Tragödie und Dramatisches Theater - Hans-Thies Lehmann - E-Book

Tragödie und Dramatisches Theater E-Book

Hans-Thies Lehmann

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Beschreibung

Was ist 'tragische Erfahrung' im Theater?Anknüpfend an seine früheren Studien zur antiken Tragödie - "Theater und Mythos" - und an sein in 19 Sprachen übersetztes Standardwerk "Postdramatisches Theater" entwirft Hans-Thies Lehmann, einer der bedeutendsten Theatertheoretiker Deutschlands, in seinem neuen Buch eine Theorie der Tragödie, die sich in Europa von der Antike bis in die postdramatische Gegenwart entwickelte. Dabei wird das Konzept der tragischen Erfahrung als einer strikt an Theatererfahrung gebundenen erläutert. Im Zentrum steht die neuzeitliche Tragödie seit der Renaissance und die Frage nach der Gegenwärtigkeit der Tragödie. 'Was genau ist (oder war) das ›Dramatische‹ am dramatischen Theater? Was kann Tragödie und das Tragische bedeuten, wenn man zwischen prädramatisch, dramatisch und postdramatisch organisierten Formen von Theatralität klar unterscheidet?' Hans-Thies Lehmann 'Hans-Thies Lehmann ist ein Theaterwissenschaftler, der viel gesehen hat; einer, der seine Überlegungen aus der konkreten sinnlich-ästhetischen Anschauung entwickelt und seine ästhetische Erfahrung zum Profil einer Theaterwissenschaft erklärt. Das ist gut und leider viel zu selten.' Jörg Wiesel, "Mykenae"

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Hans-Thies Lehmann

Tragödie und dramatisches Theater

Der Autor dankt den Kolleginnen und Kollegen der Universität von Kent in Canterbury, die ihm im Rahmen der Leverhulme Gastprofessur Gelegenheit gaben, in einer Vortragsreihe und Diskussionen an der School of Arts die Arbeit an diesem Buch wesentlich voranzutreiben. Neben Helene Varopoulou dankt er den Helferinnen und Helfern bei der Redaktion, neben Inka M. Paul, Rebekka Knoll, Anne Schuh und Tobias Birr sowie dem Alexander Verlag für die aufmerksame Betreuung und das gewissenhafte Lektorat.

Der Text reproduziert keine bereits publizierten Texte des Autors, gestattet sich aber, Passagen, einzelne Thesen und Argumentationslinien aus ihnen wörtlich, oder meistens variiert, für den neuen Zusammenhang zu übernehmen. Dies betrifft insbesondere folgende Beiträge und Publikationen: Das Politische Schreiben (20122), Theater und Mythos (1991), Peter Handkes postdramatische Theaterästhetiken (2012), Postdramatisches Theater (zuerst 1999), Tragödie und Performance (2009), Rivalität, Liebe: Racines »Andromaque« (2011), Die Räuberbrüder, die Meute, das Subjekt – Schiller postdramatisch besehen (2009), Rhythmus und Tableau. Überlegungen zum Theater Racines (2004), Shakespeare’s Grin. Remarks on World Theatre with Forced Entertainment/Shakespeares Grinsen. Anmerkungen zum Welttheater bei Forced Entertainment (2004), Tragödie und postdramatisches Theater (2007), Politik des Enthusiasmus, Enthusiasmus der Politik (2006).

Die Übersetzungen stammen, wenn nicht anders angegeben, vom Verfasser.

Originalausgabe

© für diese Ausgabe by Alexander Verlag Berlin 2013

Alexander Wewerka, Fredericiastraße 8, D-14050 Berlininfo@alexander-verlag.com | www.alexander-verlag.com

Umschlaggestaltung unter Verwendung eines Ausschnitts des Bildes Paysage par temps calme von Nicolas Poussin (Digital image courtesy of the Getty’s Open Content Program)

Satz und Layout: Antje Wewerka

Lektorat/Redaktion: Christin Heinrichs-Lauer. Dank an Jana Frey, Florian Marker und Thomas Pöttgen.

Alle Rechte vorbehalten. Jeder Abdruck, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung durch den Verlag.

ISBN 978-3-89581-361-0 (eBook)

Für Helene Varopoulou, die den Autor die Übertreibung lieben lehrte.

»Nur das Übertriebene ist wahr.« T. W. Adorno

Hans-Thies Lehmann, geboren 1944, Professor für Theaterwissenschaft an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main bis 2010. Publikationen u. a. Theater und Mythos, Das Politische Schreiben, Mitherausgeber Heiner Müller Handbuch und Populärkultur im Gegenwartstheater. Sein Buch Postdramatisches Theater (1999) wurde in zwanzig Sprachen übersetzt.

Inhalt

 

Einleitung

Tragödientheorie und Theatererfahrung

Tragische und ästhetische Erfahrung

Tragödie nach dem Drama

»Dramatische Tragödie« und tragisches Kernmotiv

Übersicht

Tragödie in der Gegenwart

I THEORIE/THEATER/DAS TRAGISCHE

Palaia diaphora – Ein »alter Hader« zwischen philosophischer Theorie und Tragödie

Aristotelische Themen: »Mythos«, Logos, Katharsis, Anagnorisis

Chor, Text, Aufführung

Philosophie und Tragödie: eine Rivalität

Platon, Mimesis, Staat

Das antitragische Theater der Philosophie

»Phantasia«, »Sehen«

Das Gespenstische, der Schrecken, der Tod

Tragische Erfahrung

Dis-Tanz, Jenseits der Gestalt

Bilde, Künstler, rede nicht!

Der »pflanzliche« Held, Erfahrung, Begriff

»Stammeln in fremder Sprache«

Denken auf der Bühne

Versuche über das Tragische

Der Modus des Tragischen

Objektivierbarkeit

Das Tragische und das Erhabene

Das Tragische – ein Modus der Darstellung

Das Tragische in Alltagssprache, Literatur- und Theaterwissenschaft

Alltagssprache

Literaturwissenschaft

Szondis »Versuch über das Tragische«

»Verbot zu sein«

Theaterwissenschaft

Aspekte des Tragischen

Handeln?

Schrecken und Gestalt

Ästhetisierung

Das Tragische bei Bohrer

Konfliktmodell und Überschreitungsmodell

Konflikt

Überschreitung

Überschreitungsmodell und Theater

Handlung und Charakter

Hegels Konzept der Handlung

Zustand, Situation, Handlung

Herr und Knecht, Komödie

Prädramatik, Postdramatik

Hybris, Exzeß, Selbstüberschreitung

Leere

Hyperbel und tragisches Subjekt

Versionen der Überschreitung

Nietzsche

Heidegger

Bataille

Lacan

Schlußbemerkung zur tragischen Überschreitung

Casus Seneca: Tragödie und Hyperbel der Rache

Hyperbel, Nefas, Furor

Rache und Theater der Tragödie

»Medea fiam«

Subjekt als Hyperbel

Theater/Erfahrung und das Tragische

Zum Begriff der Erfahrung

Erfahrung des Betrachtenden

Tragödie, Gattung, Literatur

Sinn der Gattungen

Aspekte der tragischen Erfahrung

Text und Aufführung

Theatersituation

Gedächtnisraum

»Mit anderen«

Der Körper, das Ding

Gesehenwerden und Einsamkeit

Isolation

Pathos, verschleiert

Verlust, Verrat

Tod

Dreistufigkeit der Erfahrung

Zäsur und Anästhesie

Ästhetische und tragische Erfahrung

Schauspielen, Zuschauen: Homo spectator

Anthropologische Perspektive

Interpassivität

»Theatralisieren«

Lob des Zuschauers

Der Zuschauer auf der Bühne

Teiresias

Zorn, Trauer

Katharsis und Anagnorisis

Problem der Wirkungsästhetik und Katharsis

Katharsis, Scham

Anagnorisis: Wiedererkennen und Wissen

Anagnorisis und Affekt

Verstehen: Nichtverstehen

Das Modell Antigone

Schüttere Ordnung

Heidegger

Verwandtschaft, »vorpolitische Opposition«

II DRAMA UND TRAGÖDIE

Die Dramatisierung der Tragödie

Zur prädramatischen Tragödie der Antike

Tanz

Drama und Szene

Zeit des Theaters und Schrift

Nähe zum Ritual

Grenze der Tragödie

Dramatisierung und Repräsentation

Drama, Theater, Repräsentation

Drama idealtypisch

Merkmale des dramatischen Theaters

Raum

Zeit

Einkörperung und Blick

Zuschauer und Spieler

Leib und Schein

Rückzug des Chors

Fiktiver Kosmos

Dialog

Intersubjektivität

Drama als Rahmen

Intrige

Spiel im Spiel

Spannung und Moral

Theater des Schreckens

Blutige Tragödien

Schrecken und Gewalt

»Titus Andronicus«

Wahnsinn

Politik, Herrscherfiguren

Othellos Erzeugung

Die Inszenierung

Jago

Intrige und Spiel

Dramatische Tragödie und tragisches Subjekt

Transgression

Tragisches Subjekt

Familie

»Mutability« und Seelenheil

Reine dramatische Tragödie: Racine

Klassizistische Theorie und Praxis

Die tragische Szene

Das »Zwischen«

Theater, Text und Bühne

Wort-Bild

Racine, Lacan und das Imaginäre

Racines Dramatik

»La Thébaïde«: Mythos und Rivalität

Mythos und Schwarze Theologie

Rivalität

»Andromaque«: Mythos und Schatten der Vergangenheit

Struktur und Handlung

Andromaque–Pyrrhus

Hermione–Oreste

Rückkehr des Mythos

»Phèdre«

Tragödie und Trauerspiel, Tragik und Trauer

Begriff des Trauerspiels

Gefühl, Trauer, Sprache

Moderne, Trauerspiel, Tragödie

Tragischer Held

Spiel, Tragödie, Trauerspiel

Trauer in Antike und Moderne

Barocke Politik und Theater

Chor und Tanz

Trauerspiel und dramatische Tragödie

Krisen der dramatischen Tragödie: Schiller, Hölderlin, Kleist

Aufklärung und tragisches Motiv

Schiller

Wirkung der Tragödie

Politikdarstellung

Problem des historischen Dramas

Enthusiasmus

»Aus meinen Augen, du mit dem Menschengesicht!«

Tier-Werden

Enthusiasmus und Politik

Enthusiasmus und Dramaturgie der Plötzlichkeit

Drama des Idealismus

Der leere »Transport«

Enthusiasmus und Spiel

Meta-Affekt und politische Ambiguität

Theater und »Geschichtszeichen«

Schiller heute

Brecht und Schiller

Hölderlin

Das Tragische

Der Zwist

Theater, Darstellung

Tragischer »Prozeß«

Zorn

Meta-Affekt

Zäsur

Empedokles-Drama

Stoff, Geschichte

»Innigkeit« und Versöhnung

Tragik und »Drama der Tragödie«

Bescheidenheit und »Wahnsinnsprojekt«

Hyperbel

Kleist

III DRAMATISCHE UND POSTDRAMATISCHE TRAGÖDIE

Auflösung des Dramatischen: »Musikdrama« und lyrische Tragödie

»Musikdrama«

Wagner

Mythos und Moderne

Mythos und Kunst

Ästhetik des Exzesses

Lyrische Tragödie

Maurice Maeterlinck

Abkehr vom dramatischen Dialog

Tragik des Alltags

Hugo von Hofmannsthal

William Butler Yeats

Tragödie und postdramatisches Theater

Historische Avantgarden, Artaud, Reinhardt, Brecht

Brecht und die tragische Überschreitung im Lehrstück

Collège de Sociologie

»Tod der Tragödie«

Tragödie, Moderne

Beharren auf dem Tragischen

Peter Handke

Howard Barker

Botho Strauß

Tod der Tragödie?

Modern Tragedy

Metadrama

Moderne, Übersetzung

Subjekt und Tragik

Subjekt, gesellschaftliche Arbeit

Medien und Dramatisierung

Theater der Tragödie heute

Einar Schleef

Tadeusz Kantor

Jan Fabre

Socìetas Raffaello Sanzio/Romeo Castellucci

Heiner Müller

Sarah Kane

»Tragödie des Spiels«, Zäsur und Ritual

Ritual, Theater, Unterbrechung

ANHANG

Anmerkungen

Bibliographie

Personenregister

Einleitung

TRAGÖDIENTHEORIE UND THEATERERFAHRUNG

Wer es heutigentags unternimmt, sich ein weiteres Mal auf das ebenso unübersichtliche wie vielbetretene Gelände der Tragödientheorie zu begeben, im Rücken eine gewaltige, kaum überschaubare Literatur zu diesem Thema, wird einleitend dem Leser über Motive und Terminologie (Tragödie, Tragik, tragische Erfahrung, Trauerspiel …) eine mindestens vorläufige Klarheit verschaffen und erläutern wollen, welche anders als bisher oder gar neu auszuleuchtende Aspekte des Themas verhandelt werden.

Das erste Motiv dieser Untersuchung ist der Umstand, daß ein erheblicher Teil der vorliegenden Tragödientheorien ebensogut hätte so geschrieben werden können, wie sie dastehen, wenn es ein Theater der Tragödie überhaupt nie gegeben hätte. Dies gilt schon für Aristoteles, der bekanntlich ausdrücklich erklärt, die »Opsis« (also der sichtbare Teil der Aufführung) sei Nebensache und das Kunstloseste, Wertloseste an der Tragödie. Im Grunde gilt ihm die Aufführung als überflüssig. Seitdem gibt es für die europäische Denktradition eine Kleinigkeit am Theater, die stört, auch wenn Theater an sich als eine feine Sache gelten mag. Was am Theater stört, ist – das Theater. Aristoteles erklärt recht unumwunden, man brauche es eigentlich nur für die Dümmeren, die ungern von sich aus denken. Diese werden durch Mimesis – den kindlichen Spaß am Wiedererkennen – sozusagen zum Denken verführt, während der Denkende, der Philosoph, solcher Anreize nicht bedürftig ist:

Das Lernen bereitet nicht nur den Philosophen größtes Vergnügen, sondern in ähnlicher Weise auch den übrigen Menschen (diese haben freilich nur wenig Anteil daran). Sie freuen sich also deshalb über den Anblick von Bildern, weil sie beim Betrachten etwas lernen und zu erschließen suchen, was ein jedes sei, z. B. daß diese Gestalt den und den darstelle.1

Es geht in dieser Studie darum, die theatrale Dimension in die Diskussion der Tragödie zurückzuholen und sogar als ihr zentrales Element zu erweisen. Nicht zuletzt der von Anfang an virulente parti pris der Theorie für den Logos des Textes und gegen das Theater ist verantwortlich dafür, daß man die Bestimmungen der Tragödie und des Tragischen durchwegallein aus der Textdeutung der großen Werke tragischer Literatur abgeleitet hat. Wir haben es daher mit dem wahrhaft paradoxen Umstand zu tun, daß ungeachtet einer gewaltigen Literatur über Tragödie und das Tragische dennoch kaum im engeren Sinne theaterwissenschaftlich orientierte und argumentierende Tragödientheorie existiert. Dieser Umstand zwingt dazu, trotz der riesigen Forschungsliteratur zu diesem Thema in mancher Hinsicht Neuland zu betreten, wenn es darum geht, die Tragödie als ein Phänomen zu theoretisieren, von dem nicht nur abstrakt zu konzedieren, sondern konkret zu zeigen ist, daß und in welcher Weise es auf das engste an die Wirklichkeit einer Performanz gebunden ist, an einen in irgendeiner, wenngleich überaus verschiedenartiger Weise theatralen Vorgang. Angesichts der hohen Wertschätzung, die die tragische Dichtung traditionell genießt, ist dabei die Anmerkung nicht überflüssig, daß nicht nur tragisches Theater von höchstem Niveau sein kann. Tragödie ist gewiß, sonst würde sie nicht so ausdauernd das Interesse auf sich ziehen, ein besonders interessanter Fall. Und der Verfasser bekennt sich dazu, daß ihm manches Mal der Gedanke durch den Kopf ging, ob nicht doch die Tragödie in ihrer eigentümlichen Verbindung von affektiver und mentaler Erschütterung am Ende das Theater schlechthin sei. Doch sie soll hier nicht als der Gipfel der Kunst behauptet werden. Es gibt viel hervorragendes Theater, das nicht tragisch und dennoch große Kunst, komplex und »tief« ist. So existiert unter zeitgenössischen postdramatischen Theaterformen brillantes Theater der Dokumentation, Installations-Theater, Komödie, Theater des Politischen, Bilder-Theater, performancenahes Theater und vieles andere mehr, das keineswegs daran interessiert ist, Tragödie zu schaffen. Auf diese Feststellung ist besonderer Wert zu legen, da bei jeder Diskussion des Gegenwartstheaters ein Element der theaterästhetischen Wertschätzung interveniert und die vorliegende Untersuchung nach Möglichkeit vor dem Mißverständnis bewahrt sein soll, daß es dem tragischen Theater per se die Palme zuspricht.

Die Reduktion der Tragödie auf Literatur ist allgegenwärtig. Neuere und neueste wichtige Publikationen tragen sie weiter,2 bedeutsame theoretische Studien beziehen Lyrik und Roman ein,3 philosophische Abhandlungen zur Tragödie, von denen man doch erwarten könnte, daß sie sich angesichts der unübersehbar gewordenen Entgrenzung der Künste nicht auf Literatur fixieren, sind diesem Modell immer wieder gefolgt. Ein vielzitiertes Werk über Tragödie und Philosophie von Walter Kaufmann aus dem Jahre 1980 definiert noch, Tragödie sei »(1) eine Form der Literatur, die (2) ein symbolisches Geschehen, von Schauspielern aufgeführt, darstellt …«,4 ohne den hier vollzogenen Übergang von einer Kunstsphäre in eine andere auch nur zu thematisieren. Der Grund für diese Schieflage der Literaturwissenschaft liegt nicht zuletzt darin, daß sie das Drama zwar als literarischen Text würdigt, aber verkennt, daß demgegenüber das Theater eine radikal anders geartete ästhetische und soziale Wirklichkeit darstellt, und so die Konzepte von Drama und Theater ungenau ineinanderschiebt.5 Aber auch eine Betrachtungsweise, die das Theatrale nur abstrakt und als solches einbezieht, bleibt unbefriedigend, würde sie doch zwar den Fehler der Einengung des Themas auf den Textbestand von Tragödien vermeiden, dennoch aber die radikalen historischen Wandlungen des Theaters außer acht lassen, in deren Kontext Tragödien sich allererst realisierten und realisieren. Antikes Theater und mittelalterliches Spiel, die – wie wir sagen werden: dramatische – Tragödie der Renaissance und des Barock, die Guckkastenbühne des bürgerlichen Theaters, die radikale Öffnung des Theaters in den historischen Avantgarden und das postdramatische und performancenahe Theater im Kontext der Medienkultur – immer wieder hat sich Theater in seiner Geschichte in so durchgreifender Weise neu erfunden, daß es nirgends zureicht, nur »das« Theater im Allgemeinen als Moment der Tragödie zu thematisieren. Nur eine Betrachtungsweise, die sich bewußt auf die Konvention fixieren wollte und die gewohnte, jedoch in Wahrheit mehr oder minder auf wenige Jahrhunderte in Europa beschränkte spezifisch dramatische Form von Theatralität als Norm unterstellt, kann es dabei bewenden lassen, von »dem« Theater der Tragödie zu sprechen.

Damit ist das zweite Motiv angedeutet, dem diese Untersuchung ihre Entstehung verdankt, die Absicht des Autors, seine jahrzehntelange Beschäftigung mit dem Gegenstand Tragödie, die daraus entstandenen Reflexionen und Thesen6 einmal in der Weise zusammenhängend zur Diskussion zu stellen, daß die mittels der Herausarbeitung des im weitesten Sinne »postdramatischen« Charakters des Gegenwartstheaters gewonnene Perspektive für das Verständnis der im engeren Sinne »dramatischen« Tradition der Tragödie fruchtbar gemacht wird. Im Zusammenhang der historisch weiter ausgreifenden Fragestellung wird in diesem Buch der Begriff »postdramatisch« weiter gefaßt. Er bezeichnet hier nicht nur die experimentellen Theaterformen seit den 1960er Jahren, sondern auch diejenigen, die in Postdramatisches Theater als deren »Vorgeschichten« bezeichnet wurden.7

Dabei hat der Dreischritt der prädramatischen, dramatischen und postdramatischen Gestalt von Tragödie nichts mit einer wie auch immer hegelisch inspirierten Prozessualität zu tun. Er dient vielmehr der möglichst entschiedenen Hervorhebung des Ausnahmecharakters und zugleich der beschränkten Gültigkeit der dramatischen Form des Theaters, wie sie sich in Europa entwickelt hat. Weder vor ihrer Herrschaft, noch – so weit sich dies absehen läßt – nach ihr, noch auch in anderen Theaterkulturen hat es die Fixierung aufs dramatische Darstellen im Sinne des europäischen Theaters gegeben – wobei unbestritten bleibt, daß in dieser Tradition große Meisterwerke und tiefsinnige Reflexionen über die Kunst des Theaters und der Tragödie entstanden sind, die das Theater allerdings jederzeit erst wieder aus dem Konformismus des Betriebs zu befreien hat. Dann freilich gilt: Die dramatische Tragödie der Vergangenheit hält ein unabsehbares Potential für das postdramatische Theater bereit.

Mit der historischen Perspektivierung ist der Versuch verbunden, dem noch immer weitverbreiteten Irrtum entgegenzuwirken, alles Theater sei im Grunde dramatisch und die Begriffsbildung »dramatisches Theater« mehr oder weniger ein Pleonasmus. Die quer durch die Epochen des europäischen Theaters wiederkehrende Motivik des Tragischen artikuliert sich, das ist eine der leitenden Hypothesen der Studie, im Rahmen einer jeweils spezifisch gearteten Theatralität dergestalt, daß sich prädramatische, dramatische und postdramatische Tragödie unterscheiden lassen, die in historisch wechselnder Weise, jedoch stets in Gestalt eines Theatervorgangs, das Kernmotiv des Tragischen artikulieren. Mit dieser Feststellung ist einer weiteren Behauptung Rechnung getragen, die hier entfaltet werden soll: daß es nämlich keine tragische Erfahrung ohne Theatererfahrung gibt. Dies ist zu betonen in Abgrenzung nicht nur von der Reduktion des Tragischen auf Literatur und von der Auffassung, das Tragische sei eine im Leben vorfindliche Realität, die von Kunst abgebildet würde, sondern auch im Gegensatz zu solchen Ansätzen, die das Tragische abgelöst von einer spezifischen Darstellungsform denken und es auch etwa in epischen Darstellungen oder Lyrik erkennen wollen. Der springende Punkt ist, daß Tragödie sich als zwar unabdingbar an Theater gebunden erweist, keineswegs aber an dramatisches Theater. Tragödie gibt es als Artikulation einer tragischen Erfahrung in verschiedenartigen Legierungen mit sehr unterschiedlichen Formen der Theatralität.8 Mithin existiert das Tragische nicht ohne »Tragödie« als einer wie immer auch gearteten Weise seiner Theatralisierung. Es ist als Erfahrung strikt an eine performative Wirklichkeit, an ein Theater (nicht ein Drama) der Tragödie gebunden.

Nichts zu schaffen hat der hier vertretene Ansatz mit Versuchen, die Tragödie mit einer angeblichen besonderen Eignung bestimmter Epochen oder Autoren zum Tragischen in Zusammenhang zu bringen – sie womöglich gar an einen besonderen Adel zu knüpfen, eine irgendwie »große« oder »hohe« tragische Gesinnung, die allein gewisse Zeiten und Menschen zur Tragödie disponieren. Entscheidend ist ebenso die genaue Unterscheidung zwischen der Tragödie als einer Geste, einer Perspektive, einer spezifischen künstlerischen Beleuchtung des Lebens und den unseligen Konstruktionen, die eine tragische Weltanschauung, eine »Tragödie der modernen Kultur« (Georg Simmel), etwa der deutschen, erfinden wollten. Was vor Versuchen, die Tragödie an eine sogenannte tragische Weltanschauung zu binden, allein schon bewahren sollte, ist die einfache Erinnerung daran, daß Autoren wie Shakespeare oder Racine, Corneille (wenn man dessen Dramen als Tragödien nehmen will), Hofmannsthal oder Gryphius glänzende Komödien ebenso wie Tragödien verfaßt haben. Tragödie ist kein historisierbares Epochenphänomen. Sie ist allenfalls eine »Idee« im Sinne Walter Benjamins, die in verschiedenen Epochen unter verschiedenen »Konstellationen« eine Darstellung tragischer Erfahrung artikuliert. Man tut gut daran, Kunst nicht als Indikator ganzer Epochen zu behaupten, auch wenn es offenkundig »Blütezeiten« der Tragödie gegeben hat, sondern nach der Art der Erfahrung zu fragen, die sie ermöglicht, den Wahrnehmungsweisen, die sie nahelegt, dem sinnlichen Denken, das sie praktiziert. Diese sind irreduzibel auf historische Gesamtprozesse, irreduzibel auf solches, was bei Hegel der Geist einer Epoche heißt. Die Theorie der Tragödie hat also die Unterscheidung zwischen prädramatischer, dramatischer und postdramatischer Theatralität zum Ausgangspunkt, die dem tragischen Grundmotiv ihr jeweiliges historisch spezifiziertes und von Epoche zu Epoche divergierendes Gepräge verleiht. Indem die jeweilige Konstellation der Theaterelemente in diesen drei Theaterformen herausgearbeitet wird, kann zugleich das Nebeneinander dieser Tendenzen in verschiedenen Theaterästhetiken eine Erklärung erfahren. Dramatisches Theater existiert in der Gegenwart weiter neben postdramatischem, was die Frage aufwirft, ob und in welcher Weise genuin tragische Erfahrung in beiden Theaterdispositiven (noch) möglich ist.

TRAGISCHE UND ÄSTHETISCHE ERFAHRUNG

Wenn wir im Folgenden untersuchen, was »tragische Erfahrung« ist, so mag manchmal der Eindruck entstehen, sie sei fast nicht unterscheidbar von ästhetischer Erfahrung überhaupt. Wir werden zwar mit dem spezifischen Kriterium der Selbst-Unterbrechung des Ästhetischen eine Unterscheidung zwischen beiden deutlich zu machen suchen. Dennoch bleibt hier eine Schwierigkeit bestehen, mit der man umgehen, aber die man nicht wirklich beseitigen kann. Jede ästhetische Erfahrung, die den Namen verdient, hat Anteil an Reflexion. Die ästhetische Erfahrung wiederum nimmt Gestalt an, formuliert sich nicht allein in Erlebnisberichten, sondern ihrerseits in Theorie, in reflektierenden Äußerungen. Worin und in welcher Form jedoch bereits in der ästhetischen Gegebenheit selbst diese innere Brechung oder »Zäsur« angelegt ist, dafür gibt es kein allgemeines Kriterium. Sie mag sogar in der Übersteigerung einer reflexionsfeindlichen Überwältigungsästhetik gelegen sein, der aber das Potential innewohnt, dialektisch umzuschlagen in eine Bewußtwerdung des Betrachters über dieses sein Überwältigtwerden. Die Unterbrechung mag im Sinne Brechts und seiner Nachfolger durch Verfremdung entstehen. In der Praxis des Theaters bestehen mannigfache Möglichkeiten, den Theatervorgang selbst ins Bewußtsein treten zu lassen. Wenn wir aber die tragische Erfahrung für die Gegenwart durch eine Unterbrechung nicht nur der Darstellung oder Vorstellung, sondern als Zäsur des Ästhetischen selbst definieren, so ist dies etwas anderes als ein »nur« innerästhetisch zäsurierendes Verfahren, wie es wohl Hölderlin konzipiert hat. Doch leuchtet ein, daß man hier stets auch interpretierend – und bis zu einem gewissen Grade willkürlich – setzen muß, ob und wo das Ästhetische in sich selbst eine Zäsur erfährt, wo weitergehend ein Bruch mit der Verabredung, sich nur im Bereich des Ästhetischen zu bewegen, stattfindet. Es wird zu zeigen sein, daß diese Problematik selbst einen historischen Index aufweist. Stellen wir in dieser Hinsicht vorgreifend nur fest, daß die Autonomisierung der Kunst zu verschiedenen Zeiten verschiedene Bedeutung hat. In der Gegenwart ist es geradezu zum Kriterium von interessanter Kunst geworden, daß man nicht mehr ganz genau wissen kann, ob es sich um Kunst handelt. Als Faustregel darf jedenfalls im Theater allemal gelten, daß dort, wo auch nicht der leiseste Zweifel auftaucht, es mit »Kunst« zu tun zu haben, die Kunst vermutlich gerade verfehlt und die Grenze zum Kunstgewerblichen überschritten wurde. Autonomie des Ästhetischen, die einmal enormer Zugewinn an Darstellungschancen war, ist kein problemloser Wert mehr. Wenn uns tragische Erfahrung in der Gegenwart unter anderem eine Unterbrechung des Ästhetischen zur Voraussetzung zu haben scheint, so ist dies also, wie nicht verborgen werden muß, mit einer Parteinahme für solche Versuche verbunden, die den Grenzgang im Schwellenterrain des gerade noch oder nicht mehr als ästhetisch Approbierten riskieren. Diese Problematik betrifft zuinnerst das tragische Motiv selbst. Denn sollten wir das Rechte damit treffen, das Tragische in einer Geste der Transgression zu verorten, so betrifft diese Überschreitung in Zeiten einer Dekonstruktion des Theaters der Repräsentation gerade auch die Frage, ob eine Überschreitung noch im Bereich des (nur) Dargestellten zu suchen ist, oder ob sie vielmehr die Mechanismen der Darstellung, des Theaters selbst, seiner Form und seiner Praxis betrifft.

TRAGÖDIE NACH DEM DRAMA

Zug um Zug schwindet die Gültigkeit der Bestimmungen des Dramas in der Moderne und Postmoderne, sie verlieren an Bedeutung. Es sind andere Vorstellungen von dem, was Mensch, Subjekt, Handeln heißt, aufgekommen, die sich von denen unterscheiden, die der Schaffung des Dramas zugrunde lagen. Dieser Umstand ist ein wichtiger Grund dafür, daß eine enorme Erweiterung des Begriffs von Theater im allgemeinen über das Drama hinaus geschieht – während freilich zugleich eine Reihe von gesellschaftlichen und politischen Erfahrungen, die ihren Ausdruck im dramatischen Theater gefunden haben, weiterhin existieren. Daher die Parallelität (und der Streit) von dramatischen und postdramatischen Theaterformen in der Gegenwart. Daher auch die sehr ernsthafte Frage, ob etwas wie Tragödie nach ihrer antiken prädramatischen und ihrer dramatischen Phase in der Gegenwart noch einen Platz haben kann. Wie sehr auch die nicht-mehr-dramatischen Theaterformen und Theatertexte stets noch vor dem Echoraum der dramatischen Tradition operieren (und in diesem Sinne weiterhin als post-dramatisch angesprochen werden sollten), zeigt sich immer wieder. So sind Becketts Stücke voll von Referenzen an klassische Schemata des Dramatischen und der klassizistischen Theaterkonventionen. So referiert Heiner Müllers Hamletmaschine auf die fünfaktige Struktur der Tragödie und den Abschied vom Drama. So kann man in einem postdramatisch angelegten Text wie Cleansed (Gesäubert) von Sarah Kane eine ganze Serie von Anspielungen auf die Tragödie beobachten, angefangen bei der Katharsis, die sich im Titel versteckt. Während das neuere und neueste Theater nicht mehr produktiv unterm Gesichtspunkt des Dramatischen erfaßt werden kann, ist die antike Tragödie (noch) nicht »dramatisch« in dem seit der Renaissance geläufigen Sinn. Es geht jedoch hier nur am Rand um die Tragödie der Antike (zu welcher der Verfasser eine Untersuchung vorgelegt hat, an die resümierend angeknüpft wird). Im Zentrum steht die neuzeitliche Tragödie seit der Renaissance, sodann die unter theaterwissenschaftlichen Vorzeichen gestellte Frage nach der »Gegenwart der Tragödie«9. Dieser Gesichtspunkt ist Gegenstand des letzten Teils dieser Studie, stellte aber ein Ausgangsmotiv für sie dar und wird den Lauf der Untersuchung durchweg begleiten.

Nicht leicht von der Hand zu weisen sind vorderhand die Argumente für ein Ende der Tragödie. Heiner Müllers Wendung »die Sintflut ein Defekt der Kanalisation« bringt eine verbreitete Wahrnehmung auf die Pointe: daß über die Analyse technischer Fehler hinausgehende Verstehensversuche von Leiden nur Ideologie seien. Friedrich Dürrenmatt erklärte, das »Schicksal« habe die Bühne verlassen, »im Vordergrund wird alles zum Unfall«10. Brecht betonte schlagend einfach, das Schicksal habe Namen und Adresse. Allgemein läßt sich jedoch davon sprechen, daß man gegenwärtig, wenn auch mühsam, aus dem Schlaf der trügerischen Sicherheit erwacht, das Tragische ein für allemal hinter sich gelassen zu haben in einer Welt, in der man über alles diskutieren kann und kein Motiv mehr stark genug wäre, sich in einen womöglich aussichtslosen Konflikt zu stürzen. In der Phase ungebrochen scheinenden Aufstiegs des Wohlstands verlor sich die Ahnung, daß vielleicht doch nicht alle Konflikte sich konsensuell auflösen lassen, daß es in der Realität Feinde geben könnte, die sich ihre Feindschaft nicht nehmen lassen, nicht nur Diskussionspartner, die es zu überzeugen gilt; daß das Leben der Staaten und Völker von objektiv kollidierenden Interessen bestimmt wird, die auf absehbare Zeit nach menschlichem Ermessen nicht alle friedlich geschlichtet werden können; daß das Leben im »Guten« nicht die Wirklichkeit aufhebt, daß das Böse eine perennierende Dimension des Lebens ist; daß auch das beste Gesetz in nicht auflösbarer Weise von einer Tendenz zu seiner Überschreitung begleitet bleibt; daß auch in einer Kultur rationalisierender Aufklärung die Dimension des Affektiven, ihre Macht, nach Ausdruck verlangt, und dies gerade in der Kunst. Der Glaube, die Tragödie im wissenschaftlichen Zeitalter diskutierender Aushandlung verabschieden zu können, ist ein gesellschaftlich, ästhetisch und theatertheoretisch verderblicher Kurzschluß. Auf das, wenn die Zeichen nicht trügen, erneuerte Bewußtsein von fortexistierenden und vielleicht unlösbaren Widersprüchen des kollektiven und »privaten« Lebens wird vorderhand hauptsächlich mit dem faszinierten Interesse an Unfällen, Katastrophen in Natur und Technik, Terrorattacken, Amoklauf, an »Schicksalsschlägen« wie Krankheiten, schwerem Verlust und Sterben, reagiert. Tragödie und mit ihr die Erfahrung von Niederlage, Scheitern, Zusammenbruch wird öffentlich nach Kräften verleugnet, bleibt aber im seelischen Erleben virulent. Der Soziologe Alain Ehrenberg konfrontierte11 die für die Kultur der klassischen Moderne relevante Neurose als »das Drama der Schuld« mit der gegenwärtigen Lage einer depressiven Disposition, die weniger an der Problematik der Schuld als vielmehr an der »Tragödie der Unzulänglichkeit« leidet. Die Diagnose endogener Leere in der Gegenwartskultur läßt die Depression hervortreten, in der sich das Subjekt weniger nach performativem Ausagieren sehnt als vielmehr – man denke an Jon McKenzie’s Perform or Else12 – von der fortwährenden Zumutung zu disziplinierter performativer Selbstdarstellung und Initiative überfordert ist. In der neueren Forschung13 ist in diesem Sinne mit guten Gründen vertreten worden, es bestehe ein Zusammenhang zwischen der als typisch diagnostizierten neurotischen Symptomatik zu Beginn des 20. Jahrhunderts und den Formen der historischen Theateravantgarden einerseits, der Grunddisposition des Depressiven in der Gegenwart und den neuen postdramatischen Theaterformen andererseits.

»DRAMATISCHE TRAGÖDIE« UND TRAGISCHES KERNMOTIV

Einerseits wird die hier vorgelegte Untersuchung die freilich nicht ungebrochene Kontinuität eines tragischen Motivs dort herauszuarbeiten suchen, wo vielfach lediglich scharfe Brüche gesehen werden: zwischen Antike und Moderne; zwischen Tragödie und Trauerspiel; zwischen neuzeitlicher Moderne und »postmoderner Gegenwart«, für die man den »Tod«, das Unzeitgemäß-Werden der Tragödie konstatieren zu können meinte. Andererseits soll erläutert werden, daß und warum die neuzeitliche europäische Tragödie seit der Renaissance nicht einfach in der Kontinuität eines Genres namens »tragisches Drama« zu denken ist. Im Gegenteil lautet der Vorschlag, auf den geläufigen Begriff »tragisches Drama« ganz zu verzichten, da diese Redeweise stets wieder dazu verführt, das zeitgenössische Theaterstück (ist es noch tragisch?), die Tradition des klassischen Dramas und die ganz anders gearteten Tragödien der Antike trüb in eins zu mischen. Stattdessen wird hier die Tragödie der frühen Neuzeit des 16. und 17. Jahrhunderts begriffen als Tragödie in einer dramatisch erst gewordenen Gestalt, als in einem spezifischen Sinn dramatische Tragödie, der gegenüber die prädramatische und die postdramatischen Gestalten von Tragödie abzugrenzen sind. Die mit beiden Absichten verbundenen methodischen und theoretischen Schwierigkeiten sind offenbar erheblich. Ihnen soll auf zweierlei Weise begegnet werden: zum einen durch eine möglichste Allgemeinheit der Bestimmung des tragischen Motivs, so daß es eine große Variationsbreite zuläßt; zum anderen durch die konkrete Verknüpfung des tragischen Motivs mit den Organisationsweisen seiner theatralen Darstellung zu verschiedenen Zeiten. Mancher wird dennoch das Verfahren grundsätzlich anzweifeln, etwas wie einen sachlichen Kern der in so divergierenden Gestalten in Erscheinung tretenden Tragik quer über die historischen Epochen des (europäischen) Theaters überhaupt definieren zu wollen. Zu den Gefahren, die einem solchen Programm drohen, gehört die, aus einer gegenwärtigen Perspektive die (mehr oder minder ausgeprägte) Identität des Phänomens nur zu fingieren. Andererseits kehren aber eine Serie von Motiven, die mit Tragik verknüpft sind, sowie die Begriffe Tragik und Tragödie selbst mit solcher Hartnäckigkeit wieder, daß sich der Versuch oder die Versuchung immer wieder aufgedrängt hat, eine umfassendere, also in gewisser Weise »überhistorische« Bestimmung des Tragischen zu gewinnen. Gegen die Ausdifferenzierung der Theaterformen wiederum mag man einwenden, ob es nicht doch jene »Familienähnlichkeit« aller tragischen Dichtung gibt, von der immer wieder einmal gesprochen wurde. Das mag für eine Reihe tragischer Literaturwerke quer durch die Zeiten eine gewisse Plausibilität haben. Aber existiert diese »Ähnlichkeit« wirklich für das Theater der Tragödie? Zwischen einer antiken Aufführung der Perser und einer postdramatischen Darstellung von Sarah Kane, zwischen einer Racineschen tragédie classique und der Tragedia Endogonidia der Socìetas Raffaello Sanzio? Statt eine Kontinuität des tragischen Dramas zu postulieren, wählen wir den Weg, ein tragisches Kernmotiv zu bestimmen und die Formen des Theaters, in denen es zur Geltung gelangt, historisch und systematisch zu unterscheiden. Ein Begriff der Tragödie als »Gattung«, der sodann Anwendung auf die unterschiedlichen Phasen und Typen des »tragischen Dramas« fände, wird also nicht zugrunde gelegt. Angesichts der Verfransung der Künste, der Außerkurssetzung von Gattungstraditionen, der geminderten und jedenfalls grundlegend veränderten Rolle von literarischen Aspekten des Theaters, sowie last not least der unübersehbar gewordenen Tendenz zur Infragestellung von »Kunst« als einem sicher abgrenzbaren Bezirk überhaupt, haben gattungstheoretische Zugangsweisen einen altertümlichen Zug angenommen. Jeder Begriff von Tragödie als Textgattung greift, wie bemerkt, schon darin zu kurz, daß er die tragische Erfahrung als eine an Theater gebundene nicht oder nur marginal in den Blick nimmt. Hinzu kommt aber: Die Bestimmung einer Gattung, die die konzentrierten Werke der Antike ebenso wie die labyrinthischen Dramaturgien Shakespeares, die Abstraktion und klassische Stilisierung Racines oder Schillers, die Georg Büchner ebenso wie (gesetzt vorläufig, es handle sich hier um Tragödien) Henrik Ibsen, Arthur Miller, Eugene O’Neill, Heiner Müller, Howard Barker’s »Theatre of catastrophe«, Dea Loher und Sarah Kane umfassen sollte, verdammte sich zu solcher Abstraktheit, daß ein derartiger Gattungsbegriff nichts mehr erschließen, sondern nur noch formal markieren, ja etikettieren, könnte.14 Stattdessen rollen wir das Thema Tragödie von der Frage nach der Besonderheit einer tragischen Erfahrung her auf – im klaren Bewußtsein der methodischen Ungewißheiten, die auch mit einer solchen erfahrungstheoretischen Argumentation verbunden sind.

ÜBERSICHT

Bevor wir uns dem Komplex Tragödie und Theater selbst zuwenden, legt es der erwähnte Mangel einer auf das Theater orientierten Tragödientheorie nahe, sich noch einmal der schwierigen ›Affäre‹ zwischen Philosophie und Tragödie, Theorie und Theater im allgemeinen zuzuwenden. Eine alte Liebe, aber auch eine alte Rivalität, ein Kampf um die Priorität und ein Verhältnis des wechselseitigen Nicht-Vernehmens der Sprache des je anderen scheint eine Verständigung zwischen (nicht allein philosophischer) Theorie und dem Theater der Tragödie fortwährend zu behindern. Diesem Thema gilt das erste Kapitel »Palaia diaphora – Ein »alter Hader« zwischen philosophischer Theorie und Tragödie«, das als eine Art Prolegomenon der Bestimmung des Tragischen vorgeschaltet ist. Aufgabe des Kapitels »Versuche über das Tragische« ist es, das tragische Motiv zu bestimmen, den Kern des »Tragischen« in seinen wechselnden Erscheinungsweisen als eine zunächst inhaltliche, dann – wie gezeigt werden soll – auch formale Bewegung der »Überschreitung« zu bestimmen und seine relative Beständigkeit quer durch die Epochen plausibel zu machen. Dieser Versuch, eine mindestens vorläufige terminologische Klarheit darüber zu gewinnen, was man unter »dem« Tragischen, einem in so vielen Bedeutungen und Präzisierungsgraden gebrauchten Term, im vorliegenden Zusammenhang zu verstehen hat, scheint unumgänglich, will man sich nicht hoffnungslos im Gestrüpp der unterschiedlichen Definitionen verirren. So wichtig es ist, jede verwaschene Allgemeinheit vom Begriff des Tragischen fernzuhalten, so sehr ist doch angesichts seiner enormen Verbreitung in Zeit und Raum der europäischen Kultur die Frage nach einer solchen möglichen Gemeinsamkeit einer Erfahrung geboten. Fast jede Theorie der Tragödie bezieht sich in irgendeiner Weise auf »das Tragische«15 – was nicht umgekehrt gilt, sofern es Theoretisierungen des Tragischen gibt, die ohne die Tragödie auskommen. Man hat darauf hingewiesen, daß fast alle Religionen, Kulturen und Sprachen ein Konzept wie das Heilige aufweisen, während der Begriff des Tragischen nur in der europäischen Tradition und in Bezug auf die antike Tragödie formuliert wurde.16 Wenn man freilich beim Tragischen den Akzent, wie es hier unternommen wird, auf die gleichsam ikarische Figur der Grenzüberschreitung legt – Überhebung und Sturz –, dann verliert das Argument Gewicht, der Begriff des Tragischen gründe sich »nicht auf eine gemeinsame menschliche Erfahrung, sondern auf eine Literaturform, die von Aischylos und seinen unmittelbaren Vorgängern in Athen geschaffen wurde«17.

Ein erstes Zwischenspiel, »Casus Seneca«, erläutert den Zusammenhang von Rache und Subjekt im Grundmuster der Hyperbel. Das Kapitel »Theater/Erfahrung und das Tragische« gilt der Beziehung, die das Tragische mit der Realität des Theaters unterhält, und unternimmt eine Konstruktion dessen, was »tragische Erfahrung« heißen kann. Im Unterschied zu dem teilweise sehr weiten Gebrauch des Begriffs Tragik, der vielfach auch auf literarische Narrationen, Musik oder Lyrik und im alltäglichen wie im wissenschaftlichen Sprachgebrauch auf Realitäten des geschichtlichen oder »privaten« Lebens bezogen wird, soll tragische Erfahrung hier als ein strictement an Theater gebundenes Phänomen verstanden werden. Die Begriffe des Tragischen, der Tragödie und der »tragischen Erfahrung« werden in solcher Weise bestimmt, daß die letztere zu fassen ist als Zusammenspiel eines inhaltlichen Grundmotivs des Tragischen mit einer Erfahrung von Theater. Der Begriff ›tragische Erfahrung‹ bezeichnet in unserer Terminologie also nicht die supponierte Erfahrung des tragischen Helden, sondern die Erfahrung derer, die den tragischen Vorgang als Zuschauer, Betrachter, Teilnehmer an seiner Darstellung rezipieren bzw. miterleben. Auch wenn man in der Wissenschaft den Begriff der Tragik häufig in Bezug auf beispielsweise Dostojewski, Melville oder Baudelaire gebraucht hat, so sollte man, was die Tragödie angeht, meinen, daß das Theater im Grunde nie nötig gehabt hätte, erst mit Aplomb als konstitutiv oder mindestens entscheidend mitwirkend bei der Bedeutungskonstitution und Erfahrung der Tragödie entdeckt zu werden (wenn auch manche Theoretiker, zu tief über Bücher gebeugt, das irgendwie übersehen hatten). Intuitiv »wissen« wir, daß die tragische Erfahrung keine rein mentale, intellektuelle oder rationale ist, und wir wissen auch, daß sie, anders als das Lesen, »irgendwie« mit einer realen Öffentlichkeit verbunden ist, mit Stimme, Körpern und Raum. Das Tragische kann weder als Manifestation einer Dialektik oder eines Paradoxons des Denkens, noch eines unlösbaren Konflikts, noch einer »Einsicht« in die Zwangsläufigkeit eines subjektiven oder weltgeschichtlichen Scheiterns gedacht werden – obgleich dies sehr geläufige Definitionen des Tragischen sind. Verhielte es sich mit der tragischen Erfahrung wirklich so, dann wäre die Tragödie allerdings – überflüssig. Wäre nichts anderes, als bloß die Illustration von Verhältnissen, die der Begriff genauer, als sie es vermag, erfassen würde. Tragische Erfahrung ist nicht einfach Reflexion, sondern zugleich deren Innehalten, sie ist zugleich sinnlich, gleichsam »blind« und affektgeladen, oder es gibt sie nicht.

Das Zwischenspiel »Das Modell Antigone« diskutiert, inwiefern eine der immer wieder aufgegriffenen tragischen Heroinen, Antigone, exemplarisch als Figur der Tragödie selbst verstanden werden kann.

In historischer Perspektive rekapituliert das Kapitel »Die Dramatisierung der Tragödie« zunächst einige der Argumente dafür, entgegen einem breiten Strom der Forschung, die antike Tragödie nicht als dramatisch, sondern als prädramatisch aufzufassen. Die Eingrenzung des Dramatischen und die strikte Differenzierung zwischen Theater und Drama samt der Pointierung der Spezifizität des »dramatischen Theaters« ermöglicht eine Reihe neuer Fragestellungen. Inwiefern läßt sich aus dieser Perspektive ein genauerer Blick auf das im engeren Sinne »dramatische« Theater gewinnen? Wie ist im Licht der neueren Entwicklung der Prozeß der Dramatisierung des Theaters und mit ihm der Tragödie zu beschreiben, der mit der Renaissance einsetzte und der Theatertradition Europas seitdem sein spezifisches Gepräge gegeben hat? Mit der genaueren Ausleuchtung dieser Fragen soll einerseits ein Stück historischer und theoretischer Bewußtheit darüber gewonnen, was eigentlich die Besonderheit der dramatischen Theatertradition in Europa gewesen ist. Andererseits ist eine wechselseitige Erhellung beabsichtigt: dessen, was genau das »Dramatische« am dramatischen Theater ist oder war, durch die Frage nach der Tragödie; dessen, was Tragödie und das Tragische bedeuten kann, wenn man zwischen verschiedenen Gestalten von Theatralität unterscheidet. Zu hoffen bleibt, daß theaterpraktisch die hier versuchte Perspektivierung Fingerzeige dafür bereitstellt, in welcher Weise den genuinen Antriebsmotiven der klassischen dramatischen Texte im Theater der Gegenwart jenseits einer museal entkräfteten Aufbereitung entsprochen werden kann.

Der Darstellung der Ausgestaltung der Tragödie in der Neuzeit als spezifisch dramatische Tragödie in der Renaissance folgt ein gesondertes Kapitel »Reine dramatische Tragödie: Racine«, das der eigentümlichen Erscheinung der französischen tragédie classique gilt. Jean Racine führt das Prinzip des Dramatischen radikal durch und treibt es paradoxerweise zugleich auch über sich hinaus: die rein verwirklichte dramatische Dynamik mündet in Statik, die dramatische Ekstase der Passion in Stasis. In diesem Zusammenhang bietet es sich an, in einem Zwischenspiel die Unterscheidung von »Tragödie und Trauerspiel, Tragik und Trauer« aufzugreifen, die für die Diskussion in Deutschland von besonderer Bedeutung geworden ist. Aus Gründen, die an gegebener Stelle erläutert werden, wird die Phase des bürgerlichen Trauerspiels im 18. Jahrhundert, die im Zeichen einer mehr oder weniger bewußten Verneinung und Vermeidung des tragischen Motivs steht, nur gestreift. Die beiden folgenden Kapitel – »Krisen der dramatischen Tragödie: Schiller, Hölderlin, Kleist« und »Auflösung des Dramatischen: ›Musikdrama‹ und lyrische Tragödie« behandeln einerseits die früh einsetzenden Krisenerscheinungen der dramatischen Tragödie, die sich daraus erklären lassen, daß sich das tragische Motiv und die dramatische Theaterform nur mit Mühe verbinden wollen; andererseits die Auflösung des dramatischen Paradigmas am Ende des 19. Jahrhunderts. In Schillers Tragödien, die nach denen Racines zu den am reinsten ausgeprägten Erscheinungen des dramatischen Prinzips gehören, wird ein verborgener Bruch, eine durch die rhetorische und dramaturgische Genialität des Autors gleichsam nur überlistete Diskrepanz beobachtet. Bei Hölderlin wehrt sich der tragische Impuls gegen den Versuch, ihn in ein Drama zu pressen, dieser Konflikt ist es, auf den das Scheitern der Empedokles-Tragödie zurückzuführen ist. Bei Kleist sprengt eine Dramaturgie der Explosion das sprachliche und szenische Gefüge des Dramas. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts kommt es zur Aufkündigung der dramatischen Konventionen durch die historischen Avantgarden. Die »aggressive« Variante dieser Avantgarden18 ist oft untersucht worden. Hier wird die unter dem Gesichtspunkt der Tragödie besonders aufschlußreiche »stille« Avantgarde beschrieben: das statische, lyrische, symbolistische Theater (exemplarisch Maeterlinck, daneben Hofmannsthal und Yeats), dessen Autoren Tragödien jenseits des dramatischen Paradigmas, jedoch in seinem Schatten zu schaffen suchen. Sie geben dabei, obwohl vor allem an der poetischen Dimension interessiert, zugleich den Anstoß zu einer Verschiebung des Theaterbegriffs vom Literarischen hin zu einer gleichberechtigten Legierung von Raum, Licht, Klang und Zeitform. In diesem Zusammenhang wird auch die Frage des Wagnerschen »Musikdramas« zu erörtern sein. Im Kapitel »Tragödie und postdramatisches Theater« soll abschließend erörtert werden, in welchem Sinne in der Gegenwart mit Sinn von postdramatischer Tragödie zu sprechen ist.

TRAGÖDIE IN DER GEGENWART

Keine tragödientheoretische Untersuchung kann umhin, die Frage nach einer möglichen Zukunft der Tragödie und des Tragischen unter den kulturellen und ästhetischen Bedingungen der Gegenwart aufzuwerfen. Was es heute vor allem zu denken gilt, ist die spezifische, historisch variierende Theatralität. Für eine solche Erkundung bietet die Gegenwart einen günstig gelegen Ausblickspunkt, hat sie doch eine so radikale Erweiterung des Begriffs von Theater gesehen, daß es unumgänglich wurde, in diesem Licht Geschichte und Inhalt dessen, was man Theater und Drama nennt, neu zu überdenken. Daß man mit Sinn bei der antiken Tragödie von einer prädramatischen und in der Gegenwart von einer postdramatischen Theaterform sprechen kann,19 ist inzwischen hier und da aufgegriffen worden. In der Altphilologie überlegt Anton Bierl, ob nicht das prädramatische Theater der Antike seinen Aufschluß eigentlich erst im Postdramatischen finde.20 Christoph und Bettine Menke erklären:

Das klassische Drama ist nur eine Möglichkeit des Theaters. So erscheint es nicht nur aus der Perspektive des postdramatischen Theaters der Gegenwart. So erscheint das Drama auch durch die postdramatisch bestätigte und befruchtete Ansicht des antiken Theaters als eines prädramatischen oder a-dramatischen Theaters: als eine historisch spezifische, vor allem und zuvor aber als eine strukturell beschränkte Option des Theaters […] weil es darauf beruht und fortwährend darin besteht, seinerseits das Theater, dessen Form es ist, strukturell zu beschränken: Als Form des Theaters steht das Drama zugleich im Widerstreit zum Theater, in dem es doch allein existiert.21

Während inzwischen »nicht mehr dramatische« Theatertexte22 eher die Regel als die Ausnahme sind, vollzieht sich eine gewaltige Erweiterung des Theaters als szenische und performative Praxis – oft jenseits aller Textfragen. Beuys sprach von der Erweiterung des Kunstbegriffs. Kaum irgendwo ist die Entgrenzung der tradierten Vorstellungen von dem, was Kunst sei, fühlbarer als gerade im Theater: Es kann heute eine Installation mit Filmen und Sprache sein; es kann aus einem Gang durch die Stadt bestehen, der den etwa im religiösen Theater des Mittelalters relevanten processional space23 auf überraschende Weise wieder aktiviert; Theater mag wortloses oder auch mit Sprache versetztes Körperbewegungsspiel sein; eine Fahrt im Lastauto, in dem die urbane Szenerie neu erfahren wird; oder eine vielstündige Lesung der Ilias. Es kann kollektive Subjekte zeigen, die, praktisch ohne Spielhandlung, Theoriediskurse mit scheindialogischem Sprechen verbinden (Diskurstheater) oder es kann eine mehr oder minder monologische Beziehung der Ansprache zum Publikum herstellen. Es bringt, durchaus, weiterhin dramatische Texte zur Darstellung, verstrickt diese aber so sehr in die autonom betriebene Ausstellung von Körperlichkeit, Stimme und Rhythmus, daß Theater keineswegs mehr als das Beobachten und Reflektieren eines dramatischen Sinn- oder Handlungszusammenhangs definiert werden kann. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts zeigen sich zudem immer mehr Formen, innerhalb, am Rande und außerhalb der Theaterinstitute, die zwischen Dokumentation, vielfältiger gesellschaftlicher Praxis, social works,24 Ausstellung und Theaterspiel neue Formate des Theaters entwickeln, denen gegenüber die tradierten Institute mit dem, was man inzwischen oft schon abgrenzend »Kunsttheater« nennt, veraltet und rückwärtsgewandt aussehen. Als Theater kann man inzwischen auch einen bedeutenden Teil der sogenannten Performance Art bezeichnen, da diese sich in vielfältiger Weise »theatralisiert« hat, sich anreichert mit reproduzierbaren szenischen Elementen, Rollenspiel und Mimesis. Performance wird, ihrem frühen radikalen Anspruch zuwider, reproduzierbar, erfährt sogar systematisches re-enactment durch ihre führenden Protagonisten. Sie nimmt Theaterelemente, Spuren und Fragmente von Fiktion, »Repräsentation« in sich auf. Mit anderen Worten: Eine klare Abgrenzung zwischen Performance und Theater wurde weithin objektiv gegenstandslos.25

Auf der anderen Seite bedeutet die Verabschiedung des (Primats des) Dramatischen keineswegs, wie vielfach geargwöhnt wird, die Verabschiedung von Sprache und Sprechen. Postdramatisches Theater heißt ganz und gar nicht: Theater ohne oder gar gegen den Text. Musikalisierung und Körperlichkeit bestimmen zweifellos vieles gegenwärtige Theater und definieren es durch Rhythmus. Postdramatisch aber heißt die gegenwärtige Theaterlandschaft nicht, weil es darin keinerlei Dramen und keinerlei dramatische Elemente mehr gäbe, sondern weil das Dramatische seine Bedeutung als Norm des theatralen Vorgangs eingebüßt und das in der frühen Neuzeit entwickelte Dispositiv des Theaters der Repräsentation sich aus vielerlei Gründen, nicht zuletzt wegen der inflationären Fülle von dramatisierenden Repräsentationen im Alltag der Medienkultur, erschöpft hat. Soviel jedenfalls beweist die enorme Ausweitung, die Begriff und Praxis des Theaters im Zeitalter der Medienkultur erfahren haben: Theater ist in keiner Weise mehr auf das dramatische Paradigma festzulegen, das in Europa zwischen Renaissance und dem Aufbruch der historischen Avantgarden in Europa theoretisch und weithin auch praktisch beherrschend gewesen ist. Damit ist die zuvor von Theorie kaum ernsthaft bedachte Differenz, der Abstand, ja der Widerspruch zwischen den Bestandteilen Drama und Theater in der Bezeichnung »dramatisches Theater« in aller Schärfe hervorgetreten – Christoph Menke spricht geradezu von einer Contradictio in Adjecto. Die Perspektive auf die Geschichte des dramatischen Theaters von der postdramatischen Gegenwart her schärft den Blick für die Spannung zwischen Drama und Theater ebenso wie für die Differenzen zwischen Textfiktion und Spiel, Werk und Performanz und die Reflexion dieser Spannungen in der Moderne und Postmoderne.

Wenn es unabweisbar wurde, neben den dramatisch verfaßten auch gänzlich andere Formen des Theaters anzuerkennen, so muß diese Einsicht auch Folgen für die Geschichtsschreibung des Theaters haben. Sie betreffen das Verständnis des europäischen wie des nichteuropäischen Theaters. Verblüffend ist, daß die doch offenkundig so massive Verschiebung des ganzen Kontinents dessen, was man »Theater« nennt, so wenig Auswirkungen auf die Theorie und Geschichte der theatralen Gattungen gehabt hat. Diese werden vielmehr oft genug weiterhin unverdrossen entlang einer Idee von Theater gedacht, die man als »dramatisches Theater« fixieren kann (und die oft noch enger mit jener Leitvorstellung von Theater zu identifizieren ist, die das bürgerliche Zeitalter im Europa des 18. und 19. Jahrhunderts, grob gesagt: zwischen Lessing und Stanislawski, beherrscht hat). Es scheint daher eine notwendige Markierung zu sein, deutlich zu machen, daß das dramatische Paradigma und mehr noch das literarisch-dramatisch akzentuierte Theater der bürgerlichen Epoche in Europa nur eine der möglichen Varianten der Theaterkunst darstellt, die historisch wie in interkultureller Perspektive von höchst relativer, in Europa selbst auf wenige Jahrhunderte beschränkter Geltung und Bedeutung (gewesen) ist.

ITheorie/ Theater/ Das Tragische

Palaia diaphora – Ein »alter Hader« zwischen philosophischer Theorie und Tragödie

ARISTOTELISCHE THEMEN: »MYTHOS«, LOGOS, KATHARSIS, ANAGNORISIS

Für Aristoteles, der den europäischen Diskurs über Kunst zutiefst geprägt hat, ist die Tragödie eine im Grunde dem Logos nach-gedachte Wirklichkeit, sie ist – para-logisch. Zwar kann sie nicht reiner Logos sein, ihr Wert aber besteht in der Nähe zu ihm. Von dieser Idee zeugen viele explizite Aussagen ebenso wie der gesamte Duktus der P Viele Kategorien der Tragödienstruktur – Peripetie, Metabole, Anagnorisis, angemessene »Größe« usw. – sind parasitär logische, am Vorbild logischer Struktur orientierte Konzepte. Wie der Gedankenschritt einer Folgerung, so kehrt sich die Handlung in der Peripetie um und läßt nun Neues erkennen. Wie in einem Erkenntnisprozeß steht als wesentliches Moment des Verlaufs ein (Wieder-)Erkennen im Zentrum. Wie eine logische Folgerung tritt die Katastrophe ein, und ihre Logizität ist umso eindrucksvoller, wenn sie sich gerade im Unwahrscheinlichen bewährt. Die angemessene Größe sorgt für die geforderte »Übersichtlichkeit« der Tragödie, nicht anders, als man es von einer Gedankensequenz verlangt: die Größe der Tragödie soll gerade genügen, um den logisch nachvollziehbaren Wechsel vom Glück zum Unglück beinhalten zu können. Die Theorie des individuellen dramatischen (Handlungs-)Verlaufs steht in der P im Dienst der logischen Ausfaltung zu einem Allgemeinen. Die Narration der Tragödie steht unter dem Sie ist dem Gesetz unterworfen, eine erkennbar werdende logische Struktur zu erstellen. Die Tragödie, so ist mit Aristoteles zu denken, bringt eine verborgene Ordnung der Dinge zum Vorschein, einen Logos nach Notwendigkeit oder Wahrscheinlichkeit. In diesem Sinne ist sie für ihn »philosophischer« als die Geschichtsschreibung. Ihr Energiekern ist das »Lernen«. Allein durch Bericht, Information, Erzählung von Ereignissen, also im mythischen trotz deren ebenfalls ja nicht a-logischer Verfassung, kann dieser Logos nicht recht zur Erscheinung gelangen. Vielmehr bedarf es einer logisch geordneten Zusammenstellung, einer Dramaturgie, Aristoteles sagt: des »Mythos«, der Tragödie. Er versteht darunter die effektvolle, vor allem aber logisch zwingende Anordnung der Ereignisse, den »plot«.

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