Tote Jäger schießen nicht - Werner Schmitz - E-Book

Tote Jäger schießen nicht E-Book

Werner Schmitz

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Beschreibung

Die Wölfe kehren zurück. Nicht jedem sind sie willkommen. Im Oderbruch wird ein Wolf von einem adligen Jäger erschossen. Eine Story fürs "Magazin"? Reporter Hannes Schreiber fährt zur Recherche in den tiefen Osten und geht mit dem Freiherrn auf die Jagd. An deren Ende sind 46 Wildgänse und drei Jäger tot – und Schreiber hat einen neuen Fall ...

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Zu dieser Ausgabe

Die Rückkehr der Wölfe nach Deutschland ist eine Erfolgsgeschichte. Jedenfalls für die Wölfe. Zur der Zeit, als dieser Kriminalroman erstmals erschien, gab es ein einziges Wolfsrudel auf deutschem Boden. Im Herbst 2016 waren es nach offizieller Zählung 47 Rudel, 15 Paare und 4 sesshafte Einzeltiere. Wölfe leben inzwischen in Sachsen, Sachsen-Anhalt, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Thüringen und Bayern.

Nicht allen gefällt das. Aus Teilen der Landwirtschaft kommt heftiger Widerstand. Das ist verständlich. Besonders die Schafhalter müssen ihre Tiere gegen Wolfsangriffe mit Zäunen und Hunden schützen. Sie werden jedoch vom Staat für die vom Wolf gerissenen Tiere entschädigt.

Menschen sind durch die Wölfe bisher in keinem Fall angegriffen worden. Ein Wolf, der zu wenig Scheu vor uns zeigte, wurde in Niedersachsen auf behördliche Anordnung getötet.

Doch „Kurti“ ist nicht der einzige erschossene Wolf. Immer wieder werden illegal getötete Wölfe gefunden. Die organisierte Jägerschaft lehnt diese Gesetzesverstöße entschieden ab. Ob alle Grünröcke so denken, wage ich zu bezweifeln.

Zurzeit wird viel über Obergrenzen diskutiert. Manche wünschen sie sich für Flüchtlinge, manche für Wölfe, manche für beide. Es verspricht, eine spannende Debatte zu werden. Spannend wie dieser Krimi aus den Kindertagen der deutschen Wölfe.

Werner Schmitz

Im Frühling 2017

Across the Borderline

There’s a place where I’ve been told

Every street is paved with gold

And it’s just across the borderline.

And when it’s time to take your turn

Here’s a lesson that you must learn

You can lose more than you ever hope to find.

Refrain:

When you reach the broken promised land

Every dream slips through your hand

You’ll know it’s too late to change your mind.

’Cause you’ve paid the price to come so far

Just to wind up where you are

And you’re still just across the borderline.

Up and down the Rio Grande

A thousand footprints in the sand

Reveal the secret no one can define.

The river flows on like a breath

In between our life and death.

Tell me who’s the next to cross the borderline?

(Refrain)

Hope remains when pride is gone

And it keeps you moving on

Calling you across the borderline.

(Refrain)

Ry Cooder, Jim Dickinson, John Hiatt

Kapitel 1

Dafür ist er nun so weit gelaufen. Durch Sümpfe gewatet und um Dörfer geschlichen. Über Eis geschlittert und durch Dornen gekrochen. Zwanzig Tage und hundert Kilometer von zu Hause entfernt krümmt er sich, wimmert vor Schmerz. Sein Bein brennt wie Feuer. Mit Speichel streicht er den blutigen Klumpen ein, der einmal seine Wade war. Bevor das große Krachen über ihn kam und aus dem Krachen die Kugel, die seinen Unterschenkel traf. Er hatte den Hochsitz einfach nicht bemerkt. Als der Gewehrlauf in der Luke aufgetaucht war, hatte er es nicht mehr geschafft, aus dem Schussfeld zu verschwinden.

Ins Erlenbruch ist er nach dem Schuss gehumpelt, so schnell es das zerschossene Bein zuließ. Auf einer halbwegs trockenen Stelle mitten im Morast hockt er nun. Sein Puls pocht. Er hat Durst. In seiner Not schleckt er den Grieselschnee, der sich unter den Bäumen gehalten hat. Zum Entwässerungsgraben am Waldrand traut er sich nicht.

Als er klein war, hat er oft Durst gehabt, im Kiefernwald auf der anderen Seite des großen Flusses, wo er mit Eltern und Geschwistern lebte. Wenig Regen fällt da im Sommer und das Wenige versickert schnell im Sand. Es war eine schöne Zeit, die Kindheit unter den Kiefern. Vater, Mutter und der Onkel, der zur Familie gehörte, brachten eine Menge Essen mit nach Hause. Wilddiebe waren die Alten, machten den Jägern Hirsche und Wildschweine streitig. Richtig pummelig wurden seine Geschwister und er von dem vielen Fleisch. Eine Rasselbande, der es beim Spielen nicht toll genug zugehen konnte. Ärger machte eigentlich nur sein großer Bruder, weil er die Kleinen ständig kniff und quälte. Als sie heranwuchsen, eskalierte der Streit mit dem Älteren. Sie gifteten sich an, bei jeder Gelegenheit setzte es Prügel.

Gegen den Schmerz, den er jetzt unter den Erlen empfindet, waren die Schläge seines verhassten Bruders die reinsten Streicheleinheiten. Er versucht, wieder auf die Füße zu kommen. Belastet das zerschossene Bein nicht, als er aufsteht. In der Ferne hört er Stimmen. Menschen, die näher kommen. Die Leute, die auf ihn geschossen haben? Vorsichtig verlagert er etwas Gewicht auf das kranke Bein – und sackt vor Schmerz zusammen. Er muss bleiben. Vielleicht finden sie ihn nicht, hier im Bruch, in das er geflohen ist. Gelaufen ist er lange genug.

Weggelaufen. Weil er zu Hause keine Zukunft für sich sah. Keine Möglichkeit, eine eigene Familie zu gründen und zu ernähren. Sein großer Bruder würde die Geschäfte der Familie weiterführen. Und heimatlose Wilderer wie ihn gab es eine Menge in Polen. Etwas anderes hatte er nicht gelernt. Also ist er fortgelaufen. Nach Westen, wo alles einfacher sein soll. Auf der alten Fernroute, die schon seine Vorfahren benutzten, wenn sie Verwandte besuchen wollten. Damals, als der große Fluss noch keine Grenze war.

An der Oder angekommen, traf er auf eine Gruppe, die die Gegend am Ostufer unsicher machte. Auf Viehdiebstahl hatte sich die Bande verlegt, stahl den Bauern Hühner und Gänse, raubte Schafe im großen Stil. Ab und an erbeuteten sie sogar eine Kuh. Obwohl nur zu siebt, ließen sie den jungen Herumtreiber nicht mitmachen. Nicht mal was zu essen gaben sie ihm ab. Notgedrungen zog er weiter. Es war kalt geworden. Der Fluss zugefroren. Nachts ging er über die Grenze. An einer Stelle, wo keine Leute wohnen. Vorsichtig tastete er über das Eis. Bereit, bei jedem Knacken zurückzuspringen. Am anderen Ufer schlug er sich sofort in die Büsche.

Wie im Paradies kam er sich anfangs vor. Immer satt zu essen. Jeden Tag Fleisch. Sachen, nach denen sich die Menschen in seiner Heimat die Finger geleckt hätten, fand er hier im Müll.

So war es bis gestern. Heute ist alles anders. Heute liegt er mit zerschossenem Bein im Wald. Fremd klingende Stimmen hört er im Hochwald. Menschen mit ihren Hunden. Mühsam wuchtet er sich hoch. Beißt die Zähne zusammen und hinkt los. Zum Entwässerungsgraben schleppt er sich, rutscht die Böschung hinunter und platscht ins Wasser. Er schluckt die kalte Brühe, schafft es mit Mühe ans andere Ufer. Muss sich hinsetzen, bevor er den Hang erklimmt, und danach auch wieder. Auf einer Wiese hockt er nun, weithin sichtbar, eine lebende Zielscheibe.

Das Bein schmerzt schlimmer denn je. Er läuft trotzdem ein paar Schritte am Graben entlang. Setzt sich wieder. Die Hunde kommen näher. Er muss hier weg. Runter von der Wiese. Ein letztes Mal rappelt er sich auf, will weiter. Kommt er aber nicht. Das Krachen ist wieder in der Luft. Die Kugel prallt auf seinen Körper, pilzt sich auf zwischen den Rippen, jagt sein Blut in Druckwellen durch die Adern, schockt ihn tot, noch ehe sie, ein großes Loch reißend, den Brustkorb wieder verlässt.

Knapp hundert Meter vor einem Hochsitz endet der weite Weg des polnischen Wolfes, der in Deutschland leben wollte.

Kapitel 2

Das Ritual, das sie beim Magazin Themenkonferenz nannten, war in vollem Gange, als Hannes Schreiber in den Saal schlich. Er hatte noch mit dem Hund zum Tierarzt gemusst. Durchfall. Das Vieh fraß beim Spaziergang an der Alster jeden Mist und schiss Schreiber anschließend ins Büro. Die Putzfrauen hatten sich schon beschwert.

So unauffällig, wie das mit seinen ein Meter neunzig ging, schob sich Schreiber durch die hinteren Reihen, bis er einen freien Stuhl fand, irgendwo an der Wand zwischen Möller-Sport und Kultur-Krause. Über fünfzig Jahre hatte der Reporter inzwischen auf dem Buckel. Seit fünfzehn Jahren arbeitete Schreiber beim Magazin. Aber an das morgendliche Schaulaufen der Meister würde er sich nie gewöhnen. Er ging nur hin, wenn er eine Geschichte vorschlagen wollte, an der ihm viel lag.

Vorne am runden Tisch, den Chefredakteur und Ressortleiter umhockten, ging es mal wieder um den Gerd. Der Gerd war gerade Bundeskanzler und außerdem, fast wichtiger, alter Spezi des Magazin-Politikchefs. »Ich ruf den Gerd gleich nach der Konferenz mal auf Handy an«, sagte der leichthin.

»Ist der Gerd nicht gerade in New York?« Der Auslandschef witterte seine Chance. »Wir sind da nämlich an ihm dran. Soviel ich weiß, will Struckmann, der Neue aus unserm Washingtoner Büro, heute Abend mit dem Kanzler im Daniel essen.«

»Der Gerd fliegt heute Mittag zurück nach Berlin und trifft sich abends mit mir auf einen Absacker in der Paris Bar.«

»Struckmann hat aber für heute Abend einen Tisch im Daniel an der Upper East Side bestellt.«

Eigentlich ging es darum, den Gerd zu fragen, womit er sich seine Schläfen kolorierte, Wella oder Schwarzkopf. Stefan Bartelmus, der Chefredakteur des Magazins, wollte mit diesem Detail ein bisschen Farbe in sein nächstes Editorial bringen. Die Herren der in- und auswärtigen Politik hatten das vor lauter Futterneid aus dem Auge verloren. Eine Riesengelegenheit für Britta von der Society, ins Geschäft zu kommen. »Ich ruf die Doris gleich mal in Hannover an. Die muss doch wissen, womit sich ihr Alter die Koteletten färbt.«

»Aber die Doris ist doch mit dem Gerd in New York.«

»War in New York. Heute Abend ist sie mit dem Gerd und mir in Berlin.«

»Wurscht wo! Morgen früh will ich wissen, womit der tönt«, tönte Bartelmus.

Der politische Teil der Konferenz war damit durch. Die Redaktion wandte sich den bunten Seiten des Lebens zu.

»Ich bin heute seit Langem mal wieder mit dem Omnibus gekommen«, begann Bartelmus das Palaver. »Ich war der einzige Deutsche im Bus.«

Hinten im Raum verdrehten einige die Augen. Bartelmus hatte seinen Siegeszug durch die deutsche Presselandschaft als Polizeireporter in Eckernförde begonnen. Blaulicht-Bartelmus nannten ihn die alten Cracks in der Redaktion mehr oder weniger offen. Leute, die ihn noch duzen durften, obwohl er inzwischen fünfmal mehr verdiente als sie.

»Die Ausländer im Bus waren alle Schläfer«, warf einer der Alten ein.

Bartelmus lachte mit. Aber nur kurz. »Maximal Beischläfer«, konterte er und hatte die Lacher wieder auf seiner Seite.

Auf Fremde wirkte Bartelmus, als könne ihm nichts und niemand etwas anhaben. Als sei er schon als Chefredakteur auf die Welt gekommen. Als habe er in seiner oralen Phase ein Megafon verschluckt, um später jede Konferenz ohne Mikro dominieren zu können. Er sah immer noch aus wie ein großer Junge, faltenlos, mit listigen Braunaugen und gleichmäßigen Zähnen, die er beim Lachen strahlen ließ, besonders über eigene Witze.

Nur die abgekauten Fingernägel verrieten, dass Bartelmus unter Druck stand. Seit drei Jahren mimte er den Chefredakteur. Die durchschnittliche Halbwertszeit seiner Vorgänger war damit deutlich überschritten. Und die Auflage sank. Langsam, aber stetig.

Die Nachrichtenlage an diesem Morgen war nicht schlecht. In Bonn hatte der schwarze Lover einer blonden Professorengattin die Kehle durchgeschnitten. Die Zeitung, die Bartelmus täglich studierte, fantasierte freihändig von Voodoo-Mord am Venusberg. Das gefiel dem einstigen Polizeireporter.

»Ist der Schreiber hier?«, brüllte er in die Runde. »Der hat eh nichts zu tun und kennt sich da unten aus. Ist doch deine alte Heimat, Hannes!«

Schreiber rutschte tief in seinen Sitz. Er kam aus Bochum und nicht aus Bonn. Durch solche Haarspaltereien ließ sich Bartelmus in der Regel nicht irritieren. »Da unten« war für einen hanseatischen Chefredakteur alles Land südlich der Elbe, von Buxtehude bis Berchtesgaden.

Schreiber wusste, dass er nur eine Chance hatte, der schwarz-weißen Tragödie vom Rhein zu entgehen: die Geschichte, wegen der er gekommen war, sofort vorschlagen und gnadenlos hochjazzen. Und das tat er auch. »Von wegen nix zu tun«, blaffte er. Wer Bartelmus’ Grobheiten klaglos hinnahm, war verloren. »Was meinst du, warum ich erst so spät gekommen bin. Ich hab mir vor der Konferenz ein Ohr abtelefoniert wegen der Geschichte hier.«

Der Lange wedelte mit einer Agenturmeldung vor seinem Gesicht herum, als wollte er Schmeißfliegen verscheuchen. Aus leidvoller Erfahrung wusste Schreiber, dass Nachrichten, die noch nicht in den Agenturen gelaufen waren, beim Magazin nichts galten. Bartelmus liebte Exklusivgeschichten, aber wer eine vorschlagen wollte, bewaffnete sich besser mit feindlichen Fundstellen.

»Die Agenturen haben gestern gemeldet, dass an der Oder der erste deutsche Wolf erschossen worden ist. Der Bursche hat aus Polen rübergemacht und hier wohl eine Weile gelebt. Man weiß nicht, ob es schon ein kleines Rudel auf dieser Seite vom Fluss gab. Falls ja, dann haben die jetzt Probleme. Ein Jäger hat dem Rüden vor den Kopf geschossen. Fraglich, ob die Wölfin ihre Welpen allein durchbekommt. Der Schütze war übrigens nicht irgendein Hubertus Strammsack aus Finsterwalde. Der Weidmann heißt Lewin von Vitzewitz.«

Schreiber wartete, bis die Heiterkeit abebbte. »Wem der Name nix sagt: alter preußischer Adel. Kommt schon bei Fontane vor. Ostelbische Junker aus dem Bilderbuch. Der aktuelle Vitzewitz ist nach der Wende aus Süddeutschland auf die Güter der Ahnen zurückgekehrt. Macht auf Landwirt und wohnt im Familienschloss. Seine Frau ist die Tochter eines Münchner Schönheitschirurgen. Professor Künzelbach. Der Name sagt dir vielleicht was, Britta.«

Britta war von der Bunten zum Magazin gekommen und kannte den bayerischen Damenschneider natürlich. »Charles Künzelbach, Prominenten-Lifter aus Grünwald. Ich sage nur: Uschi Schätzchen.«

Damit war Schreibers Geschichte so gut wie gebongt. Er wusste zwar nicht, wie er Uschi Schätzchen in eine Abhandlung über Wölfe an der Oder einmassieren sollte, aber das Problem würde sich von selbst erledigen. Wenn der fertige Text vorlag, trieben sie längst eine neue Sau durchs Dorf und kein Schwein dächte mehr an Uschis Falten.

Nur Meichelbeck von der Umwelt, den sie wegen seiner Leibesfülle Öko-Hippo nannten, versuchte, das Ding noch zu torpedieren. »Von wegen erster Wolf. In der DDR sind immer mal wieder Wölfe geschossen worden. Und außerdem würde ich Leuten, die freiwillig weiter f6 rauchen, gar nichts glauben. Der Ossi als solcher kann doch keinen Wolf vom Schäferhund unterscheiden.«

Schreiber erwiderte nichts. Jeder im Raum wusste, dass dem Öko-Hippo gar nichts anderes übrig blieb, als Schreibers Geschichte schlechtzureden. Andernfalls hätte er sie selbst vorschlagen müssen. Wölfe waren eindeutig WÖM, Wissenschaft, Ökologie, Medizin, wie Meichelbecks Ressort mit Vor- und Zunamen hieß.

Auch Bartelmus sprang nicht auf Meichelbeck an. »Wurscht wie. Die Düsseldorfer sollen den Voodoo-Mord stemmen und Schreiber geht zu den Wölfen in den Osten. Ich hoffe nur, er kommt dieses Jahr noch zurück.«

Hannes Schreiber grinste gequält. Es war Januar.

Kapitel 3

»Ach Goethe, nicht schon wieder!« Schreiber roch es schon auf dem Flur. Die Anti-Dünnpfiff-Spritze, die der Doc dem Hund unters rehgraue Fell gejubelt hatte, wirkte anscheinend nicht sofort. Als Schreiber die Bürotür öffnete, schob er den Kot im Halbkreis durch den Raum. Schnell schloss er die Bude ab und riss die Balkontür auf. Der Hafenwind drang ein und ließ ihn frösteln.

Goethe hatte sich unter den Schreibtisch verzogen. Zusammengerollt lag die Hündin da, Schnauze seitlich auf die Pfote gelegt, die Bernsteinaugen nur halb geschlossen. In Goethes Bauch grummelte ein fernes Gewitter.

»Wenn du nich so schön wärs, hätt ich dich längs erschossen.« Irgendwann hatte Schreiber angefangen, mit seinem Hund zu reden. Am Anfang schämte er sich ein bisschen. Als der kopfgesteuerte Kerl, für den er sich hielt, mochte er es nicht, wenn man Tiere vermenschlichte, von Mädchen sprach, wenn man Hündinnen meinte, und statt knapper Kommandos ein langes Lamento auf den Hund losließ. »Velvet, wie oft hab ich dir schon gesagt, du sollst keine kleinen Kinder zerfetzen? Guck mal, wie lieb der graue Wauwau da ist.«

Wenn er mit Goethe allein war, konnte Schreiber es sich nicht verkneifen, ab und zu das Wort an sie zu richten. Und wenn Goethes Schwanzspitze Antworten auf den Teppichboden morste, wurde ihrem Herrn warm ums Herz. Eine wissenschaftliche Ausrede für sein Verhalten hatte Schreiber auch gefunden. »Schade, dass sie nicht reden können«, hatte Konrad Lorenz über seine Hunde geschrieben, »sie verstehen jedes Wort.« Als gelernte Graugans musste der Lorenz es schließlich wissen.

Schreiber holte sein Notfallbesteck aus dem Schrank. Kehrblech, Spachtel, Küchenrolle, Sagrotan. Nach einer Viertelstunde war die Schleifspur auf dem Teppich dunkelgrau statt braun. Das Büro roch betörend. Als ob jemand in eine Parfümerie geschissen hätte. Schreiber zog eine Einkaufstüte über die volle Schaufel und machte sich auf den Weg zum Klo.

In der Biege des Flurs prallte er auf die Bildredakteurin, die Bartelmus letzten Monat eingestellt hatte. Sie hatte Schreibers letzte Geschichte optisch betreut. Lydia Tewes kam ohne Bugwelle daher, redete nicht pausenlos von neuer Bildsprache, wollte nicht alles frisch fotografieren lassen. Außerdem sah die neue Lydia gut aus. Fand Schreiber. Er konnte nicht erklären warum. Das verlangte auch niemand.

»Wo hast du denn deinen hübschen Weimaraner gelassen?«, wollte sie wissen. Sie hatte Schreiber von Anfang an geduzt. Hunde mochte sie anscheinend auch.

»Im Büro.«

Lydia lächelte linkisch, schaute auf die Aldi-Tüte und die merkwürdige Art, wie er sie transportierte, waagerecht, mit einer Hand hineingreifend. Schreiber meinte, ein feines Zittern ihrer Nasenflügel zu erkennen, wie bei einem Kaninchen, das sich nicht sicher ist, ob die angebotene Möhre faul ist oder nicht. Warum musste er ausgerechnet dieser Frau mit einer Schüppe voll Scheiße in der Hand begegnen?

»Mahlzeit«, sagte Lydia schließlich und entschwand Richtung Kantine. Schreiber verschanzte sich auf der Herrentoilette und entsorgte die Tütensuppe.

Den mittäglichen Spaziergang mit Goethe konnte er sich sparen. Den Gang zur Kantine nach der appetitanregenden Verrichtung eigentlich auch. Sein leerer Kühlschrank in Winterhude fiel Schrei­-ber ein. Er schlich in den Speisesaal, setzte sich an einen freien Tisch und aß allein. Spinat-Cannelloni, weil kein Fisch zu kriegen war. Schmeckten so schlecht nicht, die Röllchen.

In den achtziger Jahren, als Zweitausend-Mark-Reporter bei der Bochumer Stadtillustrierten Malibu, war Schreiber, wenn er seinen Kumpel in Hamburg besuchte, des Öfteren um das Verlagshaus am Hafen geschlichen. Wie weiland der kleine Gerd um das Bonner Kanzleramt. Natürlich hatte Schreiber nicht am Gitter gerüttelt und »Ich will hier rein!« gebrüllt. Er war schließlich kein Juso. Reingewollt hatte er trotzdem und es nach ein paar Jahren Anlauf auch geschafft. Halb so viel wie heute hatten sie ihm beim Einstieg gezahlt. Schreiber hatte sich für einen gemachten Mann gehalten. Vier Gehaltserhöhungen und hundertfünfzig Geschichten später hockte er nun allein in der Kantine, mümmelte seine Pasta und freute sich über jeden Job, der ihn rausbrachte.

Kapitel 4

Der Mann hackte Holz. Immer wenn er aufgeregt war, hackte er Holz. Hieb mit dem Beil auf die Stubben, als ob sie seine Feinde wären. Betrachtete den Klotz genau, bevor er zuschlug. Versuchte, die Schwachstelle zu finden, die Lücke, in die die Klinge stoßen musste, um das Holz zu sprengen.

Wie lange das Bäumchen gebraucht hatte, bis es groß und hart geworden war? Wer es gepflanzt hatte? Der Mann war kein Philosoph. Er liebte das Land und die Tiere auf seine eigene, handfeste Art. Säen und Ernten. Hegen und Jagen. Geburt und Tod. Er sah nicht ein, warum er die Hasen den Füchsen überlassen sollte, nachdem sie sich das ganze Jahr auf den Feldern satt gefressen hatten. So was konnte nur diesen Verrückten aus der Stadt einfallen. Die wollten sogar, dass die polnischen Wölfe rüberkämen. Gut reden hatten die Städter. Ihre Schafe rissen sie ja nicht.

Der Mann hatte den angefressenen Kadaver des Hirschkalbs im Feld gefunden. Die Spuren sprachen für sich. Er hatte sie mit seinem Fährtenbuch verglichen. Kein wildernder Hund, eindeutig ein Wolf. Drei Nächte hatte er an dem Riss gelauert. Unter der Trauf verborgen, mit gutem Wind. Der Wolf war nicht zurückgekehrt. Hatte wohl anderswo ein neues Opfer gefunden, die Bestie.

Na ja, auf dem Truppenübungsplatz hatte er den Isegrim dann doch noch erwischt. Kein Ruhmesblatt, dieser Schuss. Der Mann schämte sich. Nicht weil er ein streng geschütztes Tier erlegt hatte. Das war neumoderner Quatsch. Dass er so schlecht abgekommen war, nagte in ihm. Normalerweise schoss er zwei, drei Frischlinge aus einer rasenden Rotte Sauen. Rollierten im Knall, die Wutzen. Und dann so was wie Samstag. Ein Schuss in die Pfote.

Wer weiß, wofür’s gut ist, dachte der Mann. Wenn der Wolf tot vor seinem Hochsitz gelegen hätte, wäre die Sache mit dem Polacken vielleicht auch noch herausgekommen. Wenn die Polizei erst mal ihre Nase in anderleuts Sachen steckt, ist man vor nichts sicher. Außerdem hatte der Baron den Wolf ja noch erwischt.

Der Mann meckerte in sich hinein. Ausgerechnet Vitzewitz. Er holte aus und hieb auf den Eichenstubben ein. Wie durch Butter fuhr die Klinge ins Holz. Der gespaltene Klotz purzelte zu Boden. Der Mann nahm die Stücke auf. Aus euch mach ich Kleinholz, dachte er.

Kapitel 5

Der Reporter und sein Hund hatten dreihundert Kilometer Autobahn und vier Dylan-Alben in den Knochen, als sie den Berliner Ring verließen. Auf Schnee gehofft und keinen bekommen. Graubraun buckelten die Felder unter einem Himmel, der keiner war. Keine Sonne, keine Wolken, kein Regen, kein Wind. Eine konturlose, magermilchige Masse stand über dem Land. Nebelkrähen flappten vorbei. Ihre schorfigen Schnäbel wiesen nach Westen. Auf der Wintergerste zog ein Traktor seine Bahn, Gülle pladderte hinter ihm her. Schreiber schloss das Wagenfenster. Aus den Boxen des Kangoo raspelte Altmeister Zimmerman, mit dem Rest Stimme, der ihm nach tausenddreihundertachtzig Konzerten in den letzten vierzehn Jahren geblieben war. My heart’s in the Highlands. Sechzehn Minuten einunddreißig Sekunden Schwermut. Die Zeit kroch seitlich dahin.

Wie immer, wenn er aus Hamburg kam, hatte Schreiber Mühe, das ländliche Tempo anzunehmen. Keiner fuhr ihm schnell genug. Hinter jedem Lkw zappelte er herum, verrenkte sich den Hals, bis er eine Lücke im Gegenverkehr erspähte, groß genug, um seinen mü­den Franzosen auf Trab bringen zu können. Nur um nach fünf Kilometern hinter der nächsten Kolonne zu hängen. Verknautschte Kleinwagen, betagte Busse, die nur noch von Aufklebern zusammengehalten wurden. Hinter den Scheiben junge Leute mit bunten Haaren, lila Tücher oder Arafat-Feudel um den Hals, sturzbetroffene Gesichter unter Sweatshirt-Kapuzen. Wie Sendboten längst vergangener Zeiten kamen sie Schreiber vor. Kirchentagbesucher, die den Abschlussgottesdienst verpasst hatten. Ostermarschierer an Weihnachten. Hafenstraßen-Besetzer auf der Flucht vor der Wirklichkeit.

Einen Wagen nach dem anderen überholte Schreiber. Als er die bunte Truppe endlich hinter sich gelassen hatte, waren es noch sechzehn Kilometer bis zum Ziel, sagte das gelbe Schild. Busow. Das Nest am Oderhang, das in die Schlagzeilen geraten war, weil sein vornehmster Bürger ein streng geschütztes Tier erschossen hatte.

Nach all den Feldern gab es endlich ein bisschen Wald längs der Straße. Schreiber fragte sich, wie ein Wolf in dieser Gegend überlebt haben konnte. Beute und Ruhe braucht der Räuber. Den Spruch hatten sie ihm in der Jägerprüfung beigebracht. Mit der Beute mochte es angehen. Rehe hatte Schreiber selbst im Vorbeifahren genug gesehen. Sie standen in kleinen Trupps mitten auf den Feldern. Nur wohin sollte sich Gevatter Wolf nach dem Mahl zum Nickerchen zurückziehen? »Wurscht wo«, hörte er Bartelmus sagen. Es hatte hier einen Wolf gegeben. Ein durchgeknallter Edelmann hatte ihn abgeknipst. Wenn das keine Magazin-Geschichte war, was dann?

Das Hotel, das die Mädels vom Reisebüro für ihn gebucht hatten, hieß Oderblick und kostete fünfundzwanzig Euro pro Nacht. Schreiber ahnte Schreckliches, als er am Ortseingang von der Landstraße abbog. Der Weg zum Hotel war mit kindskopfgroßen Feldsteinen gepflastert. Wo die Löcher Badewannencharakter annahmen, wich Schreiber auf die sandige Parallelpiste aus.

Hotel war ein großes Wort für den Gasthof am Ende der Eichenallee. Doch drinnen mochte es sein, wie es wollte. Der Blick, der sich Schreiber bot, als er ausstieg, machte manches wett. Fünfzig Meter unter dem Schuppen strömte der Fluss, grafitgrau, wie eine fette Ringelnatter, lang ausgestreckt nach Norden, kilometerweit im Dunst des Bruchs zu verfolgen, gekrümmt Richtung Süden, wo die Hänge zum Ufer abstürzten wie Weinberge an der Mosel.

Im Osten, auf der polnischen Seite, lag das Land brach. Steppe, so weit das Auge reichte. Kein Haus, nicht mal ein Baum. Nur dürres Gras und mannshohe abgestorbene Stauden, rostbraun wie das verrottete Eisen auf den Industriebrachen seiner Heimat.

»Eiszeit«, sagte Schreiber, »sieht aus wie am Ende der Eiszeit. Würd mich nicht wundern, wenn da drüben gleich Wollnashörner auftauchten. Oder Mammuts.« Der Hund, verpooft und wuschelig aus dem Auto gekrabbelt, legte den Kopf schief. Was redete der Alte da?

»Komm, Goethe, wir drehn ärs ma ne Runde!« Immer wenn er auf den Weimaraner einsprach, verfiel Schreiber in den Revier-Slang. Der Hund sprang vor Freude Bock, katzbuckelte in der Luft, versuchte sich an einer Art Liegestütz, warf sich herum und stupste ihn mit der Schnauze. »Alte Hupfdohle.« Schreiber tat ein paar schnelle Schritte. Goethe schoss los.

Auf einem Pfad, der am Friedhof vorbeiführte, stiegen sie im Zickzack runter zum Fluss. Busow, mehr Städtchen als Dorf, kuschelte sich in eine Muschel im Oderhang. Ein bisschen wie Blankenese, dachte Schreiber und lachte laut auf. In den Häusern von Busow hätten die Elbhang-Heinis nicht mal ihr Auto abgestellt. Es waren schmucklose Schuhkartons mit nicht allzu spitzen Dächern. Angestrichen in allen Farben, die es im Baumarkt billig zu schnappen gab. Irgendwann in den Nachwendezeiten musste ein Fensterfuzzi aus dem Westen durch den Ort gezogen sein. Er hatte eine Spur von kackbraun gerahmten Scheiben hinterlassen, mit goldigen Plastik-sprossen zwischen dem Doppelglas. Ein Neubau war mit himmelblauen Pfannen gedeckt.

Unten floss träge die Oder, hatte anscheinend keine Eile, sich in der Ostsee zu verlieren. An den Eisenpfählen der Anlegestelle gurgelte das Wasser. Im Sommer würden hier Schiffe verkehren, versprach ein Schild. An diesem Winternachmittag gab es nicht mal Boote. Schreiber wanderte ein Stück flussaufwärts. Zwischen Weiden, deren junge Triebe orange leuchteten, und flüsterndem Schilf. Alle paar hundert Meter steckte ein Betonpfahl im Wiesengrund. Schwarz-rot-gold bemalt, eine kreisrunde Leerstelle, wo einst das DDR-Wappen klebte.

Den Angler entdeckte er zu spät, um Goethe noch zurückzurufen. Der Alte hockte auf einem zugewachsenen Buhnenkopf und trug die Sorte Camouflage-Klamotten, die Schreiber schon mal bei Ost-Jägern bewundert hatte. Ein-Strich-kein-Strich nannten sie das Zeug aus Volksarmeebeständen, wegen des braunen Strichmusters auf olivem Grund.

Ausgehungert, wie er nach dem Durchfall war, machte sich der Hund über den Ködereimer des Anglers her. Ehe Schreiber oder der Wurmbader einschreiten konnte, war die Hälfte der kaviarartigen Masse weg. Goethe hob den Kopf und leckte sich genießerisch den Bart. Schreiber rief den Hund bei Fuß. Toller Einstand in Busow. Morgen redete das ganze Dorf über den verfressenen West-Köter, der die darbende Landbevölkerung am Fischfang hinderte.

»Tut mir leid wegen der Köder«, begann Schreiber den notwendig gewordenen gesamtdeutschen Diskurs. »Was bin ich Ihnen schuldig?« Er nestelte an seiner Gesäßtasche.

»Lassen Se mal stecken. War nur Hanf. Hab ich selbst gekocht. Für Weißfische. Aber die beißen heute nicht. Wie ausgestorben, der Fluss.« Alle Linien im Gesicht des Rentners wiesen nach unten.

»Ich dachte, so Tage gibt’s nur auf der Jagd.«

»Beim Angeln auch. In Frankfurt ist ’n Hecht gestorben, jetzt sind alle auf der Beerdigung.«

Schreiber kannte den Gag schon von der Ruhr, lachte vorsichtshalber trotzdem. »Vielleicht trinken wir mal ein Bier zusammen.«

»Für ein einzelnes Bier geh ich nicht in die Gaststätte.«

»Vernünftige Einstellung. Wo trifft man sich in Busow?«

»Im Anglerheim.«

»Morgen Abend?«