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Alexander Neubacher

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Beschreibung

Der Sieg der Verbote über die Vernunft

Vater Staat ist zur Übermutter geworden; sie schreibt uns vor, was wir essen, wie viel wir trinken, wie wir wohnen und über die Straße gehen. Sinnlose Gesetze und Sicherheitshinweise maßregeln uns im Alltag. Statt selbst für unser Leben verantwortlich zu sein, werden wir wie Kleinkinder behandelt. Der gesunde Menschenverstand bleibt dabei auf der Strecke. So darf es nicht weitergehen, meint Alexander Neubacher, denn hinter dem vermeintlich fürsorgenden Staat steht ein Menschenbild, das uns Sorge bereiten sollte. Anhand skurriler Alltagsgeschichten aus der Nanny-Republik Deutschland zeigt Neubacher gewohnt witzig und scharfsichtig, warum es sich lohnt, wieder mit dem Selberdenken zu beginnen.

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ALEXANDER NEUBACHER

TOTALBESCHRÄNKT

Wie uns der Staat mit immer neuen Vorschriften das Denken abgewöhnt

Deutsche Verlags-Anstalt

1. Auflage

Copyright © 2014 Deutsche Verlags-Anstalt, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH und SPIEGEL-Verlag, Hamburg

Alle Rechte vorbehalten

Typografie und Satz: DVA/Brigitte Müller

Gesetzt aus der Dante

ISBN 978-3-641-14270-4www.dva.de

Inhalt

Einleitung

Die Paragrafenkeule

Vorsicht Trottelbürger: Der Sicherheitsstaat

Das gute Leben und seine Feinde: Der Enthaltsamkeitsstaat

Dinkeldeutschland: Der Sittlichkeitsstaat

Nichts zu verbergen: Der Kontrollstaat

Sanfter Paternalismus

Der gute Staat

77 irre Vorschriften

Dank

Literatur

»I fought the law and the law won.«

SONNY CURTIS

Einleitung

Ich bin in den siebziger Jahren aufgewachsen; es war eine wilde, gefährliche Zeit. Wir kletterten auf Bäume, sprangen in Pfützen und tranken Wasser aus Gartenschläuchen. In den Sommerferien fuhren wir mit dem VW-Bus über holprige Straßen nach Italien, zwanzig Stunden in einem Rutsch. Mein Vater saß am Steuer, rauchte filterlose Zigaretten und aß Autofahrerschokolade, um wach zu bleiben. Wir Kinder lagen hinten auf einem Berg aus Strandmatten, Zeltplanen und Wechselwäsche. Natürlich nicht angeschnallt. Es gab ja keine Gurte. Im Nachhinein kommt es mir wie ein Wunder vor, dass wir überlebt haben.

Heute ist meine Welt geordnet. Wir beim SPIEGEL arbeiten in einem modernen Hamburger Bürohaus, in dem nicht geraucht wird. Es ist verboten, seine eigene Schreibtischlampe mitzubringen: Energiesparvorschrift. Private Zimmerpflanzen: auch untersagt.

Vor kurzem bekam ich überraschend Besuch von einer Betriebsärztin und drei Herren, die sich als Kontrolleure aus der Verwaltung vorstellten. Die Ärztin hatte ihre Notfalltasche dabei. Einer der Männer hielt ein Klemmbrett mit einer Checkliste vor der Brust. Es ging um einen blauen Gymnastikball, auf den ich mich während der Arbeit gelegentlich setze in der Hoffnung, ich beugte dadurch Rückenschmerzen vor. Doch meine Besucher klärten mich darüber auf, dass der Sitzball einen Verstoß gegen die Unfallschutzvorschriften im Sinne von Paragraf 4 Arbeitsschutzgesetz darstelle. Es bestehe Roll-, Rutsch-, Kipp- und Sturzgefahr. Der Ball müsse weg. Man meine es nur gut mit mir.

Ich habe bei der zuständigen Berufsgenossenschaft nachgefragt, wie viele Büromenschen im vergangenen Jahr von einem Sitzball gefallen sind und sich dabei verletzt haben. Es dauerte eine Weile, bis jemand zurückrief und mir die Zahl nannte: Null. Im ganzen Jahr hatte sich offenbar nicht ein einziger berichtenswerter Sitzball-Unfall ereignet.

Nun könnte das natürlich daran liegen, dass es in deutschen Büros, mit wenigen SPIEGEL-Ausnahmen, schon lange keine Sitzbälle mehr gibt, von denen jemand hätte herunterfallen können. Doch siehe da: Auch die Statistiken früherer Jahre verzeichnen keine nennenswerten Unfallzahlen. Selbst zu Zeiten, in denen Sitzbälle bei bandscheibengeplagten Menschen groß in Mode kamen, waren Stürze kein großes Problem. Warum also die Aufregung nach Paragraf 4 Arbeitsschutzgesetz? Meint man es wirklich gut mit mir?

Das Sitzballverbot ist mehr als eine Büroposse. Es steht beispielhaft für ein Zeitgeistphänomen, das weit über meinen Arbeitsplatz beim SPIEGEL hinausreicht. Der Staat und seine bürokratischen Helfer glauben zu wissen, was gut für uns ist. Sie sagen uns, was wir essen und trinken sollten, wie wir unsere Arbeit machen, wie wir unseren Feierabend verbringen. Sie leiten uns beim Einkaufen und im Straßenverkehr, zu Hause und in der Freizeit, sie behüten, schubsen, motivieren und moralisieren, sie verwandeln unsere Welt in eine Mischung aus Kindergarten und Pflegeheim. Die Verbote und Vorschriften dringen in jeden Bereich unseres Lebens. Sie kosten uns Zeit, Nerven und Geld und vergällen uns den Alltag. Der Supernannystaat beschränkt die Bürger, der Bundesadler wird zur Glucke: Deutschland, die gemaßregelte Republik.

Im 18. Jahrhundert war es in gebildeten Kreisen üblich, Kindern ein Gängelband anzulegen, eine Mischung aus Zwangsjacke und Pferdegeschirr, um ihnen das Laufen beizubringen. Erst die Aufklärung brachte Pädagogen hervor, die den Eltern erklärten, sie sollten ihre Kinder einfach machen lassen. Der aufrechte Gang komme dann von ganz allein. Im Jahr 1784 forderte der Philosoph Immanuel Kant den Aufbruch des Menschen aus dessen selbstverschuldeter Unmündigkeit. Er schrieb: »Habe Muth, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.«

Heute, 230 Jahre später, schlägt das Pendel zurück. Ausgerechnet die Vertreter jener Generation, die sich in ihrer Jugend mit langen Haaren und bunten Kleidern besonders rebellisch vorkamen, haben sich zu Hausmeistern der korrekten Gesinnung entwickelt. Auf Mut und Verstand, jedenfalls des gemeinen Bürgers, wollen sie sich nicht verlassen. Es herrscht ein anti-aufklärerischer Geist, das Gängelband kommt wieder in Mode. Der Mensch gilt als betreuungsbedürftiges Mängelwesen. An die Stelle von Homo sapiens tritt Homo demenz, der Trottelbürger.

Diese Haltung prägt auch die Politik. »Lassen Sie uns mehr Freiheit wagen«, verkündete Angela Merkel noch in ihrer ersten Regierungserklärung als Bundeskanzlerin im November 2005. Doch irgendetwas kam immer dazwischen. Seit dieser Legislaturperiode setzt die Große Koalition aus CDU/CSU und SPD den Bürger gleich von zwei Seiten pädagogisch unter Druck: Moralapostel verbünden sich mit Sozialingenieuren. Die Opposition neigt ebenfalls dazu, den Bürgern Vorschriften für eine korrekte Lebensführung zu machen, insbesondere die Grünen, die Partei der zänkischen Übertugend. Und bevor sich ein FDP-Mitglied auf die Schulter klopft: Ein Liberalismus, der solche Freunde hat wie die FDP-Bundestagsfraktion der vergangenen Legislaturperiode, braucht keine Feinde mehr.

Die Entmündigung kommt nicht über Nacht. Es ist ein schleichender Prozess. Der Staat stiehlt sich mit kleinen, leisen Schritten in unser Leben. Aber wenn wir in alten Fotoalben blättern, fällt uns auf, was wir früher für verrückte Sachen gemacht haben. Wir sehen Menschen, die eine entfernte Ähnlichkeit mit uns haben, aber völlig unvernünftige und mitunter sogar gefährliche Dinge tun. Und dabei scheinen sie auch noch irre viel Spaß zu haben.

Stellen Sie sich vor, Sie wären ein Zeitreisender, den es per Knopfdruck aus dem Mauerfalljahr 1989 in die Jetztzeit katapultiert. Wie würde Ihnen nach einem Zeitsprung von einem Vierteljahrhundert unser heutiger Alltag vorkommen?

Vermutlich wären Sie überrascht zu sehen, dass in der Eckkneipe nebenan nicht mehr geraucht werden darf, weshalb Gäste und Wirt alle halbe Stunde vor die Tür gehen, um sich bei Wind und Regen eine anzustecken. Es käme Ihnen seltsam vor, dass in einigen Mensen und Kantinen donnerstags kein Fleisch mehr serviert wird: Veggieday. Dass an vielen Stränden an der Nord- und Ostseeküste aus Sicherheitsgründen keine Sandburgen mehr gebaut werden dürfen. Dass ein Handwerker, der sich in der U-Bahn auf dem Weg in den Feierabend eine Flasche Bier aufmacht, mit einem Bußgeld bestraft wird. Dass Sie mit Ihrem kaum zehn Jahre alten Auto plötzlich nicht mehr in die Innenstadt fahren können, weil es angeblich zu viel Feinstaub ausstößt. Dass Sie in Ihrer Eigentumswohnung keinen Kamin und keine Gästetoilette mehr einbauen dürfen, weil Luxussanierung gegen den Milieuschutz verstößt. Dass es verboten ist, zum Schulfest Ihres Kindes einen Nudelsalat oder eine Nachspeise mitzubringen: Vergiftungsgefahr. Und dass an jeder Straßenecke eine Kamera hängt, die Ihre Schritte überwacht – ganz zu schweigen von den illegalen, aber von unserer Regierung eher hilflos hingenommenen Spitzeleien via Internet und Mobilfunkortung.

Bestimmt wären Sie auch erstaunt über die Forderung nach einer Helmpflicht und einem weitergehenden Alkoholverbot – für Fahrradfahrer. Über eine staatliche Prämie zur Begrenzung von Überstunden, wie sie Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) ins Gespräch gebracht hat. Über Kaffeetafeln ohne Kaffeesahne-Portionsdöschen, wie sie der grünen Spitzenfrau Katrin Göring-Eckardt vorschweben. Und über die vielen anderen Verbote, die Politiker aller Parteien in den letzten Monaten gefordert haben: Nachtangelverbot, Lichtverschmutzungsverbot, Heizpilzverbot, Uferbadeverbot, Rolltreppenverbot für Kinderwagen, Plastiktütenverbot, Ballerspielverbot, Pornografieverbot, Ausgehverbot für Menschen unter 18 Jahren, Prostitutionsverbot für Menschen unter 21 Jahren, Ponyreitverbot, Zigarettenautomatenverbot, Standbytastenverbot. Nicht zu vergessen das Weichmacherverbot für Sexspielzeug, wie es das Umweltbundesamt und die EU-Kommission vorschlagen.

Und was käme Ihnen bei Ihrer Zeitreise ins Jahr 2014 wohl verrückter vor? Die rechtliche Verpflichtung, Ihren Müll auf ein halbes Dutzend verschiedenfarbige Tonnen zu verteilen? Oder der Umstand, dass ein Gutteil des sorgsam getrennten Abfalls hinterher wieder zusammengekippt und verbrannt wird?

Fachleute des Bundesjustizministeriums haben kürzlich einmal nachgezählt: Man kam auf 246944 Bundesvorschriften, die von den Bürgern zu beachten sind. Hinzu kommen mehrere Hunderttausend Vorschriften von Ländern, Kommunen und Körperschaften des öffentlichen Rechts; das Spektrum reicht von den Gebührensatzungen für Kindergärten bis zu den Friedhofsordnungen. Die Frage, wie viel Wasser eine öffentliche Toilette maximal verbrauchen darf, ist hier ebenso geregelt wie das Design von Sonnenschirmen in der Außengastronomie.

Allein unter der vergangenen schwarz-gelben Bundesregierung traten 553 Bundesgesetze mit einigen Tausend Paragrafen in Kraft, mehr als in jeder Legislaturperiode zuvor, »ein zweifelhafter Rekord«, wie Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) einräumte. Wer sich in Deutschland nicht an die vorgeschriebene Farbe von Parkscheiben (blau) hält oder die Verfallsangaben auf dem Erste-Hilfe-Kasten (DIN 13164) missachtet, wird jetzt noch strenger bestraft. Für Fahrradfahren in einer Fußgängerzone sind 15 statt zehn Euro Bußgeld fällig, für »nicht platzsparendes Parken« zehn Euro und für »unnützes Hin- und Herfahren innerhalb geschlossener Ortschaften« 20 Euro. Details stehen im bundeseinheitlichen Bußgeldkatalog, der am 1. April 2013 in Kraft trat.

Einige Fälle aus dem Pumpensumpf der Bürokratie sind so skurril, dass die Zeitungen darüber berichten. Einem Hamburger Fischhändler wurde nach einem Schadensersatzprozess auferlegt, ein Hinweisschild an der Verkaufstheke anzubringen mit der Warnung: »Achtung: Fische können Fischgräten enthalten.« Das Bundesinnenministerium sorgte für Aufsehen mit dem Entwurf einer neuen Schützenfest-Richtlinie. Aus Sicherheitsgründen sollte nur noch auf Holzvögel aus dünnem Weichholz geschossen werden. Zuletzt wollte die EU-Kommission nachfüllbare Olivenölkännchen in Restaurants verbieten: Hygienevorschrift!

Als in Hamburg Anfang 2013 tibetische Mönche ein aus drei Kilo Sand gefertigtes Mandala in die Alster streuen wollten (»ein Zeichen der Vergänglichkeit«), schaltete sich zunächst die Hamburger Umweltbehörde ein. Das Streuen von Sand sei »ein nicht angebrachter Eintrag in Hamburger Gewässer«. Im Stadtrat von Köln macht sich eine selbsternannte Geschmacks- und Stilpolizei Gedanken über eine »qualitätsvolle Ausstattung« der Außengastronomie. Statt des bunten Durcheinanders sollten Tische und Stühle »in Weiß, Grau, Holznaturfarben oder Metallfarbe gehalten sein«. Sonnenschirme müssten aus »weißem, beige- oder cremefarbenem Markisenstoff bestehen«.

Zu überregionaler Bekanntheit brachte es Dieburgs Bürgermeister Werner Thomas mit seinem Verbot, im örtlichen Freibad vom Zehnmeterturm zu springen. Es bestehe Blendgefahr. Die 60 Jahre alte Anlage hat einen konstruktionsbedingten Mangel: Der Sprungturm zeigt nach Osten, Richtung Sonnenaufgang. Damit verstößt er gegen DIN EN 13451-10, eine jüngere Norm für den Bäderbau, die wiederum auf eine Richtlinie der Deutschen Gesellschaft für das Badewesen e. V. zurückgeht, welche besagt: »In Europa sollten Sprunganlagen im Freien nach Norden gerichtet sein.« Als Bürgermeister Thomas von einem Gutachter auf das Problem aufmerksam gemacht wurde, legte er gleich das ganze Schwimmbad still. Von Abriss und Neubau war die Rede. Inzwischen hat sich die Aufregung etwas gelegt. Doch wegen der Blendgefahr darf der Sprungturm erst betreten werden, wenn die Sonne hoch am Himmel steht. Weitere Expertisen wurden in Auftrag gegeben.

An einigen Schulen Nordrhein-Westfalens dürfen keine ausgestopften Tiere mehr gezeigt werden, Begründung: Die jahrzehntealten Exponate könnten – theoretisch – Giftstoffe wie Arsen ausdünsten. Zur Sicherheit wurden sie in Folie verschweißt, was freilich dazu geführt hat, dass man einen Marder kaum noch von einem Eichhörnchen unterscheiden kann.

Auf dem Jahn-Sportplatz im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg joggen junge Mütter und Väter jetzt eben nicht mehr hinter ihrem Kinderwagen her, so wie sie es früher gemacht haben. Berlins Innensenator hat ein Buggyverbot für öffentliche Sportanlagen erlassen; es bestehe Stolpergefahr. In Nordrhein-Westfalen trat ein nochmals verschärftes Anti-Raucher-Gesetz in Kraft. Es trifft auch Elektrozigaretten, aus denen überhaupt kein Rauch herauskommt. An Deck bayerischer Ausflugsdampfer ist das Rauchen sogar unter freiem Himmel verboten und demnächst gilt das womöglich auch in Biergärten.

In der Regel haben sich die Bürger an den präventiv-bürokratischen Komplex gewöhnt. England hat schlechtes Wetter, Australien giftige Schlangen und Deutschland seine Behörden, so ist das eben, was soll man machen. Die Menschen verzichten klaglos aufs Osterfeuer (Brandgefahr, Feinstaubbelastung), begnügen sich beim Musikhören mit gehobener Zimmerlautstärke (die EU begrenzt den Kopfhörerausgang beim MP3-Player auf 85 Dezibel), sie verbringen ihre Abende im kühlen Schein der Energiesparlampe und haben die halbe Windschutzscheibe ihrer Autos mit Aufklebern bedeckt, um in die Umwelt- und Parkraumbewirtschaftungszonen vordringen zu dürfen. Es klingt ja zunächst auch nicht alles total unvernünftig. Wenn etwas der Sicherheit, der Gesundheit oder der Sittlichkeit dient, sind wir dabei. An uns soll es nicht scheitern. Es ist auch ganz bequem, unmündig zu sein.

Doch hinter der staatlichen Regulierungswut steckt ein pessimistisches Menschenbild. Dem Trottelbürger wird nichts zugetraut, zumindest nichts Gutes. Kaum, dass er sich die Schnürsenkel zubinden kann. Er neigt zu Verantwortungslosigkeit und selbstschädigendem Verhalten. Im Straßenverkehr ist er je nach Untersatz als Autoraser oder Kampfradler unterwegs. Er ernährt sich ungesund, trinkt Alkohol und arbeitet bis zum Burnout. Er nimmt für bare Münze, was ihm die Werbung sagt, weshalb jeder Supermarkt zur Konsumfalle wird. Ihm fehlt die Einsicht in höhere Wirkzusammenhänge. Womöglich raucht er. Der Staat übernimmt deswegen die Rolle einer strengen Gouvernante, die mit erhobenem Zeigefinger vor uns steht und uns Vorhaltungen macht: »Du weißt nicht, wie gefährlich das ist!«, »Du weißt nicht, wie ungesund das ist!«, »Du weißt nicht, was sich gehört!«

Der Nannystaat ruht auf den Säulen Sicherheit, Enthaltsamkeit, Sittlichkeit und Kontrolle. Er nötigt uns seine Hilfe auf, ob wir wollen oder nicht. Er befreit uns von der Verpflichtung, selbst zu entscheiden, was gut für uns ist. Er verhält sich wie jene dauerbesorgten Helikoptereltern, die ihr Kind auf dem Spielplatz umkreisen und möglichst keine Sekunde aus den Augen lassen. Doch wehe, die Eltern sind für einen Moment abgelenkt, und das Kind hat nicht gelernt, wie es sich aus eigener Kraft am Klettergerüst festhält.

Wir Bürger werden durch die fürsorgliche Belagerung nicht gestärkt, sondern geschwächt. Der Staat lockt uns in die Trägheitsfalle; er gewöhnt uns das Denken ab. Das Verbot tritt an die Stelle des Arguments. Wo es viele Beschränkungen gibt, gibt es bald auch viele Beschränkte, schreibt der Publizist Wolf Lotter. Der Staat unterstellt uns eine Hilfs- und Fürsorgebedürftigkeit, die er in Wahrheit erst erzeugt. Er motiviert uns zu Verhaltensweisen, die uns schaden. Er verbreitet Mythen, vergeudet Geld, Zeit und Ressourcen und schmälert die wirtschaftliche und kulturelle Leistungsfähigkeit der Gesellschaft. Seine Anstandsregeln und Correctness-Gebote belasten das Miteinander. Einige seiner Vorschriften machen uns krank und gefährden sogar unser Leben.

Damit keine Missverständnisse aufkommen: Regulierung ist notwendig. Eine totale, schrankenlose Freiheit des Individuums würde jede Gesellschaft zerstören. Wo es keine Regeln gibt, tyrannisiert der Stärkere den Schwächeren. Laissez-faire schafft keine Freiheit, sondern die Diktatur des Stärkeren. »Die Freiheit der Wölfe ist der Tod der Lämmer«, wie der britische Philosoph Isaiah Berlin schrieb.

Es gibt einige Bereiche, in denen die Politik sogar deutlich stärker regulieren müsste, als sie es heute tut. In der Finanzkrise, in der Klimapolitik oder beim internationalen Datenschutz wird die ordnende Hand des Staates gebraucht. Es wäre gut, wenn die Europäische Union beim Thema Haftungs- und Eigenkapital im Bankgewerbe mit dem gleichen Eifer voranginge wie beim Glühbirnenverbot. Ohne Regulierung droht das Internet von einem Instrument der Freiheit zu einem Instrument der Unterdrückung zu werden. Um künftig unsere Privatsphäre zu wahren, brauchen wir mehr – und vor allem: besseren – staatlichen Schutz als heute.

Kein Staat kommt also ohne Verbote aus. Die Frage ist jedoch, warum es so viele sein müssen. Es beschleicht einen der Verdacht, dass wir zum Opfer von Ablenkungsmanövern werden, mit denen Politiker ihre Handlungsfähigkeit demonstrieren wollen, wenn sie bei den wichtigen Themen nicht vorankommen. Es ist für eine Regierung leichter, den Gebrauch von Heizpilzen zu verbieten, als den europäischen Handel mit Emissionszertifikaten für klimaschädliches Kohlendioxid auf eine funktionierende Grundlage zu stellen. Das Heizpilzverbot bringt dem Klima zwar nichts, dient aber als Arbeitsnachweis.

Häufig ist auch zu beobachten, dass Vorschriften aus taktischen Erwägungen erlassen werden, etwa, um die eigene Verantwortung auf Dritte abzuwälzen. Es ist für eine Kommune auch viel billiger, an einer maroden Straße ein Tempo-30-Schild aufzustellen, anstatt den Straßenbelag zu reparieren. Wer sinnlose Warnschilder aufstellt, trägt zwar nicht zur Sicherheit anderer bei, hat sich selbst aber juristisch in Sicherheit gebracht.

Viele Verbote zielen am Kern des Problems vorbei. Vom Alkoholverbot in der U-Bahn ist auch die harmlose Frauenrunde betroffen, die mit Prosecco auf den Junggesellinnenabschied anstoßen will. Dem ohnehin betrunkenen Pöbler ist das Verbot dagegen egal. Warum hat er neben Ihnen seine dreckigen Schuhe auf den Sitz gelegt? Etwa weil ein Schild fehlt, das ihm dies verbietet?

Dieses Buch beschreibt, wie der Staat immer stärker in unser Leben hineinregiert und dabei das Gegenteil von dem bewirkt, was er eigentlich erreichen will. Das Kapitel »Der Sicherheitsstaat« zeigt, wie neue Sicherheitsvorschriften unseren Alltag nicht sicherer, sondern gefährlicher machen – ein scheinbares Paradoxon, das sich aber in vielen Bereichen beobachten lässt, ob im Straßenverkehr, im Verbraucherschutz oder im Berufsleben. Immer wieder zeigt sich auch, dass Verbote auf falschen Annahmen und bloßem Vermutungswissen beruhen, denn Politiker agieren nicht im luftleeren Raum. Gerade beim Thema Sicherheit ist der Einfluss von Lobbyisten auf die Gesetzgebung beträchtlich; zwischen ihren Büros und den Hinterzimmern der Politik liegt oft eine Tapetentür. Unter dem Deckmantel von Schutz und Risikovermeidung sind krisenfeste, renditestarke Branchen entstanden, für die staatliche Regulierung vor allem eines bedeutet: mit Sicherheit ein gutes Geschäft.

Das Kapitel »Der Enthaltsamkeitsstaat« handelt von Anti-Raucher-Gesetzen, Fettsteuern, Pflichtuntersuchungen und den vielen anderen Versuchen der Politik, uns einen gesunden Lebenswandel aufzudrängen nach dem Motto: Wenn wir schon sterben müssen, dann bei bester Gesundheit. Doch wie sinnvoll sind die angeblichen Präventionsmaßnahmen? Und wie kommt der Staat überhaupt dazu, den Bürgern in diesem Bereich Vorschriften zu machen? Ist der Einzelne etwa verpflichtet, sich und seinen Körper in den Dienst des Kollektivs zu stellen, allzeit bereit, Schaden von der gesetzlichen Krankenversicherung abzuwenden? Gehört es nicht auch zur Freiheit, sich lasterhaft verhalten zu können?

Tatsächlich, so die zentrale Botschaft des Kapitels »Der Sittlichkeitsstaat«, mischt sich die Politik zunehmend in Werte- und Anstandsfragen ein, die sie eigentlich nichts angeht. Wir erleben eine Moralisierung des Alltags: beim Umwelt- und Klimaschutz, im Wirtschaftsleben, beim Umgang von Männern und Frauen. Die sieben Todsünden der mittelalterlichen Kirche erscheinen in neuem Gewand. Spaßverderber haben in Dinkel- und Dünkeldeutschland die Herrschaft über die öffentliche Meinung übernommen.

Ein Staat, der Verbote erlässt, muss konsequenterweise dafür sorgen, dass sie auch eingehalten werden, davon handelt das Kapitel »Der Kontrollstaat«. Mehr staatliche Regulierung führt automatisch zu mehr staatlicher Überwachung; die Ordnungsämter haben gut zu tun. Wir Bürger sind daran nicht ganz schuldlos. Allzu oft spielen wir uns selbst zum Richter auf. Jeder Pipifax löst einen Shitstorm aus. Die Empörungsdemokratie hat mit Facebook und Twitter ihr ideales Verstärkermedium gefunden; hier vereinen sich alte Moralvorstellungen mit moderner Technologie.

Zugegeben: Wir Bürger agieren nicht immer rational. Wir sind vergesslich und manchmal willensschwach. Wir machen Fehler beim Wahrnehmen, Denken und Erinnern. Politikberater ziehen daraus den Schluss, dass der Staat die Bürger durch Psychotricks auf den richtigen Weg führen könne. Durch »Nudging«, sanftes Anstupsen, sollten die Menschen dazu gebracht werden, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Woher diese sanften Paternalisten wissen, was richtige Entscheidungen sind, bleibt freilich ihr Geheimnis. Und sanft sind sie auch nur, solange der Bürger tut, was er tun soll. Wenn nicht, wird aus dem Stupser ein rüder Rempler.

Dennoch zeigen Beispiele aus Großbritannien, Dänemark und den USA, dass Nudging eine wirkungsvolle Alternative zu einer harten Verbotspolitik sein kann, wie im Kapitel »Sanfter Paternalismus« beschrieben werden wird. Eine Arbeitsgruppe im Bundeskanzleramt arbeitet seit Ende 2013 an konkreten Plänen, Nudging auch hierzulande einzuführen; einige Vorschläge sind es wert, dass man sie ausprobiert.

Politiker sind Volksvertreter, nicht Volkserzieher. Wir brauchen keine Supernanny, die uns sagt, was wir zu tun und zu lassen haben. Das Leben ist kein Bausparvertrag fürs Jenseits. Freiheit besteht darin, alles tun zu dürfen, was einem anderen nicht schadet. Freiheit bedeutet nicht, alles tun zu müssen, was der Gesellschaft nutzt.

Wir sind nicht die Trottel, für die uns Politiker und Bürokraten halten. Wir werden allenfalls von ihnen zu Trotteln gemacht. Aber das sollten wir uns nicht gefallen lassen.

Die Paragrafenkeule

Der beschränkte Bürger. Betreute Biotope in Berlin und Brüssel. Schnullerkettenverordnung, Sargpflicht, feuerfeste Unterhosen. Das Gesetz der wachsenden Staatstätigkeit und das Gesetz unbeabsichtigter Folgen. Sündensteuern und die schwarze Pädagogik des Staates. Ein ehrlicher Deutscher ist Beamter und nicht Mensch.

Viele Jurastudenten lernen im ersten Semester eine Art Faustregel; sie lautet: »Wenn es nicht notwendig ist, ein Gesetz zu machen, dann ist es notwendig, kein Gesetz zu machen.« Die Regel stammt vom französischen Staatstheoretiker Montesquieu; sie gehört zur DNA unseres Grundgesetzes. Als sich nach dem Zweiten Weltkrieg der Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee traf, um ein Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland zu entwerfen, wurden die Weisheiten des 1755 gestorbenen Montesquieu häufig zitiert.

Das Grundgesetz machte den Deutschen nach dem Zivilisationsbruch der Nazijahre klar, dass sie individuelle, unverhandelbare Rechte besitzen, für die sie sich bei niemandem bedanken müssen: Gewissensfreiheit, Handlungsfreiheit, Entscheidungsfreiheit, Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit, Demonstrationsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Pressefreiheit, Reisefreiheit, Berufsfreiheit, künstlerische Freiheit, Niederlassungsfreiheit, Organisationsfreiheit, Unternehmensfreiheit, Eigentumsfreiheit.

Es dauerte nicht lange, bis die Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg von ihren Freiheiten Gebrauch machten. Mehr und mehr traten sie der Obrigkeit als selbstbewusste Bürger entgegen und kämpften für ihre Rechte, zur Not bis zur letzten Instanz. Die Lektüre der Verfassungsgerichtsurteile aus den Nachkriegsjahren ist auch für Nichtjuristen die reine Freude. Ständig geht es darum, wie einfache Bürger mit Hilfe des Verfassungsgerichts den Staat in seine Schranken weisen: Das Recht war ein Quell der Freiheit! Und heute?

Der beschränkte Bürger

Wer heute für eine zurückhaltendere Gesetzgebung plädiert, gilt als hoffnungsloser Romantiker. Die Verbote überwuchern unseren Alltag wie Knöterich die Friedhofsmauer.

Wie unfassbar viele Vorschriften es gibt, merken Sie spätestens dann, wenn Sie spaßeshalber versuchten, sich an alle Vorschriften zu halten: Es wird Ihnen, jede Wette, nicht gelingen. Selbst die Gesetzestreuesten von uns verstoßen ständig gegen irgendeine Regel: beim Einparken den Blinker vergessen, bei der Steuererklärung die Abgabefrist überzogen, auf der Facebook-Seite ein Urheberrecht verletzt, versehentlich in eine nicht angemeldete Demonstration geraten, in einer geschützten Grünanlage Ball gespielt, eine Zigarettenkippe auf den Boden fallen gelassen, Tauben gefüttert, mit dem Fahrrad auf dem Bürgersteig gefahren, eine zerbrochene CD-Hülle in den Gelben Sack gesteckt, einem Drängler hinterrücks Vögelchen gezeigt … Würde jede dieser Kleinigkeiten von einem allwissenden Ordnungshüter mit dem dafür vorgesehenen Bußgeld geahndet, stünden wir alle mit einem Bein im Knast.

Daniel Zimmer, Wirtschaftsjurist an der Universität Bonn und Vorsitzender der Monopolkommission, hat sich einmal die Mühe gemacht, nur das Inhaltsverzeichnis des Online-Portals »Das Deutsche Bundesrecht« auszudrucken, eine Art Namensliste der wichtigsten Gesetze und Verordnungen. Der Drucker spuckte 50 laufende Meter eng bedrucktes Papier aus. Wie hieß doch gleich der Merksatz Montesquieus? Wenn es nicht notwendig ist, ein Gesetz zu machen, ist es notwendig, kein Gesetz zu machen?

Ulrich Karpen, Staatsrechtler an der Universität Hamburg und Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Gesetzgebung, hat mit einer Arbeitsgruppe alle 698 Gesetze untersucht, die von der Großen Koalition zwischen 2005 und 2007 erlassen wurden. Es kam heraus, dass 76 Prozent der Gesetze die Bürokratiekosten steigerten, 58 Prozent nach kurzer Zeit wieder geändert wurden und 50 Prozent sprachlich unverständlich waren.

Wie ist es möglich, dass der liebe Gott nur zehn Gebote brauchte, die Pharisäer 613 und das deutsche Steuerrecht mehr als 30000? In ihren Sonntagsreden sind alle Politiker für mehr Eigenverantwortung, Bürokratieabbau und weniger Regulierung. Theoretisch. »Wenn Deutschland mal nicht so viele neue Gesetze bekommt, ist es gar nicht so schlimm«, sagte Angela Merkel im Herbst 2013, während sich die Koalitionsverhandlungen mit der SPD in die Länge zogen. Als Bundesarbeitsarbeitsministerin Andrea Nahles noch Generalsekretärin der SPD war, schrieb sie gleich ein ganzes Buchkapitel darüber, wie sehr ihr die »beständige Erziehung und sozialtechnologische Optimierung« durch paternalistische Politiker selbst auf den Wecker gehe: »Immer emsiger versucht der Staat, unseren Alltag zu reglementieren, doch wir brauchen kein betreutes Biotop«, so Nahles damals.

Doch im politischen Normalbetrieb sind solche Sätze schnell vergessen. Der Staat begleitet uns durchs ganze Leben; es beginnt mit der Geburtsbeihilfe und endet mit dem Sterbegeld. Auf 14838 Drucksachen brachte es der Deutsche Bundestag in der vergangenen Legislaturperiode, das macht weit mehr als 100 pro Sitzungswoche. Kein Abgeordneter wird behaupten, mehr als nur einen Bruchteil davon gelesen zu haben, zumal eine einzige Drucksache durchaus einen Umfang von mehreren Tausend Seiten haben kann. Hinzu kommen bis zu 1000 Dokumente der EU, die jede Woche auf die Abgeordneten einprasseln. »So kann man demokratische Institutionen auch zumüllen«, sagt der frühere Bundesverfassungsrichter Paul Kirchhof.

Der ehemalige Verfassungsrichter und frühere Bundespräsident Roman Herzog hat einmal erzählt, wie es in seiner Zeit als baden-württembergischer Kultusminister zuging, wenn im Kollegenkreis mal wieder über die Überregulierung im Bildungsbereich geklagt wurde: »Aber spätestens nach 30 oder 40 Minuten pflegte das Blatt sich zu wenden«, erinnert sich Herzog. »Dann erhob sich regelmäßig ein Gesprächsteilnehmer und fragte, warum diese oder jene Sache noch immer nicht einer befriedigenden Regelung zugeführt worden sei, und die Empörung, die vorher über die Verrechtlichung bestanden hatte, wandte sich nun einem ganz anderen Gegenstand zu: der unglaublichen Trägheit des Ministeriums bei der Reglementierung der heiligsten Güter der Nation.«

Vor einiger Zeit durfte ich Kontrolleure des Berliner Ordnungsamtes bei ihrem Rundgang begleiten. Wir überprüften, ob die Autos mit den vorgeschriebenen Plaketten (TÜV, Feinstaub, Anwohnerparken) beklebt waren. Wir ermahnten Kneipenbetreiber, die zu große Schirme oder zu viele Stühle auf den Gehweg gestellt hatten. Wir spähten unauffällig nach verbotenen Heizpilzen und illegalen Rauchern. Einmal verwiesen wir einige Fußballspieler von einer kargen Wiese: Es handelte sich um eine »Geschützte Grünanlage« im Sinne des »Gesetzes zum Schutz, zur Pflege und zur Entwicklung der öffentlichen Grün- und Erholungsanlagen vom 24.11.1997«, für Eingeweihte zu erkennen an einem dreieckigen Schild mit einem Tulpensymbol.

In Friedrichshain-Kreuzberg, einem Berliner Bezirk, in dem sich nicht nur die grüne Bürgermeisterin Monika Herrmann für besonders unangepasst hält, gehen die Behörden gegen Kioskbesitzer vor, die am Sonntag ihr Geschäft länger öffnen wollen. Rechtlich sieht die Lage folgendermaßen aus: Ein Kiosk, der ausschließlich Zeitungen, Blumen, Backwaren, Milch und Milchprodukte verkauft, darf von 7 bis 16 Uhr öffnen. Wohingegen der sogenannte »Touri-Späti«, der Bedarfsartikel für den »alsbaldigen Verbrauch«, Tabak, Andenken, Reiseführer und Stadtpläne und Fotobedarf, führt, von 13 bis 20 Uhr öffnen darf.

Die Berliner Ordnungsämter wachen jetzt auch darüber, wer in den Häusern und Wohnungen ein und aus geht; wer hätte das, 25 Jahre nach dem Ende der DDR-Staatsicherheit, für möglich gehalten? Es ist in Berlin nämlich verboten, seine Wohnung an Feriengäste unterzuvermieten (außer es handelt sich um eine ohnehin leerstehende Souterrainwohnung, die an einer stark befahrenen Straße liegt). Man sollte sich in den sogenannten Milieuschutzgebieten auch nicht beim Renovieren erwischen lassen. Der nachträgliche Einbau einer Gästetoilette ist verboten. Doppelhandwaschbecken: verboten. Fußbodenheizung: verboten. Kamin: verboten. Zwei kleinere Wohnungen zu einer Maisonette zusammenlegen: verboten. Großzügige Grundrisse: verboten. Ein nachträglich angebauter Balkon: darf maximal vier Quadratmeter groß sein. Und natürlich dürfen Altbauten auch nicht mit einem Fahrstuhl aufgewertet werden. Früher haben es die Mieter ja auch geschafft, ihre Einkaufstüten, Getränkekisten und Kleinkinder nach oben zu schleppen. Das hält fit!

Und wussten Sie, dass jede Gemeinde in Deutschland verpflichtet ist, eine »befähigte Person für Leitern und Tritte« zu berufen? Der Leiterbeauftragte muss alle im Besitz der Kommunalverwaltung befindlichen Leitern regelmäßig auf ihre Funktionsfähigkeit überprüfen. Das dazu nötige Fachwissen erwirbt er bei speziellen Schulungen; die Kursgebühr beträgt etwa 500 Euro. Die weiteren Details stehen in den von der EU vorgegebenen »Mindestvorschriften für Sicherheit und Gesundheitsschutz bei Benutzung von Arbeitsmitteln durch Arbeitnehmer bei der Arbeit«. Darin heißt es: »Die Füße tragbarer Leitern ruhen auf einem standsicheren, festen, ausreichend bemessenen und unbeweglichen Untergrund, so dass die Leitersprossen in horizontaler Position verbleiben.« Und weiter: »Leitern müssen so benutzt werden, dass die Arbeitnehmer jederzeit sicher stehen und sich sicher festhalten können.«

Immer mehr Verbote gehen auch auf die Mikroregulierung der Europäischen Union zurück. 28 Kommissare regieren in Brüssel, einer pro Mitgliedsstaat, die wenigsten von uns kennen ihre Namen, wozu auch, sie werden ja nicht vom Volk gewählt, sondern von den Regierungschefs der Mitgliedsstaaten ausgekungelt. Aber sie befehligen mehr als 33000 Beamte und sind an führender Stelle für mehr als 80 Prozent der Gesetze zuständig. Aktuell steht der Pegel bei knapp 3800 EU-Verordnungen und gut 900 Richtlinien zuzüglich sogenannter »delegierten Rechtsakte«: Hier legt die EU-Kommission ohne parlamentarisches Verfahren Detailregeln fest, die sich im Alltag der EU-Bürger aber durchaus bemerkbar machen. »Wer sonst als die Europäische Kommission soll darüber befinden, wie der europäische Zahnersatz oder die europäische Kloschüssel auszusehen haben?«, spottet Hans Magnus Enzensberger in seinem 2011 veröffentlichten Europa-Essay über das »sanfte Monster Brüssel«.

Der Druck der Europäischen Union hat beispielsweise dazu geführt, dass Mecklenburg-Vorpommern zwar weiterhin keine eigenen Berge, aber zumindest ein eigenes Landesseilbahngesetz, kurz LSeilbG, hat. Das Werk umfasst 32 Paragrafen auf 35 Seiten, darunter der Satz, dass es sich bei Seilbahnen um »Anlagen für den Personenverkehr aus mehreren Bauteilen, die geplant, gebaut, montiert und in Betrieb genommen werden« handelt, wer hätte das gedacht. Hätte Mecklenburg-Vorpommern das Gesetz nicht erlassen, wäre ein Zwangsgeld der EU fällig geworden; es drohten 791000 Euro täglich. In Berlin immerhin könnte es sich demnächst endlich auszahlen, dass auch hier ein Landesseilbahngesetz verabschiedet werden musste. Zur Internationalen Gartenausstellung 2017 soll eine Gondel über das Gelände im Stadtteil Marzahn schweben.

Normierter Alltag

Sie glauben, unsere Welt sei bunt? Von wegen; sie besteht aus 213 normierten RAL-Farben zwischen »Verkehrsweiß« und »Tiefschwarz«. Unser Leben ist bis ins Detail normiert, von der Wiege bis zur Bahre. Im Babyalter geht’s los. Die Magna Charta für die Schnullerkettenbranche heißt DIN EN 12586. Sie beschreibt in acht Kapiteln und 40 Unterpunkten, wie eine Holzperlenschnur beschaffen sein muss, damit man sie an einen Babynuckel festklippen darf. Für Spielzeuge gilt die DIN-Norm EN 71-1. Die Stoßfestigkeit von Holzeisenbahnen ist hier ebenso geregelt wie die Maximallautstärke von Babyxylophonen, die Feuerfestigkeit von Karnevalskostümen und die Mindestgröße von Teddybär-Knopfaugen. Ohnehin gilt: Kein Spielzeug für Kleinkinder ohne den obligatorischen Hinweis, dass es für Kleinkinder unter drei Jahren eigentlich nicht geeignet sei.

Sollten Sie in letzter Zeit Schwierigkeiten haben, ein Feuerzeug anzuzünden: Das ist Absicht. Die EU schreibt vor, dass in Europa nur noch »kindersichere« Wegwerffeuerzeuge verkauft werden dürfen. Kindersicher ist ein Feuerzeug dann, wenn im Testlabor 86 von insgesamt 100 Kindern im Alter von bis zu 50 Monaten es nicht schaffen, das Feuerzeug zum Brennen zu bringen. Die Tests müssen in einem speziellen EU-Prüflabor in London vorgenommen werden. Theoretisch käme noch ein zweites Testlabor im polnischen Lodz in Frage, doch leider ist es den Testern dort bislang nicht gelungen ist, 100 Kinder in der vorgeschriebenen Altersgruppe zu finden.

Nicht einmal als Leiche kommt der Bürger zur Ruhe. In den meisten Bundesländern gilt Sarg- oder Urnenpflicht, ein Problem für einige Muslime, die aus religiösen Gründen in einem nach Mekka ausgerichteten Grab in einem Leinentuch bestattet werden wollen. Eine Besonderheit hält das neue Bestattungsgesetz in Nordrhein-Westfalen bereit, denn die rot-grüne Landesregierung will Nachhaltigkeit über den Tod hinaus. Sie räumt den Kommunen in NRW die Möglichkeit ein, nur noch Grabsteine aus fairem Handel zuzulassen.

Das Land Berlin hat sich derweil ausgiebig mit der Frage beschäftigt, was ein »Döner« ist. Laut der »Berliner Verkehrsauffassung für das Fleischerzeugnis Dönerkebap« besteht dieser ausschließlich aus Kalb-, Rind- oder Schafsfleisch. Vor allem aber muss das zwischen den Fleischscheiben befindliche Hack im Fleischwolf gewolft und gemengt worden sein. Nur dann darf es »Döner« heißen. Wird das Fleisch hingegen mit Hilfe einer Kuttermaschine gekuttert, handelt es sich nicht um einen »Döner«, sondern um einen »Spieß nach Döner Art«.

In Brüssel ist ein ganzes Heer von Bürokraten damit beschäftigt, den Verbraucher vor dem Verzehr gefährlicher Speisen zu bewahren. Es gibt die »Honigverordnung« und die »Käseverordnung«, die »Verordnung über koffeinhaltige Erfrischungsgetränke« und die »Verordnung über gesetzliche Handelsklassen für Schafsfleisch«, die »Verordnung über das Inverkehrbringen bestimmter Lebensmittel aus Albanien« und die »Verordnung zur Durchführung der Marktordnungsvorschriften über die Verwendung von Kasein und Kaseinat zur Herstellung von Käse und Erzeugnissen aus Käse«. Die EU behandle den Verbraucher »als behandlungsbedürftigen Schwachkopf, der Rotwein nicht von Weißwein unterscheiden kann«, sagt der Tübinger Juraprofessor Wernhard Möschel.

Nicht-normiertes Essen ist besonders verdächtig. Die EU geht gegen französischen Käse, schwäbische Kutteln, schottischen Hummer und polnische Würste vor. Auch die nach alter dänischer Tradition gebackene Zimtschnecke verstößt gegen die gesundheitspolitischen Leitvorstellungen der Europäischen Union, denn die enthält, der Name deutet es an, Zimt. Laut Annex III, Teil B von Verordnung 1334/2008 dürfen Backwaren pro Kilogramm maximal 50 Milligramm Cumarin enthalten, ein in Zimt vorkommender Pflanzenstoff. In dänischen Zimtschnecken jedoch liegt die Dosis darüber. Immerhin: Die EU teilt mit, sie sei »bereit zu Konsultationen mit dänischen Institutionen – falls sie Hilfe beantragen sollten –, eine gemeinsame EU-konforme Regulierung zu finden, die dänische (und andere europäische) Verbraucher schützt und den EU-Binnenmarkt nicht behindert«.

Allein die Definition von »Marmelade« hat die EU-Spitzenbürokratie Jahre in Atem in gehalten. Richtlinie 79/693/EEC regelt nun, dass es sich um ein Erzeugnis handeln muss, das aus Zitrusfrüchten hergestellt wird, also aus Orangen oder Zitronen. Wird die »Marmelade« aus Nicht-Zitrusfrüchten hergestellt, also etwa aus Erdbeeren oder Pflaumen, darf sie nach EU-Recht nicht »Marmelade« heißen, sondern muss »Konfitüre« genannt werden. »Konfitüre« wiederum muss aus Obst hergestellt werden. Zum Obst gehören nach EU-Definition freilich auch Tomaten, was auf eine Intervention Portugals zurückzuführen ist, denn in Portugal wird traditionell gerne Tomaten-Konfitüre gegessen. Eine weitere interessante Sonderregel stellt die österreichische »Marillenmarmelade« dar, die aus Aprikosen, also Nicht-Zitrusfrüchten, gemacht wird und deshalb eigentlich »Marillenkonfitüre« genannt werden müsste. Das sagt in Österreich aber keiner, und so haben auch die Österreicher bei der EU dafür kämpfen müssen, eine Ausnahmegenehmigung durchzusetzen. Wie sagte der christdemokratische Spitzenkandidat Jean-Claude Juncker im jüngsten Europawahlkampf: »Es muss nachvollziehbarer werden, was Europa für die Bürger alles leistet.«

2013 hat sich die Europäische Kommission ausführlich mit dem sensiblen Thema Klopapier befasst: Handelt es sich bei einer abgewickelten Klopapierrolle um eine »Verpackung« im Sinne der Richtlinie 2013/2/EU vom 7. Februar 2013 zur Änderung von Anhang I der Richtlinie 94/62/EG? Die Antwort lautet: Ja. Als Erfolg der Normbürokratie kann auch der Treckersattel gelten. Eine Vermessung des durchschnittlichen Treckerfahrerhinterns ergab, dass die Sitzfläche mindestens 40 Zentimeter tief und 45 Zentimeter breit sein muss. Neigungswinkel, Sitzschwingung und Federelastizität des Sattels sind ebenfalls im Detail geregelt.

Die EU schreibt vor, dass sich Menschen, die mit einem Presslufthammer arbeiten, an Grenzwerte für »Hand-, Arm- und Ganzkörperschwingungen« zu halten haben, berechnet nach einer exakt festgelegten Formel, nämlich der »Quadratwurzel aus der Summe der Quadrate der Effektivwerte der frequenzbewerteten Beschleunigung in den drei orthogonalen Richtungen« (Richtlinie 2002 /44). Eine »Verordnung über Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der manuellen Handhabung von Lasten bei der Arbeit« (LasthandhabV) schützt vor Rückenschmerzen und Hexenschüssen. Musiker dürfen mit maximal 85 Dezibel beschallt werden; so fällt das Fortissimo schon mal dem gesetzlichen Lärmschutz zum Opfer. DIN EN ISO 20216 regelt, dass die Borsten einer Zahnbürste eine Zugkraft von 15 Newton aushalten müssen, DIN EN 13537 normiert die Innenmaße von Schlafsäcken.

Fairerweise muss gesagt werden, dass Vereinheitlichungen innerhalb der EU durchaus sinnvoll sein könnten. Verteidigungsexperten wären zum Beispiel froh, wenn sich die Staaten auf gemeinsame Vorgaben für die Ausrüstung ihrer Soldaten verständigen würden, etwa bei der Kleidung. Hier ließe sich bei der Beschaffung viel Geld sparen. Doch ausgerechnet das deutsche Verteidigungsministerium stellt sich bislang quer. Es hat eigene nationale Standards für die Feuerfestigkeit von Unterhosen festgelegt, von denen es auch in Zeiten einer zusammenwachsenden europäischen Außen- und Sicherheitspolitik nicht abrücken will.

Ohnehin ist die Kritik deutscher Politiker am Brüsseler Regulierungswahn mitunter reichlich verlogen. Die Bundesregierung ist bei jeder entscheidenden Ministerratssitzung vertreten. Sie hat alle Möglichkeiten, den gröbsten Unfug zu verhindern. Wenn sie es aber versäumt, ihren Einfluss geltend zu machen, liegt es in der Logik des europäischen Binnenmarktes, dass in jedem Badezimmer zwischen Inari in Nordfinnland und Limassol auf Zypern die gleichen Sparduschköpfe installiert werden müssen, auch wenn nur wenige Regionen Europas tatsächlich unter Wassermangel leiden.

Aber nutzt die ganze Normierung nicht auch dem Bürger? Als das EU-Parlament beschloss, dass sich die Hersteller von Mobiltelefonen auf einen gemeinsamen Netzstecker einigen sollen, war der Jubel der Verbraucherschützer groß. Tatsächlich ärgerten sich bislang viele Handynutzer über den Kabelsalat, wenn jedes Familienmitglied sein eigenes Equipment an die Steckdose legte. Andererseits besteht nun die Gefahr, dass der Einheitsstecker technischen Fortschritt behindert. Den Herstellern ist es künftig nicht mehr möglich, sich durch die Entwicklung eines eigenen, technisch verbesserten Steckers von der Konkurrenz abzusetzen. Langfristig betrachtet wäre es für die Verbraucher also womöglich besser, wenn es keinen normierten Stecker gäbe und sich die Handyhersteller auch auf diesem Gebiet weiterhin Konkurrenz machten.

Ist es ein Wunder, dass viele Bürger die EU inzwischen nur noch mit Glühbirnenverbot und Gurkenkrümmungsverordnung in Verbindung bringen anstatt mit Frieden und Völkerverständigung? Beim Eurobarometer 2013, der großen Meinungsumfrage im Auftrag der EU-Kommission, kam heraus, dass nur noch 31 Prozent der EU-Bürger ein positives Bild von Europa haben. 2002 waren es noch 50 Prozent. Die beiden meistgenannten negativen EU-Zuschreibungen sind »Geldverschwendung« (27 Prozent) und »Bürokratie« (24 Prozent). »Wir haben die EU geschaffen, um die großen Schicksalsfragen zu lösen und Europa eine angemessene Rolle in der Welt zwischen Amerika und Asien zu geben«, sagt Thomas Enders, Vorstandschef des europäischen Flugzeugkonzerns EADS (»Airbus«): »Wir haben die EU nicht geschaffen, um einheitliche Toilettenspülungen oder Bananengrößen zu bekommen.« Herbert Reul, Vorsitzender der CDU/CSU-Gruppe im Europäischen Parlament, drückte es selbstkritisch einmal so aus: »Wir dürfen die Bürger nicht mit dem Regeln von Kleinscheiß in den Wahnsinn treiben.«

Der Brüsseler Regulierungsperfektionismus schadet der europäischen Idee. »Europa muss von unten nach oben gebaut werden, nicht von oben nach unten«, sagte Martin Schulz, Präsident des EU-Parlaments, bei einer Veranstaltung im vergangenen Europawahlkampf; selten fühlte man sich dem Sozialdemokraten näher als in diesem Moment. Es darf auch in der EU Lebensbereiche geben, in denen der Bürger von der Bemutterung des Staates verschont bleibt. Europa wird nicht zu Grunde gehen, nur weil nicht alle Europäer die gleiche Wurst essen oder die gleiche Menge CO2 in die Luft blasen.

Individuelle Verantwortlichkeit muss Vorrang vor einer Regulierung durch den Staat haben. Aus der katholischen Soziallehre stammt der Grundsatz der Subsidiarität. Er besagt, dass staatliche Institutionen keine Aufgaben an sich ziehen, die auch auf einer niedrigeren Ebene bewältigt werden können. Erst wenn diese mit der Lösung überfordert ist, übernimmt schrittweise die nächsthöhere Ebene. Die föderale Ordnung gibt die Reihenfolge vor: Die oberste Ebene bildet die Staatengemeinschaft der Europäischen Union, dann folgen Bund, Land und Kommune. Probleme werden da gelöst, wo sie entstehen, dieses Prinzip hat sich bewährt, denn es stärkt Selbstbestimmung und Eigenverantwortung.

Das Gesetz der wachsenden Staatstätigkeit

Manchmal kommt es vor, dass Politiker versuchen, den Paragrafendschungel zu lichten. Hessen richtete 1991 eine Normprüfungskommission ein. Immerhin mehr als 3500 Vorschriften wurden seither außer Kraft gesetzt, 39 Prozent der Verwaltungsvorschriften und 15 Prozent der Rechtsverordnungen: kein schlechtes Ergebnis. Bayerns Ex-Ministerpräsident Edmund Stoiber leitet ehrenamtlich eine Arbeitsgruppe für Bürokratieabbau in Brüssel. Er hat immerhin dafür gesorgt, dass die meisten europäischen Handwerker in ihren Fahrzeugen nun doch keinen digitalen Fahrtenschreiber installieren müssen; eine Ersparnis von insgesamt 50 Millionen Euro. Weniger erfolgreich war der frühere deutsche EU-Kommissar Günter Verheugen mit seinem Plan, mehr als 200 EU-Rechtsvorschriften zu streichen und dadurch acht Milliarden Euro Bürokratiekosten einzusparen. Denn während Verheugen noch versuchte, eine Richtlinie abzuschaffen, welche die höchstzulässige Zahl von Astlöchern auf EU-Regalbrettern regelte, hatten sich seine Kommissionskollegen schon wieder drei neue Normen einfallen lassen.

Die erste Bundesregierung unter Kanzlerin Angela Merkel ging das Thema Bürokratieabbau mit bürokratischer Gründlichkeit an. In den Ministerien und obersten Bundesbehörden wurden Beauftragte für Bürokratieabbau benannt, das Bundeskanzleramt gründete eine »Geschäftsstelle Bürokratieabbau« mit elf Mitarbeitern und einem Staatsminister an der Spitze. Neu hinzu kam auch der »Nationale Normenkontrollrat« mit 15 Mitarbeitern. Im Statistischen Bundesamt, Abteilung A, bildete sich eine Arbeitsgruppe »Bürokratiekostenmessung« mit nunmehr etwa 90 Mitarbeitern.

Doch was machen die vielen Bürokratieabbau-Bürokraten eigentlich den ganzen Tag? Den Zahlen nach halten sich ihre Erfolge leider in überschaubaren Grenzen. Sie können, so scheint es, den Schaden messen, aber nicht verhindern. Die Bürokratie jedenfalls wächst: Laut jüngstem Bericht des Normenkontrollrats hat sich von Mitte 2012 bis Mitte 2013, also dem letzten Jahr von Schwarz-Gelb in der vergangenen Legislaturperiode, der bürokratische Erfüllungsaufwand von Gesetzen und Verordnungen per Saldo um 1,5 Milliarden Euro erhöht. Einer Entlastung von 660 Millionen stand eine zusätzliche dauerhafte Belastung von 2,16 Milliarden Euro gegenüber. Hinzu kamen einmalige Bürokratiekosten in Höhe von 4,36 Milliarden Euro.

Wie weit Anspruch und Wirklichkeit beim Thema Bürokratieabbau auseinanderklaffen, hat die FDP am Beispiel der Mehrwertsteuer in der vergangenen Legislaturperiode unter Beweis gestellt. Angetreten waren die »Liberalen« mit dem Versprechen auf ein einfacheres und gerechteres Steuersystem. Heraus kam eine neue Subvention für Hotelbetreiber, die das irrsinnige Mehrwertsteuersystem noch komplizierter gemacht und den bürokratischen Aufwand erhöht hat.

Damit keine Missverständnisse aufkommen: Ein moderner Staat braucht Bürokratie. Ohne funktionsfähige Verwaltung kollabierte die öffentliche Versorgung, die Sicherheit wäre gefährdet, das Eigentum wäre nicht mehr geschützt, die Wirtschaft bräche zusammen, es regierte das Faustrecht. Wer von einer total entbürokratisierten Gesellschaft träumt, darf gerne ein paar Tage in Somalia, Tschad oder dem Jemen verbringen: Ich gehe jede Wette ein, dass man die Gründlichkeit deutscher Berufsbeamter dort schmerzlich vermissen wird. Münchens früherer Oberbürgermeister Christian Ude beschrieb die widersprüchliche Haltung der Bürger zur Bürokratie an einem Beispiel aus seinem persönlichen Lebensumfeld. Wer sein eigenes Haus umbaue, beklage sich über die Bürokratie, so Ude. Baue aber der Nachbar sein Haus um, werde sofort die Bauaufsicht verständigt.

Zu wenig Bürokratie ist für das Funktionieren einer Gesellschaft genauso schädlich wie zu viel Bürokratie. Es kommt, wie so oft, auf die richtige Dosis an. Doch was ist die richtige Dosis? Schon das Wort »Bürokratie« deutet an, dass es schwierig ist, das rechte Maß zu finden. Es stammt aus dem Frankreich des 18. Jahrhunderts; der Ökonom Vincent de Gournay beschrieb damit die unproduktiven Amtsstuben der königlichen Verwaltung.

Der Soziologe Max Weber war Anfang des 20. Jahrhunderts hin- und hergerissen zwischen Bewunderung und Verachtung für die Verwaltungsherrlichkeit. Einerseits lobte er, wie die Bürokratie im Kaiserreich die Freiheit der Bürger stärkte, Verlässlichkeit und Rechtssicherheit garantierte. Die Herrschaft der Paragrafen beendete die Willkür des Monarchen, sie sorgte für Vertrauenswürdigkeit und Kontinuität staatlichen Handelns. Andererseits erkannte Weber auch die Gefahren einer überbordenden Regulierungslust: »Wie ist es angesichts dieser Übermacht der Tendenz zur Bürokratisierung überhaupt noch möglich, irgendwelche Bewegungsfreiheit zu retten?«

Der deutsche Ökonom Adolph Wagner stellte 1863 die Theorie auf, dass die Regulierungsnotwendigkeit in einem Gemeinwesen automatisch immer weiter zunimmt; er nannte es das Gesetz der wachsenden Staatstätigkeit. »Der Staat speciell, als Wirthschaft zur Fürsorge der Bevölkerung mit gewissen Gütern, wird dabei absolut immer wichtiger für die Volkswirtschaft und für die Einzelnen«, schrieb Wagner. Das liege zum einen am »Rechts- und Machtzweck«: Weil sich die Gesellschaft permanent weiterentwickelt, müssten auch ständig neue Regeln und Verbote her, um die neuen Realitäten zu »verrechtlichen«, wie die Juristen es ausdrücken. Dem Staat bleibe gar nichts anderes übrig, als sich im Gleichschritt mit den gesellschaftlichen, technischen und ökonomischen Veränderungen immer weiter auszudehnen, ein Gedanke, den der italienische Diktator Mussolini einige Jahrzehnte später in den knappen Worten zusammenfasste, »dass die Freiheit des Individuums umso mehr beschränkt werden muss, je komplizierter die Zivilisation wird«.

Den zweiten Grund für die wachsende Staatstätigkeit sah Wagner im »Cultur- und Wohlfahrtszweck«: Die Grundbedürfnisse der Bürger wie Essen, Wohnen, Kleidung seien ab einem gewissen Wohlstandsniveau befriedigt und verlören an Bedeutung gegenüber stark regulierungsbedürftigen Gütern wie Bildung, Gesundheit, Kultur und Infrastruktur.

Tatsächlich neigen die Behörden schon deshalb dazu, ihre Kompetenzen zu erweitern, um sich zu legitimieren. Jede Ausdehnung der Kompetenzen bedeutet mehr Planstellen und mehr Macht; Personalaufbau in der öffentlichen Verwaltung ist der sicherste Weg zur nächsten Beförderung. Der Brite Cyril Northcote Parkinson entwickelte Wagners These von der Ausdehnung der Staatstätigkeit dementsprechend weiter. Ihm fiel auf, dass sich die britische Marineverwaltung aufblähte, obwohl es immer weniger Schiffe gab. Parkinson zog daraus den Schluss, dass sich Bürokratien selbst dann ausdehnen, wenn sie ihren ursprünglichen Zweck längst verloren haben.

Es zeigt sich: Lieber denken sich Beamte überflüssige Vorschriften aus, als Gefahr zu laufen, selbst überflüssig zu werden. Doch so viele Sonderregeln, Klauseln und Einzelfall-Paragrafen sich die Bürokratie auch einfallen lässt: Es wird ihr nicht gelingen, die Vielfalt der Verhältnisse abzubilden und lückenlos zu verrechtlichen. Je kleinteiliger die Vorschriften, desto mehr Abgrenzungsfragen werfen sie auf. Und je komplexer die Regulierung, desto größer ist die Gefahr, dass seine Bediener es nicht mehr durchschauen. Das Streben nach Einzelfallgerechtigkeit erzeugt systemische Ungerechtigkeit, Perfektionsdrang mündet in Unübersichtlichkeit, bürokratische Gründlichkeit produziert Chaos.

Wie dabei auch Beamte mitunter in die Zwickmühle geraten, beschrieb der frühere Beamtenbund-Funktionär Peter Heesen in der »Süddeutschen Zeitung« anhand eines Beispiels: Ein Schwimmbad werde saniert. Doch mit welchen Kacheln? Die Gesundheitsvorschriften verlangen glatte Fliesen, an denen sich keine Keime festsetzen. Die Sicherheitsvorschriften verlangen raue Fliesen, damit niemand ausrutscht. Und der Beamte? »Der sitzt in seiner Stube«, sagt Heesen, »und fragt sich: Was nun?«

Das Gesetz unbeabsichtigter Folgen

In den siebziger Jahren wurden in den USA und in Europa kindersichere Deckel für Arzneimittel eingeführt. Kinder sollten daran gehindert werden, sich versehentlich zu vergiften. Das hat nicht funktioniert: In den Jahren vor Einführung der neuen Verschlüsse mussten 1,1 von 1000 Kindern in den USA wegen Arzneimittelvergiftung behandelt werden. Im Jahr nach der Einführung waren es 1,5 von 1000 Kindern, also etwa ein Drittel mehr.

Seit Anfang 2003 wird in Deutschland ein Zwangspfand auf Einwegverpackungen für Getränke erhoben, das sogenannte Dosenpfand. Das Ziel war, die ökologisch schlechten Einwegflaschen aus dem Markt zu drängen. Das hat nicht geklappt: Früher hatten Einwegflaschen bei alkoholfreien Getränken einen Marktanteil von etwa 40 Prozent. Heute liegt er bei 80 Prozent.

In den neunziger Jahren führten einige Staaten eine Helmpflicht für Fahrradfahrer ein, darunter Australien. Die Regierung wollte Fahrradfahren sicherer und dadurch attraktiver machen. Es kam anders: Nach Einführung der Helmpflicht ging der Radverkehr in Australien um 29 Prozent zurück. Das Unfallrisiko für Radfahrer hingegen stieg um zehn Prozent.

Die drei Beispiele, ich werde an späterer Stelle auf sie zurückkommen, zeigen, wie staatliche Regulierung nach hinten losgeht. Es mangelt nicht an guter Absicht. Doch gut gemeint und gut gemacht ist nicht dasselbe. In den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts formulierte der amerikanische Soziologe Robert Merton das »Gesetz unbeabsichtigter Folgen« (law of unanticipated consequences).