. Mit dem großen Paket, das Harry vor sich her trägt. So stehen sie im dunklen Gang voreinander, können nicht vor und zurück und sehen sich über das Paket hinweg an. Endlich stellt Harry das Paket auf die Stufen und drückt sich an die Wand. Elsie steigt über das Ding hinweg. Bevor sie um die Ecke biegt, dreht sie sich noch einmal um. »Mistkerl!«

Harry kommt ins Schwitzen, als er sich mit dem Paket durchs Treppenhaus schiebt. Gleich wird er sie zum ersten Mal sehen – seine Tochter! »Meine Tochter«, murmelt er und kann es nicht fassen. Beinahe hofft er, Vicky allein in ihrer kleinen Bude anzutreffen, so wie früher. Es könnte doch nur ein böser Traum gewesen sein. Ein Spuk. Gleich wird er sie in die Arme schließen, schlank und biegsam und vickyspringerlebendig wie am ersten Tag.

Da steht sie vor ihm, in der offenen Tür. Ohne dicken Bauch, sogar dünner als vorher, so kommt es ihm vor. Blass und mit tief liegenden Augen, die angstvoll auf ihn gerichtet sind.

»Vicky – mein Mädchen!« Harry stellt das Paket ab und nimmt die letzten Stufen mit einem Schritt. Er streckt die Arme nach ihr aus, doch sie weicht zurück.

»Komm rein.«

Er holt das Paket vom Treppenabsatz, folgt ihr in die Wohnung und schließt die Tür.

Vicky wartet und schweigt. Jetzt muss er die richtigen Worte sagen. Wo ist sie?!, muss er sagen – so, als ob er es keine Sekunde länger erwarten könne, sein Kind zu begrüßen. Wo ist sie, meine Kleine, mein Täubchen, mein Goldstück?

»Wie geht es dir?« Er sieht Vicky besorgt und zärtlich an. Sekunden vergehen.

»Ach, mir. Gut.«

Mit wegwerfender Handbewegung. Dann steht sie wieder steif und schweigend da. Er möchte sie in den Arm nehmen, anfassen. Prüfen, ob ihr braunes Haar sich noch anfühlt, wie es sich angefühlt hat in den langen Wochen ohne sie in seinen Träumen. Riechen, wie es riecht, wenn man die Nase in die Locken vergräbt. So oft hat er es versucht, doch nie ist es ihm gelungen, sich an den Duft zu erinnern. Er konnte sie ja nicht besuchen, in den Wochen nach der zu frühen Geburt, als sie mit dem Säugling im Krankenhaus lag. Jeder hätte ihn für den Vater des Kindes gehalten. Und das ganz zu Recht, verdammt noch mal.

Abrupt dreht sich Vicky von ihm weg, geht in ihre Wohn- und Schlafstube. Harry folgt ihr, sieht neben dem Bett die Wiege und bleibt in der Tür stehen. Dann hört er ein leises Wimmern und nähert sich langsam. Das Erste, was er von seiner Tochter sieht, ist eine kleine rote Faust, die über dem Rand der himmelblauen Wiege fuchtelt. Er beugt sich über das Bettchen. Das Kind liegt mit geschlossenen Augen da. Harry weiß nicht, was er erwartet hat, aber bestimmt nicht so winzige Augenlider, diese Stupsnase, den kahlen Kopf. Er kniet vor der Wiege nieder, legt die Arme auf den Wiegenrand, das Kinn auf die Arme und schaut.

Nach einer Weile hockt sich Vicky neben Harry auf den Boden. Dann flüstert sie in die Stille: »Beinahe wäre sie gestorben.«

Harry staunt über das Untröstliche, das darin mitschwingt. Immerhin haben sie beide vor Verzweiflung geheult, als feststand, dass Vicky schwanger war. Dann noch einmal, als heißer Rotwein und Treppenspringen nicht halfen. Nun fängt sie bei dem bloßen Gedanken, das Kind zu verlieren, neben ihm zu zittern an. Er legt den Arm um Vicky und murmelt: »Aber sie lebt ja, sie lebt.«

Da öffnet die Kleine die Augen, sieht ihrem Vater ins Gesicht und stößt einen ohrenbetäubenden Schrei aus. Harry zuckt zurück, doch Vicky lacht. »Mich hat sie genauso begrüßt. Und den Rest der Welt. Nimm’s als Zeichen der Zuneigung.«

»Ich nehm es als Zeichen, dass aus dem Würmchen eine dicke, stinkreiche Opernsängerin wird.«

Harry beginnt leise zu singen, Elsas Brüllen verstummt. »Fräulein, pardon«, singt er, »ich glaub, wir kennen uns schon. Vielleicht erinnern Sie sich auch noch an mich.« Elsa gibt glucksende Laute von sich. Harry nimmt sie aus der Wiege auf den Arm und springt auf. »Hurra, das Kind ist musikalisch. Das ist der Beweis – ich bin der Vater!«

Als die Kleine zu weinen beginnt, nimmt Vicky sie ihm ab, setzt sich aufs Bett und wiegt sie sanft hin und her. »Wer denn sonst, Dummkopf? Vielleicht Helbig mit seinen blassblauen Glubschaugen?«

Harry lässt sich neben sie aufs Bett fallen. »Bestimmt nicht, da wär sie mit so ’ner Brille zur Welt gekommen.« Mit den Fingern vor den Augen deutet er zentimeterdicke Gläser an. Beide lachen. Dann schleicht sich etwas Ängstliches in Harrys Stimme. »Aber sag mal, wen hast du als Vater eintragen lassen?«

»Dich natürlich. Du weißt, dass ich nicht lügen kann.« Harry sieht sie entsetzt an, bis in Vickys Augen etwas aufblitzt. Das Grün wird noch grüner. Beinahe giftgrün. »Nein. Tut mir ehrlich leid für die Kleine. Aber Elsas Vater ist ein Herr Unbekannt.«

»Elsas Vater?« Harry schaut verständnislos. »Wieso Elsa? Wir wollten ein Mädchen doch Josephine nennen. Nach der Baker.« Vicky schüttelt den Kopf. »Oder Anita. Nach der Berber«, versucht es Harry weiter.

»Wollten wir?« Vicky steht auf und geht mit dem Kind auf dem Arm auf und ab. »Als das Mädchen geboren wurde, war Herr Unbekannt nicht da. Als es im Krankenhaus lag und fast gestorben ist, kam Herr Unbekannt nicht zu Besuch. Er war auch vorher nicht mit der Mutter beim Arzt und hat eine Wiege ins Zimmer gestellt. Das alles hat ein Fräulein Elsie getan. Und so heißt das Mädchen nun Elsa.«

»Elsie! Sie hat mich Mistkerl genannt.«

»Wenn du der Kerl meiner besten Freundin wärst, würde ich dich auch so nennen«, sagt Vicky.

Harrys Miene hellt sich auf. »Ja, nicht wahr, was habe ich doch für ein Glück!« Er gibt Vicky einen Kuss. »Dass ich nicht der Kerl deiner besten Freundin bin. Nein, ich bin deiner, und darum ist mein Vorname auch nicht Mist«, flötet Harry und steht kurz darauf mit dem Riesenpaket im Zimmer. Er geht von der Last in die Knie.

»Um Himmels willen, was ist da drin?« Vicky mustert den Karton, um den eine rosa Schleife gebunden ist.

»Rate!«

»Ein Kinderwagen!« Kopfschütteln. »Schaukelpferd?« Kopfschütteln. »Puppenhaus?«

»Du kommst nicht drauf!«, ruft Harry. »Du-kommst-nicht-drauf!« Er schiebt sie durch die Tür in die Küche. »Nicht gucken!« Nach einigen Minuten Geraschel und Gepolter ertönt nebenan Musik. »Ausgerechnet Bananen, Bananen verlangt sie von mir. Was braucht man beim Küssen von Obst was zu wissen. Da ist doch nicht Zeit dafür!«

Vicky schießen Tränen in die Augen. Es ist unglaublich, nicht zu fassen. Was für ein verdammter Idiot! Ein Grammofon! Ein ganzer Stapel Schallplatten. Ist das Harrys Vorstellung von einer Grundausstattung für Mutter und Säugling? Sie weiß wirklich nicht, was sie zuerst zerkratzen soll, Harrys grinsendes Gesicht oder die rotierende Platte. Harry zieht sie zu sich in die Stube, wiegt sich mit ihr und der schlummernden Elsa zur Musik. Dreht sich langsam mit ihnen im Kreis und schaut so begeistert, als hätte er alles soeben selbst erfunden und hergestellt: die Frau, das Kind, das Grammofon, Bananen, Gott und die Welt.

Vicky befreit sich aus Harrys Armen, legt das Kind in die Wiege und deckt es zu. Dann geht sie zum Grammofon, stellt es aus und nimmt die Platte vom Teller. Harry schaut enttäuscht wie ein kleiner Junge vor dem abgeschmückten Weihnachtsbaum. Oder verloschenen Chanukkaleuchter in seinem Fall.

»Shimmy geht noch nicht wieder«, sagt sie und legt eine neue Platte auf. Ein leises Lied vom kleinen Glück. Irgendwo in der Welt, irgendwann. Langsam tanzen sie, Wange an Wange, bis ihr der Schmerz in den Unterleib fährt. Sie lässt Harry los, geht zur Tür hinaus, eine halbe Treppe tiefer zur Toilette. Dort sitzt sie und fühlt heißes Blut aus sich heraustropfen. Endlich hört es auf, und sie legt eine neue dicke Wattebinde in die Unterhose. An der Wohnungstür schaut ihr Harry entgegen. Seine Begeisterung ist in Besorgnis umgeschlagen.

»Wie geht es dir?«, fragt er, und diesmal sind es die richtigen Worte.

Sie liegen in Kleidern auf dem Bett, klammern sich aneinander und wollen sich küssen, doch es kommt nur ein Schluchzen heraus. Endlich trocknet Harry ihre und seine Tränen mit einem Zipfel des Bettlakens. Vielleicht ist das mit dem Kind ja doch keine schlechte Sache, denkt er. Man liegt bei seiner Frau, daneben schläft friedlich das Kindchen … Er beugt sich zu Vicky und nähert sich ihren Lippen, da ertönt aus der Wiege neben dem Bett ein mörderisches Geschrei. Vicky fährt hoch und stößt mit dem Kopf gegen seinen. »Au!«, schreit Harry, doch er wird, im Gegensatz zu dem kleinen Ungeheuer, nicht mit Küssen bedeckt und getröstet.

Vicky packt die kleine Elsa in den Kinderwagen. Die kann schon alles in den Mund nehmen, fast alles wieder ausspucken, mit klebrigen Fingern befingern und mit Gejuchze von sich schleudern. Es wird Zeit, dass sie ihrem Geburtsort, dem Arbeitsplatz ihrer Mutter und ihrem »ungesetzlichen« Großvater vorgestellt wird. Auf zum Jonass! Vicky zieht Elsa eine Mütze gegen den kühlen Herbstwind über den kahlen Kopf und sieht ihrer Tochter noch einmal prüfend ins Gesicht. Ist da auch wirklich keine Ähnlichkeit mit Harry, die ihn verraten könnte? Nein, auch Elsie hat es ihr versichert. Elsa sieht weder ihrem Vater noch ihrer Mutter ähnlich, Elsa sieht ausschließlich aus wie Elsa.

Auf dem kurzen Weg von der Mendelssohnstraße bis zur Lothringer denkt Vicky an ihre Cousine in Lübbenau, die von ihrem Ehemann der Untreue verdächtigt wurde. Bis zur Geburt hatte er ihr die Hölle heiß gemacht, sie bräuchte bloß nicht zu denken, er würde den Bankert eines anderen durchfüttern. Doch sobald er seinen Sohn zum ersten Mal zu sehen bekam, gab er Ruhe. Der winzige Kerl war ihm wie aus dem Gesicht geschnitten. Vicky hebt eine Kastanie auf, die über die Mauer des Nikolaifriedhofs auf den Bürgersteig gefallen ist. Sie reibt sie mit dem Ärmel blank und reicht sie Elsa, die sie begeistert zum Mund führt. »Tja, Pech für uns beide, meine Kleene. Wär’s bei dir auch so, könnte dein Vater uns nicht verleugnen.« Auf einmal kommt sich Vicky vor wie eine Waise, die ein Waisenkind spazieren fährt. Ihr Vater war im Großen Krieg gefallen, als sie noch zur Volksschule ging, und nun haben sich auch ihre Mutter und die Brüder von ihr losgesagt. Schlimm genug, fanden sie, dass sie die Heimat verlassen hat, in den Moloch Berlin gezogen ist, in ein Viertel voller Juden und Kommunisten. Und Elsa, vor ihrer Geburt nur »die Schande« und nachher »der Bastard« genannt, hat zum Abbruch auch der letzten familiären Beziehungen geführt. Vicky wischt sich die Tränen aus den Augen und wirft eine Handvoll stachliger Kastanienschalen über die Friedhofsmauer.

Der Anblick des riesigen geschwungenen Gebäudes an der Kreuzung zur Prenzlauer Allee löst wie immer ein Hochgefühl in ihr aus – es ist schon ein kleiner Palast, dieses Kaufhaus Jonass. Und in diesem Palast ist ihre Tochter geboren. Wie hatte der Mann in Zimmermannskluft bei Elsas Geburt gesagt, als die Leuchtkugeln vor dem Fenster herabfielen? »Es muss eine Königin sein.« Sie bleibt so abrupt stehen, dass Elsa im Wagen zu weinen beginnt. Was, wenn sie nicht nur Shimmy gerufen, sondern Harrys richtigen Namen verraten hat? Wenn der Zimmermann Bescheid weiß, der bei Elsas Geburt dabei war. Was hatte er dort überhaupt zu suchen? Mit aller Kraft versucht sie sich zu erinnern, doch die Zeit zwischen ihrer Flucht ins Innere des Hauses und Elsas erstem Schrei bleibt schemenhaft und voller Lücken. Wenn er die Grünbergs kennt, sich etwas zusammenreimt? Er könnte Harry sogar erpressen. Obwohl sie ihm das nicht zutraut, so gut und beruhigend waren seine Hände und seine Stimme in ihrer Not. Trotzdem – sie muss ihn finden. Herausfinden, was er weiß.

Noch während sie mit der Kleinen auf dem Arm ins Jonass spaziert, grübelt Vicky, wie sie den unbekannten Zimmermann finden kann in einer Stadt wie Berlin. Elsa zappelt auf ihrem Arm, außer sich über die vielen Leute, Farben und Gerüche. Allen, die in ihre Reichweite kommen, winkt sie begeistert zu. Auch Frau Kurz, der sie im Gang vor den Büros begegnen. Doch die würdigt sie keines Blickes und eilt mit klappernden Absätzen davon. Vor der Tür zu Grünbergs Kontor bleibt Vicky stehen. Ihr Chef hat sie gebeten, doch mit dem Kind bei ihm vorbeizuschauen. Wenn er wüsste, wessen Kind das ist! Und wo dieses Kind geboren wurde. Sie nimmt allen Mut zusammen und klopft.

Elsa staunt den grauhaarigen Mann im dunklen Anzug an. Dann greift sie, schneller als Vicky es verhindern kann, nach Grünbergs Schnurrbart und zieht. Heinrich Grünberg befreit sich vom Griff der kleinen Faust und lacht.

»Genauso hat es unser Harry früher gemacht. Mein Bart war sein liebstes Spielzeug, bis er seine erste Dampflok bekam.«

Da ertönt in Vickys Rücken lautes Kichern. Im nächsten Moment steht Gertrud neben ihrem Vater. »Darf ich auch mal?« Sie zieht an beiden Enden des ausladenden Schnurrbarts, sodass Grünbergs Mund sich zu einer schmerzlichen Grimasse verzieht. Er schlägt seiner Tochter auf die Finger und weist ihr die Tür.

Nach einigen Minuten Geplauder sieht Heinrich Grünberg auf die Uhr. »Leider muss ich unsere Audienz beenden, Fräulein Elsa.« Er schüttelt Vicky die Hand. »Nicht vergessen, Fräulein Springer: Spätestens zum Weihnachtsgeschäft möchte Jonass Sie wiederhaben.« Mit einem forschenden Blick auf Elsa fügt er hinzu: »Es geht mich ja nicht wirklich etwas an – aber bringen Sie doch diesen Schlendrian von einem Vater dazu, ihr einen ehrlichen Namen zu verschaffen.«

Auf der Fahrt hinunter bleibt der Aufzug ruckartig stehen. Durch die geöffnete Tür tritt Gerd Helbig herein. Er starrt das Kind auf ihrem Arm an, als hätte er eine Erscheinung.

»Sie können noch so lange gucken«, sagt Vicky, »sie sieht Ihnen doch nicht ähnlich.«

Am Abend begrüßt Vicky Harry in der Wohnungstür. »Dein Vater hat gesagt, du sollst mich heiraten.«

Harry klammert sich an den Türrahmen. »Wie bitte?!« Selten hat Vicky ihn so bestürzt gesehen. Sie erzählt ihm vom Besuch mit Elsa in Grünbergs Kontor. »Mensch, lass mich wenigstens erst volljährig werden. Oder willst du, dass Vater Grünberg die Urkunde für mich unterzeichnet?«

Vicky tritt zurück und lässt ihn herein. »Gut, also nächstes Jahr. Dann können wir uns ja schon mal verloben. Oder ist das auch verboten, wenn der Herr Bräutigam noch minderjährig ist?«

Harry geht in die Stube zum Grammofon und sieht den Stapel Schallplatten durch. »Vater möchte eine wohlhabende Schwiegertochter und Mutter außerdem eine Jüdin. An beidem müssen wir noch arbeiten.« Er holt sein Portemonnaie aus der Tasche und reicht Vicky einige Scheine. »Ein Vorschuss vom zukünftigen Schwiegervater.«

Sie fragt nicht weiter nach und steckt die Scheine ein. Ein Kind kostet Geld.

Die Frage nach dem unbekannten Zimmermann hat Vicky keine Ruhe gelassen. Nun ist sie allein in Grünbergs Kontor, alle anderen sind auf einer Versammlung. Wenn bloß niemand früher zurückkommt! Hastig fliegt ihr Blick über die Rücken der Aktenordner. Die Protokolle zum Bau des Jonass hat sie noch selbst getippt und abgeheftet. Irgendwo müssen doch die Namen der Zimmerleute notiert sein! Endlich findet sie die Liste. Hinter drei Namen steht in Grünbergs Schrift der Vermerk »zur Eröffnung einladen«.

Sind das Stimmen auf dem Gang? Schnell die Ordner zurückgestellt und nichts wie raus. Auf dem Weg nach Hause murmelt sie ununterbrochen die Namen, die sie nicht mehr aufschreiben konnte. Paul Kopinski, Ferdinand Voigt, Wilhelm Glaser. Paul Kopinski, Ferdinand Voigt, Wilhelm Glaser. Paul Kopinski, Ferdinand Voigt, Wilhelm Glaser.

Wilhelm Glaser ist der dritte und letzte Versuch. Sie hat die Adressen herausgefunden und drei Briefe geschrieben. Sie habe auf der Eröffnung des Kaufhauses Jonass etwas für sie persönlich sehr Wertvolles verloren und Grund zu der Annahme, es sei versehentlich in den Besitz des Adressaten gelangt. Antwort postlagernd, bei Rückgabe Finderlohn. Kopinski hat gar nicht geantwortet; Voigt, sie habe zwar nichts bei ihm verloren, doch wenn sie jung und hübsch sei, könne man sich durchaus finden. Glaser hat nur Uhrzeit und Ort für ein Treffen genannt, und nun trifft sie ihn.

Wilhelm Glaser also, denkt sie, noch während sie ihm die Hand schüttelt und zur Begrüßung seine Stimme hört. Warme, kräftige Hände, eine ruhige Stimme. An beides erinnert sie sich nun so greifbar, dass ihr vor Scham das Blut ins Gesicht schießt bei dem Gedanken, in welcher Situation dieser fremde Mann sie gesehen hat. Am liebsten würde sie sich umdrehen und hinausrennen aus dem Café. Doch Wilhelm Glaser, der sie auch gleich erkannt hat, das sieht sie an seinem Blick, nimmt ihr so höflich den Mantel ab, schiebt ihr den Stuhl zurück, als wolle er sagen: So etwas kommt eben vor. Für mich sind Sie trotzdem eine Dame. Im Übrigen habe ich gar nichts gesehen. »Wie kann ich Ihnen weiterhelfen«, fragt er sie über ihre Kaffeetasse hinweg. Und was macht sie? Sie fängt an zu weinen!

Eine Stunde später sind die Tränen getrocknet. Vicky hat ihm viel mehr erzählt über sich und Elsa, als sie jemals vorhatte. Ohne es direkt auszusprechen, hat sie ihm zu verstehen gegeben, dass der Vater aus guten Gründen unbekannt bleiben müsse, und er hat ihr zu verstehen gegeben, dass er darüber weder etwas wisse noch wissen wolle. Zugezwinkert hat er ihr dabei, und nun ist sie noch immer nicht sicher, ob er wirklich nichts weiß, jedoch so gut wie sicher, dass er sie nicht verraten wird. Und das Beste, das eigentliche Wunder, davon hat er gesprochen, nachdem ihr Redefluss endlich versiegte. Wie er die Feier verlassen wollte und nach Hause gehen zu seiner Frau und dabei zufällig an der Poststelle vorbeikam – wo die Alte mit ihren nikotingelben Zähnen ihn als vermeintlichen Vater kurzerhand zur Hilfshebamme gemacht hat. Und dass er tatsächlich Vater geworden ist am Tag der Eröffnung des Jonass, dass seine Frau zur selben Stunde zu Hause einen Sohn geboren hat!

Da musste Vicky wieder weinen vor lauter Glück und Begeisterung und wollte den kleinen Bernhard mit ihrer Elsa auf der Stelle besuchen. Die Kinder waren ja praktisch Geschwister! Auch Wilhelm schien die Idee zu gefallen, doch er zögerte und meinte, dass seine Frau sich noch nicht wieder gut fühle und etwas Zeit brauche. Sie würden sich aber bestimmt bald treffen – auch er habe sich oft gefragt, was aus ihr und der Kleinen geworden ist, und sei nun sehr froh zu hören, dass es ihnen gut geht. Ob sie denn das bei der Eröffnung Verlorene wiedergefunden habe? »Etwas tausendmal Besseres!«, hat sie gerufen. »Einen Bruder für Elsa und eine Familie für die Kleine und mich!«

Das Kreditkaufhaus Jonass leuchtet. Auch das Jonass beteiligt sich an der Lichtwoche im Oktober, wenn nach Einbruch der Dämmerung viele Fassaden festlich beleuchtet werden. Hunderttausende sind unterwegs, aus den Vororten und aus dem Umland angereist, und drehen eine abendliche Runde durch die Stadt, um vom Funkeln und Blinken der Elektrobirnen etwas auf sich abstrahlen zu lassen. Der große Strom der Flaneure ergießt sich in den Westen und bestaunt den illuminierten Ku’damm und »das KaDeWe in Licht und Schönheit«. Doch für die Bewohner des armen Ostens ist auch das strahlende Jonass eine Sensation.

Harry hat für das Spektakel keinen Blick, als er sich dem Büro seines Vaters nähert.

»Mein lieber Sohn«, sagt Heinrich Grünberg zur Begrüßung, »es ist mir ein Rätsel, wo du all dein gutes Geld lässt. Mein gutes Geld.« Er klopft mit dem Füllfederhalter auf die Schreibunterlage. »Wenn du später diese Firma führen willst, musst du lernen, mit deinem Budget zu haushalten. Oder meinst du, es wäre zu knapp bemessen für einen Studenten, der im elterlichen Heim versorgt wird?«

»Nein, Vater, bestimmt nicht. Es ist nur so, dass ich … Ich hatte unvorhergesehene Ausgaben in letzter Zeit.« Harry blickt zu Boden. »Schreib einfach alles an, du kannst es mir später vom Gehalt abziehen. Oder vom Erbe. Du bekommst jeden Pfennig zurück.«

»Vom Erbe wohl kaum, mein Lieber.« Heinrich Grünberg holt ein paar Scheine aus der Schublade seines Schreibtischs. »Es ist das letzte Mal, ich meine es ernst.«

»Danke, Vater.«

»Meine Güte, so oft, wie du mich heute Vater nennst, könnte man meinen, dass du diesen Abend noch schlimme Dinge vorhast. Ich hoffe, du treibst dich nicht wieder in den Spelunken in der Mulackstraße herum, wo das Gesindel …«

»Meinst du die Ganoven, die Kommunisten oder die Juden?«

»Kommt bei den Ostjuden ganz aufs selbe hinaus.«

Harry hat nicht vorgehabt, heute in die Mulakei zu gehen, aber sein Vater hat ihn auf die Idee gebracht. Obwohl er sich auf der Mulackstraße schnell einen schäbigen Mantel über das Jackett gezogen hat, wird er vor der Kneipe »Zum seligen Absturz« von Proleten angepöbelt. Auch die Juden in der Grenadierstraße erkennen nicht den Bruder in ihm. Kein Wunder, er kann nicht einmal die hebräischen Inschriften über den Läden lesen. Schon besser versteht er das Jiddisch, das man hier überall hört, in den Kellergeschäften, den koscheren Speisestuben, Schneiderwerkstätten und Buchläden. Ein paarmal ist er ins Jiddische Theater in der Almstadt 5 gegangen, um den Klang der Sprache zu hören. Zu Hause hat er versucht, ihre Melodie auf der Trompete nachzuspielen, bis seine Mutter hereinkam und fragte, ob sie ihm irgendwie helfen könne.