Tourismussoziologie - Kerstin Heuwinkel - E-Book

Tourismussoziologie E-Book

Kerstin Heuwinkel

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Beschreibung

Alle Ansätze und Paradigmen im Überblick Tourismus nur durch die ökonomische Brille zu betrachten, greift zu kurz. Die Tourismuswirtschaft ist bedingt durch gesellschaftliche Zustände und Praktiken. Schließlich agieren Besucher:innen, Einheimische und touristische Dienstleister:innen miteinander. Auf dieses Beziehungsgeflecht geht Kerstin Heuwinkel ein: Sie stellt tourismussoziologische Ansätze und Paradigmen vor, skizziert wichtige Methoden und vermittelt die Vielzahl von soziologischen Zugängen zum Tourismus – z. B. Werte und Normen, Rollen, Macht und Identität. Soziologische Anwendungsfelder skizziert sie zudem – u. a. Verantwortung im Tourismus, Mobilitäten, Embodiment und soziale Medien. Ein Buch für Studierende der Tourismuswissenschaft, Soziologie und Humangeografie.

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Seitenzahl: 379

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Kerstin Heuwinkel

Tourismussoziologie

2., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage

Umschlagabbildung: Pavliha ∙ iStockphoto

Autorinnenfoto: © Mats Karlsson (für htw saar)

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

 

2., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage 2023

1. Auflage 2019

 

DOI: https://doi.org/10.36198/9783838560373

 

© UVK Verlag 2023

‒ ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich.

 

Internet: www.narr.de

eMail: [email protected]

 

 

Covergestaltung: siegel konzeption | gestaltung

 

utb-Nr.: 4923

ISBN 978-3-8252-6037-8 (Print)

ISBN 978-3-8385-6037-3 (ePDF)

ISBN 978-3-8463-6037-8 (ePub)

ISBN 978-3-8252-6037-8 (Print)

ISBN 978-3-8463-6037-8 (ePub)

Inhalt

Vorwort zur zweiten Auflage – Krisen als neue Normalität?Vorwort zur ersten Auflage1 EinführungSoziologieTourist:innenBewegung, Ortswechsel und das AndereRahmenbedingungenUmkehrung?Umdenken!2 Entwicklung der Tourismussoziologie2.1 Ansätze bei den Gründer:innen der Soziologie2.1.1 Max Weber: Deutendes Verstehen2.1.2 Karl Marx: Waren, Entfremdung und Kontrollverlust2.1.3 Émile Durkheim: Anomie, das Heilige, Repräsentationen2.1.4 Georg Simmel: Wandernder, Fremder, Reisebekanntschaft2.1.5 Erving Goffman: Interaktion, Theater und Gender2.2 Tourismussoziologische Werke2.2.1 Leopold von Wiese: Zwischenmenschliche Beziehung2.2.2 Hans Magnus Enzensberger: Theorie des Tourismus2.2.3 Hans-Joachim Knebel: Strukturwandel im Tourismus2.2.4 Tourismuskritik2.2.5 Dean MacCannell: Moderne Pilger2.2.6 Nelson Graburn: Tourismus als Ritual und Spiel2.2.7 John Urry: The Tourist Gaze2.2.8 Erik Cohen: Soziologie des Tourismus2.2.9 Christaller, Butler & Co.: Destinationslebenszyklus2.2.10 Arlie Hochschild: Emotionale Arbeit2.2.11 Cynthia Enloe: »Making Feminist Sense«2.2.12 Zygmund Bauman: Liquid Modernity2.3 Methoden der Tourismussoziologie2.3.1 Typologien und Klassifikationen2.3.2 Vergleich2.3.3 Beobachtungen2.3.4 Repräsentative Befragungen2.3.5 Einzelfallansatz: Reisebiografien2.3.6 Expert:inneninterviews2.3.7 Inhaltsanalysen2.3.8 Fallstudien2.3.9 Spurensuche2.3.10 E-Methoden: Onlinebefragung und Netnografie3 Soziologische Zugänge3.1 Soziale Ordnung3.2 System und Logik3.3 Werte und Normen3.4 Kultur und interkulturelle Begegnung3.5 Rollen3.6 Konstruktion, Performativität und Objectification3.7 Feminismus und GenderforschungSexual Objectification3.8 Konflikte3.9 Macht3.10 Rituale3.11 Devianz3.12 Gruppen3.13 Identität, Lebensstil und Körper3.14 Mediale Darstellung3.15 Umfeld, Objekte und Technologien4 Tourismussoziologische Anwendungsfelder4.1 Gefahren4.2 Angst als Konsumgut – Emotionen im TourismusEmotionen im Tourismus4.3 Begegnung mit Ungleichheiten4.4 Logik des Tourismus4.5 Gender und Tourismus4.6 Tiere im Tourismus4.7 Voluntourismus4.8 Inszenierung: Körper und IdentitätDarstellung und Inszenierung des SelbstKörper, Sinne, Emotionen4.9 Gesundheit und Medizintourismus4.10 Mediatisierung5 Reisen ist soziales HandelnLiteraturverzeichnisInternet, Blog, InstagramSachregisterPersonenregister

Vorwort zur zweiten Auflage – Krisen als neue Normalität?

In Interviews wurde mir mehrfach die Frage gestellt, ob Tourismus vor dem Hintergrund der andauernden Krisen überhaupt noch möglich sei und wie die Zukunft aussehen wird. Eine Antwort darauf ist vielschichtig. Sie muss die Gründe des Tourismus beschreiben und erklären, warum Menschen reisen. Darüber hinaus muss auf die wirtschaftliche Abhängigkeit vieler Länder von den Einnahmen aus dem Tourismus eingegangen werden. Weiterhin ist zu zeigen, dass viele Krisen respektive der Umgang damit leider inzwischen zur Normalität geworden sind, und Menschen gelernt haben, diese auszublenden. Gerade das Reisen steht ja in der Tradition von Ausblenden und Ignorieren. Schließlich handelt es sich beim Tourismus als weltweiten Wirtschaftszweig um ein stabiles, interessengetriebenes System mit zahlreichen Absicherungsmechanismen, das kontinuierlich Angebote kreiert, die ein Vergessen ermöglichen.

Die Beschäftigung mit diesen Fragen ist in die zweite Auflage eingeflossen. Im Vordergrund standen ganz zu Beginn Überprüfungen und Ergänzungen. Die Notwendigkeit einer Überprüfung ergab sich zunächst aus der Corona-Pandemie, insbesondere den damit verbundenen Reisebeschränkungen, sowie den Hoffnungen auf einen »neuen« Tourismus. Wenig überraschend, hat sich kaum etwas geändert und das Geschäft mit dem Reisen hat wieder an Fahrt aufgenommen.

Ergänzungen ergaben sich vor allem aus eigenen tourismussoziologischen Überlegungen und der Suche nach Lücken in der Theorie. Eine dieser Lücken zeigte sich bei den grundlegenden Werken der Soziologie. Es fehlte der frühe Hinweis auf Konflikte und Erklärungsansätze für die scheinbar nicht zu stoppende Dynamik des Tourismus. Eine Antwort darauf gab Karl MarxMarx, Karl, dessen Aussagen bereits in der ersten Auflage Beachtung fanden, allerdings nur in Fußnoten und Verweisen. Der kritische Blick wurde ergänzt durch die Aufnahme von Cynthia EnloeEnloe, Cynthia und Arlie HochschildHochschild, Arlie in den Theorieteil.

Schließlich fand eine sprachliche Aktualisierung mit dem Ziel der Verwendung einer nichtdiskriminierenden Sprache (bezogen auf Gender, Alter, Herkunft, sexuelle Orientierung, körperliche, geistige und soziale Fähigkeiten) statt. Eine Aktualisierung von Zahlenmaterial bedeutete aufgrund der Pandemie eine Herausforderung. An vielen Stellen sind Daten aus den Jahren 2018 und 2019 repräsentativer als aus den Jahren 2020 bis 2023. Das Literaturverzeichnis wurde ebenfalls ergänzt.

Unverändert ist mein Dank an die Menschen, die mich beim Schreiben begleitet und meine dem Schreiben geschuldete geistige Abwesenheit ertragen haben.

Köln, im Juli 2023

Kerstin Heuwinkel

Vorwort zur ersten Auflage

VorwortDieses Buch soll ein Gefühl für die Möglichkeiten und Freude an der Auseinandersetzung mit der Vielschichtigkeit des Tourismus ausgehend von soziologischen Ideen vermitteln.

Es dient im Wesentlichen Studierenden aus Tourismusstudiengängen dazu, einen Überblick über soziologische Theorien und Konzepte mit Tourismusbezug sowie über explizite tourismussoziologische Arbeiten zu erhalten. Weiterhin können Studierende der Soziologie auf diese Weise den direkten Anwendungsbezug ihres Faches erkennen.

Die Kapitel bauen aufeinander auf und sollten chronologisch gelesen werden. In → Kapitel 1 werden zentrale Begriffe wie Tourismus und Tourismussoziologie vorgestellt und abgegrenzt. Definitionen und Abgrenzungen leiten über zur Darstellung der Entwicklung der Tourismussoziologie in → Kapitel 2. Dazu wird erstens in den klassischen Werken der Soziologie nach tourismusrelevanten Ansätzen gesucht. Zweitens werden ausgewiesene tourismussoziologische Arbeiten vorgestellt. Das Kapitel enthält ebenfalls eine Übersicht häufig eingesetzter Methoden. In → Kapitel 3 folgt die Klärung zentraler Konzepte, die einen soziologischen Zugang zum Tourismus ermöglichen. Konkrete Anwendungsfelder bilden den Inhalt von → Kapitel 4. Zu den Feldern gehören u.a. Angst als Konsumgut, GenderGender und Tourismus sowie Mediatisierung. »Reisen ist soziales Handeln« fasst die Erkenntnisse des Buches in → Kapitel 5 zusammen.

Ein Buch zu schreiben ist eine Reise – eine Reise in die Gedankenwelten anderer Menschen. Viele dieser Menschen sind nicht mehr am Leben, so dass ich nicht überprüfen konnte, ob meine Deutung ihrer Worte korrekt ist. Zum Glück konnte ich feststellen, dass die zentrale Person der Tourismussoziologie – Erik Cohen1 – sehr lebendig und aktiv ist und weiterhin neue Themen des Tourismus aus soziologischer und anthropologischer Perspektive betrachtet. Auch wenn unsere Meinungen über den Tourismus an einigen Stellen voneinander abweichen, stimmen wir doch darin überein, dass es sich bei Tourismus »[…] um einen dynamischen sozialen Prozess [handelt], der ständig zu neuer Problematik führt [und der] tief mit anderen sozialen Prozessen verwickelt [ist]« (Cohen, persönliche Nachricht, 2018).

Es ist meiner Meinung nach sehr wichtig, im Dialog zwischen Menschen über menschliches Handeln zu sprechen, Begriffe zu finden und unterschiedliche Erklärungsmuster auszuprobieren.

Es wäre schön, wenn dieses Buch einige Menschen in die Lage versetzen würde, sich an dem Gespräch über Tourismussoziologie zu beteiligen.

Herzlichen Dank an meinen Lektor Rainer Berger, der mich auf die Idee brachte, die Inhalte meiner Lehrveranstaltung als Ausgangsbasis für ein Buch zu nehmen. Dank auch an die Studierenden für die Kommentare, ihre Reaktionen und Diskussionen.

Alle weiteren Danksagungen erfolgen persönlich.

 

Saarbrücken, September 2018

Kerstin Heuwinkel

1Einführung

Tourismus schwankt zwischen der »vergeblichen Brandung der Ferne« (Enzensberger, 1958) und der Kalkulation der durchschnittlichen Zimmerauslastung in einem Hotel, zwischen philosophischen Annahmen über die dem Menschen inne liegende Motivation zu reisen und betriebswirtschaftlichen Kennzahlen oder der geografischen Betrachtung räumlicher Strukturen.

Wissenschaftliche Publikationen reichen von den Emotionen eines Adventure Guides im Umgang mit den Tourist:innen bis zu den Auswirkungen des Prostitutionstourismus auf dörfliche Strukturen. Es werden sowohl Destinationen als soziale Systeme, Interaktionen zwischen Reisenden und Einheimischen als auch die Arbeitsbedingungen thematisiert. Neben theoretischen Konzepten werden empirische Studien durchgeführt.

Jeder der genannten wissenschaftlichen Zugänge zu dem Themenbereich Tourismus hat seine Rechtfertigung. In Deutschland überwiegen betriebswirtschaftliche sowie geografische Ansätze. In anderen europäischen Ländern hingegen wird Tourismus im stärkeren Maße aus der kulturwissenschaftlichen Perspektive betrachtet. Gründe dafür finden sich sowohl in der Geschichte des Tourismus als auch in den wissenschaftsinternen Logiken.

In diesem Buch wird Tourismus als gesellschaftliches Phänomen gesehen, das sowohl die Lebenswelten und Praktiken einzelner Menschen als auch Gruppen, Organisationen, Institutionen und Gesellschaften beeinflusst respektive aus diesen hervorgeht.

Beispielsweise kann gezeigt werden, dass die Motive und Formen des Urlaubs in Abhängigkeit von gesellschaftlichen Zuständen variieren. Zum einmaligen Jahresurlaub am Strand kommen Kurztrips in Städte hinzu. Wenn zwischenmenschliche Beziehungen im Alltag immer flüchtiger werden, steigt die Bedeutung des Familienurlaubs. Menschen, die von anderen Menschen enttäuscht sind, finden Ersatz in einem Haustier, das als Reisebegleitung fungiert.

Andererseits wirkt sich der Tourismus auf das natürliche, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Umfeld von Menschen aus. Touristische Aktivitäten verändern Lebenswelten und Lebenschancen, sie beeinflussen die Beziehungen zwischen Menschen und Teilaspekte ganzer Gesellschaften. Dieses gilt sowohl für die Tourist:innen als auch für die Menschen in den Regionen, die besucht werden. Auch und gerade in Bezug auf das Verhältnis zwischen Tourist:innen und »Einheimischen« zeigen sich vielfältige Wechselwirkungen.

Trotz der Verflechtung von Tourismus und Gesellschaft fehlt bislang eine systematische wissenschaftliche Analyse ausgehend von soziologischen Theorien und Methoden. Ein Blick in die Literatur zeigt nur eine geringe systematische und kontinuierliche Anwendung soziologischer Theorien und Methoden. Vereinzelt sind Studien zu finden, die ausgehend von soziologischen Konzepten touristische Phänomene beleuchten. Die Ergebnisse werden kaum in einen theoretischen Zusammenhang gestellt. Tourismussoziologie als Disziplin kann – zumindest in Deutschland – nicht nachgewiesen werden.1 Die explizite Nennung der Tourismussoziologie ist nur selten zu finden. Im Gegensatz dazu sind andere gegenstandsbezogene Soziologien wie die Medizin-, Medien-, Stadt-, Arbeits- und Organisationssoziologie fest in soziologischen Studiengängen verankert.

Viele Fragen, Unsicherheiten und Entwicklungen, die im Zusammenhang mit Tourismus diskutiert werden, könnten beantwortet werden, wenn wir uns häufiger auf die Schultern von Riesen (Robert K. Merton) der Soziologie stellen würden. Dabei soll es nicht darum gehen, alles zu erklären, sondern darum mit Theorien mittlerer Reichweite ein Orientierungswissen anzubieten und zu lernen, deutend zu verstehen (Max Weber) statt pauschal das Verhalten »der Tourist:innen« zu verurteilen.

Eine Formulierung von Erik Cohen (1979b) aufgreifend, soll der Platz des Tourismus in der Gesellschaft (place of tourism in society) bestimmt und hinsichtlich der daraus resultierenden Konsequenzen untersucht werden.

Im Mittelpunkt der Betrachtungen stehen somit die gesellschaftlichen Bedingungen und Wirkungen des Tourismus sowie des Menschen als gesellschaftliches Wesen, das sich bewusst und freiwillig von seinem Wohnort für eine begrenzte Zeit entfernt, um … tja, gerade dieses Warum ist bereits eine zentrale Frage der Tourismussoziologie. Die Antworten darauf reichen vom Motiv der Flucht vor dem Alltag bis zu einer von vier möglichen Lebensformen, die für die Gegenwart charakteristisch sind Bauman, Zygmund(Karl Marx, Zygmund Bauman). Vielleicht ist es auch nur die Faszination des Aufbruchs oder das Quengeln der Kinder, die im Sommer nicht zu Hause bleiben wollen. Die Auseinandersetzung mit den Erklärungen zeigt, dass alle Antworten ein bisschen falsch und ein bisschen richtig sind.

Gesellschaft bietet einen Raum von Handlungsmöglichkeiten und sozialen Praktiken. Menschen greifen diese auf, variieren sie und spielen damit. Tourismus umfasst sämtliche Handlungen, die eine (freiwillige) und zeitlich begrenzte Entfernung vom üblichen Umfeld umfassen und die Elemente des Systems touristischer Dienstleister nutzen.

Abb. 1:

Startpunkt eines Wanderweges

Soziologie

Soziologie versucht, »[…] soziales Handeln deutend zu verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich [zu] erklären« (Weber, 1980, S. 1). Diese Formulierung ist nur eine von vielen, da die Soziologie wie jede andere Wissenschaft unterschiedliche Theorien, die zum Teil sehr widersprüchlich sind, umfasst. In → Kapitel 3 wird ausführlicher auf Perspektiven eingegangen. Webers Ansatz der verstehenden Soziologie eignet sich sehr gut als Einstieg für die Tourismussoziologie, weil er die Forschenden dazu zwingt, die Perspektive der handelnden Personen einzunehmen. Dadurch wird eine distanzierte und verurteilende Bewertung des Tourismus – insbesondere des Massentourismus – vermieden. Ebenfalls schulen Webers Idealtypen das analytische Vermögen. Um tiefer in die Schaffung von gesellschaftlicher Wirklichkeit und Interaktion zwischen Tourist:innen, Dienstleistenden und Einheimischen einzutauchen, sind interpretative und konstruktivistische Modelle erforderlich. Der methodologische Individualismus ist eine gute Ausgangsbasis, die jedoch um systemtheoretische Ansätze und Netzwerktheorien – insbesondere relationale Theorien und Akteur-Netzwerk-Theorien – ergänzt werden sollte.

Tourist:innen

Sprache verrät vieles. Wie lautet beispielsweise das Verb für Tourist:in? Was machen Tourist:innen, was ist ihre zentrale Handlung? Ein solches Verb existiert in der deutschen Sprache nicht. Vermutlich1 deswegen, weil davon ausgegangen wird, dass Tourist:innen ganz und gar Tourist:innen sind. Reisende hingegen sind Menschen, die reisen. Die Gegenüberstellung von Tourist:innen und Reisenden zieht sich wie ein roter Faden sowohl durch wissenschaftliche Publikation zum Tourismus als auch durch Reiseblogs und Zeitungsartikel.

Soziologie kann dabei helfen zu erklären, warum es diese Unterscheidung gibt, wie sie gesellschaftlich konstruiert wird, wie sie sich verändert und wie Menschen mit dieser umgehen. Die Aussage »Ich bin Reisende und keine Touristin« erfüllt einen Zweck. Sie distanziert die Person von anderen und stellt das eigene Handeln in einen anderen – vermeintlich besseren – Zusammenhang.

Bewegung, Ortswechsel und das Andere

Bewegung und Ortswechsel waren über Jahrhunderte ein Normalzustand für Menschen. Motiviert war dieses zumeist durch Mangel- oder Notsituationen. Es fehlte an Wasser und Nahrung für Menschen und Tiere oder Konflikte mit anderen Menschen machten eine Ortsveränderung erforderlich.

Ergänzend gibt es Hinweise darauf, dass das Verlassen eines Ortes nicht immer nur durch eine Mangelsituation bedingt war. Das Motiv der Neugier und des Entdeckens kam an vielen Stellen dazu. Sehenswürdigkeiten lockten Menschen an. Entdecker:innen, Abenteurer:innen und Wahnsinnige reisten an unbekannte Orte. Hinzu kamen militärische, religiöse und kommerzielle Gründe. Auch die Gesundheit oder das Interesse an anderen Kulturen spielte eine Rolle.

Simmel (1903) spricht von »seelischen Gegensatztendenzen« (Soziologie des Raums). Das Konzept des Anderen, das im Tourismus erlebt werden kann, ist ein wiederkehrendes Motiv, das auf philosophische Ansätze zurückgreift.

Heutzutage ist der Ortswechsel in vielen Regionen der Welt habitualisiert. Es gehört dazu, in den Urlaub zu fahren und den längeren Sommerurlaub um Kurzreisen zu ergänzen. Die Dominanz der westlichen Welt verschiebt sich zunehmend in Richtung Asien und auch in afrikanischen Ländern entwickelt sich der Outbound-Tourismus.

Rahmenbedingungen

Die Art und Weise, wie Menschen reisen, ist abhängig von zahlreichen Einflussfaktoren. Technologische Entwicklungen vor allem im Transportwesen, politische Rahmenbedingungen und finanzielle Möglichkeiten beeinflussen, ob und wie Menschen reisen können. Darüber hinaus arbeitet die Tourismuswirtschaft daran, das Reisen zu vereinfachen. Interkontinentalflüge sind eine Selbstverständlichkeit und die Besteigung des Mount Everest ist inzwischen eine planbare Aktivität.

Eine zentrale Rahmenbedingung des Tourismus ist der Mensch an sich. Bedürfnisse, Interessen, Einstellungen und soziale Praktiken verändern sich. Noch basiert Tourismus darauf, dass Menschen entfernt vom üblichen Umfeld das Andere erleben. Dieses Andere kann der Strand von Westerland oder auch eine Dorfgemeinschaft in Simbabwe sein. Die Formel »Ich bin dann mal weg« bezieht sich aktuell noch auf die Lösung des Körpers vom Gewohnten. Durch soziale Medien wird jedoch die Loslösung reduziert. Ich bin zwar weg, aber weiterhin erreichbar.

Umkehrung?

Eine wesentliche Frage für die Zukunft wird sein, ob auch eine Umkehrung der Situation wie folgt denkbar ist: »Ich bin zwar hier, aber nicht erreichbar«. Wird also das Erleben der Differenz zukünftig durch eine Loslösung von den kommunikativen Strukturen erreicht?

Zweitens findet unter Umständen eine Umkehrung der Verhältnisse statt. Wenn »der Westen« im zunehmenden Maße eine »bereiste« Region wird, kann die Begegnung mit dem menschlichen Anderen im heimischen Umfeld stattfinden. Fraglich ist, ob die Begegnung im eigenen Land als Erlebnis des Anderen empfunden wird. Hinzu kommt, dass sich die Machtverhältnisse und die üblichen Asymmetrien umkehren.

Vor der Diskussion von zukünftigen Entwicklungen steht im nächsten Kapitel zunächst der Blick zurück in die Soziologie und die Tourismussoziologie.

Umdenken!

Die Hoffnung darauf, dass »nach Corona« ein neuer und besserer Tourismus an die Stelle des alten rückt, war von Beginn an eine Illusion, die sowohl die Gründe des Reisens als auch die Macht der Tourismuswirtschaft unterschätzte. Selbst wenn sich die Einstellungen von Menschen langsam verändern und die Bereitschaft zu verändertem Konsum steigt, ist gerade beim Tourismus der Schritt zwischen Einstellungs- und Verhaltensänderung enorm. Solange alles erlaubt und vieles bezahlbar ist, liegt die Entschuldigung »Urlaub ist doch nur einmal im Jahr« sehr nahe. Aktuell mehren sich die Forderungen nach mehr Verboten und der Regulation touristischen Verhaltens.

Abb. 2:

Beispiel eines Verbotsschilds

2Entwicklung der Tourismussoziologie

Da der Begriff Tourismus erst um 1880 in England und seit 1960 in Deutschland gebraucht wurde,1 wird zunächst in klassischen Werken der Soziologie nach Ansätzen gesucht, die einen Bezug zum Tourismus haben, auch wenn der Begriff nicht explizit verwendet wird. Dem schließt sich eine Darstellung genuiner tourismussoziologischer Arbeiten an.

Wissen │ Nähe zu anderen Themen

Tourismussoziologie hat eine große Nähe zur Freizeitsoziologie. Eine Gleichsetzung ist nicht zu empfehlen, da dadurch ein wesentliches Merkmal des Tourismus – der Aufenthalt in der »Fremde« – verloren geht. Weiterhin trägt der Tourismus im größeren Maße als die Freizeit eine eigene Wirklichkeit in sich, die sich von Arbeit und Freizeit sowohl kontrastiert als auch Elemente derselben integriert.

Eine weitere Verbindung besteht zur Sportsoziologie, da Sport den Menschen Situationen bietet, die »der modernen Arbeitswelt ein Kontrastprogramm entgegenstellen« (vgl. Bette, 2010). Allerdings ist die »Fremde« kein zentrales Element des Sports, auch wenn durch Sporttourismus (im weiten Sinne) Reisen zustande kommen.

Ethnologie, Ethnografie und Anthropologie haben mehrere Berührungspunkte mit der Tourismussoziologie, da diese die (fremden) Kulturen der Welt erforschen. Ethnologische Studien sind oft Grundlage für die Tourismussoziologie, da diese Aussagen zum Zusammenhang zwischen Kultur, Kulturwandel und Tourismus treffen. Ethnolog:innen wie Lévi-Strauss, George Herbert Mead und Margaret Mead waren zudem Reisende, die als Vorbilder für die Konstruktion der Reisenden in Abgrenzung von Tourist:innen benutzt werden.

2.1Ansätze bei den Gründer:innen der Soziologie

Die Soziologie untersucht das Zusammenleben von Menschen in (modernen) Gesellschaften. Sowohl die Voraussetzungen als auch die Rahmenbedingungen menschlicher Gemeinschaften werden erforscht. Eine der zentralen Fragen ist dabei, wie soziale Ordnung möglich ist. Wie kann es sein, dass Menschen, die sich nicht kennen, in einem Wohnhaus, einer Stadt, einem Land zusammenleben und im Großen und Ganzen miteinander zurechtkommen? Wieso haben Menschen die Sicherheit, dass sich andere mit großer Wahrscheinlichkeit auf eine bestimmte Art und Weise und nicht anders verhalten? Wie gelingt es, dass neue Mitglieder einer Gesellschaft in diese integriert werden? Und schließlich: Wie kann sozialer Wandel erklärt werden? Wie tragen die Handlungen einzelner Menschen dazu bei, dass sich Verhaltensweisen und Erwartungen ändern?

Soziologische Theorien können grob danach unterschieden werden aus welcher Perspektive Gesellschaft betrachtet wird:

Die MakrosoziologieMakrosoziologie ist jene, die auf gesellschaftliche Strukturen und soziale Gebilde fokussiert. Beispiele sind Modernisierungsprozesse in Abhängigkeit von der wirtschaftlichen Situation eines Landes.

Die MikrosoziologieMikrosoziologie hingegen stellt die Individuen in den Mittelpunkt und fragt danach, wie sich der einzelne Mensch innerhalb der Gesellschaft orientiert und in dieser handelt. Im Mittelpunkt stehen Interaktionen zwischen Menschen und einzelne Handlungen, die einen Bezug zu anderen oder zur Gesellschaft haben. Ein Beispiel ist das Reiseverhalten eines Menschen in Abhängigkeit vom Umweltbewusstsein.

Hinzu kommen vermittelnde Ansätze, die das Wechsel­spiel von gesellschaftlichen Strukturen und (individuellem) menschlichem Handeln erklären wollen. So stellt Elias (1993) Verflechtungszusammenhänge und Machtbalancen in den Mittelpunkt seiner Theorie. Mit der Analogie des Spiels veranschaulicht er seine Aussagen.

Weiterhin steht eine verstehende Herangehensweise einer erkennenden gegenüber. Während die erste den Sinn des sozialen Handelns verstehen und dann erklären möchte, werden bei der zweiten Herangehensweise naturwissenschaftliche Methoden zur Aufdeckung (kausaler) Zusammenhänge eingesetzt.

Die Faszination und Herausforderung der Soziologie liegen darin, dass sie – vergleichbar mit der Psychologie – dem Menschen sich selbst vor Augen führt und zwar als ein soziales Wesen, das mit anderen Menschen in Beziehung(en) steht.

Zitat

»Wenn man verstehen will, worum es in der Soziologie geht, dann muß man in der Lage sein, in Gedanken sich selbst gegenüberzutreten und seiner selbst als eines Menschen unter anderen gewahr zu werden.« (Elias, 1993, S. 9)

Da Soziologie Aussagen zu gesellschaftlichen Zuständen trifft, hat sie Einfluss auf die Gesellschaft. Sie bietet durch ihr Wesen als Mythenjäger (Elias, 1993) die Grundlage für die Aufdeckung sozialer Prozesse, die erklären, warum etwas »geworden« ist. Die Frage, ob sie Werturteile treffen und damit aktiv in gesellschaftliche und politische Prozesse eingreifen soll, ist umstritten. Nach Weber (1980) kann die Soziologie Werte zwar untersuchen und hinsichtlich einiger Aspekte wie Angemessenheit und Widerspruchslosigkeit bewerten, sie kann diese aber nicht in Form von Soll-Sätzen der Gesellschaft zur Befolgung nahelegen. Da Soziologie jedoch bspw. soziale Ungleichheiten thematisiert, handelt es sich um eine kritische Wissenschaft.

Die nachfolgenden Darstellungen ausgewählter klasischer Werke der Soziologie (Weber, Marx, Durkheim, Simmel, Elias und Goffman) beginnen alle mit einer Skizze der zentralen Konzepte. Dem schließt sich eine Diskussion der für die Tourismussoziologie relevanten Aussagen an. Die Auswahl basierte auf zwei Kriterien. Erstens sollten die Werke bereits in tourismussoziologischen Arbeiten behandelt worden sein. Zweitens flossen Erfahrungen aus Lehrveranstaltungen hinsichtlich eines guten Einstiegs in die Soziologie ein. Eine Einführung in die Theorien u.a. von Bourdieu, Giddens und Habermas erfolgt in → Kapitel 3 bezogen auf spezifische Themen.

2.1.1Max Weber: Deutendes Verstehen

Max WeberWeber, Max (*1864 †1920) gilt neben TönniesTönnies, Ferdinand und SimmelSimmel, Georg als einer der drei Gründerväter der deutschen Soziologie. Sowohl die Herrschafts- als auch die Religionssoziologie gehen im Wesentlichen auf ihn zurück. Sein Werk »Wirtschaft und Gesellschaft« (1920) ist eine zentrale Publikation im Bereich der Wirtschaftssoziologie. Weitere Bereiche wie die Medien- und Musiksoziologie leiten sich aus Webers Werken ab.

Webers zentrales Konzept ist das deutende Verstehen. Demnach besteht die Aufgabe der Soziologie darin, »soziales Handeln deutend [zu] verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich [zu] erklären« (Weber, 1980, S. 1). Soziales Handeln ist solches Handeln, »welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist« (a.a.O.). Es ist das konstituierende Element der Soziologie als Wissenschaft.

Beispiel │ Menschliches Verhalten, Handeln, soziales Handeln

Wenn ein Knall mich erschreckt und deswegen mein Arm hochzuckt, ist das ein menschliches Verhalten. Wenn eine Mücke um meinen Kopf schwirrt und ich den Arm in die Luft hebe, um sie zu verscheuchen, ist das Handeln. Wenn mein Sohn sich zu mir dreht und mir zuwinkt und ich ebenfalls den Arm hebe, um ihm zu winken, ist das soziales Handeln.

Nach Weber sind sich Menschen bewusst, dass sie ein Mensch unter anderen sind und sie nehmen in ihrem Handeln darauf Bezug. Sie orientieren sich an anderen, sie berücksichtigen die Reaktionen anderer und sie versuchen ebenfalls, das Handeln anderer zu beeinflussen. Schließlich versuchen sie, Handlungen anderer zu erahnen und Menschen variieren ihr Handeln entsprechend.

Weber (1980, S.12ff.) hat vier Idealtypen des menschlichen HandelnsIdealtypendes menschlichen Handelns formuliert. Diese sind konstruierte Begriffe, die wesentliche Aspekte des Handelns betonen und andere ausblenden. Die vier Idealtypen sind:

das zweckrationale,

das wertrationale,

das affektuelle und

das traditionale Handeln.

Das zweckrationale Handeln orientiert sich an als Erfolg definierten Zwecken unter Berücksichtigung der Außenwelt. Das wertrationale Handeln hingegen ist darauf zurückzuführen, dass die handelnde Person meint, dass dieses Handeln einen Wert an sich hat. Unabhängig vom Erfolg des Handelns hat dieses einen Wert. Im Gegensatz zu diesen beiden rationalen Typen des Handelns sind sowohl das affektuelle als auch das traditionale Handeln nicht offensichtlich sinnhaft, sondern sie ergeben sich durch unbewusste Vorgänge. Das affektuelle Handeln folgt Gefühlen und das traditionale Handeln eingelebten Gewohnheiten. Für den Tourismus sind das affektuelle und das traditionale Handeln von großer Bedeutung. Beispiele sind spontane Reiseentscheidungen und Aktivitäten während einer Reise, für die sich ein Mensch ohne großes Nachdenken entscheidet. Urlaubsroutinen bezüglich der Wahl einer Destination oder Rituale im Urlaub sind ebenfalls prägend.

Wissen │ Idealtypen

Webers Idealtypen können auf den Tourismus übertragen werden, indem idealtypische Konstruktionen touristischen Verhaltens formuliert werden. Empirisch ist touristisches Verhalten immer eine Mischform.

Zweckrationaler TourismusTourismuszweckrationaler Tourismus: Es wird gereist, um etwas damit zu erreichen. Geschäftsreisen sind ein Beispiel für zweckrationalen Tourismus, da die Reise angetreten wird, um eine Konferenz, eine Messe, ein Partnerunternehmen oder Kund:innen zu besuchen. Weitere Beispiele sind Sprachreisen, Forschungsreisen oder auch gesundheitlich motivierte Reisen.

Wertrationaler TourismusTourismuswertrationaler Tourismus: Beim wertrationalen Tourismus hat die Reise an sich einen Wert. Menschen, die den Jakobsweg pilgern, verbinden damit einen religiösen Wert. Ein anderes Beispiel ist eine Reise zu berühmten Museen, um dort die Kunstwerke zu sehen. Ein weiterer Wert kann auch die Zeit mit der Familie oder eine Reise alleine sein.

Affektueller TourismusTourismusaffektueller Tourismus: Die Reise wird durch eine aktuelle Gefühlslage beeinflusst. Dieses kann ein romantisches Wochenende oder eine spontane Fahrt ans Meer sein. Es besteht ein enger Bezug zur Loslösung und zum unkonventionellen Ausbruch aus der Routine.

Traditionaler Tourismus:Tourismustraditionaler Tourismus Manche Familien reisen über Generationen hinweg in den Sommerferien an einen bestimmten Ort. Sie wohnen im selben Hotel wie immer und haben einen festen Platz im Restaurant. Es handelt sich um eine eingelebte Gewohnheit.

Weber ist selber öfter und für längere Zeit gereist, u.a. drei Monate durch die USA, hat das Reisen aber nicht explizit in seinen Arbeiten als Gegenstand der Soziologie thematisiert. Dennoch lassen sich mehrere Anknüpfungspunkte zum Reisen finden. Folgende Themen bieten sich an:

[1]

Sinn: Weber betont die Bedeutung der individuellen Motivation im Kontext sozialer Rahmenbedingungen. Um soziales Handeln zu verstehen, muss der von der handelnden Person damit verbundene Sinn aufgedeckt werden. Diese Herangehensweise ermöglicht eine Betrachtung touristischen Handelns aus der Sicht der handelnden Person. Auf diese Weise kann von außen zunächst nicht sinnvolles Handeln nachvollzogen werden (→ Kapitel 3.11 Devianz)

[2]

Deutendes Verstehen: Das deutende Verstehen kann als Methode verwendet werden, um den mit sozialem Handeln verbundenen Sinn der Erholung, des Urlaubs, der Bildung etc. zu verstehen. Auch wenn Weber das deutende Verstehen mit einem kausalen Ansatz verknüpfte, kann es als Grundlage des interpretativen Paradigmas (→ Box S. 128) gesehen werden.

[3]

Kultureller Kontext: Weber hat die Wechselwirkungen zwischen den gesellschaftlichen Moralvorstellungen und dem Handeln von Menschen untersucht. So gibt es Gesellschaften, in denen strenge Verhaltensregeln herrschen, und andere, die den Menschen ein freieres, ungeplantes und genussfreudiges Leben erlauben.

Daraus resultiert erstens, dass Gesellschaftsmitglieder sich hinsichtlich ihres Verhaltens unterscheiden. Weber (2017) analysiert in seinen religionssoziologischen Arbeiten, wie Moralvorstellungen die Interessen von Menschen, beispielsweise an der Natur oder dem Sport, beeinflussen können. Das puritanische Interesse am Sport hatte einen rationalen Zweck. Sport als Genuss und Freude wurde nicht akzeptiert.

Zweitens hat die Kultur einer Gesellschaft maßgeblichen Einfluss auf die gesamte Stimmung innerhalb der DestinationDestination. Menschen aus »strengen« Kulturkreisen suchen in »lebensfrohen« Destinationen eine Entspannung.

Somit ist der kulturelle Kontext sowohl für die Analyse der Tourist:innen als auch für die Betrachtung der Einheimischen und Gastgebenden relevant.

[4]

Arbeitsethos: Das Arbeitsethos ist ebenfalls kulturell bedingt und beeinflusst das Verhalten von Menschen im Alltag und im Urlaub. So gibt es Tourist:innen, die den Urlaub mit einer Arbeitslogik angehen: Die gesamte Reise wird komplett durchgeplant und eine To-do-Liste wird abgearbeitet. Nach der Rückkehr werden stolz die Erfolge der Reise präsentiert. Im Gegensatz dazu stehen Tourist:innen, die sich treiben lassen.

Webers Ansatz des deutenden Verstehens ist die Basis für eine sozialwissenschaftliche Herangehensweise an den Tourismus. Das Reisen ist demnach ein in gesellschaftliche Zustände eingebundenes Phänomen, das nur vor diesem Hintergrund erklärt werden kann. Tourismus sollte hinsichtlich seiner kulturellen Bedeutung analysiert und von anderen Phänomenen abgegrenzt werden (Spode, 2012, S. 2).

Obwohl Weber ein sehr umfangreiches Werk hinterlassen hat, finden sich wenig tourismussoziologische Arbeiten, die seine Gedanken systematisch aufgreifen.1Dann & Cohen (1991) haben auf mehrere Anknüpfungspunkte hingewiesen, die in einzelnen Publikationen aufgegriffen wurden.

Mody & Day (2014) nutzen Webers Idealtypen, um Social Entrepreneurship (soziales Unternehmertum) im Tourismus zu erklären und die dahinterliegenden Rationalitäten aufzudecken. Um am Gemeinwohl orientiertes Handeln zu erklären, reicht das rationale, auf individuellen Erfolg ausgerichtete Denken nicht aus. Nur unter Hinzunahme des wertrationalen Handelns kann erklärt werden, warum Unternehmen nicht die Gewinnerzielung in den Mittelpunkt stellen, sondern die Lösung sozialer Probleme.

Wissen │ Social Entrepreneurship

Unter Social Entrepreneurship wird eine unternehmerische Aktivität verstanden, die sich für die Lösung sozialer Probleme einsetzt. Mit innovativen Ansätzen sollen auf eine pragmatische Art und Weise langfristig gesellschaftliche Missstände behoben werden. Beispiele für Social Entrepreneurship im Tourismus finden sich in der Beherbergung, bei Natur- und Abenteuerreisen, bei Kunst und Handwerk und beim Surfen. Beispiele finden sich auf der Website von Social Entrepreneurship Competition in Tourism. 🔗 https://socialtourismcompetition.com/

Roland Barthes (*1915 †1980) bezieht sich in seiner Analyse des »Blauen Führers« auf Weber2, da er die Vorlieben des Bürgertums für das Gebirge oder fruchtbare Ebenen auf bürgerliche Tugenden zurückführt.

Zitat

»Nur das Gebirge, die Schlucht, der Engpaß und der Wildbach haben Zugang zum Pantheon des Reisens, sicher deshalb, weil sie eine Moral der Mühe und der Einsamkeit zu stützen scheinen.« (Barthes, 1996, S. 59)

Das Zitat beinhaltet einen Erklärungsansatz dafür, warum bestimmte Bevölkerungsschichten einen bestimmten Typ von DestinationDestination wählen. Demnach werden natürliche Begebenheiten gesellschaftlich gedeutet und in Übereinstimmung mit Werten gebracht. Die klare Luft, die mit dem Anstieg verbundene Anstrengung sowie der Gipfel als alles überragender Ort spiegeln bürgerliche Ideale wider. Die klare Luft steht für die Klarheit des Denkens, während der Gipfel Erfolg symbolisiert.

Weiterhin kann das Zitat so gedeutet werden, dass es innerhalb des Reisens Unterschiede gibt, die gesellschaftliche Unterschiede symbolisieren. So steht dem Pantheon (Sitz der Götter) die profane Ebene gegenüber.

Auch Webers Ideen zu Wirtschaft und Macht können in einzelnen Arbeiten nachgewiesen werden. (Heuwinkel, 2019) Trotz der zahlreichen Ansätze findet sich keine geschlossene auf Weber zurückgehende Tourismussoziologie.

2.1.2 Karl Marx: Waren, Entfremdung und Kontrollverlust

Das Werk von Karl MarxMarx, Karl (*1818 †1883) ist trotz der Nichtvollendung (Neffe, 2018) äußerst umfangreich. Seit dem Erscheinen wurde es immer wieder äußerst kontrovers und oft selbst im wissenschaftlichen Kontext höchst emotional diskutiert. Im Umgang mit dem Werk ist eine deutliche Abgrenzung zwischen Marx‘ theoretischen Arbeiten und dem, was politische und wirtschaftliche Akteure unter dem Begriff des Marxismus daraus gemacht haben, entscheidend.

In den letzten Jahren finden die Arbeiten von Marx, insbesondere die frühen Schriften (Kommentar von Quante, 2009) und Das Kapital (2020 [1867]) wieder zunehmend Berücksichtigung in der deutschsprachigen Wissenschaft.

Der Kern von Marx Theorien ist der soziale KonfliktKonflikte zwischen zwei sozialen Klassen (Bourgeoisie und Proletariat) und daraus resultierend der Wandel in industriellen Gesellschaften. Damit begründete Marx den soziologischen Begriff der KlasseKlasse, auch wenn er kein Soziologe war. Die Interessen der beiden Klassen sind nicht miteinander vereinbar. Der relative kleinen Anzahl an Eigentümer:innen steht eine Masse von Arbeitenden gegenüber.

Zitat

»Der Arbeiter wird eine um so wohlfeilere Ware, je mehr Waren er schafft. Mit der Verwertung der Sachenwelt nimmt die EntwertungEntwertung der Menschenwelt in direktem Verhältnis zu. Die Arbeit produziert nicht nur Waren; sie produziert sich selbst und den Arbeiter als eine Ware, und zwar in dem Verhältnis, in welchem sie überhaupt Waren produziert.« (MEW, Band 40, S. 511)

»Der Gegenstand, den die Arbeit produziert, ihr Produkt, tritt ihr als ein fremdes Wesen, als eine von dem Produzenten unabhängige Macht gegenüber.« (ebd.)

»Die Entfremdung des Menschen, überhaupt jedes Verhältnis, in dem der Mensch zu sich selbst [steht], ist erst verwirklicht, drückt sich aus in dem Verhältnis, in welchem der Mensch zu d[em] andren Menschen steht.« (MEW, Band 40, S. 517)

Die ProduktionsverhältnisseProduktionsverhältnisse in Industriegesellschaften führen zur mehrfachen EntfremdungEntfremdung der Arbeitenden von der Arbeit, den Produkten, anderen Arbeitenden und schließlich sich selbst. Die Arbeitenden geben sich, ihre Seele in die Produkte (Waren), die sie selbst nicht erwerben können. Marx steigert die Aussage noch, indem er formuliert, dass der Mensch selbst zu einer Ware wird. Für ihn macht »die Bearbeitung der gegenständlichen Welt« (MEW, 40, S. 517), die freie Kreation und die Betrachtung der von geschaffenen Werke den Menschen aus. Wenn Menschen nicht mehr die Ergebnisse ihrer Arbeit sehen, entfremden sie sich.

Ein aus soziologischer Sicht besonders wichtige Ausprägung der Entfremdung »ist die Entfremdung des Menschen von dem Menschen« (ebd.). Der Mensch steht zu anderen Menschen, wie zu sich und somit steht der entfremdete Mensch anderen entfremdet gegenüber. Die systematische Ausbeutung basiert darauf, dass die Arbeitenden weniger für ihre Arbeit erhalten, als die Kapitalist:innen für den Verkauf der Waren. Auch werden Waren produziert, die nicht zum Überleben benötigt werden. Es ist eine endlose Abfolge der Kreation von Bedürfnissen und Waren, die immer mehr Geld erfordern und deswegen an ein Ende der Arbeit resp. des Geldverdienens, um es wieder auszugeben, nicht zu denken ist. Die Frage, was Menschen wirklich brauchen, wird nicht mehr gestellt.

Es sind jedoch nicht menschliche Akteure, die für den Zustand verantwortlich sind. Marx spricht von einem fremden Wesen, einer unabhängigen Macht, die aus den Verhältnissen und Bedingungen heraus resultiert und sich aus sich heraus immer weiterentwickelt. Sie herrscht über alles und kontrolliert die Menschen. Der KontrollverlustKontrollverlust wirkt sowohl auf Arbeitende als auch auf Industrielle.

Tipp │ Marx lesen

Je mehr Sie MarxMarx, Karl oder über Marx lesen, desto häufiger werden Sie bei anderen Autor:innen seine Gedanken und Formulierungen entdecken. Die Waren des Tourismus sind Sehenswürdigkeiten und somit beschreibt Enzensberger (→ Kapitel 2.2.2) mit dem Satz »[…] Heimkehr, die den Touristen selbst zur Sehenswürdigkeit macht«, wie Tourismus die Tourist:innen selbst zur Ware macht. Hochschild (→ Kapitel 2.2.10) übernimmt das Konzept der Entfremdung und überführt es in den Bereich der Dienstleistungen. Dort wird nicht die körperliche Arbeit, sondern die emotionale Arbeit zur Ware.

Die Aussagen von Marx fanden bislang in tourismussoziologischen Arbeiten unterschiedliche Berücksichtigung (vgl. exemplarisch den Sammelband von Dann & Liebman Parrinello, 2009).

Nachfolgend werden Vorschläge und Beispiele für die Nutzung der zentralen Begriffe von Marx in der Tourismussoziologie genannt.

Entfremdung als GrundReisegrund für das Reisen:

Die Kondition des mehrfach entfremdeten Menschen in der Industriegesellschaft kann als Grund dafür gesehen werden, dass Menschen für eine kurze Zeit daraus ausbrechen und in der Ferne nach sich und dem Kontakt zu anderen suchen. Die Rückkehr ist deswegen erforderlich, weil die Logik des Systems einen langfristigen Ausstieg nicht vorsieht. Dieses Motiv wurde u.a. von MacCannell (→ Kapitel 2.2.5) und Graburn (→ Kapitel 2.2.6) aufgegriffen.

Tourismus als WareWare und fremde Macht:

Tourismus entwickelt eine eigene Logik und Waren, die auf eine spezielle Weise konsumiert werden müssen. Als Konsequenz ist das touristische Handeln nicht frei, sondern Zwängen unterworfen, die das Erleben ständig neuer und unbekannter Welten beinhaltet. Dieser Gedanke findet sich deutlich bei Enzensberger (→ Kapitel 2.2.2) wieder. Baumans (→ Kapitel 2.2.12) Beschreibung der Moderne in der die Menschen danach bewertet werden, wie viel sie konsumieren können, ist eine Fortführung der Gedanken von Marx zur Produktion.

Entfremdung der LeistungserbringendenLeistungserbringenden:

Während bei Marx die gegenständliche Arbeit im Vordergrund stand, sind es im Tourismus Dienstleistungen, in welche die Leistungserbringenden sich selbst, ihre Emotionen hineinlegen. Dieses Konzept und die Konsequenzen desselben wurden von Hochschild (→ Kapitel 2.2.10) ausgearbeitet.

Entfremdung der EinheimischeEinheimischen:

Während die Leistungserbringenden für ihre Beteiligung am Tourismus Lohn erhalten, werden die Einheimischen nicht nur ungefragt, sondern auch ohne Gegenleistung in den Tourismus einbezogen. Da lange Zeit eine klare geographische Verteilung zu erkennen war, konnte von der Klasse der Reisenden und der Klasse der Bereisten gesprochen werden.

Abschließend ist noch ein Blick auf Marx als Reisender interessant. Marx war aus unterschiedlichen Gründen immer wieder zu Ortswechseln gezwungen. Häufig hielt er sich in London bei seinem Freund Friedrich Engels auf, um dort an seinem Werk zu arbeiten. Neffe (2018, S. 590ff.) wählt für das letzte Kapitel der Marx-Biographie den Untertitel »Die letzte Reise« und schildert darin wie Marx »auf der Suche nach dem verlorenen Selbst« (Neffe, 2018, S. 594) ist. Der eigentliche Grund für die Tour, die als „Tortur“ empfunden wurde, war die Empfehlung der Ärzte zu einer Kur. In Algier dann wird Marx zu einem »Touristen«, wenn er in einem Brief an Engels von »Windkonzerten«, »Mondbeleuchtung« und dem Blick auf das Meer berichtet. Neffe interpretiert, dass Marx »mit allen Sinnen die Reize und Szenen und schönen Sinnlosigkeit der Welt und ihrer Menschen« (S. 595) entdeckt.

Unabhängig davon, ob die Interpretation für Marx zutrifft oder nicht, zeigt sich deutlich erstens der Einfluss der Reise und zweitens ein zentrales Motiv: der Umgang mit der Sinnlosigkeit der Welt und des Lebens, die sich nur beim Reisen ertragen lässt.

2.1.3Émile Durkheim: Anomie, das Heilige, Repräsentationen

Émile DurkheimDurkheim, Émile (*1858 †1917) ist wie Weber ein Klassiker der Soziologie. Für ihn hat das Soziale eine ähnliche Macht über den Menschen wie biologische oder physikalische Gesetzmäßigkeiten. Die faits sociaux (soziale Tatsachen) leisten dem menschlichen Denken und Handeln Widerstand, indem sie menschliche Aktivitäten ermöglichen und begrenzen, ebenso wie biologische und physikalische Fakten. Handlungen ergeben sich somit aus dem Sozialen heraus.

In seinem Werk »Der Selbstmord« (1897) erklärt Durkheim, wie soziale Tatbestände – in dem Fall die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion sowie die gesellschaftliche Eingebundenheit – den Raum für den Selbstmord öffnen oder schließen.

Durkheim wählt den Begriff der Anomie, um gesellschaftliche Verwirrtheit über Regeln zu beschreiben. Wenn soziale und moralische Normen nicht oder nur unklar definiert sind, kann dieses zu abweichendem Verhalten führen. Er betont die Bedeutung gesellschaftlicher Normen und kollektiver Repräsentationen für Individuen und Gesellschaft ausgehend von einem Bedürfnis nach Eingebundenheit und Ordnung.

Durkheim hat Tourismus respektive Reisen nicht explizit thematisiert. Allerdings finden sich drei zentrale Themen, die auf Durkheim zurückgehen, in vielen tourismussoziologischen Arbeiten. Diese sind:

[1]

Kollektive Ordnung: Tourismus wird als Alternative zum Alltag, als Flucht gesehen. Menschen möchten für eine Weile der Gesellschaft, in der Anomie herrscht, entkommen. Weiterhin führt die fehlende Bindung zu einem gesteigerten Wunsch nach sozialer Interaktion, die im Urlaub erlebt werden kann.

[2]

Das Heilige: Es finden sich zahlreiche Ansätze, die das Konzept des Heiligen mit dem Tourismus verbinden (vgl. McCannell). Sei es die Suche nach AuthentizitätAuthentizität, die Beschreibung von Tourist:innen als moderne Pilger oder auch die Unterscheidung in die profane (Alltag) und die heilige Welt (Urlaub), alle Ansätze basieren auf dem Gedanken, dass Menschen etwas Besonderes benötigen.

[3]

Kollektive Repräsentationen: Die moderne ausdifferenzierte Welt umfasst eine Vielzahl von Symbolen, die für die Mitglieder einer Gesellschaft eine gemeinsame Bedeutung besitzen. Beispiele dafür sind touristische Attraktionen (vgl. dazu McCannell). Diese stellen kollektive Erfahrungen, Werte und Normen dar. Durch den Besuch einer touristischen Attraktion erleben die Personen eine über sie selbst hinausgehende Wirklichkeit und empfinden sich als Teil einer größeren Gesamtheit (vgl. dazu experience → Kapitel 3). Der Besuch von Attraktionen fügt die fragmentierte Welt zusammen.

2.1.4Georg Simmel: Wandernder, Fremder, Reisebekanntschaft

Georg Simmels (*1858 †1918) Werk ist sehr umfangreich und umfasst Publikationen zu philosophischen, historischen und soziologischen Fragestellungen. Sein Hauptwerk mit dem Titel »Soziologie« (1908) beinhaltet eine Vielzahl von Exkursen, unter anderem über den Fremden.

Simmel stellte die Interaktionen zwischen Individuen in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen. Gesellschaft ist demnach ein Netzwerk von Wechselwirkungen zwischen Individuen und somit ein kontinuierlicher Prozess. Die daraus resultierenden Formen und Muster enthalten sowohl Harmonie und Stabilität als auch Konflikt und Wandel. Sie sind nicht dauerhaft, sondern ständigen Änderungen unterworfen (Simmel, 1992).

Simmels umfangreiches Werk bietet zahlreiche Anknüpfungspunkte für die Tourismussoziologie. Ein erster ist das Verhältnis »zwischen der Bewegung im Raum und der Differenziertheit sozialer und persönlicher Daseinsinhalte« (Simmel, 1903), das Simmel 1903 in seiner »Soziologie des Raums« untersucht. Simmel geht beim Menschen von einer Tendenz zu seelischen Gegensätzen und dem Bedürfnis nach wechselnden Eindrücken aus. Dieses kann durch die Eigenschaften des Wanderlebens oder durch Unterschiede innerhalb stabiler Verhältnisse befriedigt werden. Bewegung, Mobilität, Wandern und schließlich das Reisen können demnach auf dem Menschen inne liegende Eigenschaften zurückgeführt werden.

Simmel beschränkt den Begriff Wandern dabei nicht auf eine Aktivität in der Freizeit, wie es heutzutage geschieht. Vielmehr vergleicht er die Formen der Vergesellschaftung von wandernden Gruppen mit denen räumlich fixierter Gruppen. Das Wandern ist somit ein konstituierendes Merkmal. Beispiele für wandernde Gruppen sind Nomadenstämme, afrikanische Clans, Handwerksgesellen und Gruppen von Kaufleuten.

SimmelSimmel, Georg analysiert die Wirkung des Wanderns auf die gesamte Gruppe sowie die Folgen für den Einzelnen, der wandert, und die Auswirkungen des individuellen Wanderers auf die Gruppe. Demnach bedingt die ständige, durch das Wandern verursachte Veränderung der äußeren Umstände, dass innere Zustände konstant gehalten werden. Simmel spricht von der »Aufhebung der inneren Differenzierung der Gruppe« (a.a.O.) und als Konsequenz von fehlender politischer Ordnung oft einhergehend mit einer despotischen Herrschaft, welche die Gruppe leitet.

Zitat

»Gerade weil das Wandern an und für sich individualisiert und isoliert, weil es den Menschen auf sich selbst stellt, treibt es ihn zu engem, jenseits der sonstigen Unterschiede stehendem Zusammenschluss.« (a.a.O., o.S.)

Auch wenn sich heutige Wander-, Reise- und Tourist:innengruppen von den Gruppen zu Simmels Zeit unterscheiden, finden sich bei ihm wichtige Aussagen zum Verhalten innerhalb der Gruppe, wie das Gefühl der Verbundenheit, die gegenseitige Unterstützung, die Bedeutung von Gruppenleitung oder die Entstehung von Ordnungen. In → Kapitel 3.12 wird ausführlich auf die Nutzung gruppensoziologischer Erkenntnisse im Tourismus eingegangen.

Gleiches gilt für Simmels Beschreibung der Merkmale von Reisebekanntschaften. Diese sind häufig durch ein Maß an Intimität und Offenherzigkeit gekennzeichnet, das sich zunächst nicht einfach erklären lässt. Simmel führt aus, dass »die Gelöstheit von dem gewohnten Milieu, die Gemeinsamkeit der momentanen Eindrücke und Begebnisse, das Bewusstsein des demnächstigen und definitiven Wiederauseinandergehens«1 (a.a.O.) jene Nähe und Offenheit bewirken, die ansonsten nur in intimen Beziehungen zu finden sind.

Die beschriebene Gelöstheit führt laut Simmel zu einer Entwurzelung. Menschen verlieren den Maßstab dafür, wie sie sich verhalten sollen und welches Bild ihrer Persönlichkeit sie gegenüber anderen produzieren und erhalten wollen. Innere Unsicherheiten und unbekannte Anregungen von außen führen zu einer nicht mehr zu kontrollierenden Dynamik. Menschen öffnen sich und lassen ihre Äußerungen frei heraus.

Die Intimität wird dadurch gesteigert, dass Gruppenmitglieder gemeinsame Erlebnisse teilen. Das identische Erleben beherrscht das Bewusstsein und führt zu einer Vereinheitlichung der Gedanken. Simmel spricht von einer »Art geistigen Kommunismus« (a.a.O.).

Das Bild, das Simmel vom Menschen zeichnet, ist das eines sehr kontrollierten Wesens, das nach einem längeren Prozess als Mitglied der Gesellschaft gelernt hat, ein bestimmtes Bild von sich den anderen zu präsentieren. Das Wandern ist ein Zustand, der Raum für Offenbarungen und Intimität bietet. Diese Gedanken finden eine Fortsetzung in der Beschreibung des Tourismus als Übergangsritual (→ Kapitel 3.10).

Weitere tourismussoziologische Anknüpfungspunkte finden sich in Simmels »Exkurs über den Fremden« von 1908. Seine darin entwickelte Soziologie des Fremden wurde von Leopold von WieseWiese, Leopold von(→ Kapitel 2.2.1), Hans-Joachim KnebelKnebel, Hans-Joachim (→ Kapitel 2.2.3) und Erik Cohen (→ Kapitel 2.2.8) aufgegriffen. Der Exkurs ist eingebettet in das neunte Kapitel »Der Raum und die räumlichen Ordnungen der Gesellschaft« von Simmels »Soziologie«. Ausgangspunkt ist, dass alle sozialen Beziehungen sowohl Nähe als auch Entferntheit enthalten.

Simmel betrachtet die Besonderheiten der soziologischen Form des Fremden im Gegensatz zum Wandernden. Während der Wandernde der ist, »der heute kommt und morgen geht«, ist der Fremde der, »der heute kommt und morgen bleibt« (Simmel, 1908, S. 509). Der Fremde ist nach Simmel nah und ein Element der Gruppe. Es besteht eine Wechselwirkung zwischen Fremdem und der Gruppe. Damit wird der Fremde in die soziologischen Raumstrukturen eingebunden und wirkt auf die Gruppe ein. Die übliche Erscheinungsform des Fremden in der Wirtschaft ist nach Simmel der Händler, der Produkte, die nicht innerhalb »des Kreises« erzeugt werden, zur Gruppe bringt. Somit ist die Position des Händlers durch Beweglichkeit gekennzeichnet. Die fehlende Fixiertheit geht einher mit einer Objektivität für Zustände der Gruppe.

Die Art und Weise, wie Simmel den Fremden beschreibt, lassen Zweifel daran entstehen, ob Tourist:innen tatsächlich Fremde in diesem Sinne sind. Fremde in Simmels Verständnis haben die Intention des Bleibens. Das ist bei Tourist:innen nicht der Fall.

Simmels Fremder sollte demnach nicht wie bisher geschehen (vgl. von Wiese und darauf aufbauend Knebel und Cohen) als Grundlage für die Konzeption des Fremdenverkehrs resp. des Tourismus genommen werden, da er die Intention des Bleibens hat.

SimmelsWandernder hingegen kommt mit der Intention des Gehens. Gerade dadurch sind Tourist:innen gekennzeichnet: Sie kommen und es steht fest, dass sie wieder gehen. Warum Simmels Darstellung des Wandernden im Tourismus nicht berücksichtigt wurde, ist unverständlich. Unter Umständen liegt es an den verwendeten Begrifflichkeiten und der Nähe des Fremden zum Fremdenverkehr.

Zusammenfassend haben Simmels Gedanken einen starken Einfluss auf einige maßgebliche frühe Arbeiten zur Tourismussoziologie gehabt. Der vermeintlich offensichtliche Bezug zum Fremden ist jedoch nicht korrekt und sollte um den Wandernden ergänzt oder differenzierter diskutiert werden. Simmels Beziehungslehre könnte Grundlage für eine systematische Betrachtung der Wechselwirkungen zwischen Tourist:innen und Einheimischen sein. Die Aussagen über gruppeninterne Prozesse haben eine große Relevanz für den Tourismus. Abschließend verweisen Simmels Ausführungen zu den Folgen der Loslösung des Gewohnten für den Menschen bereits auf das zentrale Merkmal des Tourismus: die Öffnung eines Raums für die Erprobung neuer oder alternativer Verhaltensweisen.

2.1.5Erving Goffman: Interaktion, Theater und Gender

Erving GoffmanGoffman, Erving (*1922 †1982) stellte die Face-to-Face-Interaktion zwischen Menschen im Alltag in den Mittelpunkt seiner Arbeiten. Der deutsche Titel eines seiner zentralen Werke – »Wir alle spielen Theater« (The Presentation of Self in Everyday Life, 1959) – ist der beste Hinweis auf seine Sichtweise: Das Theater dient als Modell für die Interaktion zwischen Menschen. Wir alle spielen eine Rolle und präsentieren uns dem Gegenüber auf eine von uns gewählte Weise. Wir schaffen uns eine Fassade und nutzen ein standardisiertes Ausdrucksrepertoire mit Bühnenbild und Requisiten. Zahlreiche soziale RollenRollesoziale Rolle beinhalten bereits eine Fassade. Im Tourismus sind Kellnerin, Pilotin, Flugbegleiter und Animateur Beispiele für soziale Rollen und Fassaden. In → Kapitel 3.5 werden Rollen im Tourismus ausführlich erläutert.

Goffman unterscheidet zwischen front region(Vorderbühne)Vorderbühne und back region(Hinterbühne)Hinterbühne