Tote Lämmer lügen nicht - Christiane Franke - E-Book

Tote Lämmer lügen nicht E-Book

Christiane Franke

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Beschreibung

«Morden im Norden: spannend und witzig und vor allem mit viel Herz erzählt.» WDR 5 Neuharlingersiel im Frühling: Bei einem Wohltätigkeitsessen, an dem Rosa die Speisen austeilt, fehlt einer der Teilnehmer. Eigenbrötler Lenny wird erschossen in seinem Wohnzimmer aufgefunden. Als kurz darauf auch Deichschäfer Gerhard tot im Watt gefunden wird, krempelt Hobbydetektivin Rosa die Ärmel hoch und beginnt, mit ihren ungewöhnlichen Methoden bei Immobilienhändlern und in der Wolfsgegner-Szene zu ermitteln. Dabei gerät sie in Gefahr, wieder einmal … Wie gut, dass sie ihre Freunde Rudi und Henner hat, die ihr in kritischen Momenten immer zur Seite stehen! «Ich liebe diese Reihe!!!» Gisa Pauly

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Seitenzahl: 328

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Christiane Franke • Cornelia Kuhnert

Tote Lämmer lügen nicht

Ein Ostfriesen-Krimi

 

 

 

Über dieses Buch

Wölfe im Schafspelz

Neuharlingersiel im Frühling: Bei einem Wohltätigkeitsessen, an dem Rosa die Speisen austeilt, fehlt einer der Teilnehmer. Eigenbrötler Lenny wird erschossen in seinem Wohnzimmer aufgefunden. Als kurz darauf auch Deichschäfer Gerhard tot im Watt gefunden wird, krempelt Hobbydetektivin Rosa die Ärmel hoch und beginnt, mit ihren ungewöhnlichen Methoden bei Immobilienhändlern und in der Wolfsgegner-Szene zu ermitteln. Dabei gerät sie in Gefahr, wieder einmal … Wie gut, dass sie ihre Freunde Rudi und Henner hat, die ihr in kritischen Momenten immer zur Seite stehen!

«Ich liebe diese Reihe!!!» Gisa Pauly

«Morden im Norden: spannend und witzig und vor allem mit viel Herz erzählt.» WDR 5

«Das Autorinnen-Duo schreibt fluffig-liebenswerte Geschichten mit viel Sympathie für die Figuren.» Nicola Förg

«Zum Brüllen komisch, echter ostfriesischer Humor (nicht zu verwechseln mit platten Ostfriesenwitzen). Situationskomik aus dem prallen Leben!» Klaus-Peter Wolf

Vita

Christiane Franke wurde an der Nordseeküste geboren und lebt immer noch gerne dort. Neben ihren gemeinsamen Projekten mit Cornelia Kuhnert schreibt sie weitere Krimis und Romane, die im Emons Verlag und im Goya Verlag erscheinen.

Cornelia Kuhnert lebt in Hannover und hat dort als Lehrerin gearbeitet. Sie hat bereits zahlreiche Kriminalromane veröffentlicht und Anthologien herausgegeben.

Neben ihrer Bestsellerserie um Henner, Rudi und Rosa veröffentlichen die Autorinnen bei rororo auch eine Krimireihe um Heißmangelbetreiberin Martha Frisch, die in den Fünfzigerjahren in Leer ermittelt.

Mehr über die Autorinnen unter: www.kuestenkrimi.de

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, März 2023

Copyright © 2023 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung yellowfarm gmbh, Stefanie Freischem

Coverabbildung Mauritius Images; Shutterstock

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-01620-0

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

PROLOG

«Du hast mich hintergangen. An mir vorbei den großen Reibach gemacht.» Lennys Stimme bebt vor Wut. Seine dünnen grauen Haare umrahmen wirr sein ausgemergeltes Gesicht. Der speckige Parka sieht aus wie der, den er schon vor Jahrzehnten getragen hat. Es ist bitterkalt, windig und gießt in Strömen. Ein hundsgemeiner Februartag.

«Ich weiß nicht, wovon du sprichst», entgegnet Kelle, während er die Flinte lädt. Seine Fingerspitzen sind schon fast taub vor Kälte. So schnell es geht, möchte er zurück ins Warme. Er hat nicht damit gerechnet, dass Lenny hier auftaucht. Es ist Ewigkeiten her, seit sie das letzte Mal miteinander gesprochen haben. Sie haben sich nichts mehr zu sagen, seit Lenny damals von einem Tag auf den anderen verschwunden ist.

«Erzähl mir doch keinen Scheiß! Wovon hast du denn all das hier bezahlt, hä? Du hast nicht damit gerechnet, dass ich dir auf die Schliche komme. Aber ich lasse mich nicht mit faulen Tricks abspeisen. Ich will Kohle sehen. Viel Kohle. Sonst verklag ich dich.»

Langsam wird Kelle richtig sauer. «Ich weiß gar nicht, was du hast! Das alles hier», er macht eine ausladende Bewegung mit der Hand, «hab ich mit einem Kredit finanziert.»

«Lüg nicht rum.» Spucketropfen fliegen Lenny aus dem Mund. «Du hast unsere Idee zu Geld gemacht. Du willst mich um meinen Anteil bringen.»

«Lenny, verpiss dich. Ich hab Besseres zu tun, als mich um irgendwelchen Asbach uralten Kram zu kümmern.»

«Vergessen hast du es aber nicht.» Lennys Augen blitzen vor Zorn.

«Hör endlich auf. Wovon redest du eigentlich? Du hast wohl zu viel gekifft in all den Jahren.»

«Aufhören? Damit du mit unserer Idee weiter Kohle scheffelst? Hast du sie noch alle?»

«Mach dich endlich vom Acker.»

Lenny ballt die Hände zu Fäusten. «So lasse ich mich nicht abspeisen!»

Kelle bleibt ruhig. Niemand kann sie hören. Gelassen hält er das Gewehr in beiden Händen und registriert, dass Lennys Augen wild funkeln. So wie früher, als sie alle zusammen in der Kommune lebten. Flower-Power, freie Liebe, Freiheit. Lang ist’s her.

«Wenn du mich nicht am Gewinn beteiligst, mach ich dich fertig!» Lenny macht plötzlich einen Schritt auf Kelle zu und holt aus, um zuzuschlagen.

SAMSTAG

Seit Tagen hängen die Wolken wie graue Waschlappen am Himmel, nicht einmal der böig auffrischende Wind aus Nordwest schafft es, Lücken für die Sonne zu reißen. Vor ihrer Haustür legt Rosa Moll den Kopf in den Nacken. Sie sehnt sich nach Licht, möchte endlich wieder Wärme auf der Haut spüren und keine Regentropfen. Aber Jammern hilft nicht. Ein Ostfriesennerz über der Daunenjacke schon eher. Beides hat sich Rosa schon in ihrem ersten Winter in Neuharlingersiel angeschafft, genau wie die gefütterten Gummistiefel. Wie sagt ihr Nachbar und Kumpel Henner Steffens so schön: Es gibt kein schlechtes Wetter, nur die falsche Kleidung.

Regenfest eingemummelt stapft Rosa weiter, um sich mit dem Häkelbüdel-Club im Haus am Hafen zu treffen. Jeden ersten Samstag im Monat werden die alleinstehenden Herren des Ortes – meist Witwer und betagte Junggesellen – hier von der umtriebigen Frauengruppe bekocht. Einerseits, damit sie eine vernünftige Mahlzeit zum günstigen Preis erhalten, vor allem aber, damit sie unter Leute kommen und nicht vereinsamen. Tante Hildegard, ein Mitglied von Henner Steffens' umfangreicher Verwandtschaft, hat die Idee vor Monaten im Regionalfernsehen aufgeschnappt und damit überall offene Türen eingerannt.

«Moin!» Rosa hängt den nassen Ostfriesennerz an die Garderobe und nimmt die Mütze mit passendem Schal und Handschuhen ab, die Dörte ihr zu Weihnachten gestrickt hat. Rosa und Dörte haben schon so einiges gemeinsam durchgestanden und senken mit ihren noch nicht einmal vierzig Jahren den Altersdurchschnitt des Häkelbüdel-Clubs enorm. Ihre Freundin kassiert neben der Eingangstür fünf Euro pro Mahlzeit.

Rosa gibt ihr zur Begrüßung einen Kuss auf die Wange. «Was gibt es denn Schönes zu essen?», will sie wissen. Sie gehört heute zur Abwasch-Gruppe und durfte deshalb etwas später zum Dienst erscheinen.

«Pellkartoffeln mit Heringsdip», ruft Tante Hildegard quer durch den Raum und stapelt die Essteller neben dem großen Topf, der zum Warmhalten auf der transportablen Induktionsplatte steht. Gekocht haben sie die Kartoffeln in der Kurpredigerwohnung im Untergeschoss. «Als Nachtisch gibt es Friesische Rumcreme nach dem Rezept meiner Großmutter», sagt sie voller Stolz. Die Portionen hat sie bereits in kleine Gläser abgefüllt. «Heute haben wir achtundzwanzig Anmeldungen. Werden immer mehr. Sogar aus Carolinensiel hat sich einer angekündigt. Ich hab aber zur Sicherheit dreißig gemacht.» Ein schelmisches Lächeln umspielt ihre Lippen.

Rosa blickt sich um. Wie immer haben sich bereits einige Männer eingefunden und sitzen klönend an den Tischen zusammen, obwohl das Essen erst ab zwölf Uhr ausgeteilt wird. Aber Kaffee, Tee und kalte Getränke werden schon jetzt angeboten. Genau wie einige Brett- und Kartenspiele. Rosa schmunzelt, als sie die angeregten Gesprächsrunden betrachtet. Auch Hoyko Manninga ist schon da, der Vater ihres Kumpels Rudi, seines Zeichens Dorfpolizist von Neuharlingersiel. Er unterhält sich lebhaft mit Claas de Buhr. Der rüstige Achtziger war früher unermüdlich für den Seenotrettungsdienst unterwegs und hat so manchen Schiffbrüchigen gerettet.

Rosa bindet sich ihre pinke Schürze um und bezieht Position hinter den Tischen, an denen das Essen ausgegeben wird. Gleich darauf läutet Tante Hildegard mit der kleinen Messingglocke, die sie sonst immer nur an Weihnachten zur Bescherung herausholt. Zwei ehemalige Krabbenfischer stehen schon vor Sigrid und beäugen den Matjesdip.

«Wo sind denn die Heringe her?», fragt der Kleinere der beiden.

«Von der Fischereigenossenschaft.» Sigrid Twenge gibt ihm eine Kelle auf den Teller. «Und es sind Matjes. Also die jungfräulichen Heringe, die noch keine Milch oder Rogen gebildet haben. Deswegen schmecken sie auch milder.» Als Frau des örtlichen Mitmach-Reporters hat sie von vielen Dingen Ahnung. Und als gebürtige Ostfriesin sowieso.

«Jungfräulich? Dann nehm ich noch ’n büschen mehr.» Der Kleinere feixt.

Hoyko hat sich hinter die beiden Fischer gestellt. Er nimmt einen Teller vom Stapel und hält ihn Sigrid hin, die ihm Pellkartoffeln auflegt. «Ist Lenny gar nicht da?», fragt Hoyko. «Der gehört doch sonst immer zu den Ersten. Und heute gibt’s schließlich sein Lieblingsessen.»

«Nee, er ist noch nicht aufgetaucht», erwidert Sigrid. «Aber angemeldet ist er. Hättest ihn ja mitbringen können.» Hoyko und Lenny sind nämlich Nachbarn.

«Hab bei ihm geklingelt, aber er hat nicht aufgemacht. Deswegen dachte ich, er ist schon los.»

Sigrid gibt nun den Heringsdip auf den Teller und will ihn Hoyko reichen, aber der schüttelt den Kopf. «Gib man ruhig noch ’nen Schlag drauf.» Er zwinkert ihr zu.

In diesem Moment öffnet sich die Eingangstür, und mit einem eiskalten Luftzug kommt Sigrids Mann Ludwig herein. Er ist schlecht zu Fuß unterwegs und auf Krücken angewiesen.

«Habt ihr schon gehört?», fragt er ganz außer Atem. «Die Neuharlingersiel ist grad rausgefahren.» Ludwig lässt sich auf einen Stuhl fallen. Der übereifrige Online-Reporter ist wie immer bestens informiert, hat er doch seine Quellen überall, wie Rosa weiß. «Die hatten es verdammt eilig.»

«Die Seenotretter sind im Einsatz?» Claas springt wie elektrisiert auf. «Ist ein Schiff gekentert?»

«Nee, ist wohl ein Kiter. Der treibt draußen im eiskalten Wasser. Hat anscheinend die Kontrolle über sein Segel verloren und wird Richtung Fahrrinne rausgetrieben. Der Rettungswagen wartet bereits am Hafenbecken auf ihn.» Ludwig wirft einen sehnsuchtsvollen Blick auf die Teller der beiden Krabbenfischer am Tisch vor ihm.

«Wer geht bei diesem Schmuddelwetter denn freiwillig aufs Surfbrett?» Rosa schüttelt verständnislos den Kopf. «Das Wasser hat doch keine fünf Grad.»

«Versteh ich auch nicht», pflichtet Ludwig ihr bei. Er winkt seiner Frau zu. «Sag mal, habt ihr noch eine Portion für mich? Ich bin ordentlich hungrig und muss mich stärken, bevor ich den Artikel schreibe.»

Sigrid wirft einen Blick in den Topf mit dem Heringsdip. «Klar. Auch wenn du kein alleinstehender Rentner bist.» Sie grinst ihn breit an.

 

Nach und nach leert sich der Raum, als der Nachtisch vertilgt ist. Nur an einem Tisch wird noch Skat gespielt. Rosa und die anderen Frauen des Häkelbüdel-Clubs räumen auf. Hoyko hilft ihnen, die Töpfe in den Keller zu tragen und die Tische wieder gerade zu rücken.

«Ist schon seltsam, dass dein Nachbar nicht aufgetaucht ist.» Rosa wischt mit dem Lappen über die Tischplatte. «Der verpasst das Essen sonst nie. Ist der krank?»

«Keine Ahnung. So gut kennen wir uns nun auch wieder nicht.» Hoyko wirft ihr einen nachdenklichen Blick zu, den auch Sigrid auffängt.

«Lenny ist seit jeher knapp bei Kasse. Daran hat sich auch nix geändert, seit er wieder zurück ist», sagt sie und faltet eine Tischdecke zusammen. «Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass er so eine günstige Mahlzeit sausen lässt. Außerdem scheint er die Gesellschaft der anderen zu genießen, auch wenn er sonst eher ein Eigenbrötler ist.»

«Was meint ihr», fragt Rosa, «sollten wir nicht besser bei ihm vorbeischauen? Vielleicht ist ihm ja was passiert.»

«Nun mal bloß nicht den Teufel an die Wand. Lenny ist ’ne ganze Ecke jünger als ich. Warum sollte ihm was passiert sein?», wiegelt Hoyko ab.

«Was weiß ich. Man hört und liest ja von den absurdesten Dingen: Herzinfarkt, Gehirnschlag, beim Backen vom eigenen Halstuch erwürgt, das sich im Mixer verfangen hat. Neulich …»

«Jetzt hör aber auf», fällt Hoyko ihr ins Wort. «So ein Unsinn.»

«Aber vorbeigehen könnten wir.» So schnell gibt Rosa nicht auf. «Vielleicht liegt er ja auch nur mit Fieber im Bett. Pellkartoffeln sind noch genug da, und auch vom Heringsdip und der Rumcreme ist was über.»

«Das ist eine gute Idee», sagt Sigrid: «Dann wirkt der Besuch mehr fürsorglich. Und nicht neugierig.»

«So ist er doch auch gemeint!», erwidert Rosa pikiert.

«Wer ist hier neugierig?» Tante Hildegard reckt den Kopf in die Höhe.

 

Eingemummelt stapfen Rosa und Hoyko kurz darauf durch den Nieselregen. «Was weißt du eigentlich über deinen Nachbarn?» Rosa zieht sich die Mütze noch ein bisschen mehr über die Ohren, weil der Wind ihr den Regen direkt ins Gesicht bläst.

«Nicht viel», gesteht Hoyko. «Lennys Eltern sind im letzten Jahr gestorben. Er war lange im Ausland. Holland, Amerika, Kanada. Die Verbindung zu ihnen war wohl jahrzehntelang abgerissen. Ist ja nicht immer einfach zwischen Eltern und Kindern.»

Auch Hoyko Manninga hat viele Jahre seines Lebens nicht in Neuharlingersiel verbracht. Einst fuhr er als Matrose zur See, ließ sich dann in Kanada nieder und gründete dort eine Familie. Bei einem Heimatbesuch erfuhr er, dass er Vater eines unehelichen Kindes ist. Sein Sohn Rudi Bakker, der Dorfpolizist und beste Freund von Henner Steffens, kam aus dem Staunen gar nicht wieder raus, als er seinen verschollen geglaubten Vater nach all den Jahrzehnten kennenlernte.

«Lenny soll Rockmusiker sein, hat Adelheid gesagt.» Henners älteste Schwester kam richtig ins Schwärmen, als Lenny vor ein paar Monaten in das Haus seiner Eltern gezogen ist. «Muss früher ein heißer Typ gewesen sein. Adelheid war gerade mal fünfzehn, als Lenny hier weggegangen ist. Er soll danach mit bekannten Bands gespielt haben.»

«Hat Adelheid das erzählt?», wundert sich Hoyko. «Na, vielleicht hat Lenny davon geträumt, aber besonders erfolgreich ist er wohl nicht gewesen. Das war ja sein Problem. Hat er mir mal bei einem Feierabendbier am Gartenzaun gestanden. Als bewunderter Star kehrt man gerne in die Heimat zurück. Aber nicht als Loser.»

Rudis Vater bleibt stehen und zeigt auf den Klinkerbau, in dem Lenny wohnt. «Zumindest haben seine Eltern ihm das Haus hier am Deich hinterlassen, selbst wenn es schon über hundert Jahre auf dem Buckel hat. Aber die Kramers haben es vor zehn Jahren noch mal komplett saniert. Nur an die Regenrinnen müsste er dringend ran. Die sollten erneuert werden. Allerdings fehlt ihm dafür das Geld.»

«Armer Kerl. Da kann ich ja froh sein, dass ich nie Schlagersängerin werden wollte. Unter der Dusche kann man auch laut singen. Aber egal.» Rosa marschiert auf die Eingangstür zu und drückt den Klingelknopf. Ein dunkler Gong ertönt, doch drinnen rührt sich nichts. Rosa klopft energisch an die Tür. «Herr Kramer, wir haben Ihnen das Essen mitgebracht. Pellkartoffeln mit Heringsdip. Und Rumcreme als Nachtisch.»

Keine Reaktion. Rosa drückt die Klinke herunter, und zu ihrer Verwunderung öffnet sich die Tür. «Lass uns reingehen», raunt sie Hoyko zu. Ihre Augen blitzen vor Neugier, doch Rudis Vater legt ihr die Hand auf den Arm und hält sie zurück. «Rosa! Man stiefelt nicht einfach so in ein fremdes Haus. Das ist Verletzung der Privatsphäre. In Amerika müsstest du damit rechnen, dass dich einer mit geladener Waffe begrüßt und nicht lange mit dem Abdrücken zögert.»

Rosa verzieht den Mund zur Schnute, nickt unwillig, gibt aber nicht gänzlich nach. «Dann geh ich ums Haus rum und schaue durchs Fenster, ob alles in Ordnung ist.»

Hoyko nickt. «Gute Idee. Da kann Lenny nichts gegen sagen. Schließlich machen wir uns Sorgen.»

Rosa folgt dem Gartenweg aus Waschbetonplatten. Die Blumenbeete wirken ungepflegt, auch wenn sich die ersten Knospen von Schneeglöckchen, Krokussen und die grünen Blätter der Osterglocken bereits zeigen und für farbige Tupfer sorgen. In allen Ecken liegen nasse Laubhaufen, die der Wind zusammengewirbelt hat. Die verblühten Stauden vom letzten Jahr sind nicht zurückgeschnitten, und auf dem Rasen hat der Maulwurf bereits ganze Arbeit geleistet. Ein Erdhügel neben dem anderen ist aus dem vermoosten Boden gewachsen. Rosa versucht, durch einen Spalt in der Gardine zu linsen, kann aber nichts erkennen. Sie geht um die Ecke, Hoyko folgt ihr auf dem Fuße. Das Wohnzimmerfenster ist größer, die Gardinen sind zur Seite geschoben. Einen Rockmusiker mit weißen Stores vorm Fenster hätte sich Rosa aber ehrlich gesagt auch nicht vorstellen können. Vor allem nicht, wenn der Blick auf den Deich geht. Sie stellt sich vors Fenster, legt die Hände um die Augen und schaut hinein. Drinnen ist es dunkel. Sie erkennt ein Sofa, zwei Sessel, einen Tisch und umgeworfene Stühle. Die Türen des Wohnzimmerschranks sind geöffnet, der Inhalt liegt wild verteilt auf dem Fußboden.

«Da stimmt was nicht.» Rosa tippt mit dem Finger gegen die Scheibe.

Hoyko tritt neben sie und schirmt die Augen ab. «Heiliger Klabautermann! Da herrscht ja das reinste Chaos!»

Rosa presst die Nasenspitze gegen die Scheibe. «Siehst du das da hinter dem Sessel?»

«Was?»

«Ich glaube, das sind Füße.»

«Stimmt», murmelt Hoyko und klopft energisch an die Fensterscheibe. Doch drinnen rührt sich nichts.

«Wir müssen was tun, Hoyko!»

***

Henner Steffens ist heute spät dran. Aber es hilft nichts. Statt gemütlich bei seiner Mutter am Tisch zu sitzen und Mittag zu essen, muss er noch immer die Post verteilen. Jetzt nur noch den Brief von der Rentenkasse bei Kramer einstecken, dann hat er es geschafft. Er bremst sein gelbes Postfahrrad ab, das er liebevoll Berta getauft hat, und lehnt es an den Zaun.

Nanu, was ist das denn? Rosa und Hoyko kommen aus dem Garten um die Ecke gefegt.

«Moin», ruft er. «Was ist denn in euch gefahren?»

Rosa wirkt völlig neben der Spur.

«Hier stimmt was nicht», sagt sie und drückt die Klinke der Eingangstür herunter. «Sieht aus, als wäre eingebrochen worden.»

Schwups, bevor Henner etwas sagen kann, ist Rosa mit Hoyko im Haus verschwunden. Kopfschüttelnd nimmt er den Brief aus der Posttasche. Einbruch bei Kramer. Das glaubt Rosa doch selbst nicht. Da ist bekanntermaßen nichts zu holen. Die Eltern waren schon arm wie die Kirchenmäuse, und der abgehalfterte Sohn lebt vom Sozialamt. Wartet seit Wochen auf seinen Rentenbescheid. Henner kann sich nicht vorstellen, dass da was zusammenkommt. Als mäßig erfolgreicher Rockmusiker wird Lenny Kramer kaum was eingezahlt haben. Im Unterschied zu ihm und Rudi. Im öffentlichen Dienst steht man nicht schlecht da.

Unentschlossen verharrt Henner nach dem Einwerfen des Briefes vor der Haustür, als er von drinnen einen spitzen Schrei hört. Das ist zweifelsfrei Rosa. Er stürmt ins Haus und bleibt wie angewurzelt im Türrahmen zum Wohnzimmer stehen.

«Ich glaub, wir sagen Rudi Bescheid», sagt er mit tonloser Stimme, aber Rosa hat bereits ihr Handy aus ihrem Ostfriesennerz gezogen.

***

Zufrieden reibt sich Rudolf Hieronymus Bakker die Hände. Der Hausputz ist erledigt, der Hühnerstall sauber, nun hat er sich ein Bier verdient und kann den gemütlichen Teil des Samstags einläuten. Gleich beginnen die Fußballspiele der Zweiten Liga. Er klickt die Sky-App auf seinem Handy an und macht es sich gerade auf der Couch bequem, als die Fanfare seines Mobiltelefons losschmettert. Rosa. Was will die denn? Ist die heute gar nicht mit den Frauen vom Häkelbüdel-Club bei der Abfütterung der Senioren?

«Rosa, was gibt’s?» Rudi lässt den Bügelverschluss des Ostfriesenbräus ploppen.

«Rudi, du musst sofort kommen. Lenny Kramer ist tot.»

«Wieso ist der tot?»

«Was weiß ich! Er liegt jedenfalls mausetot in seinem Wohnzimmer. Das sieht übrigens ziemlich verwüstet aus», sagt Rosa mit gefasster Stimme. «Dein Vater und ich haben nach ihm geschaut, weil er nicht zum Essen gekommen ist. Du weißt schon, unser Häkelbüdel-Club-Projekt.»

Rudi stellt die Flasche auf den Couchtisch. «Ist nicht dein Ernst.»

«Glaubst du, mit so was würde ich spaßen?» Rosas Stimmlage steigt eine Nuance höher, wie immer, wenn sie ärgerlich wird. «Lenny Kramer ist offensichtlich Opfer eines Gewaltverbrechens geworden. Und wenn du mich fragst, Rudi, liegt er schon ein paar Tage hier. Seine Haut ist verfärbt, und es müffelt unangenehm.»

«Ich bin gleich da», ruft Rudi in den Hörer. «Und fass nichts an.»

 

Völlig außer Atem und pitschnass erreicht er nach einem olympiaverdächtigen Sprint Lenny Kramers Haus. Sein Vater steht unter dem Vordach, Rosa und Henner sind hinter ihm im Flur.

«Das ist ja der reinste Volksauflauf», murmelt Rudi. «Was machst du denn hier, Henner?»

«Hab die Post gebracht. Was sonst?»

Rudi wendet sich an seinen Vater. «Also, was ist passiert?»

Statt Hoyko antwortet Rosa. Detailgetreu berichtet sie, warum sie hier sind und Rudi angerufen haben. Jede noch so belanglose Kleinigkeit erwähnt sie. Als großer Agatha-Christie-Fan versucht sie, sich an Miss Marple ein Beispiel zu nehmen. Was im Film ganz unterhaltsam wirkt, geht Rudi aber eher auf den Senkel.

«Wo liegt der Tote?», fragt er, um auf den Punkt zu kommen.

Nach einem Blick auf Lenny benachrichtigt er den Rettungsdienst und die Kollegen in Wittmund. Sicherheitshalber sagt er auch Hauptkommissar Haueisen Bescheid. Selbst, wenn heute Samstag ist. Bei Mord will der Chef sofort informiert werden.

«Tja», sagt er zu Henner, Rosa und seinem Vater, nachdem das Telefonat mit seinem Chef beendet ist, «das war’s dann. Ihr könnt los, ich halte hier die Stellung.»

Henner nickt. «Ich hab ja sowieso nix gesehen. Tschüs denn. Sehen wir uns heute Abend wie verabredet bei Ludwig zum Sportgucken?»

«Unbedingt. Bis dahin hab ich hoffentlich Feierabend», sagt Rudi.

Henner wendet sich zum Gehen.

«Warte, ich komm mit.» Hoyko schaut Rudi an und klopft ihm freundschaftlich auf die Schulter. «Oder soll ich bleiben?»

«Nee, geh man ruhig. Je weniger Leute hier sind, desto besser. Gibt ohnehin schon genug Spuren durch uns alle. Muss ich der Spusi sagen, damit wir nicht nach Phantomen jagen.»

«Alles klar.» Hoyko blickt Rosa an. «Kommst du mit?»

Die schüttelt den Kopf. «Auf gar keinen Fall! Ich lasse Rudi hier nicht allein. Außerdem muss ich Haueisen genau schildern, wie wir ihn gefunden haben. Das ist doch wichtig.»

«Geh ruhig», sagt Rudi in der Hoffnung, dass sie seiner Aufforderung folgt und er in Ruhe auf seine Kollegen warten kann. «Wie gesagt: Je weniger unnütze Spuren, desto besser.»

«Macht das unter euch aus», sagt Henner, «ich bin erst mal weg. Bis später.» Schon verschwindet er mit Hoyko.

Rosa atmet erleichtert aus. «Endlich allein!»

«Wie meinst du das denn?» Rudi blickt sie schräg an.

«Na, jetzt können wir beide uns über den Fall unterhalten.» Sie deutet auf den toten Lenny. «Schau dir den mal genauer an. Was sagt er dir?»

«Was soll der mir denn sagen? Nix. Der ist tot.»

«Und die Wunde am Hals?» Rosa steigt vorsichtig über herumliegende Aktenordner, Bücher und zerbrochenes Geschirr. Neben dem Leichnam hockt sie sich hin. «Die Wunde am Hals wurde nicht durch ein Messer verursacht. Sieht eher aus wie ein Schuss, der die Halsschlagader erwischt hat.»

«Ja, und?» Seit wann kennt sich Rosa mit Schusswunden aus?, wundert Rudi sich. Aus der Hocke blickt Rosa zu ihm auf.

«Wir müssen uns zwei Fragen stellen: Wenn er im Stehen getroffen wurde, warum ist dann die große Wohnzimmerfensterscheibe noch intakt und wurde nicht vom Projektil getroffen? Und wo ist das Blut, das Lenny verloren haben muss? Die Halsschlagader pumpt das Blut doch heraus. Ich hab das mal in einem Film gesehen. Das war eine Riesensauerei.»

Erstaunt sieht Rudi sie an und nimmt dann den Teppich in Augenschein. «Du hast recht. Da ist kaum Blut.»

«Siehste, er scheint nicht in diesem Raum getötet worden zu sein.» Rosa stemmt triumphierend die Fäuste in die Hüften. «Wo also dann?»

In diesem Moment ertönt das laute Tatütata der Einsatzfahrzeuge. Gleich darauf stürmt das Team der Rettungssanitäter herein. Nach nicht mal einer halben Minute steht auch für die Profis fest: In diesem Fall ist nichts mehr zu machen, der Mann ist schon eine ganze Weile tot. Dann ist Haueisens Stimme im Flur zu hören.

«Hierher, Chef!», ruft Rudi. Haueisen, in Lodenmantel und mit Filzhut auf dem Kopf, erscheint in der Wohnzimmertür. Oberkommissar Schnepel folgt ihm. Er trägt einen Daunenmantel, der so dick gefüttert ist, dass er damit sicher auch am Nordpol nicht frieren würde.

Als Haueisen Rosa entdeckt, erstarrt seine Miene. «Frau Moll!» Das klingt bedrohlich.

«Ich kann nichts dafür, dass ich immer wieder über Leichen stolpere», sagt sie mit unschuldigem Lächeln, begleitet von einem klimpernden Augenaufschlag,

«Das kommt langsam einer Heimsuchung gleich», poltert Haueisen los.

Rosa ignoriert den Anranzer und versucht, sich zu erklären. «Herrn Kramer hab ich nur gefunden, weil er heute Mittag beim Seniorenessen angemeldet war und nicht gekommen ist. Gemeinsam mit Rudis Vater. Sie kennen ihn ja, Hoyko Manninga. Wir wollten Herrn Kramer das Essen bringen. Da haben wir die Füße des Toten durchs Wohnzimmerfenster gesehen und sind vorn durch die Haustür rein. Die Tür war nicht verschlossen. Uns ist dann aufgefallen …»

«Stopp!», brüllt Haueisen. «Verschwinden Sie!» Sein Gesicht ist knallrot angelaufen.

«Aber ich …»

«Raus.» Haueisen zeigt zur Tür.

Trotzig hebt Rosa das Kinn. «Wenn Sie es unbedingt wollen! Ich glaube nur, dass ich …»

«Raus, verdammt!»

Beleidigt wendet Rosa sich an Rudi. Was erwartet sie denn jetzt von ihm?, fragt er sich. Er legt sich doch deswegen nicht mit dem Chef an. Entschuldigend zuckt er mit den Schultern.

«Ich werde dich auf dem Laufenden halten», setzt er versöhnlich hinzu.

Kaum ist sie weg, berichtet er Haueisen, was er von Rosa weiß, und macht auf das fehlende Blut aufmerksam. «Sieht aus wie eine Schusswunde. Nach erstem Augenschein habe ich aber noch keine Patronenhülse gefunden.»

Anerkennend sieht sein Chef ihn an. «Alle Achtung, Bakker. Sie haben in der letzten Zeit ordentlich was dazugelernt in Sachen Ermittlungsarbeit. Haben Sie die anderen Räume auch schon inspiziert?»

«Nein», gibt Rudi zu, was ihm einen süffisanten Blick von Schnepel einbringt.

«Typisch», sagt der. «Da kannst du zwar eine Unstimmigkeit erkennen, aber die Kombinationsgabe fehlt dir. Dann werde ich das mal übernehmen.»

«Ich wollte keine unnötigen Spuren legen, sondern auf die Spusi warten.» Die überhebliche Schelte seines Kollegen lässt Rudi nicht gelten. «Dadurch, dass Frau Moll, mein Vater, Henner Steffens und ich hier waren, ist der Ort ja schon genug kontaminiert.»

Kröver, der Chef der Kriminaltechnischen Abteilung, nickt zustimmend. Er trägt bereits den weißen Einweganzug, hat die Kapuze auf dem Kopf und Überschuhe an den Füßen. «Richtig. Besser, ihr lasst uns in Ruhe unsere Arbeit machen. Das wird hier sicher nicht immer so wüst ausgesehen haben?» Er deutet mit einer ausladenden Geste auf das Chaos im Raum.

«Ich war noch nie hier, aber ich vermute mal nicht», sagt Rudi. «Wahrscheinlich hat der Täter irgendwas gesucht.»

«Davon gehe ich auch aus», sagt Haueisen. «Lassen Sie uns durchs Haus gehen.»

«Aber Kröver sagt doch …»

«Mit Überschuhen ist das kein Problem», winkt Haueisen ab.

Alle drei ziehen sich die Plastikdinger über die Schuhe und beginnen mit der Begutachtung im Erdgeschoss. Das Haus ist nicht groß, die Grundfläche beträgt vielleicht sechzig Quadratmeter. Die schmale Arbeitsküche ist aufgeräumt, wirkt aber in die Jahre gekommen. An den Fliesen kleben sogar noch Prilblumen, die mindestens aus den Siebzigerjahren stammen. In einem Holzregal auf der rechten Seite stehen beschriftete Porzellandosen mit Mehl, Zucker und Salz. Daneben eine geöffnete Kaffeepulvertüte, eine Packung Papierfilter Größe 4, ein Glas Instantkaffee und eine angebrochene Packung Kluntjes. An Haken unter dem Regal hängen bunte Keramikbecher. Manche haben ein Muster, andere einen Schriftzug, zwei sind mit Blumen bemalt. Von Blut keine Spur. Auch im winzigen Gäste-WC findet sich kein Hinweis darauf, dass hier ein Mensch schwer verletzt wurde. Dafür stehen etliche Grünpflanzen unter einer Plastikplane.

«Was ist das denn für ’n Quatsch?» Schnepel hebt die Plane an.

Augenblicklich erfüllt ein strenger Geruch den Raum. «Igitt, das stinkt vielleicht!» Schnepel lässt die Plane fallen und hält sich die Nase zu. «Schnell raus hier.» Im Flur atmen sie erst einmal tief durch.

«Das war Hasch, ganz klar», stellt Schnepel fest.

«Kennst du dich damit aus?», fragt Rudi grienend. «Sag bloß, du hast das selbst mal geraucht.»

«Natürlich nicht, aber als Polizist muss man auch im Bereich der Drogen über Grundkenntnisse verfügen.»

«Zurück zur Tagesordnung», ordnet Haueisen an. «Lassen Sie uns schauen, was uns oben für Überraschungen erwarten.»

Die schmale Holztreppe knarrt, als sie hintereinander ins Obergeschoss steigen. Das nur einseitig bezogene Doppelbett im Schlafzimmer ist ungemacht, auf der nicht benutzten Seite stapelt sich ungewaschene Kleidung. Das kleine Badezimmer ist erstaunlich sauber, in der Wanne liegt ein zusammengeknülltes rotes Handtuch.

«Schnepel, prüfen Sie, ob es nass ist und zum Aufwischen von Blut verwendet wurde», weist Haueisen seinen Untergebenen an.

Pikiert streift Schnepel Einweghandschuhe über, tritt an die Wanne und hebt das Handtuch heraus. Zu Rudis Erleichterung rinnt kein Blut heraus.

«Nass ist es nicht, nur ein bisschen feucht», sagt Schnepel und lässt es wieder fallen.

«Dann sollten wir uns als Nächstes draußen umsehen», meint Haueisen. «Irgendwo müssen doch Blutspuren zu finden sein.»

Nacheinander stiefeln sie die Treppe wieder hinunter und stoßen im Flur auf den Rechtsmediziner Doktor Emterbäumler, der mit seinem großen Alukoffer eingetroffen ist. «Servus, wo ist die Leiche?»

***

Zurück in ihrer Wohnung, weiß Rosa gar nichts mit sich anzufangen. Deswegen nimmt sie sich den Käfig ihres Beos Pepe vor, selbst wenn der das noch gar nicht nötig hat. Eine schon verwesende Leiche zu finden, steckt auch sie nicht mal eben so weg. Henner und Hoyko standen jedenfalls völlig neben sich, das hat Rosa genau gesehen, und beide waren sichtlich erleichtert, als Rudi sie höflich weggeschickt hat. Anders als Haueisen. Der hat Rosa einfach rausgeworfen. Sie kann es immer noch nicht fassen. Soll er doch sehen, wie er den Fall löst. Bislang haben die Wittmunder sich jedenfalls nicht dadurch ausgezeichnet, bei ihren Mordfällen besonders effektiv und zügig zu ermitteln.

Pepes Käfig ist gesäubert und draußen ist es mittlerweile dunkel geworden, stellt sie überrascht fest. Der Regen hat nachgelassen, schwarze Pfützen glänzen auf dem Asphalt im Licht der Straßenlaternen. Eigentlich hat Rosa keine Lust, gleich noch mal rauszugehen. Normalerweise trifft sich der Häkelbüdel-Club samstags eigentlich nie, aber heute Abend hat Ludwig die Männer zu sich zum Herrenfernsehabend eingeladen. Es gibt irgendwelche Darts-Wettkämpfe auf Sky. Das war für die Frauen Anlass, ein Treffen im Dattein zu verabreden. Livemusik gibt es dort heute Abend auch.

Kurz darauf zieht Rosa die Wohnungstür hinter sich zu und geht die Treppen herunter. Aus der Wohnung unter ihr kommt kein Mucks, Henner wird wohl schon bei Ludwig sein. Der Regen hat immer noch nicht aufgehört. Wie ein feiner Schleier legt er sich auf ihr Gesicht, als sie den Vorgarten durchquert. Gut für die Haut, würde Dörte sagen.

Rosa überquert die Straße. Kein Auto weit und breit. Auch keine Fußgänger. Nicht mal welche zum Gassigehen. Bei dem Wetter bleiben wohl auch die Hundebesitzer am liebsten auf der Couch. Sie beeilt sich, und schnell hat sie das Sieltor erreicht. Einsam hocken die beiden Krabbenfischerskulpturen aus Bronze auf der Hafenmauer, nur diffus erhellt vom schummrigen Licht der Laterne. Kaum ist sie die wenigen Stufen hinter der Kurmuschel hochgegangen, sieht sie die Windlichter auf der Backsteinmauer vorm Dattein, ihrer Stammkneipe am Sielhafen. Schwungvoll öffnet Rosa die Tür und tritt ein. Wärme, Stimmengewirr und lautes Lachen fallen ihr entgegen. Ein Musiker im blau-weiß gestreiften Fischerhemd verlegt gerade die Leitung zum Verstärker links vom Eingang, ein anderer in gleicher Montur, aber deutlich kleiner, baut das Mikrofon auf.

«Moin», grüßt Rosa die beiden, spielen sie hier doch häufig am Wochenende Seemannslieder und beliebte Oldies für die Gäste. Dann wendet sie sich nach rechts, wo in der «Zanzi-Bar»-Couch-Ecke Adelheid, Gisela Frerichs und Sigrid zusammen mit Dörte und Gudrun sitzen, einer weiteren von Henners acht Schwestern. Eine Flasche Wein steht auf dem Tisch.

«Da bist du ja endlich», sagt Dörte, zwinkert ihr dabei aber spaßig zu. «Wir sind alle schon eine halbe Stunde eher gekommen, um uns einen guten Platz zu sichern. Unsere Gedanken sind eben im Gleichklang unterwegs», fügt sie lachend hinzu.

Rosa schält sich aus dem Ostfriesennerz und nimmt die Mütze ab. Sigrid klopft mit der flachen Hand aufs Sofa. «Setz dich neben mich. Der Kitesurfer war übrigens aus Oldenburg. Hat Ludwig schon alles gepostet. Ihm ist aber nichts weiter passiert, der ist nur ein bisschen unterkühlt. Trotz des Neoprenanzugs. Das Wasser ist ja arschkalt.»

Rosa schlängelt sich am Tisch vorbei und nimmt auf dem Sofa Platz.

«Es ist so schön, hier mit euch zu sein.» Sigrid stößt einen Seufzer aus, der aus der Tiefe ihres Herzens zu kommen scheint. «Sollen die Männer sich doch von Ludwig beim Dartspiel vollquasseln lassen. Der wird sein neues Lieblingsspielzeug über den grünen Klee loben. Wir haben nämlich einen neuen Fernseher.» Sigrid ahmt ihren Mann nach: «Ein OLED-Fernseher hat bessere Kontraste und ein tieferes Schwarz als QLED-Fernseher. Dazu der bessere Blickwinkel …»

Die Frauen brechen in schallendes Gelächter aus. Sie scheinen noch gar nichts von Lenny Kramers Tod mitbekommen zu haben. Kaum hat sich die Tischrunde wieder beruhigt, sagt Rosa mit ernstem Blick: «Hoyko und ich waren nach dem Essen für die Senioren doch bei Lenny. Weil der trotz Anmeldung nicht gekommen ist.»

«Was war denn los bei ihm? Ist er krank?», fragt Gisela, nimmt die Weinflasche aus dem Kühler und schenkt Rosa in das schon bereitstehende Glas ein.

«Nein, er ist tot.»

Reglos starren alle Rosa an. Gisela stellt die Flasche ab. «Tot?», sagt sie nachdenklich. «Na ja, besonders gesund sah er nicht aus. Er hatte so dunkle Ränder unter den Augen. Ich hab erst neulich gedacht, dass der bestimmt was mit dem Herzen hat. Dunkle Ränder sind ein sicheres Zeichen dafür. Aber dass der nun gleich stirbt … gut, dass ihr nachgeschaut habt. Stellt euch vor, der hätte da länger gelegen. Liest man doch immer wieder, dass in der Stadt …»

«Deswegen ist es auch so wichtig, dass die alleinstehenden Männer sich wenigstens einmal im Monat treffen können», schaltet sich Adelheid ein. «Besser wäre natürlich noch öfter, ich finde …»

«Das war kein natürlicher Tod», unterbricht Rosa. «Er wurde vermutlich erschossen. Wie es aussieht, schon vor ein paar Tagen.»

Sofort verstummen alle.

«Ach du grüne Neune!», ruft Sigrid, die sich als Erste gefangen hat. «Schon wieder ein Mord. Das hat Ludwig noch gar nicht mitgekriegt, sonst wüsste ich das.»

Das wundert Rosa auch. Ludwig hört doch sonst die Flöhe husten, vor allem, weil er ununterbrochen den Polizeifunk laufen lässt. Wahrscheinlich hat er das wegen des Kiters heute verpasst.

«Kann es Selbstmord gewesen sein?», überlegt Adelheid laut. «Lenny wirkte ziemlich verbittert, seit er wieder zurück ist. Der hatte wohl keine gute Zeit hinter sich.»

«Glaub ich eher nicht.» Rosa greift nach dem Weinglas. «Aber die Polizei wird alles genau untersuchen. Emterbäumler ist immer sehr gründlich.»

Wieder herrscht betretenes Schweigen.

«Wenn ich daran denke, dass Lenny einst der strahlende Held meiner Jungmädchenträume war.» Adelheid lächelt versonnen. «Ich seh ihn noch vor mir. Meist hatte er seine Gitarre in der Hand. Egal ob an der Theke oder am Lagerfeuer.» Adelheid bekommt glasige Augen bei der Erinnerung.

«Ich hab sogar heimlich Fotos von ihm gemacht, wenn wir im Deichgrafen waren und er mit ein paar anderen für ein Konzert geprobt hat», erzählt Gisela.

«Stimmt, daran kann ich mich erinnern. Wir waren immer sonntagnachmittags da. Abends durften wir ja nicht. Das hätten meine Eltern mir nie erlaubt. Muddern und Vaddern waren ziemlich streng. Bevor ein Junge sich nicht bei ihnen vorgestellt hatte, durfte ich nicht mit dem tanzen gehen.» Adelheid verdreht die Augen. «Je später der Abend war, umso besser wurde die Stimmung im Deichgrafen. Einmal waren wir heimlich da. Kannst du dich noch erinnern, Gisela?»

«Und ob. Als wär’s gestern gewesen.» Ein breites Lächeln zieht über ihr Gesicht.

Adelheid nippt an ihrem Weinglas. «Ich seh Lenny noch an der Theke stehen. Enge Jeans, schwarz-rot kariertes Hemd, lange Haare. Verwegener Vollbart. Geheimnisvolles Lächeln. Wenn er Gitarre spielte, hat er die blonden Locken immer geschüttelt, dass sie nach allen Seiten flogen.»

«Hat er sich von Jimi Hendrix abgeguckt. Den Film über Woodstock haben die doch im Deichgrafen sogar als Kinoaufführung gezeigt. Ich weiß gar nicht, wie die das hingekriegt haben», erinnert sich Gisela. «Lauter verrückte Sachen haben die gemacht.»

«Und eine Stimme hatte der.» Adelheid macht einen schwärmerischen Augenaufschlag, den Rosa noch nie bei ihr gesehen hat. «Ja, das waren Zeiten im Deichgrafen …»

«Deichgraf? Da habt ihr ja noch nie von erzählt», nimmt Rosa den Faden auf. «Wo ist der denn?»

«War, muss man wohl eher sagen. Früher war das ein Gasthof am Deichstrich, Richtung Ostbense. Er gehörte den Großeltern von …» Adelheid sieht Gisela fragend an.

«Rainer», antwortet sie wie aus der Pistole geschossen.

«Genau. Der Gasthof war ziemlich runtergekommen und lohnte sich wohl auch nicht mehr, Rainer ist dort mit ein paar anderen eingezogen. Landkommune 1 haben sie sich genannt, weil sie die Ersten hier in der Gegend waren.»

«Und weil der Rainer Langhans in Berlin seiner Kommune den Zusatz Nummer eins gegeben hat und im Deichgrafen auch eine Uschi gewohnt hat», weiß Gisela zu Rosas Überraschung. Überhaupt ist sie gerade verwundert, was die sonst ein wenig bieder wirkende Gisela erzählt.

«Aber so ein alter Gasthof ist doch enorm viel wert, konnten die den so einfach haben?», wundert sich Dörte, die regelmäßig die Immobilienangebote studiert, die bei der Sparkasse ausgehängt sind. Für die kleinste Wohnung muss man in Neuharlingersiel mittlerweile ein Vermögen hinlegen, und auf den Inseln ist es noch schlimmer, hat sie Rosa erst letzte Woche beim Strandspaziergang erzählt.

«Damals bekam man nicht viel dafür. Da wurden auch noch dämliche Ostfriesenwitze erzählt, und alle hielten uns Ostfriesen für rückständig und ein bisschen blöd», sagt Adelheid.

«Stimmt», pflichtet Sigrid ihr bei. «Ich war übrigens auch einmal mit Ludwig im Deichgrafen. Kurz nach unserer Verlobung. Aber Ludwig hat es da nicht gefallen. Das war ihm zu schmuddelig. Und als er all die alten Matratzen auf dem Boden gesehen hat, wollte er gleich wieder weg.» Sigrid kichert. «Der hat gedacht, da fängt gleich ’ne Gruppensexparty an.»

«Dabei war’n das die Sitzplätze», prustet Adelheid los. «Und alte Sessel und Sofas vom Sperrmüll gab es auch. Da haben sich manchmal die Spiralfedern bis in den Po gebohrt.»

«Könnt ihr euch noch an den Persiko erinnern?», fragt Adelheid. Als Gisela und Sigrid nicken, steht sie auf. «Wisst ihr was? Ich hol mal eine Runde.»

Kurz darauf kommt sie mit einem Tablett mit Schnapsgläsern zurück.

«Auf Lenny», sagt Adelheid und hebt ihr Glas.

«Gott hab ihn selig.»

Die Mädels des Häkelbüdel-Clubs kippen den süßen Schnaps in einem Zug runter.

«Der ist ja ganz klebrig.» Dörte fährt sich genüsslich mit der Zunge über die Lippen. «Aber saulecker! Schmeckt nach Marzipan.»

«Stimmt!», sagt Rosa. In diesem Moment klopft der größere der beiden Musiker auf sein Mikrofon. «Moin allerseits. Nu geiht dat los. Auf besonderen Wunsch einer Dame beginnen wir heute anders als sonst. Kein Seemannslied. Dafür …» Ein paar zarte Zupfer auf der Gitarre folgen, dann beginnt er, leise zu singen. «I would have given you all of my heart …»

Gisela und Adelheid sehen sich an und singen schon Augenblicke später lauthals mit: «The first cut is the deepest.» Beim nächsten Refrain fällt die gesamte Tischrunde in den Gesang mit ein, genau wie ein paar andere Gäste an den Nachbartischen.

Als das Lied endet, laufen Adelheid Tränen über die Wangen. «Entschuldigt, dass ich sentimental werde. In mir wallen gerade die Gefühle von damals hoch. Ich hätte wirklich gedacht, dass Lenny mal ganz groß rauskommt. Und ich war ehrlich überrascht, als er plötzlich wieder hier aufgetaucht ist.» Adelheid wischt sich die Tränen mit dem Handrücken weg.

«Ich hab gehört, er hat in Holland in einer Band gespielt», sagt Gisela. «Aber ganz sicher bin ich mir auch nicht mehr. Ist ja alles schon so lange her. Da waren wir ja gerade mal konfirmiert.»

«Ja, damals waren wir jung und knackig. Jetzt sind wir nur noch knackig.» Sigrid dreht sich zur Bedienung um. «Noch eine Runde Persiko.»

SONNTAG

Als ihr Wecker klingelt, drückt Rosa schnell die Schlummertaste und zieht sich die Daunenbettdecke bis an die Nasenspitze hoch. Noch zehn Minuten in der wohligen Wärme weiterduckeln, bevor sie aufsteht und die Eiseskälte ihres Schlafzimmers an sich heranlässt. Über Nacht stellt sie die Heizung hier immer aus und das Fenster auf Kipp. Das soll gut für den Schlaf sein. Davon hat sie heute Nacht nicht viel gemerkt. Der Anblick des toten Lenny Kramer drängt sich ihr ungefragt auf, und in ihrem Inneren zieht sich alles zusammen. Zum Glück haben sie die Gespräche gestern im Dattein auf andere Gedanken gebracht, sie hat sich im Traum schon in Flower-Power-Klamotten in dieser Deichkneipe stehen sehen.

Sie schwingt die Beine aus dem Bett, schnappt sich ihren Bademantel und eilt ins Bad, wo sie in weiser Voraussicht die Heizung höher gestellt hat. Unter der Dusche erwachen ihre Lebensgeister. Der heiße Ingwer-Orange-Tee und die Scheibe des fluffigen Möhrenbrots machen sie endgültig fit für den Tag. Und der hält heute Vormittag eine nette Verabredung für sie bereit. Janko Janßen hat zugesagt, sie auf dem Hof seiner Deichschäferei herumzuführen und ihr allerhand zur Schafzucht zu erklären, nachdem sie ihn kürzlich beim ersten Neuharlingersieler Biikebrennen darauf angesprochen hat, ob es möglich wäre, mit ihrer Klasse die Schäferei zu besichtigen.