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Volha Hapeyeva durchstreift in "Trapezherz" Sprachen und Länder, Zeiten und Planeten. In diesem Band vereint sie Wehmut und Liebe, Verspieltes und Ironisches, Momentaufnahmen und Philosophisches, Körperlichkeit und Sinneseindrücke sowie Einsamkeit, Heimat und Nomadentum. Herzen springen und stürzen; ein Mantel sucht jene Frau, die er bekleiden soll; wie geht es Schuhkartons, die ihren ursprünglichen Zweck erfüllt haben? Wie stellt es jemand an, im eigenen Koffer auf die Reise geschickt zu werden? Was sagt eine Variation von Nudelgerichten über den Tag des lyrischen Ichs aus? Das Trapezherz schlägt sanft und sensibel, leise und laut, einfühlsam und wütend, komisch und ernst. Die Bandbreite dieses Buches könnte nicht größer sein, im Wechselspiel bilden die Gedichte alle Facetten unserer Lebenswirklichkeit ab. Zweifellos zählt Volha Hapeyeva zu den wichtigsten Stimmen zeitgenössischer belarusischer Literatur. Ihre Texte sind aktuell und zeitlos, poetisch und politisch.
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Seitenzahl: 52
ISBN 978-3-99059-137-6
© Literaturverlag Droschl Graz – Wien 2023
© der Originalausgaben: Volha Hapeyeva
Die Gedichte wurden aus den folgenden Gedichtbänden ausgewählt:
Пад асобнымі коўдрамі (Unter der eigenen Decke), unveröffentlicht
Словы якія са мной адбыліся (Die Worte die mir passierten), Minsk: Halijafy, 2020
Чорныя макі (Schwarzer Mohn), Minsk: Halijafy, 2019
Граматыка снегу (Grammatik des Schnees), Minsk: Halijafy, 2017
Прысак і пожня (Asche und Stoppel), Minsk: Lohvinau, 2012
Няголены ранак (Unrasierter Morgen), Minsk: Lohvinau, 2008
Рэканструкцыя неба (Rekonstruktion des Himmels), Minsk: Lohvinau, 2003
Umschlag: & Co, www.und-co.at
Satz: AD
Literaturverlag Droschl Stenggstraße 33 A-8043 Graz
www.droschl.com
Volha Hapeyeva
Trapezherz
Gedichte
Aus dem Belarusischen von Matthias Göritz
Literaturverlag Droschl
•
und sie träumte von dem wort
und sie erwachte
und sie konnte sich nicht daran erinnern
und das wort war einfach und ganz
machte die welt ruhig und leicht
als wäre jetzt alles offenbar
und alles wurde deutlich klar und offensichtlich
und sie wollte sich an das wort erinnern
und auf ihrer suche lernte sie sprachen
ihre zunge berührte den gaumen
ihren eigenen und den von anderen
sie lauschte den vögeln und hörte bäume
sie lauschte dem rascheln und hörte wespen
sie lauschte der stille und hörte doch kein wort
und dann kehrte sie in die städte zurück
und sie saß schweigend da
um ihr schüchternes wort nicht zu erschrecken
und in der menge sah sie mannigfaltiges
und rief darauf – wort, bist du das?
und viele antworteten ihr
und sie glaubte ihnen
weil sie glauben wollte
weil sie müde war
weil sie so lange nicht geschlafen hatte
und sie begann zu zweifeln
vielleicht gab es das wort gar nicht
egal wen sie fragte, niemand hatte von ihm gehört
nur einmal sagte jemand
dieses wort wird das letzte wort sein
und wenn sie sich daran erinnert
wird sie alles andere vergessen
und sie wird selbst zum wort
•
beim warten auf den bus
wärme ich die innenseite meiner schenkel
auf der holzbank
im sommer muss man besessen sein
und unbedingt schwimmen
um etwas müde zu werden
und zu bemerken, dass es zeit gar nicht gibt
sondern nur das gedächtnis
man kann das meer durch einen see ersetzen
den see – durch den fluss
die espen durch platanen
eine belarusische stadt durch ein schweizer dorf
und trotzdem auf einer holzbank sitzen
und an nichts denken
kinder kommen vom strand zurück
sie können noch nicht lesen oder schreiben
sie müssen alles in sich selbst tragen
so wächst das gedächtnis
sie zappeln plaudern streiten tummeln sich
und plötzlich
nimmt eins die hand des andern
so einfach und natürlich
wessen hand – spielt keine rolle
eines freundes oder eines feindes
die sind noch nicht hier
die kommen später mit den buchstaben
jetzt gibt es nur hier und jetzt
und das gefühl der hand, die auf dem weg zur hand ist
um zusammen zu sein
wenn es gefährlich wird
gelbes gedicht
der hund wartet auf den zug
in einem gelben pullover
laut kalender ist es der zweite wintertag
doch kein wort über schnee
an den straßenseiten wächst noch johanniskraut
was in die irre führt
genau wie die gelbe hose des jungen
der jetzt als sohn erscheint und nicht als liebhaber
tagsüber probiere ich verschiedene lebensvarianten
kann mich aber für keine bestimmte entscheiden
mein herz wird von einem lastwagen getragen
auf dem HERTZ
in einem gelben rechteck geschrieben steht
und dieser zusätzliche buchstabe
ragt wie ein splitter
aus meinem herzen, gelb
wie der sessel im hotelzimmer
nur schatten
wagen es, in ihm zu sitzen
•
durchs fenster der bäckerei
sieht ein alter mann mich an
er rollt den teig
im italienischen dorf
hat er sein ganzes leben lang
brot gebacken
jetzt hängt er als bild
im fenster der bäckerei seiner enkelin
im exil
will man die eigene realität sichtbar machen
um sich nicht wie eine einzelgängerin
ohne geschichte zu fühlen
mein großvater backte kein brot
er unterrichtete kinder – sagte man
denn als wir uns trafen, war er bereits im ruhestand
lag auf der couch oder saß an der bushaltestelle
wo seit jahren kein bus mehr hielt
– hör zu, enkelin, ich werde sterben
so begann er normalerweise
seine gespräche mit mir
ich rechnete immer damit, dass er wieder etwas wichtiges
sagen würde
etwas, das nur er und ich wissen werden
aber diese gespräche führten nirgendwo hin
nirgendwo als in den tod
jetzt liegt er als wort
in den seiten meiner bücher
sodass ich mich nicht als einzelgängerin
ohne geschichte fühle
•
fürs weltall
sei es biene
oder
sei es ich
egal
•
ich traf einmal einen mann
der dachte, er sei eine torte
ich wusste nicht, was für eine – hochzeits- oder geburtstags-
aber sein glaube daran war so stark
dass ich nachgab
und ihn auf meinem lebensteller
haben wollte
alles bewegte sich in diese richtung
ich stand einen monat lang in der warteschlange
und ließ kinder und invaliden aus mir unbekannten kriegen vor
als ich an der reihe war
war bloß noch ein stück übrig
und die männertorte verkündete: ich bin einer,
und ihr seid viele
niemand bekommt mich
seht mich an und bewundert meine schönheit
aus unerreichbarer entfernung
ich rappelte mich wieder auf
und erinnerte mich
dass ich sowieso keine
tortenliebhaberin bin
•
ich versuche herauszufinden
ob das veilchen die gleiche farbe hat
wie die lilie, die früher vor meinem haus blühte
das handbuch verkompliziert die dinge
fügt lavendel und fuchsia hinzu
in dieser blumigen vielfalt übersetze ich dein gedicht
alles was uns geschieht sind worte
alles was wir füreinander sind bleiben gedichte
und während ich diese zeile schreibe
fährt mein flugzeug sein fahrwerk aus
während du durch den park spazierst
in unseren zimmern stehen tische
mit aufgeschlagenen notizbüchern
eins orange und eins schwarz
die warten auf uns
auf unsere körper und farbcodes
langweilig und trocken
wie unsere gespräche
nachdem du einmal gesagt hast
dass du mir keine freundin sein willst
trink, kindchen, trink
rainfarn
salbei
klee
lorbeer
wilder rosmarin