Camel Travel - Volha Hapeyeva - E-Book

Camel Travel E-Book

Volha Hapeyeva

0,0
15,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Mit unglaublicher Leichtigkeit erzählt das autobiografisch gefärbte "Camel Travel" von einer Kindheit und Jugend in der zerfallenden UdSSR Ende der 1980er- und Anfang der 1990er-Jahre. Aufzuwachsen in einem Land, in dem mit Belarusisch und Russisch zwei Sprachen gesprochen werden, kann in manchen Situationen gehörig für Verwirrung sorgen. Und den ganz gewöhnlichen Alltag zu meistern, auch da treten so einige Hindernisse zutage und es geschehen noch mehr besondere und ungewöhnliche Begebenheiten. Als da beispielsweise wären: Klavierlernen ohne Klavier zu Hause? Mit ein bisschen Fantasie und Einfallsreichtum lässt sich auch das lösen. In wie vielen Momenten man sich – und das alles nur für eine erfolgreiche Sportlerinnenkarriere – dehnen kann, davon weiß die Erzählerin Volha ein Lied und Leid zu singen. In kurzen Kapiteln nähert sich Volha Hapeyeva kleinen und großen Themen, die in Schule, Familie und öffentlich ausgefochten werden. Ihre Schilderungen zeigen so manche Tücken und Macken aus dem Minsk der (post)sowjetischen Zeit auf – aber auch ihre Entwicklung zu einer kritischen, feministisch-politischen Frau im heutigen Belarus.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 92

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



 

Volha Hapeyeva

Camel Travel

Roman

Aus dem Belarusischen von Thomas Weiler

Literaturverlag Droschl

 

Kapitel 1Issyk-Kul

»Sehr geehrte Fluggäste, unsere Maschine ist in der Heldenstadt Frunse gelandet, die Außentemperatur beträgt 23 Grad über Null, bitte behalten Sie noch Platz, bis die Maschine endgültig zum Stillstand gekommen ist …«

»Huiuiui, Heldenstadt«, dachte ich. »Ist ja ein Ding.«

Flugangst war noch nie ein Problem für mich gewesen, meine Mutter hatte mich an Flugzeuge gewöhnt, als ich noch in ihr drin zur Miete wohnte. Deshalb ließ mich auch diese Reise durch die Wolken völlig kalt. Aber »Heldenstadt« in Verbindung mit dem Zauberwort »Frunse« klang dann doch geheimnis- und eindrucksvoll. Überhaupt war meine gesamte Kindheit überreich mit militärisch-patriotischen Themen gespickt, auch wenn wir schon in den ausgehenden Achtzigern waren und die Sowjetunion munter vor die Hunde ging. Aber das ein oder andere habe ich doch noch mitgenommen aus dem alten Regime. Meine allererste Lehrerin (dieser Elativ kam standardmäßig auf Postkarten oder bei Bildunterschriften zum Einsatz, offenbar mit dem Ziel, den farblosen und wenig prestigeträchtigen Beruf der Unterstufenlehrerin poetisch aufzuladen) hatte in der Schule gesagt, wenn die Staatshymne erklinge, habe man aufzustehen und sie im Stehen schweigend anzuhören. Die Worte dieser Frau, damals eine personifizierte Gottheit für mich, waren Gesetz. Hörte ich zu Hause im Fernsehen die Hymne, sprang ich auf und stand bis zum letzten Ton im Wohnzimmer stramm.

Um uns beständig daran zu erinnern, was Partei und Kommunismus für uns getan hatten (angeblich hatten sie unser Leben glücklicher gemacht und uns in eine lichte Zukunft geführt), waren jederzeit die passenden Attribute zur Hand. So trugen wir als Oktoberkinder diese Sternabzeichen. Es gab unterschiedliche Ausführungen, und wir konnten aussuchen, welches wir uns an den Träger unserer Schulschürze heften wollten. Irgendwann bekam ich zufällig mit, dass das Bild in dem Stern Lenin darstellte, den jungen Wolodja Uljanow, da wäre ich im Leben nicht drauf gekommen, ich trug einfach ein Sternchen mit was drin. Die Details ergaben also einen Sinn. Ich hatte wohl nicht einmal kapiert, dass Lenin ein Mensch war, vor allem wegen der Losung in unserer Fibel, die in riesigen Lettern besagte:

Lenin lebte,

Lenin lebt,

Lenin wird leben.

Im Vorwort zu dieser Fibel wurden gleich sämtliche Prioritäten gesetzt und erklärt, wen die Kinder in welchem Maße zu lieben hätten: »Du lernst lesen und schreiben. Als Erstes schreibst du die Wörter, die uns allen am liebsten und teuersten sind: Mutter, Heimat, Lenin.« Diese Heimat war mir zu groß und abstrakt, für zusätzliche Verwirrung sorgte in meinem Kindskopf das Vorhandensein zweier Länder (BSSR und UdSSR), zweier Hauptstädte (Minsk und Moskau) und zweier Hymnen (der BSSR und der UdSSR) – um sechs Uhr früh wurde im örtlichen Rundfunk die Hymne der BSSR gespielt, schaltete man auf einen gesamtsowjetischen Sender um, hörte man die Hymne der UdSSR. Als lebten wir parallel in zwei Dimensionen oder im Bauch einer russischen Holzmatrjoschka. Die Dinger konnte ich noch nie leiden, weil sie so schwer aufgingen und so scheußlich kreischten, wenn der rohe Holzrand der oberen Hälfte gegen den der unteren rieb. Meine Lieblingsmatrjoschka war die letzte, weil die nicht aufging und nicht quietschte, glatt und winzig, wie die BSSR im Vergleich zur UdSSR. Die unendlichen Weiten der großen Heimat machten mir Angst, ich wollte mich nicht abfinden mit Matrjoschkaprinzip und Zweitrangigkeit.

An der Identifikationsfrage hatten sich die Ideologen damals gründlich abgearbeitet, und falls doch einmal Zweifel aufkamen, schlugen wir einfach das Heft auf, in das wir unsere Aufgaben schrieben, und lasen die Regeln der Oktoberkinder:

Oktoberkinder sind die Jungen Pioniere von morgen.

Oktoberkinder sind fleißig. Sie lernen eifrig, lieben die Schule und achten die Älteren.

Oktoberkinder sind ehrlich und wahrheitsliebend.

Oktoberkinder vertragen sich. Sie lesen und zeichnen, sie spielen und singen, und sie halten zusammen.

Nur die, die immer strebsam sind, verdienen den Namen Oktoberkind.

In sowjetischen Kinderfilmen liefen die Schüler zu meiner Irritation oft ständig in Schuluniform und mit Pionierhalstuch herum. Wenn unsere Schulklasse einmal einen Ausflug machte, ins Theater oder in die Schwimmhalle ging, trugen alle ihre gewöhnliche Kleidung, niemand wäre auf die Idee gekommen, sich das rote Halstuch umzubinden oder die Uniform anzuziehen. Mir war wirklich unbegreiflich, wie die Filmleute so etwas zeigen konnten, das doch nicht der Wahrheit entsprach. Wenn am Ende des Films dann die Jahreszahl eingeblendet wurde, versuchte ich mich immer damit zu beruhigen, dass das eben früher so war, inzwischen aber ein bisschen anders ist.

Wenn ich meine Mutter irgendwohin begleitete oder in der Küche herumhing, während sie das Abendessen kochte, war meine Lieblingsfrage: »Mama, kennst du Lenin?«

Ich wollte ihr unbedingt erzählen, was ich in der Schule erfahren hatte.

»Nein, kenn ich nicht«, antwortete sie regelmäßig, was mich furchtbar aufregte.

»Wie denn das, Mama, alle kennen Lenin!« So schnell gab ich mich nicht geschlagen.

Mama blieb eisern: »Wir sind nicht persönlich miteinander bekannt.«

Mit politischen Gesprächen zu Hause war es also nicht weit her. Meine Mutter las andere Literatur, von Lenin und der Partei hielt sie sich fern. Aus mir hätte dagegen eine echte, aufrichtige und ergebene Kommunistin werden können, meine Naivität und der Respekt vor den Autoritäten Schule und Lehrerin hatten den Boden bereitet. Aber die Sowjetunion zerfiel, und ich kam über die Pionierin nicht hinaus. Doch das war später, jetzt sind wir in Issyk-Kul, bei Großtanten und Großonkel, anderen Tanten und Onkel, deren Kindern, in einem anderen Land und meinem letzten Sommer vor der Einschulung.

In Frunse wohnten wir bei meinem Großonkel. Der Rest der Familie war gerade weggefahren, sodass wir die Wohnung nur noch mit einem Freund der Familie teilen mussten, den sie nirgends mehr untergekriegt hatten: einem kleinen Hund. Dieser Pekinese fing immer wütend an zu kläffen, wenn ich ihm auf die Schnauze pustete. Spannend war auch der Kassettenrekorder. Aus ihm sang häufig eine männlich heisere Reibeisenstimme. Mein Lieblingsstück aus deren Repertoire war das Lied über den Nachtfalter Puttana. Das hatte gleich mehrere Gründe: Erstens dachte ich, das wäre so ein Bild, und das Lied handle von einem unglücklichen Schmetterlingsmädchen, von dem ich nicht wusste, ob es mehr Schmetterling oder mehr Mädchen war. Die Zeile wer kann denn was dafür klang besonders hoffnungslos und höhnisch, indem sie andeutete, dass nichts und niemand der Ärmsten helfen würde. Das Schicksal der armen Puttana (damals war Puttana für mich eine Schmetterlingsart oder -familie, etwas wie Admiral oder Pfauenauge) erschütterte mich zutiefst, ich litt tatsächlich mit ihr. Wenn ich durch die Wohnung spazierte, schmetterte ich dieses Lied inbrünstig und ohne jede Scham. Die scheelen Blicke der Erwachsenen wollten mir etwas mitteilen, aber das interessierte mich nicht. Zweitens war die Melodie so simpel und eingängig und der Text so voller Tragik, dass das Lied einfach ein Meisterwerk sein musste. Nach den Schmetterlingen kam ein Lied über Kätzchen oder Kater (in dieselbe Richtung). Mein Kindskopf nahm alles sofort für bare Münze – Kätzchen waren Kätzchen und Schmetterlinge Schmetterlinge und nicht etwa Frauen für Männerspielchen. Das ging an meinem Unterbewusstsein nicht spurlos vorbei, seither kann ich mich über jeden aufregen, der Frauen als Objekte missbraucht und Kinderseelen betrügt. Ich will nicht ausschließen, dass der Silberstaub des Feminismus (wie der Feenstaub bei Peter Pan, der die Kinder fliegen ließ) mich schon damals bestäubte, im fernen Kirgisien.

Als ich einmal vor die Haustür wollte, drängten mich ein paar einheimische Jungs in die Ecke und verhörten mich, wo ich überhaupt her wäre. Ich sagte, ich sei aus Belarus, da verlangten sie, ich solle zum Beweis etwas auf Belarusisch sagen. Die minderjährigen Räuber waren offenbar begeisterte Linguisten. Ich ließ mich nicht unterkriegen und trug ihnen als Rezitativ das Lied aus dem Sandmännchen vor: »pakrysie na rasie patuchajuć zorki spluški«.* Diese Ladung fremder Vokabeln muss sie nachhaltig beeindruckt haben, jedenfalls ließen sie mich fortan in Ruhe. Ich selbst habe lange nicht verstanden, was diese zauberhaften »spluški« waren, empfand aber schon damals Dankbarkeit für meine Sprache, da sie mich vor den Halbstarken gerettet hatte.

Ich saß auf der Bank vor dem Haus und ließ die Beine baumeln. Da kam eines der Nachbarmädchen in den Hof, mit einem Zapfen. Na und, ein Zapfen, ist doch nichts dabei. Von wegen! Dieser Zapfen war so groß wie ein Meerschweinchen, er passte nicht mal in eine Hand.

»Schau dir den mal an«, sagte sie und hielt mir ihren Schatz hin.

»Mannomann, das ist mal ein Zapfen!« Ich bekam den Mund nicht wieder zu.

»Da sind noch Nüsschen drin, die kann man rauspicken, knacken und essen.« Und sie pickte ein paar für mich heraus. Ich biss den harten kleinen Kern auf und hatte erstmals diesen besonderen Geschmack auf der Zunge.

»Wo hast du denn den Zapfen her?«, wollte ich wissen.

»Die bringt der Opa mir mit, der fährt dort extra mit der Arbeit hin.«

Wir saßen auf der Bank vor dem Haus und betrachteten den Zapfen. Kein Zapfen, den ich bisher gefunden hatte, kam größenmäßig an diesen heran, außerdem waren sie alle leer gewesen, gegen die Eichhörnchen hatte ich keine Chance. Langsam versank die Sonne hinter den Hochhäusern in der Nachbarschaft, und ich sehnte mich kein bisschen nach Minsk, hatte ich doch zum ersten Mal in meinem Leben einen echten Zedernzapfen in der Hand.

Bei diesem Besuch machten wir nicht nur in Frunse Station, das heute Bischkek heißt, sondern auch bei einem Bruder meines Großonkels in einem Dorf am Issyk-Kul. Mir ging einfach nicht in den Kopf, dass das ein See sein sollte, denn solange wir mit dem Bus fuhren, wollte er einfach kein Ende nehmen, wie ein Meer oder ein sehr langer Fluss. Issyk-Kul bedeutet »heißer See«, er friert nämlich im Winter nicht zu. Das Dorf Bystrowka (heute: Kemin) hat sich mir eingeprägt mit seinem riesigen Haus, den vielen Menschen, einem kleinen schwarzen Welpen, den wir Mucha nannten, und den hausgemachten Nudeln. Damals war ich noch keine Pastaliebhaberin, aber alles Ungewöhnliche konnte meine kindliche Aufmerksamkeit wecken. Bei uns machte kein Mensch Nudeln selbst, alle kauften sie im Laden, und beim Kochen zerfielen sie und klebten dann am Boden des Topfes an. Bei dieser Art Nudeln wurde man wohl kaum zur Pastafreundin. In Kirgisien machten sie die Nudeln selbst. Auf einem großen Tisch im Hof wurde der Teig ausgewellt und anschließend in schmale Streifen geschnitten. An den Geschmack kann ich mich nicht mehr erinnern, auch nicht, ob sie am Kochgeschirr klebten wie unsere, aber die Herstellung sehe ich immer noch deutlich vor mir.