Totgeschwiegen - Thomas Trescher - E-Book

Totgeschwiegen E-Book

Thomas Trescher

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Beschreibung

Eine vermeintliche Selbstmörderin, die von ihrem Ex-Freund getötet wurde. Ein Mann, der sich selbst in den Kopf geschossen haben soll, obwohl er seine Arme nicht heben konnte. Ein Toter mit Serienrippenbrüchen, dem ein natürlicher Tod diagnostiziert wird. Gerichtsmedizinische Untersuchungen sind oft die einzige Möglichkeit, Morde zu entdecken. Doch diese finden in Österreich, einst Vorzeigeland der Gerichtsmedizin, immer seltener statt oder werden nicht korrekt durchgeführt: etwa im Fall Alijew oder im Fall Priklopil. Österreich rühmt sich seiner niedrigen Mordraten und seiner hohen Aufklärungsquoten. Doch was, wenn diese Aufklärungsquote nur deshalb so gut ist, weil niemand mehr genau hinsieht? Die Recherchen von Thomas Trescher legen diesen Verdacht nahe ...

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Seitenzahl: 244

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Thomas Trescher

TOTGESCHWIEGEN

Warum es der StaatMördern so leicht macht

Mit einem Vorwort vonMark Benecke

ISBN 978-3-200-06546-8

eISBN 978-3-200-06675-5

© Edition QVV, Wien 2019

Edition QVV ist ein Verlag der Quo Vadis Veritas Redaktions GmbH

Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Vorwort: Mark Benecke

benecke.com

Umschlaggestaltung und Satz: Sophie Gudenus

Grafiken: Lilly Panholzer

Lektorat: Lucia Marjanović

Druck und Bindung: GGP Media

Printed in Germany

Besuchen Sie uns im Internet:

totgeschwiegen.at, www.qvv.at und www.addendum.org

INHALTSVERZEICHNIS

VORWORT

WARUM DER STAAT MORDE ÜBERSIEHT

„Sie haben nie nach ihm gesucht“: Der Fall Raven Vollrath

„Alle hätten mehr Arbeit“: Warum jeder zweite Mord übersehen wird

Leichen im Keller: Der tiefe Fall Österreichs

GERICHTSMEDIZIN AM ENDE

Herz ohne Ruhe: Wie die Gerichtsmedizin entstand

Ka scheene Leich: Die traurige Geschichte der Wiener Gerichtsmedizin

CSI auf Schwyzerdütsch: Die Zukunft der Gerichtsmedizin

VERSAGEN DER TOTENBESCHAU

„Ich bin Kain Mörder“: Der Fall Wolfgang K.

Dem Tod begegnen: Warum die Totenbeschau darniederliegt

„Damit wir sie nicht wieder ausgraben müssen“: Der Fall Sandra Reiter

Getötet auf göttlichen Befehl: Der Fall Gertrude P.

Die letzte Party: Der Fall Karin E.

WENN DER STAAT WEGSCHAUT

Tod in der Jogginghose: Der Fall Rachat Alijew

„Es wurde versemmelt“: Der Fall Wolfgang Priklopil

Der unmögliche Suizid: Der Fall Alois H.

Der letzte Mieter: Der Fall Cafer Ilkay

Jemand muss nachgeholfen haben: Der Fall Daniela B.

KRANKENHAUS UND PFLEGE

„Die Waltraud wird’s schon richten“: Der Fall Lainz

Alt und egal: Warum Patiententötungen so selten erkannt werden

Die Kapitulation des Verstandes: Der Fall Niels Högel

UNERWÜNSCHTE NEBENWIRKUNGEN

Das große Desinteresse: Woran die Österreicher wirklich sterben

Zahlenspiele: Wie viele Suizide und Drogentote nicht erfasst werden (sollen)

Verschwiegen und vertuscht: Warum es in Österreich (offiziell) kaum Behandlungsfehler gibt

VORWORT

Fehler passieren. Depressive Piloten ermorden ihre Passagierinnen und Passagiere, indem sie die Maschine gegen einen Berg oder in den Ozean fliegen. Autorennende Menschen töten Reisende oder Fußgängerinnen und Fußgänger, die ihnen in den Weg kommen. Passiert. Müsste es aber nicht.

Kein Verbot der Welt verhindert, dass Menschen sich unsozial und tödlich verhalten. Ebenso wenig gibt es ein Gesetz gegen unbemerkte Fehler. Nach einer übersehenen Spur fragt niemand. Denn ob Speichel, Sperma, Insektenflügel oder eine Blutspur am Tatort waren, das erhellt nur die- oder derjenige, der sie wahrgenommen hat. Was ich dort nicht gesehen und eingesammelt habe, taucht später weder in der Akte noch im Labor auf. Es gibt keine Liste der nicht eingesammelten Tatort-Spuren.

So kommt es, dass nicht immer klar sein kann, ob ein Mensch getötet wurde. Es könnten ja auch ein Unfall, eine Selbsttötung oder eine Erkrankung – der „natürliche Tod“ – zum Tod geführt haben. Um das zu klären, müssten alle toten Personen „durchsucht“, also aufgeschnitten, durchleuchtet und untersucht werden. Auch ihre räumliche Umgebung müsste auf Spuren des Täters, der Täterin oder eben deren Abwesenheit durchkämmt werden. Viel Arbeit, die viel Steuergeld kostet. Doch wollen Sie gerne mehr Steuern zahlen? Oder drücken Sie sich mit hundert Tricks davor, die staatliche Spurensuche durch Ihren Anteil zu fördern?

Das also ist Problem Nummer eins: Geld. Ausbildung, Tatort-Lampen, Büros und Labors kosten Geld. So weit, so einfach.

Mit Zeit, Geld und Ausrüstung müssen aber alle Menschen und somit auch „der Staat“ haushalten. Als in Görlitz beispielsweise einmal ein Jahr lang fast alle Toten untersucht wurden, zeigte sich, dass auch bei sicher natürlichen Toden fast die Hälfte der im Totenschein eingetragenen „Grundleiden“ nicht mit dem Laborbefund übereinstimmten. Das wäre mit Geld und Ausbildung sehr leicht zu lösen. Es kostet aber Steuergelder oder Krankenkassenbeiträge.

Die zweite Schwierigkeit ist kniffliger: falsche Grundannahmen. Ein Ehepaar hat so richtig Krach, es knallt, die Leiche des einen wird später gefunden, die Lebensversicherung hat schon gezahlt? Dann sieht es für den lebenden Partner oder die lebende Partnerin finster aus. Ein junger Mann, dauernd pleite, lügt sich und seinen Verwandten sein ganzes Leben zurecht. Dann stirbt seine steinreiche Tante, und er war in der Nähe. Ziemlich klarer Fall.

Wir wissen aber, dass alleine in den USA seit den 1990er Jahren jährlich etwa zehn Personen aus den Todeszellen oder aus lebenslanger Haft – und damit ist in den USA oft tatsächlich „das gesamte restliche Leben“ gemeint – entlassen werden, weil zwar alles durch alle Instanzen sonnenklar war. Doch dann werden Jahre oder Jahrzehnte alte Spuren untersucht, die das Gegenteil beweisen, also zeigen, wer die Tat wirklich begangen hat.

Das allerdings ist noch Glück im maßlosen Unglück, denn die Spuren waren dann noch gelagert und auffindbar. Oft genug sind sie es aber nicht, besonders wenn der Fall als behördlich abgeschlossen gilt. Den Kommissar, der mit hochgeschlagenem Kragen über regennasse Straßen geistert und nach Feierabend auf eigene Faust die Spuren sucht, gibt es nicht. So etwas ist verboten. Und den Platz, alle Spuren auch nach der Verurteilung aufzubewahren, hat auch kaum jemand. Denn Platz kostet erstens Geld, und zweitens wird er auch für etwas anderes gebraucht. Wohnraum, Krankenhäuser oder Spielplätze beispielsweise. Kurz gesagt, es gibt viele andere gesellschaftliche Interessen als gerichtliche Gerechtigkeit.

Abgesehen von ungeprüften Grundannahmen, dem Glauben an das Gute und anderen eigentlich gut untersuchten Fehlerquellen ist eine häufig gestellte und ganz praktische Frage die der im deutschsprachigen Raum vorliegenden unentdeckten mehr oder weniger absichtlichen Tötungen. „Mehr oder weniger“ deswegen, da Kinder von aufgeregten, verwahrlosten oder unsozialen Eltern auch ohne Absicht, aber doch mit Wut oder Gleichgültigkeit getötet werden, etwa durch Totschütteln, wenn das Kind zu viel lärmt oder sonstwie lästig scheint.

Da aber plötzliche, „natürliche“ Kindstode zu den häufigsten Todesarten sowohl in der Kriminalistik als auch der Rechtsmedizin und Kinderheilkunde zählen, und da die Ursachen dafür erstens vielfältig – Zigaretten rauchende Eltern gehörten dazu – und zweitens nicht endgültig erforscht sind, könnten hier besonders viele verdeckte Tötungen vorliegen. In England schätzt man bis zu ein Achtel der plötzlichen Kindstod-Fälle als unerkannte Gewalttaten ein.

Als für eine deutsche Studie zum plötzlichen Kindstod eine große Zahl toter Kleinkinder rechtsmedizinisch untersucht wurde, fanden sich circa drei Prozent bis dahin unerkannte Tötungen unter den zunächst als „natürlich“ eingeordneten Krippentoden oder Meldungen wie „Bauchschmerzen“, die allerdings nach Leichenöffnung und Haar-Untersuchungen als Darmriss durch Fußtritte, absichtliche Vergiftung mit Tabletten und Ähnliches erklärt werden konnten.

Durch solche wissenschaftlichen – das heißt nicht von der Staatsanwaltschaft beauftragten – Leichenöffnungen in zunächst unverdächtigen Todesfällen wurde dieselbe Menge an Tötungen erkannt wie bei bestehendem polizeilichem Verdacht. Sie haben richtig gelesen. Eigentlich müsste jede Kinderleiche seziert werden.

Das allerdings behagt manchen Menschen aus religiösen oder kulturellen Gründen nicht. Manchmal liegt es also auch nicht am Geld.

Zuletzt noch zur häufigsten Frage, die zumindest mir in diesem Zusammenhang gestellt wird: Wie viele Erwachsene sterben durch Gift, Gewalt oder Hassausbrüche, ohne dass es auffällt?

Es kommt darauf an. Die Augen aller richten sich beispielsweise weniger auf einsame, nervenkranke, verkauzte oder sozial vergessene Menschen. So kommt es, dass bei „Wohnungsleichen“, die einmal Menschen mit wenigen Sozialkontakten waren, vermutlich besonders häufig nur Zufälle bewirken, dass eine angebliche Verstopfung der Lungenadern als Stromunfall erkannt wird: Die tote Person lag bei diesem Fall neben einer neu gekauften Lampe. Der im Nachhinein auffällige Lageort ist allerdings an der Leiche auf dem Edelstahltisch im Institut nicht zu erkennen. Nur die Beschreibung des Fundorts hilft hier weiter.

Ging es schief, dann fehlt es am Austausch von Informationen, die beim Blick von allen Seiten schnell seltsam und „verdächtig“, sonst aber nebensächlich wirken können. Öfters würden uns auch bessere Fotos vom Fundort helfen.

Ob ein einsamer Mensch durch eine Plastiktüte erstickt wurde, anstatt dem Alkohol zum Opfer gefallen zu sein, ist aber auch auf einem technisch einwandfreien Foto nicht zu erkennen. Faustschläge, Würgen, Drosseln, Gifte, falsche Geständnisse – all das lässt sich durch einen „Anfangsverdacht“ (so heißt es im Behördendeutsch) gut und so in folgende Untersuchungen gießen, dass die Wahrheit durch Spuren dargestellt werden kann. Wenn kein Anfangsverdacht da ist, würde auch ein brachiales „Immer-Alles-Untersuchen“ helfen. Aber Sie wissen schon: Das kostet.

Einige Kolleginnen und Kollegen schätzen das Verhältnis von unerkannten zu erkannten Tötungen in Europa auf 1:1 bis sogar 3:1 ein; wie schon erwähnt besonders bei Kleinkindern. Andere sind sich da nicht so sicher, da sie beispielsweise bei der Untersuchung von Leichen vor der Verbrennung im Krematorium auch nach Jahrzehnten nur einmal den klassischen übersehenen Messerstich im Rücken gesehen haben. Die Frage ist nur, wie viele nicht krankheitsbedingte Erstickungen, Fußtritte, als Selbsttötungen erscheinende Erhängungen oder Vergiftungen und unerlaubte Sterbehilfen sich darunter befunden haben.

Große, weltweite Studien würden helfen, da sind sich alle Kolleginnen, Kollegen und ich einig. Dann werden wir die genauen Zahlen erfahren.

Bis dahin gilt: Jeder Fall ist ein Einzelfall. Ich würde als Kriminal-Praktiker daher dazu raten, dass Sie im Zweifelsfall erstens eine sehr gute, fachlich erfahrene Anwältin oder einen ebensolchen Anwalt hinzuziehen. Sofort und ohne Zögern. Andernfalls ist die Akte geschlossen, sind die Spuren weggespült und die Leiche gewaschen, begraben oder verbrannt.

An dieser Hürde – der schnellen rechtlichen Beratung – scheitern die meisten unserer Klienten und Klientinnen. Sie vertrauen lieber auf den Staat, die Gerechtigkeit oder das Gute anstatt auf Druck von unten.

Zweitens sollte sich niemand scheuen, die Wahrheit aufzuschreiben, notfalls bei einer Notarin oder einem Notar. Einer unserer Klienten hatte sich jahrelang nicht getraut, ein Tötungsdelikt anzuzeigen, weil er kein Gerede im Dorf wollte: Der Täter war einer seiner Verwandten. Am Ende saß der Zeuge selbst im Gefängnis, weil er plötzlich aus anderen Gründen als Hauptverdächtiger galt. Hätte er von Anfang an offen beschrieben, was er gesehen hatte, so wären die dazu passenden Spuren noch an Ort und Stelle gewesen und hätten seine Aussage bestätigt. Nun waren sie jedoch verschwunden und das Mordzimmer renoviert.

Drittens rate ich dazu, einzusehen, wenn es zu spät ist. Die meisten Kinder aus der DDR, die ihren Eltern weggenommen wurden, sind entweder längst zersetzt, falls sie damals gestorben waren, oder die Kinder haben nie erfahren, dass sie zwangsadoptiert wurden. Manchmal gibt es eben keine Spuren mehr. Oder die Spurensuche ist den Angehörigen zu anstrengend.

Wie schon gesagt: Dinge gehen schief. Sie müssen es aber nicht.

Schauen Sie hin, machen Sie Druck, und sehen Sie ein, wenn es zu spät ist.

Mark Benecke

Kriminalbiologe

WARUM DER STAAT MORDE ÜBERSIEHT

„Sie haben nie nach ihm gesucht“: Der Fall Raven Vollrath

Der Anwalt hat ihnen abgeraten, der Bestatter auch. Ihr Mann hat gesagt, er kann das nicht. Nicht auch das noch. „Dann gehe ich alleine“, hat sie gesagt. Um ihrem Sohn so nahe wie möglich zu sein. Natürlich kommt ihr Mann doch mit, nach allem, was sie gemeinsam durchgemacht haben. Also stehen sie auf dem Friedhof neben dem Grab ihres Sohnes, sehen dabei zu, wie er wieder aus der Erde gehoben wird. Es ist ihre letzte Chance zu erfahren, welches Geheimnis er mit unter die Erde genommen hat.

„Sie werden mich jetzt vielleicht für verrückt halten, aber am liebsten hätte ich ihn eingepackt und mit nach Hause genommen“, sagt sie. Sie habe nicht einmal einen Geruch wahrgenommen. Ihr Mann sitzt daneben und sagt nur: „Na ja …“. Sie hat das Grausame nicht gesehen. „Ich habe mein Kind gesehen.“

Warum ihnen der Bestatter dringend von der Exhumierung abgeraten hat, sehen sie schnell: Ihr Kind war „pietätlos beerdigt“, sagt sie; kein Zinkeinsatz, keine Decke, kein Kissen. „Sogar der Bestatter hat uns beschissen.“ Es ist ein letzter Schlag ins Gesicht. „Unser Anwalt hat gesagt, wir sollen ihn verklagen, aber wir hatten nicht mehr die Kraft dafür.“ Nach allem, was sie mitgemacht hatten, war es ihnen das nicht wert. Maryon und Günter Vollrath haben nicht nur ihren einzigen Sohn verloren. Nicht nur gegen das Versagen der Behörden gekämpft. Sondern auch gegen ein bewusstes und offensives Wegschauen. Gegen offene Feindseligkeit der Behörden. Am Ende, erzählen sie, „war die Wut auf den Staat Österreich größer als die Wut auf den Mörder unseres Sohnes“.

Am 22. Dezember 2005 hat Maryon Vollrath abends zum letzten Mal mit ihrem Sohn telefoniert, um 17.05 Uhr, sie weiß es heute noch. Zwanzig Tage zuvor, am 2. Dezember, ist Raven mit einem Freund nach Tirol gefahren, den er in seiner Heimat Ilmenau in Thüringen im Zuge eines 1-Euro-Jobs für Hartz-IV-Empfänger kennengelernt hat. Markus hatte einen Job beim Rohnenlift im Tiroler Ort Zöblen in Aussicht, und Raven hat eine Chance gesehen, dort auch an Arbeit und selbstverdientes Geld zu kommen. Beim Rohnenlift hat es zwar nicht geklappt, dafür konnte er in Hochsölden als Hausmeister im „Sonnenhotel“ arbeiten.

Seine Mutter ist stolz auf ihn, dass er sein Leben selbst in die Hand nimmt. Tirol ist eine logische Wahl, er liebt die Berge genauso wie seine Eltern. Raven ist das Nesthäkchen der Familie, er kommt 1980 acht Jahre nach seiner Schwester zur Welt. Die Großmutter hat den Namen ausgesucht, sie stirbt kurz nach Ravens Geburt. Der gewaltsame Tod war immer präsent im Leben der Vollraths, auch Günter Vollraths Bruder wurde einst ermordet. Vielleicht ist er deshalb weniger erfreut, dass sein Sohn Raven das Nest verlassen will, noch dazu so kurz vor Weihnachten. Er solle doch den Jahreswechsel noch abwarten, vielleicht ergäbe sich doch noch etwas in der Heimat. „Es war das erste Weihnachten ohne unseren Sohn. Seitdem gibt es kein Weihnachten mehr.“

Am 21. Dezember kommt es zu einem Streit zwischen Raven und seiner Chefin im „Sonnenhotel“, er packt seine Sachen. Früh am nächsten Morgen fährt er nicht zurück in die Heimat, sondern nach Zöblen, um bei Markus und dessen Mutter, die mittlerweile mit ihrem Sohn dort lebt, unterzukommen. Sie leben im ersten Stock des Liftgebäudes und stellen ihm eine Klappmatratze zur Verfügung. Zöblen im Außerfern ist eine abgelegene Gegend im letzten Winkel Tirols, zwei Autostunden von Innsbruck entfernt. Außerhalb der Saison wirkt es so, als wäre man hinter der Wand aus Marlen Haushofers Roman gelandet: Die Gebäude sind alle da, aber die Menschen fehlen. Im Dezember ist es ein beliebtes Skigebiet für jene, die ein bisschen abseits des Trubels riesiger Skigebiete auf der Piste stehen wollen.

Bis heute fahren Ravens Eltern immer wieder hierher, um ihres Sohnes zu gedenken, mindestens einmal im Jahr. Es ist immer noch schwierig, wenn die Erinnerungen wieder wie eine Lawine auf sie einstürzen. Mittlerweile sind beide im Pensionsalter, in Ilmenau vermieten sie Ferienwohnungen. Gerade erst haben sie sich schweren Herzens von ihrem Auto getrennt; jenem Auto, mit dem sie damals losgefahren sind, um nach ihrem Sohn zu suchen. „Das Leben geht zwar weiter, aber es ist anders.“ Mittlerweile fahren sie wieder gerne in den Urlaub, am liebsten zum Wandern in die Berge.

Raven hatte ein inniges Verhältnis zu seinen Eltern, sie telefonierten fast jeden Tag, oft mehrmals. Aber am 23. Dezember, kurz nach dem Zerwürfnis mit seiner Chefin: nichts. Es ist der letzte Tag, an dem er in Zöblen gesehen wird. Am 24. Dezember: nichts. „Am Heiligen Abend ruft man doch die Familie an.“ Am 25. und am 26. Dezember: noch immer nichts. In ihrer Heimat Ilmenau wollen die Eltern am 26. Dezember eine Vermisstenanzeige aufgeben, aber sie wird abgelehnt: Raven sei 25 Jahre alt, er könne machen, was er wolle.

Telefonisch versuchen sie, in Tirol sein Auto suchen zu lassen, und bekommen den Hinweis, dass es auf dem Parkplatz des Rohnenlifts stehe. Es ist unversperrt, wie sich herausstellt; mit seiner Geldbörse, seinem Führerschein, seinem Sozialversicherungsausweis und seinem Personalausweis im Auto. Maryon Vollrath fragt bei der österreichischen Polizei nach, ob das Auto sichergestellt werde, was verneint wird. Mit dem ADAC lassen sie es nach Oy-Mittelberg im bayerischen Allgäu überführen. Am 30. Dezember fahren Maryon und Günter Vollrath die 450 Kilometer von Ilmenau nach Zöblen, um nach ihrem Sohn zu suchen. Auch dort interessiert sich die Polizei nicht für den Fall, vielleicht sei er auf eine Skihütte gewandert. „Wo soll er denn hin ohne seine Dokumente?“, fragt Maryon Vollrath. „Papiere kann man sich besorgen“, soll der Polizist geantwortet haben.

Maryon und Günter Vollrath sprechen mit Markus, er raucht Zigarette um Zigarette, mit einem Mädchen sei Raven irgendwann nächtens losgezogen, Helena oder Elena. Sein Waschzeug ist noch da, Raven nicht mehr. Tage vergehen, Wochen, Monate sogar. Die Polizei tut: nichts. „Die haben Raven nie gesucht.“

Am 15. Februar, fast zwei Monate nach Ravens Verschwinden, wird Markus von den Behörden einvernommen, um den letzten Tag zu rekonstruieren, an dem Raven gesehen wurde. Sie waren Ski fahren, gibt er zu Protokoll. Abends hätten sie dann getrunken, im Tannheimer Hofbräuhaus, im Route 66 und zuletzt im Giggihi, ein paar Bier und einen Tequila, kein schlimmes Besäufnis. Raven habe ihm von Helena erzählt, vermutlich eine Russin, jedenfalls mit Akzent und einer guten Figur – sie habe ihm gefallen, und Raven wollte sie treffen, zu Weihnachten, am nächsten Morgen. Markus habe am 24. arbeiten müssen, deshalb habe sein Wecker schon um 6 Uhr morgens geläutet. „Wie der Wecker geklingelt hat, war der Raven schon nicht mehr da. Die Klappmatratze hat er mitgenommen.“ Er habe sie extra aus Deutschland mitgenommen, mit Raven sei sie spurlos verschwunden. „Die Matratze fehlt bis jetzt“, sagt er der Polizei. Mehrfach habe er versucht, ihn zu erreichen. „Das Handy war aber immer aus.“ Er habe angenommen, dass Raven von Helena abgeholt worden war, da sein Auto noch auf dem Parkplatz stand.

Raven sei natürlich betrübt gewesen, weil es mit dem Job in Sölden nicht geklappt habe, aber auch nicht so sehr, dass er sich etwas antun würde. „Jetzt mache ich mir natürlich schon Sorgen, dass auch in dieser Richtung was passiert sein könnte.“ Diese These verfolgt mittlerweile offenbar auch die Polizei: „Wahrscheinlich hat er sich irgendwo aufgebammelt“, sagt ein Polizist zu Ravens Vater in Deutschland, als auch die Exekutive nicht mehr glaubt, dass er nur auf einer Skihütte ist – der Polizist bestreitet diese Aussage mittlerweile. Fest steht, dass die Polizei erst Mitte Februar, 50 Tage nach Raven Vollraths Verschwinden, zaghafte Schritte unternimmt, um nach ihm zu suchen.

Aus einem Aktenvermerk der Polizeiinspektion Grän geht hervor, dass diese erst Mitte Februar beim letzten Quartier von Raven im Skilift in Zöblen „Nachschau gehalten“ hat – freilich vergeblich. Am selben Tag ist die Umgebung des Skilifts zwischen Zöblen und Schattwald abgesucht worden. Drei Briefe, die an Raven adressiert waren, übergibt Markus der Polizei. Knapp eine Woche später, am 22. Februar, fragt die Polizei bei den beiden Banken Zöblens nach, ob Raven Vollrath dort ein Konto eröffnet habe – hat er nicht, oder wie es die Polizei formulierte: „Beide Banken waren negativ.“

Am 23. Februar, Tag 58 nach der Vermisstenanzeige, wird in einem Stadel etwa 500 Meter vom Rohnenlift eine Blutlache im Schnee entdeckt und gesichert – weitere Spuren werden nicht gefunden. Ob das Blut menschlichen oder tierischen Ursprungs ist, „müsste durch die Gerichtsmedizin geklärt werden“, steht in dem Aktenvermerk – dorthin geschickt wurde es offenbar nie. Tags darauf ist ein Polizist mit Diensthund „Ursus“ unterwegs, auch diese Suche ergibt keinen Hinweis. „Eine groß angelegte Suche mit Suchhunden erscheint dem Beamten dzt vor allem aufgrund der Schneelage nicht sinnvoll“, ist im Akt vermerkt.

Aber Günter Vollrath wird irgendwann von der Polizei einvernommen. „Da dachte ich endgültig, dass ich im falschen Film bin.“ Ob es einen Streit gegeben habe, irgendetwas müsse doch vorgefallen sein. Immer wieder fahren die Vollraths nach Tirol, befragen selbst Personen, die Raven kannten. In einem kleinen Notizbüchlein vermerkt Maryon Vollrath dutzende Namen und Telefonnummern, sie lässt sich die Anrufliste seines Handys vom Betreiber schicken, die sie nur bekommt, weil sie Ravens Passwort beim ersten Versuch errät. Die Eltern hängen Plakate auf, die wieder heruntergerissen werden. Die Vollraths machen nicht nur die Arbeit der Polizei, sie sind auch lästig, kratzen am schönen Schein des Tiroler Skiorts im Tannheimer Tal, in dem ein junger Mann spurlos verschwunden ist. Ein Erlebnis wird Maryon Vollrath nie vergessen: Am Hauptplatz von Zöblen bleibt eine Frau mit ihrem Fahrrad stehen und sagt nur einen Satz zu ihr: „Sie erfahren hier gar nichts.“

In einem trockenen Bachbett wird er gefunden, am 10. Juni 2006 gegen 16.50 Uhr, rund zwei Kilometer von seinem letzten Wohnort entfernt. Zwei deutsche Spaziergänger entdecken die Leiche. Es habe furchtbar gestunken, dann haben sie den Körper gesehen. Er liegt unter einer Autobrücke, als wäre er dort einfach hinuntergeworfen worden. Der Tatort wird nicht gesichert oder abgesperrt, die beiden Spaziergänger müssen von den Behörden selbst einfordern, dass ihre Personalien aufgenommen werden: „Wir sind doch wichtige Zeugen!“ Nebenan im Ort Schattwald ist gerade Feuerwehrfest, vielleicht will sich niemand beim Feiern stören lassen. Als Todesursache wird vom herbeigerufenen Arzt „Tod durch Erfrieren“ festgestellt. „Das ist der eigentliche Skandal“, sagt Günter Vollrath. „Er hat den Polizisten gefragt: Was soll ich auf den Totenschein schreiben? – Ach schreib drauf: Tod durch Erfrieren. – Also, es ist eigentlich unglaublich. Er war gar nicht berechtigt, so eine Äußerung zu machen. War aber so, und so ist das sofort in eine andere Schiene gelaufen.“

Am 12. Juni erfahren die Vollraths vom Leichenfund. „Wir brauchen DNA von Ihnen“, sagen die Ermittler am Telefon. Um die Leiche identifizieren zu lassen. Während ihr Mann nur auf die Gewissheit wartet, hat Maryon Vollrath noch Hoffnung, dass es ein anderer sein könnte: „Ich wollte Hoffnung haben. Bin in die Kirche gegangen, habe Kerzen angezündet. Und an dem Tag, wo wir die Todesnachricht gekriegt haben, brannte die Kerze nicht mehr. Ging nicht an, ging absolut nicht an.“ Am 30. Juni kommt der Anruf. „Sie können ihn heute gleich holen. In Innsbruck.“ Ein Anruf, mehr nicht. „Wir waren alleine. Da kommt kein Seelsorger, da kommt niemand, niemand. Wir mussten mit der ganzen Situation einfach alleine fertigwerden.“

Als wenig später der Obduktionsbericht ankommt, ist sie nicht in der Lage, ihn zu öffnen. Ihr Mann geht in den Garten, liest ihn durch und sagt: Lies ihn nicht. Sie liest ihn noch in dieser Nacht, als ihr Mann schon schläft. „Das war nicht schön.“ Bei dem Toten, war im Obduktionsbericht des Innsbrucker Gerichtsmediziners Walter Rabl zu lesen, „handelt es sich um eine teilweise skelettierte Leiche, die Weichteile am Becken sind teilweise in Verflüssigung begriffen, reichlich madenbefallen. In der Umgebung des Kopfs auch einige Käfer angetragen.“ Es ist nichts, was eine Mutter über ihren Sohn lesen sollte.

„Der Brustkorb ist soweit jetzt beurteilbar weitgehend intakt. Im Brustinnenraum reichlich Fremdmaterial mit blattartigen Antragungen, auch ein Stein und Holzanteile. Die Brustorgane sind nicht mehr vorhanden.“ Die Todesursache bleibt durch die Obduktion unklar. „Bei den Untersuchungen konnten keine Knochenbrüche festgestellt werden, die allenfalls zu Lebzeiten entstanden sein könnten. […] Die eigentliche Todesursache konnte bei dem gegebenen Erhaltungszustand der Leiche nicht mehr festgestellt werden. Schädelbrüche oder Einblutungen in den Schädelinnenraum konnten nicht befundet werden.“

Die Ermittler glauben weiter nicht an ein Verbrechen, oder es interessiert sie nicht. Ihre Version seines Todes: Raven Vollrath habe sein Zimmer am 24. Dezember in den frühen Morgenstunden lediglich mit einer Unterhose und einem Socken bekleidet bei einer Temperatur von –11 °C verlassen und die Matratze, auf der er geschlafen hat, mitgenommen und sei fast nackt mit der Matratze an seinem unversperrten Fahrzeug vorbei über 2,5 Kilometer zu Fuß auf der verschneiten Landstraße entlanggegangen. Dann sei er über unwegsames Gelände zum Bachlauf hinuntergeklettert und habe sich dort unter einer Brücke bei einer Schneedecke von fünfzig Zentimetern auf seine Matratze gelegt und sei erfroren. Kein Fremdverschulden, Akt geschlossen.

„Seien Sie froh, dass wir ihn gefunden haben, andere werden nie gefunden. Beim nächsten Gewitterguss wäre das Häufchen Knochen auch noch weggespült worden“, sagt ein Polizist zu den Vollraths – er bestreitet auch diese Aussage mittlerweile. „Das ist für eine Mutter schon hart“, sagt Maryon Vollrath. Selbst die Fundstelle will die Polizei den Vollraths zunächst nicht zeigen. „Wir haben dann ein ordentliches Theater auf der Polizeistation gemacht“, erzählt sie. Mittlerweile steht am Fundort ein Kreuz mit dem Bild ihres getöteten Sohnes. Zumindest am Jahrestag seines Auffindens sind sie immer dort. Die Mutter geht dann die steile Böschung an der Brücke hinunter, küsst das Bild ihres Sohnes, streicht ihm mit der Hand übers Gesicht. Es ist ihnen wichtig, dass es gesehen wird, dass sich vorbeikommende Menschen fragen, was hier wohl vorgefallen ist. Regelmäßig, erzählt Maryon Vollrath, fallen hier Bäume um. Aber das Kreuz haben sie noch nie umgestoßen.

Die Polizei stellt ihre Erhebungen zu Ravens Tod etwa drei Monate nach dem Auffinden der Leiche ein. Mit einer These, die, wie es der Anwalt der Vollraths formuliert, „nicht nur nach allgemeiner Lebenserfahrung völlig abwegig“, sondern auch „durch kein einziges Ermittlungsergebnis belegt“ war. Eine nach der Einstellung der Ermittlungen am 6. September 2006 erstattete Dienstaufsichtsbeschwerde hat nur die Bemerkung der Innsbrucker Staatsanwaltschaft zur Folge, dass sich die Vollraths „anscheinend nicht mit dem Ableben ihres Sohnes, und insbesondere damit, dass seine letzten Stunden nicht aufgeklärt werden können“, abgefunden haben.

Das haben sie tatsächlich nicht, deshalb ermitteln sie auf eigene Faust weiter, monatelang. Um die zwanzigmal fahren sie nach Tirol. „Und jedes Mal ein kleines Puzzlestück, irgendjemand hat sich verplappert oder so etwas.“ Sie erfahren zum Beispiel, dass Mitte Mai 2006 eine Flurreinigung stattgefunden hat, bei der die Matratze gefunden wurde, auf der Raven geschlafen hatte, nebst einer Steppdecke und einem Teppich. Ravens Leiche wird damals noch nicht gefunden, und die Gegenstände werden einfach entsorgt. Die Vollraths finden einen Anwalt und einen Journalisten, die ihnen glauben, und nach einer ORF-„Thema“-Sendung werden die Ermittlungen im Sommer 2007 wieder aufgenommen. Es dauert bis zum Februar 2008, bis Markus’ Mutter Gabriele S. in Deutschland einvernommen wird.

Es ist kaum auszumalen, wie viel Kraft es die Vollraths gekostet haben muss. Nicht trauern zu können, nicht loslassen zu können. Jedes Detail in Erfahrung zu bringen, das mit dem Tod des eigenen Sohnes zu tun hat. „Und das als einfache Hausfrau“, sagt Maryon Vollrath immer wieder. Sie hatte ein beschauliches Leben gewählt und wurde in einen Kriminalfall geworfen, in dem sich fast alle gegen sie verschworen hatten.

Bei ihrer zweiten Vernehmung gesteht Markus’ Mutter: Ihr Sohn hat Raven erstochen, sie hat ihm geholfen, die Leiche zu beseitigen. Noch am selben Tag wird Markus festgenommen. Sie bestätigt, was die Vollraths lange schon vermutet hatten. „Die zwei waren zuletzt mit ihm im Zimmer, wer soll es denn sonst gewesen sein? Wenn man den jetzt so vor sich sieht das erste Mal, ist er eigentlich eine ganz zierliche Person. Das hat man ihm gar nicht angesehen, dass er zu so einer Tat fähig ist. Aber letztendlich ist das ja ganz oft so.“

Gegen Mitternacht seien Raven, Markus und seine Mutter von der Kneipentour zurückgekommen, so weit stimmt die Aussage ihres Sohnes bei der Polizei noch. Aber eine Helena hat Raven vermutlich nie gekannt. Als Gabriele S. von der Toilette im Untergeschoß zurückkommt, stürzt ihr Sohn ihr mit einem Messer in der Hand entgegen und sagt, es sei etwas Schlimmes passiert. Er habe geweint und gesagt, dass Raven tot sei. Mit einem scharfen Küchenmesser hat er mindestens viermal im Brustbereich auf ihn eingestochen. Warum, das wissen die Vollraths bis heute nicht.

Gabriele S. will die Rettung rufen, ihr Sohn lehnt das ab. Sie schaut in das Zimmer und sieht den blutigen Raven auf dem Rücken auf der Matratze liegen. Zwei Stunden lang überlegen sie, was sie tun sollen. Markus legt dann die Leiche in den Kofferraum von Ravens Auto, verstaut die Matratze, das Bettzeug und einen beigen Badeteppich ebenfalls im Auto, und zwischen 2 und 3 Uhr morgens fahren sie los, um die Leiche zu beseitigen. In Haslach am Grüntensee, etwa eine halbe Autostunde von Zöblen entfernt, schon über der deutschen Grenze, kommen sie von einem Nutzweg ab, das Auto rutscht in einen Graben. Markus läuft ins nächste Dorf, um Hilfe zu holen, gegen 7.30 Uhr kommt er mit einem Mann zurück zum Auto, der es aus dem Graben zieht. Markus bietet ihm als Dank Freikarten für den Skilift in Zöblen an, er lehnt ab. Markus und seine Mutter fahren zurück nach Zöblen und lassen das Auto mit der Leiche im Kofferraum auf dem Liftparkplatz stehen.

Sie arbeiten an diesem 24. Dezember beide am Skilift, während keine 50 Meter daneben Raven Vollraths Leiche in einem Kofferraum liegt und dutzende ahnungslose Skifahrer daran vorbeispazieren. Nach Dienstschluss am späten Nachmittag, es ist bereits dunkel, fährt Markus noch einmal los. Er fährt die Bundesstraße 199 zweieinhalb Kilometer Richtung Schattwald und legt die Leiche, die Klappmatratze und den Badvorleger unter der Brücke ab. Die Tatwaffe wird nie gefunden. Den Badvorleger findet Günter Vollrath am 16. März 2008 nahe der Fundstelle, fast zwei Jahre, nachdem dort die Leiche seines Sohnes gefunden wurde. Er ist blutig, immer noch.

Es gibt kaum einen Mord, der einfacher aufzuklären gewesen wäre; Markus ist alles andere als ein kriminelles Genie. Noch im Jahr 2008 werden im Zuge der Ermittlungen nach dem Geständnis von Gabriele S. Blutspuren auf dem Holzboden beim Skilift gefunden, dort, wo Raven erstochen wurde, genauso auf der Treppe. Fast drei Jahre nach der Tat ist die DNA nicht mehr verwertbar.

Deshalb ist lange nicht klar, ob der Prozess gegen Markus zu einer Verurteilung führen wird. Er legt kein Geständnis ab und schweigt beim Prozess. Und seine Mutter ist keine besonders glaubwürdige Zeugin.

1992, da wird ihr Sohn gerade eingeschult, wird sie zum ersten Mal stationär in die Psychiatrie Kaufbeuren im bayerischen Allgäu eingewiesen. Sie steht unter Verdacht, dass sie sich und ihren Sohn mit einem Föhn in der Badewanne töten wollte. Anfang des nächsten Jahres überlebt sie einen weiteren Suizidversuch mit schweren Verletzungen; Markus lebt zwischenzeitlich immer wieder bei seiner Großmutter. Durch den Alkoholkonsum seiner Mutter ist das Verhältnis zu ihr schwierig, seinen Vater hat er nie kennengelernt.