Wald der toten Jäger - Werner Schmitz - E-Book

Wald der toten Jäger E-Book

Werner Schmitz

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Reporter Hannes Schreiber hatte sich auf ein Sabbatjahr in seiner Jagdhütte an der Mosel gefreut. Doch bei der Drückjagd im Nachbarrevier kommt der Chef einer einflussreichen Unternehmerfamilie ums Leben. Die tödliche Kugel soll aus Schreibers Waffe stammen, meint die Polizei. Um der Kripo – und sich selbst – seine Unschuld zu beweisen, ermittelt der Reporter in eigener Sache und bringt Erstaunliches ans Licht.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 325

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Werner Schmitz

Wald der toten Jäger

Schreiber unter Mordverdacht

KOSMOS

Umschlaggestaltung von init Kommunikationsdesign, Bad Oeynhausen, unter Verwendung einer Farbfotografie von Thinkstock!, iStock. Das Foto zeigt einen Hochsitz.

Distanzierungserklärung

Mit dem Urteil vom 12.05.1998 hat das Landgericht Hamburg entschieden, dass man durch die Ausbringung eines Links die Inhalte der gelinkten Seite gegebenenfalls mit zu verantworten hat. Dies kann, so das Landgericht, nur dadurch verhindert werden, dass man sich ausdrücklich von diesen Inhalten distanziert. Wir haben in diesem E-Book Links zu anderen Seiten im World Wide Web gelegt. Für alle diese Links gilt: Wir erklären ausdrücklich, dass wir keinerlei Einfluss auf die Gestaltung und die Inhalte der gelinkten Seiten haben. Deshalb distanzieren wir uns hiermit ausdrücklich von allen Inhalten aller gelinkten Seiten in diesem E-Book und machen uns diese Inhalte nicht zu Eigen. Diese Erklärung gilt für alle in diesem E-Book angezeigten Links und für alle Inhalte der Seiten, zu denen Links führen.

Unser gesamtes lieferbares Programm und viele

weitere Informationen zu unseren Büchern,

Spielen, Experimentierkästen, DVDs, Autoren und

Aktivitäten finden Sie unter kosmos.de

© 2016, Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-440-15397-0

Redaktion: Ekkehard Ophoven

Produktion: Angela List

eBook-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Kapitel 1

Als Erstes kam ein Rudel Rotwild. Hochgemacht von den Hunden im Feindlichen, rauschte es durch das Buchenlaub heran und kreuzte den Grenzweg. In der Schlehenhecke teilte sich das Rudel wie ein Bach in felsigem Bett, wand sich durch das Gebüsch und strömte dann wieder zusammen. 50 Stücke, vielleicht auch mehr. Alttiere mit ihren Kälbern, Schmaltiere, hier und da die Spieße eines Junghirsches. Hannes Schreiber hatte noch nie so viel Rotwild in freier Wildbahn gesehen. Was für ein Anblick!

Ein Pulk rotbrauner Leiber, Träger, Häupter, dicht gedrängt wie das Hauptfeld der Tour auf einer Flachetappe. Nicht zu schießen, wenn man nicht mitten in den Pulk halten wollte. Was kein anständiger Jäger machte.

Schreiber konzentrierte sich auf das Ende des Rudels, hoffte auf einen Bummelanten oder ein Kalb, das den Anschluss verloren hatte. Niemand tat ihm den Gefallen. Angetrieben vom Tempo, das das Leittier vorgab, hasteten alle vorbei. Kein Wasserträger am Ende des Feldes, kein mit Defekt zurückgefallenes Tier. So schnell, wie es aufgetaucht war, verschwand das Rudel hinter einer Kuppe im Altholz.

Keine Minute hatte der Spuk gedauert. Jetzt war er vorbei. Stille. Sogar der Wind gab Ruhe. Hannes kraulte seinen Hund, der neben ihm auf der Hochsitzbank stand und vibrierte wie ein stummgeschaltetes Handy.

„Ist ja gut, Smokie. Vielleicht kommt noch was. Dann schieß’ ich auch. Versprochen.“

Der Terrier hielt den Kopf mit den Kippohren schief und dachte nach. Jedenfalls sah er so aus. Früher hätte sich Schreiber jetzt eine angesteckt. Aber er hatte das Rauchen eingestellt, als sein Sabbatjahr begann. Also kramte er die Bonbonschachtel aus dem Rucksack und steckte sich eins in den Mund. Limette-Ingwer. Musste auch gehen. Smokie stellte das Zittern ein und legte sich wieder hin.

Der Rehbock, der als Nächster kam, floh auf seine Art aus dem Treiben. Er überflog den Grenzweg, verhoffte kurz in den Schlehen und zog dann, immer wieder nach hinten sichernd, spitz auf Schreiber zu. Keine 50 Meter vor der Kanzel wuchs ein Horst junger Buchen. Sie standen hüfthoch in zimtfarbenem Laub. Der Bock verschwand darin. Für einen Augenblick lugten die weißen Gehörnspitzen noch aus dem Blattwerk. Dann tat sich der Bock nieder.

Schreiber sah ihn nie wieder. Er hatte anderes zu tun. Aus den Augenwinkeln bekam er eine Rotte Sauen mit, die im Gänsemarsch auf Mattes Frühaufs Sitz zuzog. Zwei Bachen, ein paar Überläufer, ein Dutzend Frischlinge. Er verlor die Schweine schnell aus dem Blick; kurz darauf ballerte eine Büchse. Kugelschlag hörte Schreiber keinen. Das tat er nie.

„Geht hier zu wie in Brehms Thierleben“, dachte er. Mattes hatte nicht zu viel versprochen. „Wenn bei Schulte-Appelhoff Drückjagd is, lohnt et sisch, an der Grenz zu sitzen, Hannes. Da siehst du Millionen Stück Wild.“

Schreiber wusste, dass der Moselaner es mit den Zahlen nicht so genau nahm. Er stöhnte über „Millionen Leit“, wenn drei Kunden vor ihm an der Supermarktkasse standen. „En Million Leit“ konnten aber auch 100000 Pilger auf Wallfahrt zum Heiligen Rock in Trier sein.

Die nächste halbe Stunde passierte nichts – diesseits der Reviergrenze. Bei Schulte-Appelhoffs knallte es wie im Schießkino am Samstagmorgen. Einzelschüsse, Dubletten, schnelle Schussfolgen aus Halbautomaten. „Hunnert Stück Schalenwild wollen die abends uff der Streck liegen sehn“, meinte Mattes. „Minimum. Sonst kann der Leyendecker seinen Hut holen.“

Als das Geballer Schreiber auf die Nerven zu gehen begann, tauchten die beiden Hirsche auf. Ein kapitaler Bursche mit mehr Enden auf dem Kopf, als man bei seiner Geschwindigkeit zählen konnte, und sein Adjutant, ein junger Achter. Sie nahmen denselben Wechsel wie das Kahlwildrudel, nur viel schneller. Hochflüchtig überfielen sie den Grenzweg, ließen sich vom Schlehenstreifen nicht bremsen und schossen in gestrecktem Galopp an Schreibers Kanzel vorbei. Der Adjutant vorweg, dahinter der Kapitale. Er hatte den Kopf in den Nacken geworfen. Sein Geweih reichte bis an die Keulen.

Smokie war aufgesprungen, Schreiber auch, aber er ging nicht in Anschlag. Auf tieffliegendes Rotwild schoss er nicht. Er staunte noch eine Weile der Erscheinung hinterher und setzte sich dann wieder. Sein Hund sah ihn fragend an.

Hannes strich ihm über den Kopf. „Versprechen kann man sich schon mal, kleiner Hund.“

Das erste Treiben bei Appelhoffs sollte um zwölf Uhr enden, hatte Mattes herausgefunden. Schreiber sah auf die Uhr. Nur noch eine Stunde bis zum Abblasen. Kurzweiliger Ansitz. Aber irgendwie frustrierend. Langsam könnte mal was kommen, das sich auch schießen ließ.

Wie aufs Stichwort tauchten die beiden Hirsche wieder auf. Als ob sie etwas Wichtiges vergessen hätten, hetzten sie den Weg zurück, auf dem sie vor ein paar Minuten gekommen waren. Wieder hochflüchtig, wieder der junge vorweg. Doch etwas war diesmal anders. Als beim Nachbarn ein Schuss brach und kurz darauf ein zweiter, ziemlich nahe bei der Grenze, wurden die Hirsche langsamer, fielen in Trab.

Schreiber stand schon. Er backte an, nahm den Adjutanten ins Visier, schwang vors Blatt und drückte ab. Nichts. Der Hirsch lief einfach weiter. Hannes repetierte. Vor den Schlehen hatte er den Achter wieder im Glas. Der Hirsch verhoffte. Stand breit. Als das Fadenkreuz knapp hinterm Blatt lag, schoss Schreiber noch einmal. Der Hirsch ruckte, aber er fiel nicht. Steifbeinig stakste er in die Schlehen und verschwand. Ein paar Schritte weiter rechts brach der Kapitale durch die Hecke. Die Bühne war leer.

Hannes nahm die Waffe runter und sicherte. Er stellte sie in die Ecke, schnaufte. Sein Hund winselte. „Smokie, den kriegen wir. Den kriegen wir bestimmt. Der geht nicht mehr weit. Der geht bestimmt nicht mehr weit.“

Das durfte der Hirsch auch nicht. Keine 20 Meter hinter den Schlehen lag der Forstweg, die Reviergrenze. Falls der Hirsch es hinüber schaffte, war er verloren. Für Schreiber jedenfalls. Dann läge er abends als einer unter vielen bei Schulte-Appelhoffs auf der Strecke. Vor deren Jagdschlösschen. Auf einem Bett aus Fichtenzweigen. Im Schein der Fackeln. Beim Klang der Hörner. Hirsch tot. Jagd vorbei und Halali. Ganz großes Kino. Dass niemand sich seinetwegen einen Bruch an den Hut steckte, fiele bei der Menge an Wild nicht weiter auf.

Hannes seufzte. „Diana, lass ihn auf unserer Seite liegen.“

Ein Blick auf die Uhr: noch 50 Minuten. Er streckte die Beine aus, bog den Rücken durch. Dann fiel ihm das Pirschglas ein. Für die Drückjagd brauchte Schreiber es eigentlich nicht. Er hatte es trotzdem immer im Rucksack. Nun fischte er es heraus und leuchtete den Schlehenstreifen ab. Zu sehen war nichts. Wenn, dann lag der Hirsch, sein Hirsch, tief im Gestrüpp oder dahinter.

Schreiber versuchte, sich an das Geweih zu erinnern. Waren es wirklich nur acht Enden? Oder hatte der Bursche neben seinem kapitalen Kumpel nur so klein gewirkt? Und war er wirklich jung genug? Älter als vom dritten Kopf durfte der Hirsch nicht sein. An der Grenze der Appelhoffs endete nicht nur ihr Revier, sondern auch der Rotwildbewirtschaftungsbezirk. Scheußliches Wort. Von Forstbürokraten erfunden. Auf Deutsch hieß es nichts anderes, als dass Cervus elaphus nur drinnen geduldet wurde. Draußen sollte alles Rotwild geschossen werden – bis auf Hirsche ab dem vierten Kopf. Für die brauchte man eine Genehmigung der Jagdbehörde. Falls man sie bekam, war der Hirsch längst weg.

Auf dem Hochsitz schlich die Zeit. In immer kürzeren Abständen schob Hannes den Jackenärmel zurück und sah auf die Uhr. Um zehn vor zwölf entlud er die Büchse und begann mit dem Einpacken. Die letzten Minuten stand er, Rucksack auf dem Rücken, Waffe über der Schulter, Hund unterm Arm. Um Punkt zwölf turnte er vom Hochsitz und eilte zum Anschuss.

Er fand keinen Schweiß. Guckte sich die Augen aus dem Kopf und fand keinen Schweiß. Nur etwas Schnitthaar verriet, dass der Hirsch die Kugel hatte. Von welchem Körperteil das Haar stammte, hätte ein Nachsuchenführer vielleicht sagen können. Schreiber nicht. Er war klug genug, nicht weiter auf dem Anschuss herumzutrampeln, ging stattdessen zu seinem Hund, den er ein paar Meter entfernt abgelegt hatte, und streifte ihm die Schweißhalsung über.

Smokie bewindete die Stelle, die sein Chef für den Anschuss hielt, und zog los. Direkt in die Schlehen. Schreibers Kappe blieb irgendwo hängen, Dornen zerkratzen seine Glatze. Er stolperte durchs Gestrüpp. Smokie zog ihn aus den Schlehen, durch das Geküsel dahinter. Auf den Weg zu. Plötzlich wurde die Leine schlaff. Der Hund war beim Hirsch. Er lag in der Böschung, auf der richtigen Seite der Grenze, und war tot.

Der kleine Hund packte den Hirsch bei der Drossel und beutelte ihn. Das sah ein bisschen albern aus. Hannes fand es toll.

„Ja, Smokie! Feiner Hund. Gut gemacht.“

Er hatte früher einen Weimaraner geführt. Aber für Vorstehhunde gab es kaum noch Arbeit. Deshalb war er umgestiegen. Ein Parson-Russel-Terrier tat es auch. Für die Jagd und fürs Herz. Fand Schreiber.

Als Smokie sein Mütchen gekühlt hatte, legte Hannes ihn ab und sah sich seinen Hirsch genauer an. Er hatte richtig gezählt. Acht Enden an unterarmlangen, graubraunen Stangen. Hannes hatte nicht viel Erfahrung mit Rotwild, aber um zu erkennen, dass dieser Hirsch ein Jüngling war, musste man kein Rotwildpapst aus der „Wild und Hund“ sein. Dünner Träger, schmales, junges Gesicht. Alles wie aus dem Lehrbuch. Der Hirsch war richtig.

Schreiber fand nur ein Einschussloch. Eine Handbreit hinterm Blatt. Genau dahin hatte er beim zweiten Schuss gehalten. Er wuchtete den Hirsch auf die andere Seite. Es gab auch nur einen Ausschuss. Auch der lag knapp hinterm Blatt. Schöner konnte man nicht schießen. Abgesehen davon, dass sein erster Schuss offensichtlich komplett danebengelegen hatte.

„Tot ist tot“, dachte Hannes. Von einer Jungbuche brach er einen Zweig und schob ihn dem Hirsch in den Äser. Einen zweiten steckte er sich an die Kappe. Den dritten bekam Smokie hinter die Halsung. Bei Rehen, seinem Brotwild, hantierte Schreiber nicht mit Brüchen herum. Ein Hirsch war ihm etwas Besonderes. Es war erst sein dritter.

Dann zog er die Jacke aus, krempelte die Hemdsärmel auf und machte sich mit Messer, Zange und Säge an die rote Arbeit. Schön fand er das nicht, doch wer schoss, musste auch metzgern. Er schärfte dem armen Hirsch das Kurzwildbret ab. Die Aufbrechklinge fuhr durch die Bauchdecke wie durch Butter. Brustbein und Schlossnaht trennte er mit der Säge durch. Als er gerade das Gescheide mit beiden Händen gepackt hatte und mit einem Ruck aus dem Wildkörper ziehen wollte, fühlte er den Blick in seinem Rücken. Er ließ das Darmpaket zurückplumpsen und drehte sich um. Über ihm auf dem Weg stand, Fäuste in die Hüften gestemmt, Ferdi Leyendecker und schnauzte ihn an. „Was machen Sie da mit unserm Hirsch?“

Hannes kannte den Mann. Er hatte ihn ein paar Mal an der Reviergrenze getroffen. Schon beim ersten Mal hatte es Zoff gegeben. Worüber, wusste er nicht mehr. Nur dass sie in diesem Leben keine Freunde mehr werden würden. Leyendecker war in Schreibers Alter. Ende 50. Pensionierter Kripo-Beamter und Jagdaufseher bei Schulte-Appelhoff. Der kleine Gott von Hummeroth nannte Mattes Frühauf den Typen. Weil Leyendecker aus dem Eifelkaff Hummeroth stammte und sich – mit der Macht der Appelhoffs im Rücken – aufführte, als gehöre ihm die ganze Südeifel. Und die halbe Mosel.

„Wieso Ihr Hirsch?“

„Weil Sie ihn auf unserer Seite geschossen haben.“

Schreiber versuchte, ruhig zu bleiben. Um Zeit zu gewinnen, wischte er seine blutigen Hände im nassen Gras ab, signalisierte seinem Hund mit erhobener Hand, am Platz zu bleiben, und sagte dann vergleichsweise leise: „Dieser Hirsch ist an meinem Hochsitz vorbeigerannt. Er kam aus unserm Revier. Ich habe ihn da vorne hinter den Schlehen beschossen und mein Hund hat ihn genau hier gefunden. Alles auf unserer Seite der Grenze, Herr Leyendecker. Wie kommen Sie auf die Idee, dass das Ihr Hirsch ist?“

Der Jagdaufseher lief rot an. Er war vielleicht einen Kopf größer als ein Vorstehhund und wippte von den Absätzen auf die Spitzen seiner Schuhe. Ein Tick, den der schlaksige Schreiber schon bei einigen kleinen Männern beobachtet hatte.

„Die Story können Sie Frühauf erzählen“, blaffte der Jagdaufseher, „oder in Ihrem Käseblatt drucken. Mir machen Sie nix vor. Ich hab’ die Treiberwehr geführt. Ich hab’ gesehen, wo der Hirsch beschossen wurde und wo er fiel.“ Leyendecker zeigte hinter sich ins Appelhoff-Revier.

Hannes war das zu blöd und das sagte er dem Jagdaufseher auch. Dann wandte er sich ab und packte wieder die Därme des Hirsches.

„Halt! Jagdschutz!“

Schreiber sah sich um. Der Jagdaufseher öffnete den Reißverschluss seiner Jacke und nestelte am Holster des Revolvers, den er an der Hüfte trug. Hannes fasste es nicht. Wollte dieser Idiot ihm wirklich die Wumme vor die Nase halten? Wegen eines Hirsches mehr oder weniger auf der Strecke?

Leyendecker wollte das nicht nur. Er tat es. „Geh’n Sie von dem Hirsch weg. Zwei Meter zurück.“

Hannes richtete sich ganz auf. Sein Herz pocherte. Ein fiebriges Blut fuhr ihm in den Kopf. Er wusste, dass er gleich laut werden würde. In der Aufregung hatte er sich oft nicht im Griff. Dann machte er Fehler, die ihn später reuten. Das durfte er jetzt nicht. Also schluckte er seine Wut und versuchte, ruhig zu sein. Oder wenigstens so zu wirken.

Statt zurückzubrüllen, fragte er ruhig: „Sie waren doch mal bei der Kripo, oder?“

Leyendecker schwieg. Die Mündung seines Revolvers zeigte in Schreibers Richtung. Der achtete nicht darauf.

„Dann wissen Sie doch, dass Sie sich gerade strafbar machen. Was Sie hier treiben, ist Nötigung.“

„Was ich hier treibe, ist Jagdschutz. Ich stelle einen gewilderten Hirsch sicher.“

„Und dazu müssen Sie mich mit dem Revolver bedrohen?“

In diesem Augenblick röhrte ein Hirsch in Leyendeckers Jackentasche. Mit links kramte er ein Handy aus seiner rechten Jackentasche. In der rechten Hand hielt er weiter den Revolver. Er meldete sich mit „Hallo“, hörte fünf Sekunden zu und erbleichte.

„Was? Der Chef? Ich komme sofort.“

Leyendecker hatte keine Augen mehr für Schreiber und den toten Hirsch. Mit gezogener Waffe rannte er zurück in sein Revier.

Schreiber schnaufte durch. Sein Puls raste, als er Frühauf anrief. „Mattes, komm schnell mit dem Hänger. Ich hab’ einen Hirsch geschossen.“

„Weidmannsheil. Wie stark wor er dann?“

„Achter, Mattes. Er liegt direkt am Grenzweg. Komm schnell, der Leyendecker will ihn mir wegnehmen.“

„Isch kummen, Hannes! Mein Sau leit schon uffem Hänger.“

Mit fliegenden Fingern machte sich Schreiber wieder an die rote Arbeit. In der Hast schnitt er sich in den Zeigefinger. Sein Blut vermischte sich mit dem Schweiß des Hirsches. Er leckte beides ab. Jagd war ein blutiges Handwerk. Als er fertig war, am Weg stand und auf Mattes wartete, sah er sich den Schnitt genauer an. Nicht tief, aber er blutete immer noch. Er leckte noch mal. Dann fiel ihm die Hypothese vom verletzten Jäger ein. Vor 100 Jahren sollte Aids so übertragen worden sein. Von einem erlegten Schimpansen auf seinen verletzten Jäger.

Schreiber schüttelte den Kopf. „Quatsch, Hannes. Ein Hirsch ist kein Affe und die Eifel ist nicht Kamerun.“

Drei Minuten später war Frühauf mit dem Anhänger da. Seine Wachsjacke spannte über dem Bauch, als er behände aus dem Auto sprang. Die rotgeäderten Backen glühten. Er ließ es sich nicht nehmen, den Hirsch zu bewundern. „Schlank un rank. Wenn de misch fragst, vom zweite Kopp. Aus dem wär eventuell wat geworden.“

Hannes verließ die Geduld. „Besprechen kannst du die Trophäe in der Wildkammer, Mattes. Komm, pack an! Der Leyendecker kann jeden Moment wieder hier sein.“

Sie fassten den Hirsch bei den Hörnern und wuchteten ihn auf den Anhänger neben Mattes’ Überläufer.

„Klappe zu, Affe tot“, sagte Schreiber und lächelte. Zum ersten Mal, seit er den Hirsch geschossen hatte. Die beiden sprangen in Mattes’ Daihatsu und schlängelten durch den Weinberg hinunter ins Dorf.

Kapitel 2

Das Eichhörnchen keckerte im Walnussbaum, turnte von Ast zu Ast auf der Suche nach den letzten Nüssen. Smokie tanzte darunter auf den Hinterbeinen wie ein Zirkushund und kläffte wütend. Schließlich verlor er das Gleichgewicht und fiel auf den Rücken. Missmutig kehrte er zur Hütte zurück. Beschnüffelte den Eimer, in dem das Haupt des Hirsches wässerte. Schreiber ließ ihn gewähren. Er lümmelte in einem Gartenstuhl auf dem Holzdeck vor seiner Jagdhütte. Die Beine weit ausgestreckt, schaute er in den rostbraunen Hunsrück, auf dem die Abendsonne lag. Die Mosel konnte man von der Hütte aus nicht sehen. Dafür hatte sie sich zu tief in den Schiefer geschnitten. Nur die Wingerte am anderen Steilufer waren zu erkennen. Das Laub der Rebstöcke leuchtete. Es war Ende Oktober. Die Lese war gelaufen. Der Most blubberte in den Kellern der Winzer.

Hannes griff sein Glas und nahm einen Schluck. Zur Feier des Tages hatte er einen Riesling von Kirsten aufgemacht. Alte Reben. Er verstand sich nicht auf die Weinlyrik aus den Sonntagsblättern, diese Hymnen von fruchtiger Nase und langem Abgang. Das brauchte man auch nicht, um zu merken, dass dieser Wein Klasse hatte.

Die Kraniche hörte er, bevor er sie sah. Trompetend kamen sie näher, folgten dem Flusslauf, stromaufwärts nach Südwesten. Hinter dem Heidberg tauchten sie am glasblauen Himmel auf. Ein langer Keil mit mehreren Zacken, wie eine riesige Rune. An einem anderen Tag wäre Schreiber beim Anblick der Zugvögel melancholisch geworden, hätte über Abschied und Alter sinniert. Von da war es nicht weit zu Trauer und Tod. Heute nicht. Heute trank er lieber noch einen Schluck Wein, freute sich über das Schauspiel am Himmel und seinen Hirsch. Und auf die Zeit, die vor ihm lag.

Schreiber wollte in der Hütte hausen, solange es ihm Spaß machte. Nicht nur für ein verlängertes Wochenende oder einen Kurzurlaub. Er hatte plötzlich Zeit, viel Zeit. Sabbatjahr nannten sie das in Hamburg. Zwölf Monate unbezahlter Urlaub. Weil es dem Magazin, für das Hannes arbeitete, schlecht ging, hatte Stefan Bartelmus sofort zugestimmt. „Dann haben wir dich alten, teuren Sack wenigstens für ein Jahr von der Payroll.“

Bartelmus war sein Chefredakteur. Schreiber kannte ihn zu lange zu gut, um das Lachen, das Stefans Spruch folgte, ernst zu nehmen. Dazu waren die Zahlen zu schlecht. Noch schlechter als die der Konkurrenz. Auflagenschwund, Anzeigenflaute, dünne Hefte. Der Verlag war froh um jeden Journalisten, der ging. Und sei es nur für ein Jahr.

Hannes sollte das recht sein. Nach fast 20 Jahren beim Magazin fühlte er sich öde und leer. Nach Hunderten gedruckter Geschichten, die ihm nichts bedeuteten, und manchen nicht gedruckten, an denen sein Herz hing. Er wusste nicht, ob er nach diesem Jahr noch mal antreten würde. Vielleicht brauchte er den ganzen Quatsch nicht mehr. Jetzt, wo er in Mattes Frühaufs Jagdrevier offiziell eingestiegen war. Er würde die Jagdhütte renovieren und ein paar Hochsitze hatten es auch nötig.

Fröstelnd zog er den Reißverschluss seiner Fleecejacke hoch. Es war kühl geworden. Das Licht schwand. Auf dem Hunsrück glühten die Warnlichter der Windräder auf. Auf Monzels Weide rief eine Kuh nach ihrem Kalb. Der Traktor des Bauern tuckerte zu Tal. Danach war nur noch Ruhe.

„Komm, Smokie. Wir gehen rein. Du hast sicher auch Hunger.“ Schreiber fütterte den Hund und briet sich ein paar Scheiben Hirschleber. In der zweiten Pfanne bräunte er Apfelspalten von der Streuobstwiese vor der Hütte. Kirstens Alte Reben hielten sich tapfer gegen das kräftige Fleisch.

„Ein schöner Jagdtag geht zu Ende.“ Wie oft hatte er den Satz beim Schüsseltreiben gehört. Selbst wenn die Jagd überhaupt nicht schön gewesen war. Was sollte der Jagdherr auch anderes sagen? Scheißwetter, mickrige Strecke, schlechte Schützen? An diesem Tag stimmte der Spruch.

Nach dem Essen legte er sich ins Bett und las. „H wie Habicht.“ Ein sperriges Buch einer jungen Engländerin über den Tod ihres Vaters und den Beizvogel, der ihr über den Verlust hinweghalf. Hannes war müde. Dreimal las er dieselbe Seite. Immer neue Kranichkeile überflogen die Hütte. Er lauschte ihren kollernden Schreien. Das Lied von den Wildgänsen fiel ihm ein. Unstete Fahrt, habt Acht, habt Acht. Die Welt ist voller Morden. Er stand noch einmal auf und ließ Smokie zum Pinkeln raus. Die Milchstraße überwölbte den Himmel. Der Mond hing schief über dem Hunsrück.

Hannes verriegelte die Hüttentür und legte sich endgültig hin. Meister Leyendecker hatte er aus seinen Gedanken gestrichen. Den Giftzwerg würde er nicht mal ignorieren.

Kapitel 3

Der Hund weckte ihn. Smokie tippelte zur Hüttentür und bellte. Nicht lange, aber es reichte, um Schreiber aus dem Schlaf zu reißen. Er drehte sich im Schlafsack und drückte aufs Smartphone. 03:28. Draußen war es still.

„Komm, Smokie, Matte!“

Smokie kam nicht. Er blieb bei der Tür stehen. Auf dem Holzdeck vor der Hütte knarrte ein Brett. Smokie gab noch mal Laut.

Hannes war hellwach. Er lauschte. Es hatte gedauert, bis er sich an die Nachtgeräusche an der Hütte gewöhnt hatte. Das Kuwitt der Käuzin. Siebenschläfer, die unterm Dach rumorten. Das Quieken einer gequälten Kreatur in den Fängen des Uhus. Inzwischen waren sie ihm fast so vertraut wie das Jaulen des Martinshorns in Hamburger Nächten.

Warum also verrücktspielen? Die Hütte war aus Holz. Holz knarrte manchmal. Schreiber fiel ein Schnack aus seinem Jugendjahren bei der Stadtverwaltung ein. Was ist der Unterschied zwischen einem Beamten und einem Stück Holz? Holz arbeitet. Er atmete tief durch.

„Smokie, Matte!“

Der Hund rührte sich nicht weg von der Tür.

Was, wenn da wirklich einer war? Rein konnte der nicht. Die Tür war von innen verriegelt. Oder hatte er es diesmal vergessen? Hannes überlegte.

Licht machen? Besser nicht. Dann gab er ein gut beleuchtetes Ziel ab. Die Waffe aus dem Schrank holen und laden? Der Tresor stand am anderen Ende der Hütte. „Du spinnst, Hannes.“ Am besten abwarten, bis der Spuk vorbei war.

Das war leichter gesagt als getan. Schreiber versuchte sich zu entspannen. Es wäre ihm vielleicht gelungen, wenn der Hund sich ins Körbchen neben seinem Bett gekuschelt hätte. Hannes liebte es, wenn Herr und Hund sich zur Ruhe begaben. Während Smokie sich einrollte, kroch er in seinen Schlafsack und zog den Reißverschluss bis an die Ohren zu. Wie eine Raupe im Kokon fühlte er sich darin. Warm und geborgen.

Smokie stand immer noch an der Tür.

Schreiber wurde es zu blöd. Er tastete nach der Lampe und machte Licht. Einen Augenblick später explodierte die Nacht.

Stampfen auf dem Holzdeck. Viele Füße. Knirschen an der Tür. Berstendes Holz. Gleißendes Licht. Dunkle Gestalten, die in die Hütte drangen. Helme auf dem Kopf.

Hannes versuchte aufzuspringen. Seine Beine steckten im Schlafsack. Er kippte vornüber und fiel aufs Gesicht. Seine Nase knackte. Ein Knie in seinem Nacken. Jemand riss seine Arme auf den Rücken, fesselte seine Hände.

„Wo ist die Waffe? Guckt mal, wo seine Waffe ist.“

Schreiber wollte etwas sagen, aber er musste schlucken. Blut. Sein Mund war voll Blut. Er stöhnte.

„Hier steht ein Tresor.“

„Wo ist der Schlüssel? Sag uns, wo der Schlüssel ist?“

„Zahlenschloss“, brüllte einer.

„Sag uns die Kombination. Sag uns sofort die Kombination.“

Hannes begriff, dass er gemeint war. Die Zahlen fielen ihm nicht ein. Er lag mit dem Gesicht im Blut, ein Knie drückte seinen Hals gegen den Boden. Er bekam kaum Luft und sollte die Zahlen ausspucken, Zahlen, die er ohnehin oft vergaß. Er hatte sie in seinem Handy gespeichert. Unter Hartmann. So hieß die Tresorfirma.

Er versuchte sich zu sammeln, Luft zu bekommen. Die Panik zu bekämpfen.

In der Küche knurrte Smokie. Jemand fluchte. „Verdammte Scheiße, das Mistvieh beißt. Rufen Sie Ihren Scheißköter zurück!“

Der Druck des Knies in seinem Nacken ließ nach. Sein „Smokie zurück“ konnte man fast verstehen. Der Terrier kam und leckte Schreibers blutige Nase.

Hände tasteten Hannes ab, griffen überall hin. Auch in die Schlafanzughose.

„Stehen Sie auf!“

„Können vor Lachen“, gurgelte Schreiber.

Hände packten ihn unter den Achseln, wuchteten ihn mit dem Hintern aufs Bett. Seine gefesselten Handgelenke brannten. Er sah sich um. Die Hütte stand voll nachtschwarzer Gestalten. Die Gesichter bis auf Sehschlitze vermummt, Helme auf dem Kopf, schusssichere Westen, darauf in Großbuchstaben POLIZEI.

So lief das also ab, wenn das SEK zugriff. Hannes hatte ein paar Mal über die Spezialeinsatzkommandos der Polizei geschrieben. Nicht immer freundlich. Selbst von denen festgenommen zu werden, war ein anderes Ballspiel als darüber zu räsonieren. Er saß auf der Bettkante, überwältigt, hilflos, jämmerlich. Aus seiner Nase troff Blut.

Jemand hielt ihm ein Tempo hin. Schreiber wollte danach greifen. Mehr als ein Rucken der gefesselten Arme kam nicht dabei heraus.

„Sani“, brüllte der Polizist über ihm. Eine Frau mit einem Verbandstäschchen drängte sich nach vorn. Sie wischte Hannes das Blut aus dem Gesicht, steckte ihm Mullpfropfen in die Nasenlöcher.

„Kriegen Sie durch den Mund Luft?“

Er nickte. Mit Daumen und Zeigefinger griff die Polizistin an seine Nase und wackelte leicht. Es knirschte. Schreiber schrie.

„Wahrscheinlich gebrochen.“

Es war kalt in der Hütte. Der Ofen war längst ausgegangen. Hannes trug einen kurzen Schlafanzug. Er fror.

„Können Sie mir die Decke da umlegen?“

„Erst sagen Sie uns die Kombination vom Waffenschrank.“

Schreiber dachte nach. Für jeden Mist brauchte man eine PIN. Wer sollte die alle behalten? Dann fiel es ihm wieder ein. Er hatte seine Länge genommen. Rückwärts und vorwärts. „Drei – neun – eins – eins – neun – drei.“

Jemand tippte die Zahlen ins Display. Die Tür schwang auf.

„Hier steht nur eine Büchse. Ist das alles?“

„Die Flinte ist beim Büchsenmacher.“

Hannes hörte, wie das Schloss seiner Sauer 90 geöffnet wurde.

„Nicht geladen. Wo ist die Munition?“

„In dem oberen Fach. Der Schlüssel liegt unten im Tresor.“

Der Typ fand, was er suchte. Für einen Moment kehrte Ruhe ein. Die Zeit schien ein paar Sekunden stillzustehen. Schreiber sammelte sich.

„ Was wollen Sie von mir?“

Der Bursche, der ihm das Knie in den Nacken gedrückt hatte, zog seine Maske unters Kinn. „Das können Sie die Kollegen von der Mordkommission fragen. Die warten in Trier auf Sie.“

„Wie bitte?“

Statt zu antworten, schaute sich der Bursche in der Schlafkammer um.

„Sind das Ihre Kleider da über dem Stuhl?“

Schreiber nickte. Der Beamte durchsuchte die Sachen. Dann knipste er den Kabelbinder an Schreibers Händen durch und stellte sich in die Tür.

„Anziehen, bitte! Sie sind vorläufig festgenommen.“

Hannes massierte seine Handgelenke und stieg in die Hosen. Als er das Handy in die Jackentasche stecken wollte, griff der Bursche seinen Arm.

„Das brauchen wir.“

„Und was ist mit meinem Hund?“

„Den bringt die Feuerwehr ins Tierheim.“

Schreiber merkte, wie die Wut in ihm aufstieg. Sie hatten ihn überrumpelt. Damit war jetzt Schluss. Er schnauzte zurück. „Sagen Sie mal, spinnen Sie? Ich gehe mit Ihnen ins Präsidium. Okay. Ich höre mir an, was die mir vorwerfen. Okay. Dann mache ich eine Aussage. Oder auch nicht. Und danach gehe ich zurück in meine Hütte. Verstanden?“

Der Beamte lächelte. „Ich wäre mir da nicht so sicher. Hände nach vorn.“ Er löste ein Paar Handschellen vom Gürtel und legt sie Hannes an. „Sie gehen vor.“

Schreiber tappte aus der Schlafkammer. In der Küche stand ein halbes Dutzend Vermummte. Er schüttelte den Kopf und trat vor die Hütte. Nebel war aufgezogen, die Luft kalt und klamm. Auf dem Weg wartete ein Polizeibus. Zwei Leute griffen seine Arme und führten ihn hin. Smokie flitzte aus der Hütte und wuselte zwischen den Beinen der Männer herum. Ein Bein trat nach dem Hund. Smokie wich aus und schoss wieder vor. Er fletschte die Zähne und knurrte. Schreiber blieb stehen.

„Kann der wirklich nicht mit?“

„Nein. Wo haben Sie die Leine?“

„Hängt an der Garderobe.“ Smokie versuchte, der Schlinge mit dem Kopf auszuweichen, schaffte es aber nicht. Als Hannes im Wagen saß, stand sein kleiner, weißbunter Hund vor der Hütte und zitterte.

„Und was wird mit meiner Hütte? Sie haben die Tür ruiniert.“

„Haben Sie jemand, der sich kümmert?“

Schreiber gab ihm Mattes Frühaufs Nummer und warf noch einen Blick zurück. Aus dem Eimer vor der Hütte ragte das Geweih des Hirsches. Ehe er etwas sagen konnte, schoben sie ihn in den Wagen und fuhren los.

Kapitel 4

„Ich bin Hauptkommissar Lex von der Kriminaldirektion Trier. Guten Morgen, Herr Schreiber.“

„Ich hatte schon bessere.“

Der Mann am anderen Ende des Tisches sah interessiert auf. Er trug eine große, schwarze Hornbrille und erinnerte Schreiber an den Mautminister von der CSU. Er war mittelalt, mittelgroß, mittelblond. Sein dünnes Haar war auf dem Rückzug. Frische Bartstoppeln verschatteten ein weiches Gesicht.

„Wir haben Sie holen lassen, weil wir uns gern mit Ihnen über den gestrigen Tag unterhalten wollen. Möchten Sie etwas trinken?“

Hannes lechzte nach einem Kaffee, aber er sagte: „Nein, danke.“

Der Kripo-Mann lächelte fein. „Wie Sie meinen.“

Er kramte in dem Blätterstapel, der sich vor ihm auf dem Tisch türmte. „Gestern Mittag ist bei Ihrem Jagdrevier ein Mann erschossen auf einem Hochsitz gefunden worden. Sie wurden in unmittelbarer Nähe des Fundorts der Leiche gesehen und sollen auch geschossen haben. Ist das richtig?“

Schreiber schwieg.

„Wollen Sie dazu keine Aussage machen? Das ist natürlich Ihr gutes Recht. Ob es allerdings hilfreich für Sie ist, steht auf einem anderen Blatt.“

Hannes hatte in seinem Reporterleben eine Menge Ermittlungsakten gelesen und wusste, wie viele Leute sich schon in der ersten Vernehmung um Kopf und Kragen geredet hatten. Das hatte er nicht vor.

„Nennen Sie mir doch erst mal den Tatvorwurf, Herr Lex. Das müssen Sie eh.“

Der Kripo-Mann presste seine ohnehin schmalen Lippen zusammen, als wolle er sich am Reden hindern. Er nahm seine Brille ab und rieb sich die Augen.

„Ich hab’ mir gedacht, dass es mit Ihnen nicht einfach wird“, sagte er, blätterte in seinen Unterlagen und zog eine Seite heraus. Er setzte die Brille wieder auf und las. „Schreiber, Hans-Jürgen. Geboren 1958. Gelernter Kommunalbeamter. 1980 im Rahmen des Radikalenerlasses aus dem Dienst entfernt. Ein paar Jahre arbeitslos. Dann Journalist bei kleinen Blättern. Seit 18 Jahren Reporter beim Magazin in Hamburg und Berlin. Ein bewegtes Berufsleben.“

„Sie sind gut informiert.“

Lex lächelte. „Wir scannen die Leute, bevor wir sie zu uns bitten.“

Schreiber schnaubte durch die kaputte Nase. Ein Mullpfropfen fiel heraus. „Zu uns bitten ist putzig formuliert. Bitten Sie alle Leute so freundlich zu sich wie mich?“

„Nein. Das machen wir vor allem mit bewaffneten Mordverdächtigen.“

Das saß. Hannes’ Magen krampfte. Er hatte Mühe, seine Hände ruhig zu halten.

„Wen soll ich Ihrer Meinung nach ermordet haben?“ Es sollte leichthin klingen, tat es aber nicht.

Wieder dieses kleine Lächeln, das die Mundwinkel kaum erreichte. „Richard Schulte-Appelhoff, den Chef der gleichnamigen Unternehmerfamilie. Ihren Reviernachbarn.“

Leyendeckers Telefonat. „Was? Der Chef?“ Darum war der Giftzwerg weggerannt. „Da hat Ihnen Ihr Ex-Kollege einen schönen Scheiß erzählt“, sagte Schreiber.

Lex zog seine Brille auf die Nasenspitze und lugte über das Gestell. „Sie sind auch nicht schlecht informiert.“

„Ich war in der Schule schlecht in Mathe. Aber eins und eins zusammenzählen kann ich noch. Das macht zwei.“

„Kluger Kopf. Wenn ein Zeuge Scheiß erzählt, wie Sie sich ausdrücken, dann stellen Sie es doch richtig. Ich höre Ihnen gern zu.“

Der Reporter hatte die Trierer Kriminaldirektion am Bahnhof in der Absicht betreten, eine Aussage zu machen, die Vorwürfe auszuräumen und wieder zu gehen. Er hatte sich verkalkuliert. Lex und Leute saßen auf einer illustren Leiche. Cadaveri eccelenti nannten die Italiener solch prominente Opfer. Schreiber war über den Begriff bei einer Mafia-Geschichte gestolpert. Er war ihm geblieben. Cadaveri eccelenti brachten die Ermittler ins Rotieren, nicht nur in Palermo. Auch in Trier. Sie brauchten dringend einen Täter. Schreiber wollte das nicht sein. Unbewusst schüttelte er den Kopf. Sich auf eine Aussage einzulassen, war viel zu riskant. Dieser Kommissar Lex war nicht dumm. Es war sicher nicht sein erster großer Fall, sonst hätten sie ihm die Causa Schulte-Appelhoff nicht übertragen.

„Sie haben bestimmt eine Liste mit den Trierer Strafverteidigern“, sagte Hannes. „Ich würde mir gern einen aussuchen.“

Der Kommissar wühlte wieder in seinem Stapel. „Damit habe ich gerechnet.“ Er reichte ein Blatt mit Namen und Telefonnummern über den Tisch. Schreiber kannte keinen.

„Können Sie mir einen empfehlen?“

Der Kommissar lächelte nicht. „Das dürfen wir natürlich nicht. Sonst macht die Konkurrenz Ärger. Aber Trierer Anwälte sind generell gut.“

Hannes überflog die Liste. Er tippte auf eine Kanzlei mit fünf Namen. Bloß keine kleine Klitsche. „Kann ich die jetzt anrufen?“

Lex sah auf die Uhr. „20 vor sieben. Da erreichen Sie noch niemanden. Am besten Sie versuchen es nach neun. Aus dem Polizeigewahrsam.“

„Sie haben keinen Haftbefehl.“

„Den brauchen wir auch nicht. Noch nicht. Bis morgen Abend um zwölf können wir Sie auch ohne festhallten. Das wissen Sie doch, Herr Schreiber. Bis dahin bleibt eine Menge Zeit. Für uns zum Ermitteln. Und für Sie zum Nachdenken. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.“

Nachdem ein Polizeiarzt seine Nase untersucht, einen einfachen Bruch diagnostiziert und Haftfähigkeit bescheinigt hatte, fuhren sie Schreiber im Streifenwagen durch die Stadt. Der Berufsverkehr hatte eingesetzt. Sie schlichen von Ampel zu Ampel zu einem einstöckigen Gebäude bei den Kaiserthermen. Hannes hatte keinen Blick für die römische Ruine. Er starrte auf die blau-weiße Leuchtreklame der Polizei an der Waschbetonfassade, sah den Antennenwald auf dem Flachdach und die erleuchteten Bürofenster. Auf einer Fensterbank stand ein zu groß geratener, knallroter Gartenzwerg. Unverkennbar Karl Marx, Triers berühmtester Sohn. Ein Künstler hatte der Stadt hunderte Marxmännchen aufgeschwatzt. Die Plastikfiguren standen eine Weile bei der Porta Nigra herum und landeten irgendwann – gekauft oder geklaut – in Vorgärten, Wohnzimmern und Büros. Politisch hatte das nichts zu bedeuten. Marx gehörte zur Folklore der Moselstadt wie Kaiser Konstantin oder Jesus’ Heiliger Unterrock, den der Bischof im Dom zur Schau stellte. Marx zog Touristen an, vor allem aus China.

Sie führten Schreiber durch eine Schleuse ins Innere der Wache, vorbei an Büros, deren Türen offenstanden. Uniformierte hinter Computerbildschirmen schauten neugierig auf. An einer Tür wartete ein junger Mann in himmelblauem Hemd und dunkelblauer Hose. Die Uniform stand ihm gut. Er hatte dichtes, schwarzes Haar, ein offenes Gesicht und lächelte Schreiber an wie ein Hotelier einen neuen Gast. Die Pistole, die er an der Hüfte trug, schnallte er ab und brachte sie in den Vorraum.

„Die Biester machen nur Ärger“, sagte er. „Bevor Sie in Ihre Zelle kommen, müssen wir leider noch ein paar unangenehme Dinge erledigen. Stellen Sie sich bitte an die Wand und stützen die Hände in Kopfhöhe ab. Beine breit, bitte.“

„Das SEK hat mich schon gefilzt.“

„Das ist Stunden her. Sie könnten inzwischen irgendwas eingesteckt haben.“

Hände tasteten Hannes von oben bis unten ab. Sie fanden nichts.„Prima. Jetzt ziehen Sie sich bitte bis auf die Unterhosen aus, Herr Schreiber.“

„Wieso?“

„Ganz einfach. Wir möchten nicht, dass Sie sich selbst gefährden.“

Schreiber schüttelte den Kopf und tat, wie ihm geheißen. In Unterhosen stand er vor dem Beamten.

„Bitte auch die Uhr und den Ring.“

„Warum?“

„Das ist hier Vorschrift.“

„Na dann.“ Hannes wusste, dass Widerstand sinnlos war. Er würgte den Ring mit dem grünen Turmalin vom Finger und legte ihn samt der Uhr in das Blechkästchen, das der Polizist ihm hinhielt.

„Danke. Ziehen Sie bitte die Unterhose bis auf die Knie runter.“

Schreiber schnaubte. „Was glauben Sie denn, was ich in meinem Slip aufbewahre?“

„Glauben tu’ ich gar nix. Aber was denken Sie, was wir schon alles in Unterhosen gefunden haben? Drogen, Messer, Feuerzeuge.“

Hannes zog blank.

„Bitte umdrehen.“

Er streckte dem Beamten seinen Arsch entgegen. Am liebsten hätte er dem Kerl gesagt, was er ihn bei dieser Gelegenheit könne. Er verkniff sich die derbe Bemerkung. Es war nicht gut, den Mann gegen sich aufzubringen.

„Danke. Das reicht. Jetzt können Sie auch Ihr T-Shirt wieder anziehen und meinetwegen auch die Hose. Nur den Gürtel hätte ich gern.“

Hannes stieg in die Fjällräven-Hose und zog den Gürtel raus. Er hatte in letzter Zeit ein paar Kilos abgespeckt. Der Hosenbund spannte nicht mehr, er rutschte.

Der Beamte hängte Schreibers Kleidung in einen der Eisenspinde an der Flurwand, holte drei flache Plastiktüten aus dem Regal, riss die Verpackungen auf.

„Das sind Einmaldecken. Eigentlich steht Ihnen nur eine zu. Aber wir nehmen das nicht so genau.“ Er gab Hannes den dünnen Stapel und führte ihn vor eine Eisentür.

„Zimmer Nummer sieben. Voila.“

Schreiber starrte in die Zelle. Als Erstes sah er die Schlafstatt. Bett konnte man den braungefliesten Mauerblock, der die ganze Stirnseite des Raumes einnahm, nicht nennen. Das war alles an Mobiliar, wenn man von dem Edelstahl-Klo gleich neben der Tür absah. Der Fußboden war ebenso braun gefliest wie das Bett, die Wände lindgrün gestrichen. Aus einem Schacht in der Zellendecke fiel trübes Licht.

„Diese Taste hier ist der Notruf.“ Der Hotelier zeigte auf eine Stahlplatte an der Wand hinter dem WC. „Wenn Sie Hilfe brauchen, bitte drücken. Möchten Sie noch einen Schluck trinken?“

Schreiber zog einen Mundwinkel hoch. „Einen Cappuccino, bitte.“

„Ich bringe Ihnen nachher einen Becher Wasser.“ Die Eisentür fiel hinter ihm zu.

Hannes stand unschlüssig in der Mitte der Zelle. Schließlich pinkelte er im Stehen, drückte ab und legte sich auf den Mauerblock. Zwei Decken als Matratze, mit der dritten deckte er sich zu. Die Schlafstelle war nicht lang genug für ihn. Wenn er sich ausstreckte, klemmte er zwischen den Wänden. Er verschränkte die Hände hinter dem Kopf und starrte an die Decke.

Schreiber steckte in der Grütze, tiefer als je zuvor. Nichts hatte geholfen. Sein Presseausweis war dem SEK-Mann, dem er ihn auf der Fahrt gezeigt hatte, ein Achselzucken wert gewesen. Die Karte des Magazins hatte Kommissar Lex mitten auf dem Tisch liegen lassen.

Sie schienen sich ihrer Sache sicher zu sein. Was hatte Meister Leyendecker seinen Ex-Kollegen eingesungen? Schreiber sei über die Grenze geschlichen und habe dort den Hirsch geschossen? Und den Chef des Appelhoff-Clans gleich mit? Was für ein Quatsch!

Er kratzte sich am Kopf. Was war mit seiner ersten Kugel? Auf dem Wildkörper war sie nicht eingeschlagen. Er versuchte sich zu erinnern, wo er den Hirsch zum ersten Mal beschossen hatte. 20 Schritt vor den Schlehen? Er wusste es nicht genau. Vor Ort hätte er es vielleicht rekonstruieren können. Aber er hing hier fest.

Wo mochte Schulte-Appelhoff bei der Drückjagd gesessen haben? Direkt hinter der Grenze? Hannes hatte auf der anderen Seite keinen Jäger bemerkt. Sie trugen inzwischen alle Orange. Übersehen konnte man darin keinen. Eigentlich.

Und wenn es ein Querschläger war? Dieser Unglücksrabe aus Niedersachsen fiel ihm ein. Der Mann hatte seinen besten Freund auf der Drückjagd erschossen. Seine Kugel verfehlte eine Sau, wurde abgelenkt und landete im Herzen des Treibers. Schreiber hatte über den Fall berichtet. Das Verfahren wurde nach jahrelangem Gezerre gegen Zahlung einer Geldbuße eingestellt. Der Schütze war trotzdem am Boden. Statt zur Jagd ging er zum Psychiater. Dabei hatten sie den Mann nicht mal eingesperrt.