Totennacht - Jenny Wood - E-Book

Totennacht E-Book

Jenny Wood

0,0

Beschreibung

Die Ewigkeit kann lang sein, wenn man nicht mehr angebetet wird. Als vergessener, ägyptischer Totengott hat Mafed kein Problem mit dem Sterben, denn der Tod findet den ehemaligen Rechtsmediziner überall. Als Mafed nach New York zurückkehrt, hat sich alles verändert – er, die Stadt und vor allem Detective Ian Barnell. Ein grausamer Serienmörder vergreift sich an jungen Frauen und raubt ihnen die Augen. Um ihn zu stoppen, muss das ungleiche Duo wieder zusammenarbeiten, doch Ian scheint dem Gott nicht mehr zu vertrauen. Mafed kämpft nicht nur mit seinen Gefühlen, einem ambitionierten Staatsanwalt und der Zeit, sondern auch mit Ängsten, von denen er nie zu träumen gewagt hat.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 667

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



TotenNacht
Content Notes
Kapitel 1
1
2
3
4
5
6
Kapitel 2
1
2
3
4
5
6
Kapitel 3
1
2
3
4
5
6
Kapitel 4
1
2
3
4
5
Kapitel 5
1
2
3
4
5
6
Kapitel 6
1
2
3
4
5
6
7
8
Kapitel 7
1
2
3
4
5
6
7
8
Kapitel 8
1
2
3
4
5
6
Kapitel 9
1
2
3
4
5
Kapitel 10
1
2
3
4
5
Kapitel 11
1
2
3
4
5
6
Glossar
Empfehlung für die Lesereihenfolge des Kemet Universums
Über den Verlag

Jenny Wood

TotenNacht

Mafed kehrt zurück

Impressum

Alle Rechte an den abgedruckten Geschichten liegen beim

Art Skript Phantastik Verlag und den Autor*innen.

Copyright © 2023 Art Skript Phantastik Verlag

1. Auflage 2023

Art Skript Phantastik Verlag | Salach

Lektorat » Melanie Vogltanz | www.lektoratvogltanz.wordpress.com

Komplette Gestaltung » Grit Richter | Art Skript Phantastik Verlag

Druck » BookPress | www.bookpress.eu

ISBN » 978-3-949880-03-2

Auch als eBook erhältlich

Der Verlag im Internet » www.artskriptphantastik.de

Alle Privatpersonen und Handlungen sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit realen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Für Sven und Melanie

und alle, die schlaflose Nächte erträglicher machen.

Schlafende und Tote sind nur Gemälde.

Macbeth, 2. Aufzug, 4. Auftritt, Lady Macbeth

William Shakespeare (1564 - 1616)

Content Notes

Die historischen Fakten und Persönlichkeiten in diesem Roman wurden im Sinne der Handlung freier ausgelegt. Ebenfalls erhebt der Roman nicht den Anspruch darauf, in allen historischen oder wissenschaftlichen Aspekten und der Darstellung des amerikanischen Justizsystems korrekt zu sein.

Dieses Buch enthält:

homofeindliche Slurs

Beleidigungen/Mobbing

Nacktheit, einvernehmlicher Sex, Erotik und freiwillige Sexarbeit (explizit), leichter BDSM

Sexueller Übergriff, Vergewaltigung

Essen

Zigaretten

Alkohol, Abhängigkeit, Entzug (explizit)

Erbrechen

Medikamente, Spritzen

Behandlung von Wunden

Erpressung

physische und psychische Gewalt, Mord, Beschreibung von Leichen

Waffen (Schuss- und Stichwaffen, explizit)

Beschreibung von Schmerzen/Strangulation/Schusswunden, Stichwunden

Narben

Krieg

Panikattacken

Albträume

Verlassensängste

Liebeskummer

Selbstzerstörerische Tendenzen

Rache

Bodyhorror (Verwandlung)

(Angst vor) Outing

derbe und ableistische Sprache

Drogen/Rauschzustände

Ertrinken

Bitte achte beim Lesen auf dich und dein Wohlbefinden.

Ein Glossar befindet sich am Ende des Romans.

Hier ist die Spotify Playlist zum Roman.

Kapitel 1

Alles liegt in Scherben

1

New York, vor fast fünf Jahren

Der Central Park roch nach feuchter Erde und frisch geschnittenem Gras. Die Wege wirkten verlassen und der Lärm der Stadt, die niemals schläft, drang nur gedämpft herüber. Irgendwo hinter den Hochhäusern Manhattans kündigte sich der Sonnenaufgang an und tauchte den Himmel in ein zartes Blau.

Mafed war erst vor wenigen Tagen nach New York gezogen und hatte noch keine Zeit gehabt, sich die Stadt genauer anzusehen. Er war nicht zum ersten Mal hier, doch sein letzter Aufenthalt lag schon einige Jahrzehnte zurück. Seitdem hatte sich vieles verändert, aber das Lied der Stadt war immer noch dasselbe und summte in Mafeds Ohren wie Sirenengesang. Allerdings würde er den lockenden Versuchungen des Big Apple erst später nachgeben können. Er war nicht ohne Grund an die Ostküste zurückgekehrt.

Achtlos duckte er sich unter dem gelben Absperrband der Polizei hindurch und näherte sich dem Tatort. Seine Bewegungen wirkten so selbstbewusst, dass sogar der wachhabende Officer nicht daran zu zweifeln schien, dass der Totengott sich hier aufhalten durfte. Und im Prinzip tat er das auch – oder zumindest Doctor Jahi Mafed, die Identität, die er sich für seinen neuen Lebensabschnitt ausgesucht hatte.

Der Schatten einer Baumreihe malte sich gegen das Dämmerlicht ab. Etwas Schweres baumelte von einem der dicken Äste und schwang leicht hin und her, als wäre einer der anwesenden Ermittelnden dagegen gestoßen. Auf den ersten Blick hätte man es für eine große Marionette halten können, die jemand dort aufgehängt hatte. Aber Mafed wusste es besser. Er witterte den süßlichen Geruch von Urin und Schweiß, nur fehlte der Herzschlag.

Trotz mangelnder Lichtquellen erkannten seine scharfen Augen den Leichnam eines Mannes, der an einem dicken Strick hing. Er schätzte den Toten auf Mitte vierzig. Sein Haar war grau meliert. Seine geschlossenen Augen und die entspannten Gesichtszüge hätten ihn friedlich wirken lassen, wäre da nicht dieser ungesunde Teint gewesen. Noch in der Betrachtung versunken, zog Mafed Latexhandschuhe aus seiner Umhängetasche und streifte sie über.

»Wissen wir schon, wer der Mann ist?«, fragte er einen vorbeigehenden Mitarbeiter der Spurensicherung, während er seine Tasche abstellte.

»Nein … Sir«, kam als zögerliche Antwort. »Bisher hat ihn niemand angerührt. Wir warten noch auf die Freigabe durch die Rechtsmedizin.«

»Gut.« Mit einem Wink entließ Mafed den Sterblichen, der nur perplex den Kopf schüttelte und seine Arbeit wieder aufnahm.

Der Unsterbliche schlüpfte aus seiner Jacke, warf sie über seine Tasche und krempelte die Ärmel hoch. Augenblicklich biss die kalte Novemberluft in seine Haut. Mit geübtem Blick musterte er den Baumstamm. Seine Hände fanden wie von selbst Halt in den Rissen der Rinde, sodass er sich langsam hochziehen konnte. Zweimal rutschten die glatten Sohlen seiner Schuhe weg. Elegante Lederstiefletten eigneten sich nicht für ausgedehnte Kletterpartien – aber er konnte auch schlecht als Ägyptische Mau den Baum erklimmen.

Schließlich schwang Mafed sich auf den dicken Ast, der unter dem zusätzlichen Gewicht eines zweiten Körpers protestierend knarrte. Er zog sein Handy aus der Hosentasche und schaltete die Taschenlampe ein. Obwohl er die Lichtquelle nicht benötigte, wollte er die Maskerade aufrecht erhalten und beleuchtete damit den Knoten vor sich. Kritisch beugte er sich vor.

»Hey! Hey, Spiderman!«, erklang ein lauter Ruf. »Shit! Was soll das? Was machen Sie da oben?«

Ungerührt sah Mafed zu der Quelle der Stimme. Am Fuße des Baumes hatte sich ein blonder Hüne aufgebaut, der ihn verärgert musterte. Der Gott schätzte den Sterblichen auf Anfang dreißig, doch das glattrasierte Gesicht machte es schwierig, sicher zu sein. Er trug einen billigen Anzug von der Stange und einen grauen Wollmantel. Die linke Hand hatte er so in die Seite gestemmt, dass Mafed seine Dienstwaffe im Schulterholster erkennen konnte – eine unterschwellige Drohung. In der anderen hielt er eine brennende Zigarette. Damit deutete er auf den Totengott, als dieser nicht antwortete.

»Sind Sie von der Presse? Bewegen Sie sofort Ihren Arsch hier runter!«

»Sie verunreinigen meinen Tatort«, erwiderte Mafed schlicht und wandte sich wieder dem Leichnam zu.

»Ihren … was?«

»Tatort, Officer. Nein, ich präzisiere: Leichenfundort. Ich gehe nicht davon aus, dass die Tat hier stattgefunden hat.«

»Tat? Fundort?« Die Wut in der Stimme wich purer Verwirrung. »Wer zur Hölle sind Sie? Wenn Sie nicht sofort Ihren Arsch –«

»Sie sind auffällig auf mein Hinterteil fixiert.«

»Entschuldigung, aber in der Regel lade ich Journalisten, die sich auf Tatorten rumschleichen, nicht vorher zum Essen –«

»Doctor Mafed?« Eine aufgeregte Frauenstimme unterbrach das Gezanke und ließ beide Männer aufschauen. Eine Frau mit kupferrotem, kinnlangem Haar eilte auf sie zu. Nervös lächelnd blieb sie neben dem fremden Mann stehen und rückte ihre überdimensionale Brille zurecht. »Das ist ja eine schöne Überraschung.«

Der Mann zog an seiner Zigarette und schnaubte unwillig, wobei Rauch aus seiner Nase quoll. »Moment mal. Mafed? Der neue Rechtsmediziner? Dieses angebliche Wunderkind, für das du einen Schrein gebaut hast?«

Unwirsch boxte die Frau dem Polizeibeamten gegen den Oberarm. »Ian!« An Mafed gewandt sprach sie sanfter weiter: »Mein Name ist Doctor Jill Turner. Es ist mir wirklich eine große Ehre, mit Ihnen zu arbeiten. Ich habe alle Ihre Veröffentlichungen gelesen und besonders die über natürliche Mumifizierung hat mich sehr beeindruckt.«

Überrascht zog Mafed die Augenbrauen hoch. Die Sterbliche hatte seine Neugierde geweckt und das gelang nicht vielen Menschen. Doch wie konnte man nicht hellhörig werden, wenn sie ihn lobpreiste wie … nun, einen Gott?

»Ich habe so viele Fragen an Sie«¸ plapperte Doctor Turner weiter. »Wie kamen Sie –«

»Scheiße, Jill. Warum bewirfst du ihn nicht gleich mit deinem Höschen?«, unterbrach sie der Mann grimmig.

Mafed sah, wie die junge Rechtsmedizinerin errötete. »Das ist rein professionelles Interesse«, schnappte sie, doch sie wirkte ertappt. »Du musst nicht gleich eifersüchtig werden.«

»Dann lass uns mal ganz professionell feststellen, dass das hier ein Selbstmord war«, schlug der Mann vor und verdrehte die Augen. »Dann könnt ihr euch zum Flirten in euren Leichenkeller verziehen und ich kann endlich wieder in mein Bett.« Bei seinen letzten Worten folgte sein Blick auffällig einer Brünetten in Kleidung der Spurensicherung.

»Es tut mir leid, Sie enttäuschen zu müssen«, mischte Mafed sich ein. »Aber ich fürchte, wir haben weder für das eine noch das andere Zeit.«

»Was soll das heißen?«, knurrte der Ermittler und schnipste seine Kippe ins Gras.

Mafed unterdrückte einen Seufzer. Er schwang sich von dem Ast und landete geschickt auf dem weichen Boden. Mit bemüht gleichgültigen Bewegungen zog er seine Handschuhe aus und trat auf den Mann zu. »Das soll heißen, dass ich nach aktuellem Informationsstand nicht von Suizid ausgehe.«

»Nach aktuellem Informationsstand«, äffte der andere ihn nach.

Mafed hatte in all den Jahrhunderten lernen müssen, dass es unter den Sterblichen einige mit begrenzter Intelligenz gab. Dieses Exemplar schien diesbezüglich sehr begrenzt zu sein und obendrein furchtbar nervig. Mafed rümpfte die Nase. Er hasste es, mit Idioten arbeiten zu müssen. Trotzdem wollte er es versuchen.

»Wissen Sie, wie hoch die Selbstmordrate in New York ist?«, fragte er.

Der Mann gab erneut einen abfälligen Laut von sich. »Nein, aber ich bin mir sicher, dass Sie es mir sagen werden.«

Mafed setzte ein wissendes Lächeln auf. »Die genaue Zahl ist – um ehrlich zu sein – irrelevant, aber sie liegt deutlich über dem Landesdurchschnitt und das hat einen guten Grund.«

»Über den Sie wahrscheinlich gleich referieren werden«, vermutete der Sterbliche und barg seine Hände in den Manteltaschen. Genervt verlagerte er sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen.

Mafed kam nicht umhin, ihn erneut zu mustern. Der billige Anzug sollte vermutlich Eindruck machen, zeigte aber, dass der Mann sich eigentlich nichts aus Mode machte. Unter dem kalten Zigarettenrauch witterte Mafed ein scharfes Aftershave. Das rasierte Gesicht war markant und die Statur erinnerte den Gott an einen Profisportler. Im Stillen musste Mafed sich eingestehen, dass der Mann durchaus attraktiv war, doch sein Charakter war umso abstoßender.

»Bei vielen der Fälle handelt es sich nicht um New Yorker«, schaltete Jill sich ein. Sie zuckte zusammen, als beide Männer sich ihr zuwandten. »New York hat ein Problem mit Selbstmordtourismus«, fuhr sie leise fort. »Dazu gibt es viele Theorien, aber keine validierte.«

Ungläubig schüttelte der Polizeibeamte den Kopf. »Die Leute reisen extra hierher, um sich umzubringen? Was stimmt mit denen nicht?«

»Sie haben recht«, überging Mafed den Kommentar des Sterblichen und schenkte der Medizinerin ein aufbauendes Lächeln. »Sehr gut, Doctor …?«

»Turner.«

»Turner. Natürlich. Verzeihung.« Mafed reichte ihr die Hand, die sie sichtbar stolz schüttelte.

»Okay, fein. Ihr seid beide wandelnde Klugscheißer«, bemerkte der Mann und deutete harsch auf die baumelnde Leiche. »Aber das alles beweist doch nur, dass es Selbstmord war.«

Mafed straffte die Schultern und blickte herausfordernd zu dem anderen hinauf, der ihn um einen Kopf überragte. Davon ließ er sich nicht einschüchtern. In der modernen Zeit waren die meisten Menschen größer als er. »Das waren bloß statistische Fakten. Ich kann nachvollziehen, wenn man diese unüberlegt hinnimmt.«

Die Miene des Mannes verfinsterte sich. »Haben Sie mich gerade dumm genannt?«

»Ich sage, dass die wirklichen Beweise auf etwas anderes hindeuten«, erwiderte Mafed kühl. »Der Hals des Opfers weist eine unverhältnismäßig tiefe Strangfurche auf, die darauf schließen lässt, dass er durch dritte Hand hochgezogen wurde. Verschmutzungen an Händen und Kleidung vom Klettern fehlen. Und die Abriebspuren des Seils verlaufen in die entgegengesetzte Richtung. Zur Zyanose kann ich noch nichts Genaues sagen. Aber für mich sieht alles nach Situationsfehlern aus. Jemand wollte, dass es wie Selbstmord wirkt.« Der Totengott verschränkte die Arme vor der Brust. »Wenn Sie eine zweite Meinung wünschen, ich bin mir sicher, Doctor Turner kommt zum selben Schluss. Es handelt sich um Fremdeinwirkung.«

Beinahe hilfesuchend sah der Ermittler zu der Rechtmedizinerin, die nur entschuldigend die Schultern hochzog. »Fuck!«, entwich es ihm. »Das bedeutet Papierkram.«

Nun war es Mafed, der bitter dreinschaute. »Das bedeutet vor allem Ermittlungsarbeit, aber von der scheinen Sie Frischling ja nichts zu verstehen.« Der Sterbliche wollte aufbrausen, doch Mafed redete unbeeindruckt weiter. »Anstatt hier zu lamentieren und den Tatort mit Ihren fürchterlichen Glimmstängeln zu manipulieren, sollten Sie lieber Ihren Job machen, Officer.«

Drohend zog der Sterbliche die Augenbrauen zusammen und trat auf ihn zu. Er hob einen Zeigefinger und stieß Mafed damit gegen die Brust. »Vorsicht, Totendoc. Es heißt Detective. Detective Ian Barnell. Und meine Tante ist Lieutenant vom dreizehnten Revier.«

Mafed schnalzte abwertend mit der Zunge. Mit nur einem Satz hatte Detective Ian Barnell ihm bewiesen, aus was für einem fauligen Holz er geschnitzt war. »Und wenn sie die Commissioner wäre, es würde mich nicht beeindrucken. Aber wenn Sie wollen, können wir dieses Gespräch gerne in ihrem Büro weiterführen. Es interessiert sie bestimmt brennend.«

Barnell erstarrte. Wut flackerte in seinen Augen, die in der Dunkelheit fast schwarz wirkten. Zornig presste er die Kiefer aufeinander. Mafed fürchtete bereits, dass er den Bogen überspannt hatte, als der Detective sich mit schmalen Augen vorbeugte.

»Hör zu, Lackaffe, ich scheiß auf deinen Doktortitel und deine Veröffentlichungen. Hier bin ich der leitende Ermittler. Das ist mein Fall und mein Tatort. Dieses großspurige Gelaber kannst du dir sparen und beeindruckt niemanden.«

Doctor Turner räusperte sich protestierend.

»Ich habe doch noch gar nicht angefangen«, konterte Mafed. »Und ich kann mich nicht daran erinnern, Ihnen das Du angeboten zu haben. Aber wahrscheinlich sind Sie durch solche Unverschämtheiten an Ihre Position gekommen und nicht durch Ihre Fähigkeiten.«

Barnell verzog sein Gesicht zu einer hasserfüllten Fratze. »Ich zeig Ihnen gleich mal, wozu ich fähig bin, und ertränke Sie im Hudson!«

»Ian!«, zischte Jill mahnend. Rasch schob sich die Frau zwischen die beiden Männer.

Mafed entging nicht, wie Barnell sich anspannte. Plötzlich atmete er tief durch und trat einen Schritt zurück. Er stoppte einen Officer in Uniform. »Lassen Sie den Park abriegeln«, instruierte er ihn scharf. »Keiner darf hinein oder hinaus, bis die Ermittlungen hier abgeschlossen sind. Nehmen Sie alle Personalien auf. Zahlen Sie den Junkies einen Kaffee. Vielleicht haben sie was gesehen. Und besorgen Sie die Aufnahmen der Überwachungskameras um den Park herum. Sprechen Sie deswegen mit Anna Harper.« Er deutete auf die Brünette, die Mafed zuvor schon aufgefallen war.

Einen Atemzug starrte der Officer den Detective sprachlos an. Dann blinzelte er und straffte sich. »Ja, Sir. Sofort, Sir.« Hektisch lief er davon, um seinen Auftrag auszuführen.

Mit versteinerter Miene wandte Barnell sich an Mafed. »Ich kann meinen Job. Und jetzt erledigen Sie Ihren, Totendoc.«

Mafed hielt dem Blick regungslos stand. Schließlich nickte er. »Sehr wohl, Detective.«

»Und Sie sollten hoffen, dass Sie sich nicht irren. Sonst sehen wir uns wirklich im Büro der Lieutenant.«

Überheblich verzog Mafed die Lippen zu einem Grinsen. »Keine Sorge. Ich irre mich nie.«

Ohne eine Antwort abzuwarten, ging der Unsterbliche zu seiner Tasche, hob sie auf und verließ seinen ersten Tatort in New York. Er hatte das Gefühl, die Stadt und ihre Menschen würden einen bleibenden Eindruck hinterlassen.

2

New York, heute

Die Lichter Manhattans spiegelten sich in der Glasfront des Apartments und tauchten das Schlafzimmer in schwaches Licht. Der Mond versteckte sich hinter den trägen Schleierwolken. Zwischen den Häusern erkannte Mafed das schimmernde Band des East River.

Der Totengott stand vor den bodentiefen Fenstern und war ganz in den Anblick der Stadt versunken – seiner Stadt, New York. Der Schoß der Metropole hatte ihn direkt wieder aufgenommen wie einen vermissten Sohn. New York summte vor Macht, Energie und Leben. Ein Glanz, der – in Mafeds Augen – selbst Deshret in den Schatten stellte. Er spürte die Kraft, die von den Menschen ausging, sog sie in sich auf, labte sich daran. Selbst für seinen Geschmack hatte er in den letzten Wochen zu viel mit dem Tod zu tun gehabt.

Er trug nur ein Handtuch um die Hüfte gewickelt und nippte gelegentlich an einem Glas Whiskey. Einzig das Rauschen des Wassers aus dem angrenzenden Badezimmer und das Hupen eines genervten Taxifahrers, das von der Straße weit unter ihm ertönte, zerschnitt die Stille.

Mafed hatte geglaubt, es würde ihm schwerer fallen, die Schönheit der Stadt wiederzuerkennen. Tatsächlich war ein Teil seines Herzens irgendwo zwischen den Hochhäusern und dem Hudson River verloren gegangen. Ob Las Vegas eine ähnliche Faszination auf ihn gehabt hätte? Ob er dort eine neue Heimat gefunden hätte? In all den Wochen hatte er es nie geschafft, sich die Sin City genauer anzusehen. Seth und ein paar Leichen hatten ihn viel zu sehr auf Trab gehalten.

Seth.

Mafeds Blick huschte zu der LED-Anzeige seines Weckers. Wenn er die Zeitverschiebung rausrechnete, war ihre Verabschiedung am Heliopolis noch nicht einmal zwölf Stunden her. Es kam ihm vor wie ein anderes Leben.

Zögernd legte er eine Hand auf das kalte Glas und blickte zum Mond. Die Lichtverschmutzung schluckte Nuts Glanz und ließ keinen Stern erahnen.

Man könnte meinen, wir würden noch nicht mal denselben Himmel sehen können.

Mafed seufzte und lehnte seine Stirn ebenfalls an das Glas.

»Du elender Idiot«, murmelte er und wusste noch nicht mal, wen genau er eigentlich meinte.

Seth?

Der Chaosgott hatte Mafed fortgeschickt, ohne mit der Wimper zu zucken. Er hatte gewusst, dass der Totengott gehen musste, gar keine Wahl hatte. Trotzdem schien ihm der Abschied leichter gefallen zu sein. Ob Seth noch in Nevada war? Er hatte selbst eine Aufgabe zu erledigen und deutlich gemacht, dass er den anderen Gott nicht dabeihaben wollte. Dabei hätte Mafed seine linke Pfote darauf verwettet, dass der Herr von Ombos innerhalb der nächsten drei Tage wieder in Schwierigkeiten stecken würde.

Ian Barnell?

Jill hatte bei ihrem Gespräch im Heliopolis mehr als deutlich gemacht, dass der Detective sich seit Mafeds Verschwinden verändert hatte. Wie genau diese Veränderung aussah, hatte sie nicht verraten und sich auch während des Fluges nichts dazu entlocken lassen. Mafed wusste nur, dass ein Serienkiller in der Stadt unterwegs war und dass Ians Karriere davon abhing, dieses Monster zu fangen. Jill hatte sich nicht anders zu helfen gewusst und den Rechtsmediziner aufgesucht, um ihn um Hilfe zu bitten.

Sich selbst?

Ja, am Ende war er der größte Idiot von allen. Anstatt das Land zu verlassen und New York, Barnell und sogar Seth hinter sich zu lassen, um irgendwo neu anzufangen, weit weg von Göttern, Verpflichtungen und Emotionen, stand er in seinem alten Apartment und machte sich Sorgen um zwei Männer, bei denen er noch nicht einmal wusste, ob sie ihn überhaupt in ihrem Leben haben wollten.

Später, hallte Seths Stimme durch Mafeds Kopf und entlockte ihm ein frustriertes Schnauben. Sein Blick huschte zu seinem Smartphone, das auf dem Nachttisch lag. Zu gern hätte er Seths Nummer gewählt, seine Stimme gehört. Nur kurz. Nur ein Was treibst du?, Wie geht es dir? und ein Pass auf dich auf. Doch er selbst hatte darauf hingewiesen, wie gefährlich es war, wenn sie Kontakt hielten. Seth war offiziell bei einem Brand im Gefängnis gestorben. Und so sollte es auch vorerst bleiben.

Als die Badezimmertür leise knarrte, richtete Mafed sich auf und blickte wieder auf die Lichter der Stadt. Nackte Füße huschten über den dicken Teppich, hielten erst ganz nah hinter ihm. Selbst, als sich schlanke Finger auf seine Seiten legten und langsam zu seinem Bauch wanderten, regte der Gott sich nicht. Der warme Körper einer Frau schmiegte sich von hinten an ihn. Sie stützte ihr Kinn auf Mafeds Schulter.

»Der Ausblick ist atemberaubend.«

Wortlos leerte der Totengott sein Glas.

Die Fingerspitzen tanzten über seine Brust, zeichneten die Bauchmuskeln nach und griffen nach dem Handtuch, das er um seine Hüfte geschlungen hatte.

»Also, Doctor, wo waren wir stehen geblieben?«

»Du kannst gehen.«

Die Finger hielten überrascht inne. »Was?«

»Dein Geld liegt auf der Kommode. Ich brauche dich nicht mehr.«

Verunsichert trat die junge Frau neben ihn. Mafed sah aus dem Augenwinkel zu ihr. Wie war noch ihr Name? Irgendeine Abkürzung. Lyn? Ihr blondes, fast weißes Haar fiel ihr bis zu den ausladenden Hüften. Außer einem silbernen Reif am Handgelenk trug sie nichts. Im dämmrigen Licht wirkten ihre Augen grau. Zögernd musterte sie ihren Freier.

»Ich dachte eigentlich, es hätte dir gefallen. Du hast mich für die ganze Nacht gebucht.«

Ein Lächeln huschte über Mafeds Züge. »Dann sei doch einfach froh, dass du den kompletten Betrag für ein paar Stunden Arbeit bekommst. Nimm das Geld und genieß deinen freien Abend.« Mit einem Nicken deutete er auf das kleine Bündel Geldscheine, das auf dem Schränkchen lag.

»Okay … Ganz wie du willst.« Lyn räusperte sich, sah sich kurz in dem Zimmer um und begann ihre Sachen zusammenzusuchen, um sich anzuziehen. Mafed beachtete sie kaum und sah weiter aus dem Fenster. Dabei drehte er nachdenklich das Glas in der Hand, sodass die Eiswürfel leise klirrten.

Es vergingen ein paar Minuten, bis die Prostituierte sich angekleidet hatte. Dann trat sie erneut neben Mafed und strich sich das schwarze Minikleid glatt.

»Also …«, begann sie zögernd, lächelte charmant und verschränkte ihre Finger mit Mafeds freier Hand. »Du bist dir sicher? Letzte Chance.«

Der Totengott erwiderte das Lächeln, zog die junge Frau zu sich und hauchte ihr einen Kuss auf die Wange. »Danke, ich bin mir verdammt sicher.«

Fast schon enttäuscht zog Lyn die Schultern hoch. »Na gut, falls du mich noch mal benötigst … meine Nummer hast du ja.«

»Ich denke nicht«, kommentierte Mafed. »Aufgewärmtes schmeckt nicht.«

Die Miene der Prostituierten verfinsterte sich. Ruckartig ließ sie Mafed los. »Wichser!«

Amüsiert zog Mafed eine Augenbraue hoch. »Ich denke, du findest allein raus.«

Die Sterbliche schnaubte empört, ehe sie sich abwandte, Geld und Handtasche an sich nahm und fluchtartig das Schlafzimmer verließ. Mafed hörte ihre Absätze auf der Treppe, quer durchs Wohnzimmer und schließlich flog mit einem lauten Knall die Wohnungstür zu.

Das Lächeln auf Mafeds Lippen erstarb. Seine Hand schloss sich fester um das Glas, drückte zu. Klirrend barst es in unzählige Scherben, die in Mafeds Haut schnitten. Er öffnete die Finger, ließ die Bruchstücke achtlos zu Boden fallen und besah sich die Hand.

Können Götter bluten, Mafed?

Wenn Hatschepsut gewusst hätte, wie sehr sie ihn in den letzten Monaten hatte bluten lassen, sie wäre zufrieden mit ihrer Rache gewesen.

Der Totengott schloss die Augen. Mit tiefen Atemzügen zwang er seinen rasenden Verstand zur Ruhe. Etwas war anders seit seiner Rückkehr und er war sich noch nicht sicher, ob das etwas Gutes war.

Als er wieder aufsah, hatten sich die Schnitte bereits geschlossen.

Wenn ich nur alle Wunden so schnell heilen könnte.

Er warf einen letzten Blick auf Manhattan, ehe er sich abwandte.

Es war an der Zeit, dass Doctor Jahi Mafed die Scherben beseitigte, die er verursacht hatte.

3

Obwohl sich der sterile Geruch, das kalte Licht der Neonröhren und das Surren der Laborgeräte kaum von früher unterschied, überkam Mafed Beklemmung, als er in der Tür zum Flur der Rechtsmedizin des NYPD stand. Der Besucherausweis an seiner Brust wog schwer. Langsam beschlich ihn das Gefühl, dass er einen Fehler beging. Er hätte niemals zurückkehren sollen.

Nach dem Intermezzo mit der Sexworkerin hatte er nur unruhigen Schlaf gefunden. Sein eigenes Bett kam ihm fremd – und vor allem leer – vor. Er wollte es sich nicht eingestehen, aber sein besonderes Nachtlicht in Form von Seths Heka fehlte ihm. So war Mafed früh aufgestanden, um sich zeitig mit Jill besprechen zu können. Er hatte gehofft, die Ablenkung würde helfen.

Bereits im Treppenhaus hatten ihn alte Kollegen und Mitarbeiterinnen erkannt, begrüßt und oberflächlichen Smalltalk ausgetauscht. Jill musste gespürt haben, wie unangenehm ihm die Situation war, und hatte ihn immer wieder daraus befreit, indem sie auf die Dringlichkeit ihrer Aufgabe hinwies. Trotzdem würde es wohl nur Minuten dauern, bis Ian erfuhr, dass der Totengott im Gebäude war. Schlechte Nachrichten verbreiteten sich schnell unter den Sterblichen.

»Kommen Sie?« Jills Frage riss Mafed aus seinen Gedanken.

Erst jetzt bemerkte er, dass er immer noch mitten im Gang stand und sich kein Stück mehr bewegt hatte.

Seine ehemalige Assistentin wartete an der Tür zum Labor und musterte ihn mit zusammengezogenen Augenbrauen. »Sie sehen aus, als würde ich Sie zum Schafott begleiten«, stellte Jill fest. Er wusste, dass die Neugierde darüber, was vorgefallen war, sie innerlich auffraß. Er wusste aber auch, dass sie nicht fragen würde, und dafür schätzte er sie sehr.

Mafed zwang sich zu einem aufmunternden Lächeln. »Ich hatte mit dem hier abgeschlossen. Es ist eigenartig, wieder hier zu sein.«

Jill lächelte ebenfalls und zog die Schultern leicht hoch. »Ich freue mich auf jeden Fall, dass Sie wieder hier sind.« Sie stieß die Tür auf und verschwand im Labor.

Da sind Sie wohl die Einzige.

Erst nach einem tiefen Atemzug wagte der Totengott es, der jungen Frau zu folgen. Zu seiner großen Überraschung hatte sich in seiner Abwesenheit kaum etwas verändert. Oder doch? Es waren Kleinigkeiten, die Mafed erst auf den zweiten Blick auffielen.

Auf dem Aktenschrank neben der Tür stand eine Vase mit hübschen Kunstblumen in gedeckten Farben. Am Rand der Scheibe zum Autopsiesaal klebte eine Postkarte mit der Aufschrift Bevor ich mich aufrege, ist es mir lieber egal und auf der schmalen Ablage vor dem Fenster saß eine kleine Bastet-Statue und schaute in den anliegenden Raum.

Verblüfft trat Mafed näher und nahm die Büste in die Hände. Ein Kribbeln breitete sich auf seiner Haut aus. Magie haftete immer noch jedem Götterbild an, obwohl es nur noch ein Bruchteil dessen war, wozu sie einst fähig gewesen waren. Mit der Rückkehr der Großen kehrte auch ihr Heka zurück in diese Welt. Seths grimmiges Gesicht kam ihm in den Sinn und brachte ihn zum Schmunzeln. Er hätte einfach in der Wüste bleiben sollen.

»Oh.« Jill trat aus dem angrenzenden Büro und strich sich mit einem entschuldigenden Lächeln das Haar zurück. »Verzeihung, ich weiß, dass Sie keinen Kitsch an Ihrem Arbeitsplatz mögen. Ich räum sie gleich weg.« Mit ausgestreckter Hand ging sie auf Mafed zu.

Dieser schüttelte den Kopf und unterdrückte den Impuls, sich die Figur an die Brust zu drücken. »Nein, bitte. Es ist Ihr Arbeitsplatz. Und irgendwie gefällt sie mir.«

Erleichterung funkelte in Jills Augen. »Tatsächlich? Soll ich Ihnen mal was verraten? Ich habe die Figur nur gekauft, weil sie mich irgendwie an Sie erinnerte. Wenn sie hier steht, habe ich bei jeder Autopsie das Gefühl, dass Sie mir helfen.« Ertappt hob sie die Hand an die Lippen, als wollte sie die gesagten Worte wieder einfangen. Sie wusste, wie ungern er über emotionale Themen sprach, und diese Eröffnung ließ ihre Wangen glühen.

Krallen gruben sich in Mafeds Herz. Er hatte sich stets selbst bemitleidet, als er New York den Rücken gekehrt hatte. All die Dinge, die er zurücklassen musste. All das, was für ihn verloren schien. Aber dass er bei anderen ein Loch hinterlassen würde, dass Menschen ihn vermissten, daran hatte er nie gedacht.

Er schluckte gegen die Trockenheit in seinem Mund an. Ihm entging nicht, wie seine Hand zitterte, als er Bastet zurück an ihren Platz stellte. »Jill … ich …«

»Schon gut«, unterbrach ihn die Sterbliche. »Ich koche uns erst mal einen Kaffee. Wie klingt das?«

Mafed nickte nur und dankte ihr stumm für so viel Verständnis.

Erneut verschwand Jill im Büro nebenan. Er hörte, wie Porzellan klirrte und das Gluckern von Wasser. Während er wartete, fiel sein Blick auf zwei Fallakten, die vor ihm auf dem Labortisch lagen. Da er nie gut im Warten gewesen war, griff er nach der ersten und schlug sie auf. Tatortfotos rutschten ihm entgegen und er fing sie geschickt auf.

Die Bilder zeigten eine Seitengasse, wie es sie zu Hunderten in Manhattan gab, inklusive großer Mülltonne. Eine von ihnen stand offen und gab den Blick auf die blasse Leiche einer Frau frei. Aus leeren, blutverschmierten Augenhöhlen starrte sie ihm entgegen. An ihrem Hals malten sich deutliche Würgemale ab. Sie trug ein dunkelblaues Abendkleid und schwarze Stilettos. Mafed entdeckte Ringe und Armbänder an ihren Händen, außerdem eine passende Clutch im Müll – das machte einen Raub unwahrscheinlich.

Plötzlich stellten sich Mafeds Nackenhaare alarmiert auf. Jemand kam den Flur entlang direkt zur Rechtsmedizin. Er konnte die Schritte deutlich durch die angelehnte Tür hören – und er wusste direkt, zu wem sie gehörten. Sein Körper verkrampfte sich. Die Magie zog an seinen Knochen. Es wäre so leicht gewesen, sich in eine Katze zu verwandeln und zu verschwinden. Doch er hatte Jills Blick nicht vergessen, als sie ihn gebeten hatte, zurück nach New York zu kommen. Die Situation war ernst und er musste sich ihr stellen.

Als er den Luftzug der Tür spürte und das erschrockene Einatmen vernahm, wandte er sich um und sah langsam von der Akte auf.

Im Türrahmen stand Detective Ian Barnell – oder zumindest ein Schatten von ihm. Im Gegensatz zu allem anderen hatte er sich deutlich verändert. Sonst kannte Mafed ihn ordentlich rasiert, in einem mittelpreisigen Anzug und mit schiefem Lächeln auf den Lippen. Jetzt lagen tiefe Ringe unter seinen Augen. Er trug eine zerschlissene Jeans und ein enganliegendes, schwarzes Shirt, das seine breiten Schultern betonte. Die Kleidung war zerknittert, die Sneaker verstaubt, das blonde Haar zerzaust. Seine Lippen kniff er zu einem verbitterten Strich zusammen. Der Drei-Tage-Bart allerdings stand ihm, wie Mafed sich eingestehen musste, weil er sein Gesicht markanter machte. Jedoch konnte er nicht die eingefallenen Wangen vertuschen. Mafed witterte den Geruch von Zigaretten, Aftershave und Alkohol.

Er musste seine jahrhundertealte Beherrschung zusammenkratzen, um den Detective nicht erschrocken anzustarren. Der Anblick versetzte ihm einen Schrecken. Stattdessen bemühte er sich um ein hoffnungsvolles Lächeln. »Ian.«

»Was tust du hier?«, zischte Barnell. In jeder Silbe rangen Wut und Hass um die Vorherrschaft. Seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, als traute er ihnen nicht.

Der Totengott klappte die Akte zu und leckte sich nervös über die Lippen. Sofort glaubte er, den Kuss zu schmecken, den er Barnell gestohlen hatte, bevor er New York verlassen hatte, und spürte ein Flattern im Bauch. Nie zuvor hatte ihn die Anwesenheit eines Sterblichen so aus der Fassung gebracht. Die Gedanken in seinem Kopf überschlugen sich. Es gab so viele Dinge, die er sagen wollte. So viel, das all die Monate unausgesprochen gewesen war und nun wie eine unüberwindbare Mauer zwischen ihnen stand. Mafed war froh, sich an der Akte festhalten zu können, um so das Zittern seiner Hände zu verbergen.

Dummer, alter Gott, schalt er sich selbst.

Ungeduldig zog der Detective eine Augenbraue hoch und reckte das Kinn. Gerade als Mafed den Mund aufmachen wollte, riss Barnell abwehrend die Hände hoch. »Wissen Sie was, ich will es gar nicht wissen. Ich will nur, dass Sie schleunigst wieder verschwinden, Doctor.« Er trat zur Seite, um den Ausgang freizumachen. Dabei starrte er angespannt auf die gegenüberliegende Wand.

Mafed entging die plötzliche formelle Anrede nicht. Die Worte versetzten ihm einen Stich. Vor wenigen Monaten hatte Ian noch Wert auf das Du gelegt, wollte Mafed näher kennenlernen. Dieser Wunsch schien verblichen zu sein. Er hatte geahnt, dass Barnell nicht begeistert sein würde, aber mit so viel Ablehnung hatte er nicht gerechnet. »Ian … ich …«

Ein verachtender Blick traf den Gott und brachte ihn augenblicklich wieder zum Verstummen.

»Was denken Sie sich eigentlich?«, fuhr Barnell ihn an und trat einen Schritt auf ihn zu. »Was fällt Ihnen ein, hier einfach so wieder aufzutauchen, als wäre nichts gewesen?«

»Ich habe ihn drum gebeten.« Jill kam aus dem Büro und hielt zwei Kaffeetassen in den Händen. Mit gerunzelter Stirn betrachtete sie die Szene, schien zu ahnen, dass mehr im Argen lag, als sie zuvor gedacht hatte. Doch statt nachzuhaken, beließ sie es bei einem mahnenden Blick.

Langsam ging sie zu Mafed, reichte ihm eine Tasse und bot Barnell die zweite an, der mit einem Kopfschütteln ablehnte. »Ian, wir brauchen seine Hilfe«, erklärte sie mit Nachdruck und nippte dann selbst an dem Getränk.

Der Angesprochene schnaubte abfällig und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich komme sehr gut allein zurecht.«

»Niemand behauptet das Gegenteil.« Jills Miene strafte ihre Worte Lügen und Mafed musste ihr zustimmen. Ian wirkte fahrig, sein Blick war unruhig und blutunterlaufen. Eine dunkle Befürchtung beschlich Mafed.

»Warum ist er dann hier?« Der Detective schien Mafed ignorieren zu wollen und das Gespräch lieber mit Jill zu führen.

»Ich dachte, seine Expertise könnte uns weiterhelfen. Er hat einen unvoreingenommenen Blick und kann sich die Leichen noch mal ansehen.« Während sie sprach, funkelte sie Barnell herausfordernd an. Sie würde auf alle seine Vorwürfe eine Antwort haben. Wahrscheinlich hatte sie sich tagelang auf diese Konfrontation vorbereitet und alles zurechtgelegt.

»Du hättest auch einfach Miller fragen können«, knurrte der Detective und deutete über seine Schulter auf den zweiten Autopsieraum, in dem ein anderes Team arbeitete.

»Warum sollte ich mich mit Miller zufriedengeben, wenn ich den Besten haben kann?«, konterte Jill und nahm mit klimpernden Wimpern einen großen Schluck Kaffee.

Mafeds Mundwinkel zuckten, doch er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Jedes Wort von ihm würde die Situation nur verschlimmern. Er erkannte, dass Barnell sich noch nicht geschlagen gab.

»Aber er arbeitet nicht mehr fürs NYPD. Berichte und Beweisstücke sind unzugänglich für ihn.« Als hätte er damit seinen besten Trumpf ausgespielt, sah Ian überlegen auf Jill hinab.

Die Medizinerin wirkte nicht beeindruckt und stellte ihre Tasse ab. »Darum habe ich mich schon gekümmert. Ich habe einen Antrag gestellt, Doctor Mafed kurzfristig als Berater einzustellen. Er liegt bereits der Lieutenant vor.«

Ratlos ließ Ian die Schultern sinken. Jill hatte wirklich an alles gedacht.

Mit einem herzlichen Lächeln sah die junge Frau von Barnell zu Mafed und wieder zurück. Ihr Blick blieb dabei unnachgiebig. »Hören Sie, ich habe keine Ahnung, was hier vorgefallen ist, aber da draußen rennt ein wahnsinniger Killer rum. Und Sie beide sind die beste Chance, ihn zu kriegen. Also reißen Sie sich zusammen.«

Ians Widerstand geriet ins Wanken. Mafed konnte sehen, wie es hinter seiner Stirn arbeitete.

Der Totengott räusperte sich leise, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. »Bitte, ich will helfen. Hier sterben Menschen. Danach verschwinde ich wieder aus der Stadt.«

Irritiert sah Ian zu ihm. Nun hatten sie ihm endgültig den Wind aus den Segeln genommen. Geschlagen ließ er die Arme sinken. »Also gut, wenn du hier unten Hilfe vom Doc brauchst, von mir aus. Aber belästige mich nicht damit. Ich will nichts mit ihm zu tun haben«, wandte er sich an Jill. Er warf Mafed einen letzten finsteren Blick zu, ehe er sich abwandte und Anstalten machte, das Labor zu verlassen. »Falls du was Neues hast, erreichst du mich auf dem Handy, Jill.«

Mit Schwung schloss er die Tür hinter sich, sodass Mafed und Jill zusammenzuckten.

»Ein wahrer Sonnenschein«, stellte Mafed fest und seufzte. In Wahrheit musste er sich zusammenreißen, dem Detective nicht hinterher zu rennen.

Jill schob ihre Brille ins Haar und kniff sich in die Nasenwurzel. »So ist er, seit Sie weg sind. Es gibt bessere und schlechtere Tage.«

»Schlechtere?«, hakte Mafed nach und nahm endlich einen Schluck von dem mittlerweile erkalteten Kaffee. Angewidert verzog er das Gesicht und stellte die Tasse eilig wieder weg. Dieses Gebräu hatte er definitiv nicht vermisst.

»Er war heute immerhin halbwegs nüchtern«, wandte Jill ein.

Darauf fiel Mafed ausnahmsweise mal nichts ein. Allerdings hatte er es bereits befürchtet, nachdem er den Alkohol gewittert hatte. Er würde mit Barnell sprechen müssen – unter vier Augen. Aber zuerst sollte der Detective verkraften, dass der Totengott wieder in der Stadt war.

Er bemerkte, wie Jill unruhig von einem Fuß auf den anderen trat. Mehrfach setzte sie dazu an, etwas zu sagen, schüttelte dann aber schließlich nur den Kopf.

»Spucken Sie es schon aus«, forderte Mafed sie auf und lehnte sich gegen den Labortisch.

Ein schüchternes Lächeln huschte über Jills Züge. »Ich weiß, es ist nicht Ihre Art, so was«, sie machte eine vage Geste in Richtung der Tür, »mit mir zu besprechen. Aber falls doch, dann …« Unschlüssig zog sie die Schultern hoch.

Mafed dachte über das Angebot nach. Es wäre schön gewesen, wenn er sich jemandem anvertrauen, seine Gedanken aussprechen und sortieren könnte. Doch dann schüttelte er den Kopf. Das war ein Problem zwischen Ian und ihm und irgendwie würde er das gelöst bekommen.

»Also …« Mafed räusperte sich und hob die Fallakte hoch. »Bringen Sie mich auf Stand.«

4

Jill öffnete eines der in die Wand eingelassenen Kühlfächer und zog die sich darin befindende Liege heraus. Auf dem kalten Metall lag eine schwarze Frau. Jill hatte sie mit einem weißen Tuch abgedeckt und für einen flüchtigen Moment hätte man glauben können, die Fremde würde nur schlafen. Doch schon auf den zweiten Blick erkannte Mafeds geschultes Auge die Würgemale am Hals, die kleinen Blutungen im Gesicht und die eingefallenen Augenlider.

Zola Mutobe, weiblich, achtundzwanzig Jahre alt, entnahm Mafed der Akte. Ihr Tod und die erste Autopsie lagen bereits fünf Tage zurück. Unmittelbar danach musste Jill sich auf den Weg nach Nevada gemacht haben, um Mafed um Hilfe zu bitten.

Mit einem Räuspern schlug er die Akte zu. »Also, was haben wir?«

»Drei Opfer, ähnliches Vorgehen«, erklärte seine Assistentin in professionellem Tonfall. »Der Modus Operandi war eindeutig, sodass wir schnell eine Verbindung zwischen den Opfern herstellen konnten. Alle Frauen zwischen Mitte und Ende zwanzig, gutaussehend, finanziell gut aufgestellt.«

»Hat er einen Typ?«

Jill schüttelte den Kopf. »Zumindest nicht optisch. Wir haben eine Afroamerikanerin, eine Weiße und eine Latina.«

Nachdenklich nickte Mafed. Es war untypisch für einen Serientäter, dass er keine Präferenzen hatte. Irgendwas mussten die Frauen gemeinsam haben, außer ihrem Geschlecht und einem hübschen Äußeren.

»Wo wurden sie gefunden?« Die Informationen befanden sich alle in der Akte, doch Mafed wollte sie lieber von Jill hören.

»Alle drei in Müllcontainern verteilt in Manhattan. Zwei in der Lower Eastside. Eine in Greenwich.«

»Er wechselt sein Revier«, murmelte Mafed und strich sich nachdenklich über den Bart.

»Wahrscheinlich versucht er so, seine Spuren zu verwischen«, merkte Jill an. »Aber solange er in Manhattan bleibt, werden wir darauf aufmerksam.«

Mafed nickte. »Nolen sollte trotzdem die anderen Bezirke informieren. Besonders Staten Island, vielleicht auch New Jersey. Wenn er weitere Wege in Kauf nimmt, um an seine Opfer zu kommen, könnten sie uns entgehen.« Routiniert zog er Latexhandschuhe aus einer Box und streifte sie über. Mit großer Vorsicht strich er das Haar des Opfers beiseite und besah sich die Würgemale. »Gab es zu der Vorgehensweise etwas in der Datenbank? Exenteration der Augäpfel ist ein sehr spezielles Muster. Das müsste auffallen.«

Jill schüttelte den Kopf. »Unsere gab nichts her und das FBI konnten wir noch nicht anzapfen. Nolen bemüht sich, die Firma hier rauszulassen.«

»Weil es Ian auf die Füße fallen könnte?«

»Weil es ihr auf die Füße fallen könnte«, verbesserte Jill. »Die Zahlen des Dezernates sind immer noch hervorragend. Trotz Ihres Weggangs.«

Mafed hob den Blick. Der Vorwurf in den Worten war ihm nicht entgangen. Doch Jill fixierte konzentriert ein Tablet in ihren Händen und schien nicht weiter darauf eingehen zu wollen.

»Wie lang liegen die Morde auseinander?«, kam Mafed auf den Fall zurück. Ganz automatisch griff er nach der Hand der Toten, hob sie an und überprüfte die Finger auf Abwehrverletzungen.

»Zwischen den ersten beiden lagen sechs Tage. Zwischen Nummer zwei und drei hingegen fünf«, antwortete Jill.

»Wenn er das Tempo beibehält, müssten wir also bald das vierte Opfer auf dem Tisch haben«, folgerte Mafed. »Allerdings würde ich ungern darauf warten wollen.« Er strich sich mit dem Handrücken die Haare aus der Stirn. »Jill, ich vertraue Ihrer Arbeit. Sie sind gründlich und kompetent.«

»Aber Sie wollen sich selbst einen Eindruck verschaffen«, riet Jill und klemmte sich schmunzelnd das Tablet unter den Arm.

Mafed nickte.

»Dann schneiden wir sie eben noch mal auf.«

Bevor Mafed etwas erwidern konnte, wurden sie vom Klingeln eines Telefons unterbrochen. Jill bedeutete ihm mit einem Wink, zu warten und ging zu dem Apparat, der im Labor stand. Währenddessen zog Mafed die Trage ganz aus dem Fach, um die Leiche für die Umlagerung vorzubereiten.

»Rechtsmedizin, Doctor Turner«, hörte er die Sterbliche im anliegenden Raum. »Ja, Ma’am. Ja, er ist hier … Natürlich … Sofort.«

Als Jill in den Autopsiesaal zurückkehrte, war ihre Miene ernst. »Die Obduktion muss warten. Die Lieutenant möchte Sie sprechen.«

Zum wiederholten Mal unterdrückte Mafed einen Seufzer und zog sich die Handschuhe von den Fingern. Er befürchtete, dass an diesem Tag noch einige unangenehme Gespräche auf ihn warten würden.

5

Ein Gewirr aus Stimmen, plärrenden Telefonanlagen und surrenden Computern schlug wie eine Welle über Mafed ein, als sich die Fahrstuhltüren öffneten. Unsanft wurde er von zwei Officers aus der Kabine geschoben, die ebenfalls auf der Etage der Mordkommission aussteigen wollten. Die Gesichter der Männer waren ihm nicht bekannt – entweder hatte er sie nie bemerkt oder sie waren Frischlinge im Dezernat. In seinem Outfit schienen sie ihn zumindest nicht für einen Kollegen zu halten, aber ihm entging nicht der musternde Blick von einem der Sterblichen. Flüchtig runzelte der Beamte die Stirn, wandte sich dann aber wieder seinem Partner zu. Gemeinsam verschwanden sie in der Küche, um sich mit großer Wahrscheinlichkeit an dem schrecklichen Gebräu zu bedienen, das sie hier Kaffee nannten.

Unschlüssig blieb Mafed stehen und rieb sich die Schulter. Es hatte Zeiten gegeben, in denen Ian ihn aus Höflichkeit mit diesem Kaffee versorgt hatte. Jetzt konnte er nicht mal im selben Raum sein wie er. Langsam beschlich Mafed das Gefühl, dass er mehr Scherben hinterlassen hatte als befürchtet.

Mit Mühe riss Mafed seinen Blick von der Küche los und marschierte mit langen Schritten quer durch das Großraumbüro. Dabei bemühte er sich, seine Umgebung und die fragenden Blicke der alten Kolleginnen und Kollegen zu ignorieren. Er hörte, wie jemand seinen Namen flüsterte, aber niemand hielt ihn zurück. Vielleicht verriet seine angespannte Haltung, dass es besser war, ihm vorerst aus dem Weg zu gehen.

Mafed legte seine Hand auf den Türgriff, schloss die Augen und atmete tief durch. Jill hatte bereits deutlich gemacht, dass Nolen sie darin bestärkt hatte, den Rechtsmediziner zurückzuholen. Trotzdem war Ian immer noch ihr Neffe und die Familienbande waren sehr eng. Die Lieutenant saß zwischen den Stühlen und Mafed musste sich auf ein ernstes Gespräch einstellen.

Der Totengott straffte die Schultern und klopfte. Mit einem charmanten Lächeln öffnete er die Tür und trat in das Büro seiner ehemaligen Vorgesetzten. Nolen lehnte an ihrem Schreibtisch. Vor ihr saß Ian mit finsterer Miene. Er hatte die Beine übereinandergeschlagen und wippte unruhig mit dem Fuß. Während er sich bemühte, Mafed zu ignorieren, sah seine Tante auf und lächelte milde.

»Doctor Mafed. Kommen Sie rein. Es ist gut, dass Sie da sind. Wie es aussieht«, flüchtig zog sie die Brauen zusammen, »hat Ihnen die Sonne Nevadas gut getan.«

»Eine beeindruckende Landschaft«, erwiderte Mafed auf den Smalltalk und schloss die Tür hinter sich. »Allerdings etwas zu staubig, wenn Sie mich fragen.«

»Wie geht es der Familie?«, fragte Nolen weiter im Plauderton, doch Mafed spürte, dass sich mehr hinter der unschuldigen Frage verbarg. Wie viel wusste die Polizistin von den Ereignissen in Las Vegas? Mafed erinnerte sich, dass man versucht hatte, sie in den Fall mit einzubeziehen. In ihrem letzten Gespräch hatte er Nolen darum gebeten, sich aus allem rauszuhalten. Doch so, wie er seine Chefin einschätzte, hatte sie ihn weiter im Auge behalten.

Abwiegelnd zog er die Schultern hoch und schob seine Hände in die Jeanstaschen. »Sie wissen ja, wie das ist.« Mit einem Seitenblick auf Ian fügte er hinzu: »Man kann nicht mit ihnen, aber auch nicht ohne sie.«

Der Detective gab ein Schnauben von sich. »Schon gut. Ich hab es kapiert. Alle sind glücklich, dass der Doctor wieder da ist, nachdem er uns im Stich gelassen hat.«

Mafed spannte sich an. »Ich hatte nie vor, irgendwen im Stich zu lassen.«

»Super!«, entfuhr es Ian. Aufgebracht riss er die Hände hoch. »Dann ist doch alles geklärt und wir können weitermachen wie früher.« Er stützte seine Hände auf die Armlehnen des Stuhls, um aufzustehen.

Nolen bedeutete ihm, sitzen zu bleiben. »Ian«, wies seine Tante ihn zurecht.

Der Angesprochene verzog das Gesicht, ließ sich dann aber wortlos tiefer in seinen Stuhl sinken und sah betont konzentriert aus dem Fenster.

Nach einem mahnenden Blick wandte Nolen sich wieder an Mafed. »Setzen Sie sich«, bat sie ihn mit einem Wink auf den zweiten Stuhl, ging um ihren Schreibtisch und ließ sich in dem Sessel dahinter nieder. Widerstrebend folgte der Rechtsmediziner der Aufforderung. Dabei kam er Ian so nahe, dass er nur die Hand hätte ausstrecken müssen, um ihn zu berühren. Eine Situation, die offensichtlich beiden Männern unangenehm war.

»Ich freue mich tatsächlich, dass Sie es zwischen all Ihren Verpflichtungen einrichten konnten, der Bitte von Doctor Turner nachzukommen.«

»Sie machte mir deutlich, dass es dringend sei«, erklärte Mafed und faltete die Hände im Schoß. Er verspürte den Drang, sich an irgendwas festzuhalten.

»Wir können Ihre Hilfe wirklich gebrauchen.«

»Das stimmt nicht«, mischte Ian sich ein. »Warum sagen das alle? Ich brauche Sie nicht. Mich hat keiner gefragt!«

»Weil du zu stur wärst, es zuzugeben«, bemerkte Nolen trocken.

»Das ist mein Fall«, betonte Ian und lehnte sich aufgebracht vor. »Ich bestimme, wer daran mitarbeitet. Und er«, der Detective deutete auf Mafed, »kann bleiben, wo der Pfeffer wächst. Ich will ihn weder in meiner Nähe noch in der Nähe meiner Leichen.«

Mafed bemühte sich um ein höfliches Lächeln. »Ich will mich nicht aufdrängen. Wie ich vorhin bereits sagte –«

»Ihre Worte sind einen Scheiß wert, Doc«, unterbrach Ian ihn und starrte ihn wütend an. »Es sind doch eh alles nur Lügen.«

Mafed sah ihn betroffen an. Das war also das Problem. »Ian …«

»Shit, kommen Sie mir nicht so.«

»Schluss!«, warf Nolen dazwischen.

Überrascht zuckten beide Männer zusammen. »Genau aus dem Grund habe ich euch beide hergerufen. Ihr wart schon immer wie Hund und Katz, aber jetzt verhaltet ihr euch schlichtweg kindisch.«

Mafed runzelte flüchtig die Stirn. Die Lieutenant konnte nichts von dem kurzen Disput in der Rechtsmedizin mitbekommen haben, obwohl man ihr nachsagte, dass sie ihre Augen und Ohren überall hatte. Wahrscheinlich war Ian direkt danach zu seiner Tante gerannt, um sich über den Totengott zu beschweren. Allem Anschein nach schreckte er vor nichts zurück, um Mafed wieder loszuwerden.

Der Vorwurf der Sterblichen traf ihn hart. Er gab sein Bestes, vernünftig zu agieren, doch Ian ließ nicht mit sich reden. »Ich bemühe mich –«

»Das weiß ich zu schätzen«, bemerkte Nolen. Sie seufzte und strich sich über die Augen. »Und ich erwarte dasselbe von dir, Ian.« Sie zog eine Akte aus der Schublade ihres Schreibtisches und schlug sie auf. »Doctor Turner hat einen Antrag gestellt, Doctor Mafed kurzfristig als Berater für diesen Fall einzustellen. Nach reiflicher Überlegung sehe ich darin kein Problem und habe dem stattgegeben.«

»Was?«, entfuhr es Ian scharf.

Unbeeindruckt hob Nolen den Blick und schob einen Plastikausweis über die Tischplatte, der Mafed als Rechtsmediziner des NYPD verifizierte. Der Totengott betrachtete ihn zweifelnd. Niemals hatte er geglaubt, zu diesem Leben zurückzukehren. Er hatte New York hinter sich gelassen, aber die Stadt offensichtlich ihn nicht. Zögernd griff er nach dem Ausweis und drehte ihn in den Händen.

»Sie müssen mir noch ein paar Papiere unterzeichnen, Mafed. Sie kennen das ja. Bürokratisches Zeug, das Ihre Arbeit legitimiert.« Nolen machte eine Geste, als wollte sie eine lästige Fliege verscheuchen. »Danach zählen Sie wieder als vollwertiges Mitglied des Dezernats mit Zugriff auf Akten und Beweismittel. Herzlichen Glückwunsch, Doctor.«

Aufgebracht sprang der Detective von seinem Stuhl und stützte sich auf die Schreibtischplatte. »Ich soll mich bemühen? Ich bemühe mich schon die ganze Zeit, ihm keine zu verpassen! Diesem Mann traue ich kein Stück mehr! Ich kann nicht mit ihm arbeiten!«

»Warum nicht?«, fragte Nolen ebenso scharf. Sie schien sich von dem Verhalten ihres Neffen nicht einschüchtern zu lassen. »Weil du wegen Mafed verletzt wurdest? Ist es das, was du ihm nicht verzeihen kannst? Denkst du, er ist daran schuld?«

Erschrocken riss Ian die Augen auf. Er öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, schloss ihn dann aber nur und deutete ein Kopfschütteln an. Nein, der Grund war offensichtlich ein anderer.

»Ich kann euch zur Psychologin schicken«, bot Nolen etwas sanfter an. »Ihr hattet nie die Möglichkeit, das Erlebte gemeinsam aufzuarbeiten. Vielleicht würde euch das helfen.«

»Ich brauch keine beschissene Therapie«, knurrte Ian.

Der Blick der Lieutenant verfinsterte sich. »Nun, Ian, du hast genau zwei Möglichkeiten. Erstens: Du erträgst es mit Fassung, arbeitest mit Doctor Mafed zusammen und löst den Fall. Allen ist geholfen und jeder geht danach wieder seinen Weg.«

»Oder?«, fragte Ian lauernd.

»Oder …« Nolen erhob sich ebenfalls und lehnte sich vor. »Ich nehme dir den Fall weg und schicke dich für ein paar Tage in den Urlaub.«

Eine Weile starrten sich die beiden Polizisten an, fochten den Kampf mit ihren Blicken aus. Am liebsten hätte Mafed sich aus dem Büro geschlichen, doch er fürchtete, eine falsche Bewegung würde die Aufmerksamkeit wieder auf sich lenken. So zog er nur den Kopf zwischen die Schultern.

Schließlich gab Ian ein mürrisches Knurren von sich. »Ist das ein Befehl, Lieutenant?«

»Ja, Detective.«

Wütend verzog Ian das Gesicht. Mit einem wortlosen Nicken stieß er sich vom Tisch ab, um das Büro zu verlassen. Als er an Mafed vorbei wollte, erhob sich der Totengott rasch.

»Ian, bitte«, redete er sanft auf ihn ein und streckte eine Hand nach ihm aus.

Ian wich zurück. Ohne Mafed in die Augen zu sehen, machte er einen Bogen um ihn und stürmte hinaus.

Mafed unterdrückte einen Fluch und wollte ihm hinterher. Nolen hielt ihn zurück.

»Doctor, ich habe keine Ahnung, was zwischen Ihnen und Ian vorgefallen ist und ich glaube, ich will es auch gar nicht wissen. Aber ich weiß, dass sie ihn ziemlich verletzt haben müssen.«

Kraftlos ließ der Gott die Schultern sinken. »Glauben Sie mir, ich wollte genau das Gegenteil erreichen.«

Nolen nickte verstehend. »Manchmal tun wir Dinge in guter Absicht und erreichen genau das Gegenteil.« Sie deutete auf die Tür. »Kriegen Sie das wieder hin?«

Mafed zögerte, dann hob er eine Schulter. »Ich bin mir nicht sicher«, gestand er und folgte dem Detective.

6

»Ian, warte! Bitte!«

Ohne auf den Totengott zu achten, marschierte Barnell quer durch das Großraumbüro zu seinem Schreibtisch. Dort griff er nach seinen Zigaretten, zog eine heraus und klemmte sie sich zwischen die Lippen. Als er sich abwandte, um zum Treppenhaus zu gelangen, stellte Mafed sich ihm erneut in den Weg. Er hatte gedacht, er könnte Ian Zeit geben, um sich zu sammeln, aber das schien nicht zu funktionieren. Sie mussten das jetzt klären.

»Schluss damit! Es reicht! Wir reden jetzt.« Mit ernster Miene sah er zu dem Sterblichen hinauf. Eine Weile hielt Ian schweigend seinem Blick stand. Mafed konnte sehen, wie seine Kiefer mahlten.

Im Büro war eine außergewöhnliche Ruhe eingetreten. Alle Augen waren auf die beiden Männer gerichtet. Nur das Klingeln eines Telefons und das Surren des Kopierers durchschnitten die Stille. Irgendwo tuschelte jemand und die Ermittlerin, die an dem Platz neben Ian saß, stand so unauffällig wie möglich auf und entfernte sich.

Plötzlich griff Ian nach der Kippe und schleuderte sie fluchend auf den Schreibtisch. Mit der anderen Hand packte er Mafeds Handgelenk und zerrte ihn in Richtung des Archivraums. Überrumpelt stolperte Mafed hinter ihm her, versuchte sich aus dem Griff zu winden, doch Ians Finger waren wie Schraubstöcke.

»Fuck! Ian, du tust mir weh. Lass los!«

Der Detective ignorierte auch diesen Einwand, stieß die Tür zum Archiv auf und schubste Mafed hinein. Dabei gelang es dem Gott, sich endlich loszureißen. Er taumelte gegen das nächste Regal, die schmerzende Hand fest an sich gedrückt. Die Bewegungen entfachten die Lampen in dem fensterlosen Raum. Kaltes Neonlicht stach in Mafeds Augen.

Wütend fuhr er zu dem anderen herum. »Scheiße, Ian, was soll das? Was ist dein verficktes Problem?«

Ians Augenbrauen schossen in die Höhe. Er betrachtete den Gott vor sich, als würde er ihn das erste Mal sehen, doch lag in seinen grünen Augen mehr Feindseligkeit als Neugierde. Ungläubig schüttelte er den Kopf und schmiss die Tür hinter sich zu.

»Warum hast du mich geküsst?«, fragte er geradeheraus.

Mafed erstarrte. Ihm war bewusst gewesen, dass sie über das, was im Krankenhaus geschehen war, sprechen mussten, aber er hatte nie damit gerechnet, dass es so früh auf den Tisch kommen würde. War das der Grund für Ians Wut? Ein unschuldiger Kuss, den er selbst erwidert hatte? War es ihm so zuwider, einen Mann zu küssen?

Mafed schluckte gegen die Trockenheit in seinem Mund. Nervös fuhr er sich über das Handgelenk, sortierte flink die Armbänder, eher er beschwichtigend die Hände hob. »Ian, es tut mir leid, wenn ich dir damit zu nahe getreten bin. Das wollte ich nicht. Wenn ich damit eine Grenze überschritten und dich verletzt habe, dann tut es mir –«

»Glaubst du wirklich, das ist das Problem?«, unterbrach Ian ihn wirsch. Er stemmte seine Hände rechts und links von Mafed gegen das Regal, klemmte ihn zwischen sich und dem Möbelstück ein. Die plötzliche Nähe jagte einen Schauer über Mafeds Haut. Unter dem Aftershave witterte er starken Alkohol, den selbst das scharfe Pfefferminz nicht überdecken konnte.

Mafeds Blick glitt über Ians zornige Augen, die eingefallenen Wangen, den Bart und schließlich den Mund. Ein Kribbeln breitete sich in Mafed aus, als er an ihren Kuss dachte. Hatte er damit alles zerstört, was je zwischen ihnen gewesen war?

»Ian«, raunte er flehend.

Für einen Moment entspannten sich die Gesichtszüge des Sterblichen, wurden beinahe sehnsüchtig. Auch er fixierte die Lippen des Gottes. Sie waren sich so nah, doch schien der Graben zwischen ihnen unüberwindbar.

Ians Miene wurde hart, als er Mafed wieder in die Augen sah. »Du hast meine Frage nicht beantwortet, Jahi«, knurrte er. »Warum hast du mich geküsst?«

Warum küsst man Menschen?, wollte Mafed erwidern. Stattdessen schwieg er und wich dem forschenden Blick aus. Er war in dem Moment so glücklich gewesen, dass Ian den Angriff der Pharaonin überlebt hatte. Er hatte es nicht ertragen, ihn so verletzt zu sehen. Und erst, als er ihn fast verloren hatte, war ihm klar geworden, wie viel ihm der Detective bedeutete. Daran hatten auch all die Wochen und Meilen nichts geändert, die er zwischen sie gebracht hatte. Daran hatte selbst Nevada nichts geändert. Oder?

Mafed horchte in sich hinein. Nein, der Drang, diesen Mann zu packen und zu küssen, bis ihnen beiden die Luft wegblieb, brannte in ihm. Doch er wagte es nicht, sich zu rühren.

»Was ist?«, fragte Ian und seine Stimme troff vor Häme. »Sind dem eloquenten Doctor Jahi Mafed die Worte ausgegangen?«

Mafed ließ bloß die Schultern hängen. Ian schien anders zu empfinden als er. Die Geschehnisse hatten seine Gefühle in Hass verwandelt.

»Es war nur ein Kuss«, flüsterte er, als die Stille unerträglich wurde und Ian nicht von ihm wich.

Ian gab einen abfälligen Laut von sich. »Genau. Der bedeutet ja nichts, nicht wahr?« Der Sarkasmus schnitt tief in Mafeds Seele.

»Warum bist du dann abgehauen? Ohne ein Wort? Oder viel wichtiger«, Ian lehnte sich lauernd vor, sodass ihre Nasen sich beinahe berührten. »Warum bist du wiedergekommen?«

»Weil ich dir helfen will«, gestand Mafed.

Ian schnaubte abfällig, stieß sich von dem Regal ab und trat einen Schritt zurück. »Helfen? Ich habe dich nie darum gebeten. Ich komme allein klar.«

»Sag mir das noch mal, wenn du nüchtern bist.«

Barnell erstarrte ertappt. Mafed sah, wie seine Hand sich zur Faust schloss, und spannte sich an. Jetzt hatte er den Bogen überspannt.

»Ist es das?«, fragte Mafed und deutete auf Ians Faust. »Willst du mich schlagen? Geht es dir dann besser? Dann tu es.« Er trat vor und reckte das Kinn.

Die Luft zwischen ihnen schien zu knistern vor aufgestautem Zorn. Einen Moment hielt Ian inne, dann lockerte er die Finger.

»Fick dich, Mafed«, zischte Ian und deutete herrisch auf die Tür. »Schieb deinen blasierten Arsch aus meinem Revier und komm nie wieder zurück.«

Mafed neigte den Kopf und tat, als müsse er über die Worte nachdenken. Ian wollte Streit? Den konnte er haben. Der Totengott würde nicht so schnell nachgeben. Irgendwann würde der Ärger verraucht sein und vielleicht konnten sie dann reden. Wenn Mafed bis dahin den Prellbock spielen musste, würde er auch das über sich ergehen lassen.

»Wenn ich richtig informiert bin, hat Nolen mich eingestellt, um Jill bei den Ermittlungen zu unterstützen. Du kannst mir gar keine Befehle erteilen.«

Ian gab ein frustriertes Knurren von sich, ehe er drohend mit dem Finger auf Mafed zeigte. »Fein. Dann bleib eben unten bei deinen Leichen. Von mir aus verreck da unten.«

Der Totengott zuckte bei den harschen Worten zurück.

»Aber damit eins klar ist«, fuhr Ian unbeeindruckt fort. »Du bist hier nicht willkommen. Und ich werde dafür sorgen, dass du das nicht vergisst.«

Mafed presste die Lippen aufeinander. Dessen war er sich sicher.

Ohne eine Antwort abzuwarten, stürmte Ian aus dem Archivraum, blieb aber direkt wieder wie angewurzelt stehen. Im Großraumbüro hatte die allgemeine Geschäftigkeit noch nicht wieder eingesetzt. Wahrscheinlich hatten sie alle angespannt gelauscht. Wie viel hatten sie von dem Streit mitbekommen?

Beunruhigt trat Mafed hinter den Detective. Unzählige Augenpaare ruhten auf ihnen. Mafed fluchte lautlos. Die nächsten Tage würden er und Barnell das Gesprächsthema Nummer eins im dreizehnten Revier sein.

»Was glotzt ihr denn so?«, keifte Ian.

Augenblicklich schienen sich alle an ihre Aufgaben zu erinnern oder taten zumindest so und schenkten anderen Dingen ihre Aufmerksamkeit.

Für einen Detective galt das jedoch nicht.

»Sieh an«, schnarrte Kean durchs halbe Büro und verschränkte die Arme vor der Brust. »Habt ihr zwei euch so sehr vermisst, dass ihr erst mal eine Nummer im Archiv schieben müsst?«

Bevor Mafed reagieren konnte, war Ian mit zwei langen Schritten bei seinem Kollegen und packte ihn am Kragen.

»Fuck«, entwich es Kean, als er unsanft gegen seinen Schreibtisch prallte.

»Halt dein dreckiges Maul!«, herrschte Ian ihn an.

»Barnell!« Krawitzkis harter Tonfall ließ Ian sofort innehalten. Der ältere Detective trat neben ihn und legte ihm beruhigend eine Hand auf die Schulter. »Lass gut sein. Das ist es nicht wert.«

Mehrere Atemzüge rührte sich niemand. Mafed wagte es nicht, auch nur ein Wort zu sagen. Er befürchtete, dass er es nur noch schlimmer machen würde. Doch das Zureden des alten Ausbilders schien Ian zu besänftigen. Mit einem Schnauben stieß der Sterbliche Kean von sich, der ungeschickt taumelte und auf seinem Bürostuhl landete. Gleichgültig ging Ian an Krawitzki vorbei, schnappte sich seine Zigaretten und verschwand Richtung Aufzüge.

Mafed überlegte, ob er ihm folgen sollte, verwarf den Gedanken aber schnell wieder. Ian musste Dampf ablassen und vielleicht war es besser, wenn er dafür allein war.

Kean sortierte mit fahrigen Bewegungen seine Krawatte und seinen Kragen. Krawitzki tätschelte ihm nur kurz die Schulter und wandte sich dann selbst wieder seiner Arbeit zu. Der Blick des jüngeren Detectives huschte zum Totengott. Verärgert zog er die Augenbrauen zusammen.

»Mafed«, grüßte er tonlos.

»Kean«, erwiderte der Unsterbliche und schob die Hände in die Jeanstaschen. Stumm ließ er die Musterung des Sterblichen über sich ergehen. Die optischen Veränderungen schienen selbst Kean nicht zu entgehen. Er betrachtete das längere Haar, das Bandshirt, die verwaschene Jeans und das Tattoo am Arm, das kaum die schweren Verbrennungen darunter verbergen konnte. Das herablassende Verziehen seiner Lippen verriet, was Kean bei dem Anblick dachte.

Ärger gärte in Mafeds Brust. Er war nicht zurückgekommen, um sich so behandeln zu lassen. Warum schien ihn jeder zu verurteilen, seit er wieder in der Stadt war? Genügte er ihren Ansprüchen nicht mehr?

»Sagen Sie, Kean«, begann Mafed gedehnt und legte die Stirn in Falten. »Wie gelingt es einem Arsch wie Ihnen, dass Sie noch keine Dienstaufsichtsbeschwerde am Hals haben? Oder interne Ermittlungen. Bei Ihrem Verhalten.«

Keans Augen wurden schmal. Er murmelte etwas, das verdächtig nach Scheiß Schwuchtel klang und drehte sich auf dem Stuhl zu seinem Schreibtisch. Natürlich war er viel zu feige, Mafed laut zu beleidigen, doch der Totengott war nicht gewillt, ihn so leicht davonkommen zu lassen, und trat an den Schreibtisch heran.

»Wie war das?«

Kean schien ihn ignorieren zu wollen und schlug hastig eine Akte auf.

Missbilligend schnalzte Mafed mit der Zunge. »Ich würde Ihnen ja ausführlich erklären, dass ich nicht schwul bin. Aber ich glaube, bei einem feigen Wichser wie Ihnen ist das vergebens.«

»Nicht schwul?«, biss Kean an und hob den Blick. Er bleckte die Zähne zu einem wölfischen Grinsen. »Und was war das dann mit diesem abgestochenen Prof? Intellektueller Austausch? Von Körperflüssigkeiten?«

Mafed unterdrückte ein Zittern und stützte sich auf die Schreibtischplatte. »Lassen Sie Alex da raus.«

»Von so jemandem wie Ihnen lasse ich mir gar nichts sagen.«

»So jemandem?« Mafed nickte verstehend und lehnte sich weiter vor. »Was ist es, Kean? Irgendwas muss vorgefallen sein. Also, was ist passiert? Hat der High School-Quarterback Sie in der Dusche gefickt?«

Keans Augen weiteten sich schockiert. Röte stieg ihm ins Gesicht und ließ seine Wangen glühen. »Was?«

Nun war es Mafed, der überheblich grinste. »Oder eine wilde Knutscherei hinter der Tribüne? Oder eine Verbindungsparty, die leicht aus dem Ruder gelaufen ist? Aber keine Sorge. Von den Jungs war bestimmt keiner schwul.«