Trapped in Love - Liebe in Zeiten der Pandemie - KocoaDream - E-Book

Trapped in Love - Liebe in Zeiten der Pandemie E-Book

KocoaDream

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Beschreibung

Verändert die Pandemie, wie wir lieben? Ende 2020 glaubte man, von COVID-19 würde im Jahr 2021 keine große Gefahr mehr ausgehen. Für diese Anthologie, die sich um die Liebe in Zeiten der Pandemie dreht, haben sechs junge Autoren (SEO Gyesoo, KocoaDream, Cheong-Elle, Haina, Jeya, Y. yoon-young) fantastische Geschichten beigesteuert, die alle bis Anfang 2021 fertiggestellt wurden. Die Liebe ist das Hauptmotiv, doch stellen die Autorinnen und Autoren ebenso kritische Betrachtung unserer Gegenwart an. Durch die Augen der jungen Generation – "Trapped in Love" ist ein erfrischender Blick auf die Welt! In SEO Gyesoos Geschichte "Sechsmal habe ich um dich getrauert" leidet Seon-Yeong an einem "Zeitschluckauf": Immer wieder muss sie bestimmte Zeitperioden durchleben. Doch ist diese Gabe ein Segen oder ein Fluch? Seon-Yeong will nur ihre Liebste zu retten, die sich mit COVID-19 infiziert hat … KocoaDream erzählt in "Kann man im Bunker Erlösung finden" von Ha-Na, deren Mutter das esoterische Internetforum "Weisheit des Körpers" leitet, über das sie teure Arzneien verkauft. Selbst gegen Corona sollen sie helfen! Um der Welt zu beweisen, welche enormen Selbstheilungskräfte der "weise" Körper hat, zieht sie sich mit den Mitgliedern ihres "inneren Kreises" in einen Bunker tief im Wald zurück. Und Ha-Na muss natürlich mit … In der Geschichte "Die Gefahren einer kontaktlosen Romanze" von Cheong-Elle verliebt sich die Parfümeurin Yeong-Jin unsterblich in "Le Nez", der wie sie ein Sensor ist – im Gegensatz zum Großteil der Menschheit haben sie beide nicht durch Corona ihren Geruchs- und Geschmackssinn verloren. Das einzige Problem: Yeong-Jin hat Le Nez noch nie persönlich getroffen …

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LIEBE IN ZEITEN DER PANDEMIE

TRAPPEDIN LOVE

Geschichten aus Südkorea vonSEO Gyesoo·KocoaDream·Cheong-Elle·Haina·Jeya·Y. yoon-young

Ins Deutsche übersetzt von

Katharina Schmölders

Aimée de Bruyn Ouboter

Die deutsche Ausgabe von TRAPPED IN LOVE – LIEBE IN ZEITEN DER PANDEMIE wird herausgegeben von Cross Cult / Inh. Andreas Mergenthaler; Verlagsleitung: Luciana Bawidamann; Programmleitung Romane/Sachbücher: Markus Rohde; Übersetzung: Katharina Schmölders & Aimée de Bruyn Ouboter; Lektorat:Kerstin Feuersänger; Korrektorat: Peter Schild & André Piotrowski; Satz: Rowan Rüster; Layout: Sina Keller; Leitung Vertrieb: Peter Sowade; Marketing: Jana Rahders; Druck: CPI Moravia Books s.r.o., CZ-69123 Pohořelice. Printed in the EU.

Trapped in Love

The original Korean edition was published as “사랑에 갇히다” authored by 서계수, 코코아드림, 정엘, 헤이나, 제야, 양윤영.

Copyright © Gu-Fic Publishing Company, 2021 All Rights Reserved.

German translation copyright © 2022 by CrossCult

The German Edition published by arrangement with Gu-Fic Publishing Company through Greenbook Agency in South Korea.

Print ISBN 978-3-96658-956-7 (Dezember 2022)

E-Book ISBN 978-3-96658-957-4 (Dezember 2022)

WWW.CROSS-CULT.DE

LIEBE IN ZEITEN DER PANDEMIE

TRAPPEDIN LOVE

INHALT

Sechsmal habe ich um dich getrauert | SEO Gyesoo

Kann man im Bunker Erlösung finden? | KocoaDream

Die Gefahren einer kontaktlosen Romanze | Cheong-Elle

Elektromagnetische Wellen und Blumen | Haina

Das Zeitalter der endlosen Liebe | Jeya

In unseren Träumen werden wir uns begegnenY. yoon-young

SECHSMAL HABE ICH UM DICH GETRAUERT

SEO Gyesoo

Mit dieser Veröffentlichung gibt sie ihr Debüt. Hauptsächlich schreibt sie Geschichten für Teenager und junge Frauen in den Genres Fantasy und Horror. Vormittags ist sie Schriftstellerin, nachmittags arbeitet sie in ihrem Teilzeitjob. Der Corona-Blues hat sie voll erwischt, aber es gelingt ihr meist, sich mithilfe des Schreibens und des gelegentlichen Zockens von Nintendo-Spielen zu beruhigen. Ihr droht Diabetes, weshalb ihre nostalgische Sehnsucht nach einem Softeis von Mini Stop unerfüllt bleibt. Die Hitze des Sommers ist nicht ihr Fall.

Als Heui-Jin von der Arbeit nach Hause kam, war von Seon-Yeong nichts zu sehen oder zu hören.

Ein Wunder war das nicht. Seon-Yeong hatte heute frei, und da sie dann immer bis zum Morgengrauen aufblieb, schlief sie sicher noch. Heui-Jin fischte ihr Smartphone aus der Westentasche, aber abgesehen von den Meldungen, dass es in der Stadt mehrere bestätigte Corona-Fälle gab, und dem Hinweis, dass die Maßnahmen zur Infektionskontrolle verlängert worden waren, hatte sie keine Nachrichten bekommen.

Sie nahm die Maske ab und wollte sie schon in den Mülleimer werfen, da fiel ihr ein, dass sie sie noch brauchen würde. Seon-Yeong und sie würden später noch zum Essen ausgehen. Es war ein besonderer Tag.

Sie legte die Maske auf den Tisch und ging ins Badezimmer. Wie immer ließ sie die Tür offenstehen. Sie litt an Klaustrophobie und bekam in kleinen geschlossenen Räumen Angstzustände. In der Öffentlichkeit ging sie kaum je auf die Toilette, denn natürlich konnte sie nicht einfach die Kabine auflassen. Zum Glück hatte Seon-Yeong Verständnis. Heui-Jin hatte dennoch oft ein schlechtes Gewissen: Seon-Yeong war so perfektionistisch, es wäre ihr bestimmt lieber gewesen, wenn bei ihnen zu Hause alles seine Ordnung gehabt hätte.

Heui-Jin wusch sich die Hände und begrüßte dann die beiden Kaninchen, die sie frei im Haus hielten. Als sie Milch aus dem Kühlschrank holen wollte, um sich Cornflakes zu machen, hüpften Ggong-Yi und Cham-Yi ihr aufgeregt um die Füße. Sie rechneten wohl mit einem Snack.

»Wartet, wartet doch mal, ihr zwei! Ich gebe euch gleich ein bisschen getrocknetes Obst.«

Auf der Arbeit war sie nicht zum Essen gekommen. Sie hatte sich eine Portion Instantnudeln aufgebrüht, aber gerade da hatten ganze Horden den Supermarkt gestürmt. Die Nudeln waren im Pausenraum labbrig geworden, und sie hatte den Plastikbecher später weggeschmissen. Sie ging morgens immer mit leerem Magen aus dem Haus, weil sie so früh noch nichts vertrug. Deshalb war es ärgerlich, wenn sie nicht zeitig zu Mittag essen konnte. Doch beschweren würde sie sich sicher nicht. So wie die Dinge lagen, war selbst ein Aushilfsjob unschätzbar wertvoll.

Früher hatte sie tagein, tagaus am Schreibtisch gesessen, aber Corona hatte den Verlag in finanzielle Schwierigkeiten gebracht, bei dem sie angestellt gewesen war, und schließlich war Heui-Jin gekündigt worden. Wegen ihrer schlechten Leberwerte hatte sie hohe Arztkosten. Auch Ggong-Yi und Cham-Yi waren chronisch krank und brauchten Medikamente. Zum Glück hatten sie wenigstens noch das Geld gehabt, das Seon-Yeong in einem Vertriebszentrum verdiente – sonst wäre die kleine Familie, bestehend aus zwei Frauen und zwei Kaninchen, sang- und klanglos untergegangen. Heui-Jin schien es, als kostete es sogar Geld, bloß zu atmen.

Ein paar Monate lang hatte sie Arbeitslosenhilfe bekommen, aber das hatte ihnen kaum geholfen. Schließlich war es Heui-Jin gelungen, den Job als Teilzeitkraft in einem Supermarkt zu ergattern. Sie hätte nicht gedacht, dass sie mit über dreißig noch einmal in einem Supermarkt Regale einräumen würde, und fühlte sich verloren. Da sie zu wenig Sport getrieben hatte und das lange Stehen nicht gewohnt war, bekam sie einen Fersensporn: einen dornenförmigen, knöchernen Fortsatz, der sich als Folge von Überlastung am Fersenknochen bilden konnte. Es fühlte sich an, als würde ihr ein Nagel in der Fußsohle stecken. Seon-Yeong, die schon lange an einem Fersensporn litt, sah Heui-Jin mitleidig an, wenn sie von der Arbeit nach Hause gehinkt kam, und massierte ihr die schmerzenden Füße.

»Du solltest sie wirklich ein bisschen entlasten«, murmelte Seon-Yeong dann. Und Heui-Jin streichelte stumm ihren Rücken, denn sie wussten natürlich beide, dass das nicht möglich war. Keine von ihnen konnte ihren Füßen Ruhe gönnen.

Heui-Jin aß die Cornflakes, die schnell pappig wurden, und schaute dabei über ihr Smartphone Videos. Ständig hörte sie, man solle sich über Aktien informieren, aber ihr wäre nicht einmal im Traum eingefallen, ihr weniges Geld an der Börse zu verzocken. Und in ihrer Freizeit wollte sie sich wirklich nicht ununterbrochen mit Geld beschäftigen. Sie mochte Channels, die Tiervideos posteten: Wenn man an Straßenecken Wasser und Futter bereitstellte, landeten dort Vögel und stärkten sich. Das zu sehen, entspannte Heui-Jin.

Eine KakaoTalk-Messengernachricht von Seon-Yeong erschien über dem Video:

–Bist du schon zu Hause?

–Ja. Wo bist du?

–Ich war nur kurz unterwegs.

–Komm schnell heim! Ich vermisse dich.

Es dauerte einen Augenblick, bevor Seon-Yeong antwortete.

–Iss einen Happen und geh unter die Dusche! Wir wollen doch ausgehen.

–Ja, klar! Ich lass die Badtür auf, weißt du ja.

Wieder eine kurze Pause.

–Nein, mach sie heute mal zu! Ich bringe die Eigentümerin mit. Sie muss sich wegen der Reparatur die Tür ansehen.

Heui-Jin verzog gequält das Gesicht. Warum musste das ausgerechnet heute sein?

Seon-Yeong hatte aber natürlich recht: Mit der Badezimmertür musste etwas geschehen. Sie war wohl falsch eingebaut worden, jedenfalls ließ sie sich nur von außen abschließen. Und wenn man sie richtig zumachte, klemmte sie. Seon-Yeong hatte schon oft gesagt: »Eines Tages geht das verdammte Ding nicht wieder auf, wenn eine von uns allein zu Hause ist. Kannst du dir vorstellen, stundenlang im Bad eingeschlossen zu sein?«

Heui-Jin räumte ihre leere Müslischale weg, holte sich frische Kleider und legte sie auf den Stuhl vor dem Badezimmer. Dann schaltete sie das Licht ein. Die nackte Glühbirne an der Decke flackerte bedenklich – sie würden sie sicher bald wechseln müssen.

Ihr war beklommen zumute. Seon-Yeongs Bitte zum Trotz ließ sie die Tür einen Spaltbreit offenstehen. Sie konnte sie immer noch zudrücken, wenn sie im Flur Stimmen hörte.

Die Dusche brauchte immer eine Weile, um warm zu werden. Heui-Jin konzentrierte sich auf das laue Wasser, das ihr über Kopf und Schultern strömte, und redete sich selbst gut zu. Es war nicht schlimm, wenn die Tür aus irgendeinem Grund ins Schloss fiel. Sie hatten einen Zimmermannshammer ins Regal gelegt, falls eine von ihnen tatsächlich einmal nicht aus dem Bad kommen sollte. Falls nötig, konnte sie damit die Tür einschlagen.

Endlich wurde das Wasser warm, Heui-Jins verkrampfte Muskeln lockerten sich und die Anspannung fiel von ihr ab. Gründlich seifte sie sich ab und wusch sich die Haare. Dann hörte sie die Haustür gehen.

Da sind sie ja, dachte sie, streckte die Hand aus der Dusche und schob die Badtür zu. Sie erwartete, Seon-Yeong mit der Eigentümerin sprechen zu hören, die Heui-Jin erst wenige Mal getroffen hatte. Doch stattdessen hörte sie rasche Schritte durch den Flur näherkommen. Sie blieben vor der Tür stehen. Dann klickte etwas.

Verwirrt runzelte Heui-Jin die Stirn. Was hatte das zu bedeuten?

Sie griff nach dem Knauf und drehte ihn.

Die Tür ging nicht auf.

Heui-Jin stellte die Dusche ab und wickelte sich in ein großes Handtuch. Dann kniff sie die Augen zu und fragte sie mit zitternder Stimme: »Wer ist da?«

War jemand eingebrochen? Am helllichten Tag?

Aber eine vertraute Stimme antwortete ihr. »Ich bin’s nur.«

Seon-Yeong! Heui-Jin blinzelte. Kalte Wassertropfen rannen ihr an den Beinen hinunter. Sie atmete tief durch – sie hatte richtig Angst gehabt.

Und ihr schauderte noch immer. Daran war ganz sicher nicht nur die Kälte schuld. »Seon-Yeong, ist die Eigentümerin bei dir? Warum hast du abgeschlossen?« Nur für den Fall, dass Seon-Yeong nicht alleine war, flüsterte Heui-Jin. In Gedanken fügte sie hinzu: Lass mich raus, lass mich raus! Du weißt doch, dass ich Klaustrophobie habe!

Seon-Yeongs Stimme klang gedämpft, aber so nah, als lehnte sie an der Tür. »Lass uns nur noch einen kleinen Moment so bleiben, ja?«

»Warum? Was soll denn das?« Heui-Jin hatte ihr Entsetzen mit Müh und Not im Zaum gehalten, aber nun überwältigte es sie. Das Handtuch fiel zu Boden, und sie hämmerte mit den Fäusten gegen die fest verschlossene Badezimmertür. »Wieso tust du das? Seon-Yeong Jang! Mach die Tür auf! Mach auf, hab ich gesagt!«

Warum tat Seon-Yeong ihr das an?

Aber der Grund war eigentlich egal. Nur das Jetzt spielte eine Rolle. Das Eingesperrt-Sein. Und vielleicht die Zukunft … Denn nichts würde je wieder so sein wie zuvor.

Heui-Jin kauerte in der Dunkelheit und grübelte.

Nicht Seon-Yeong hatte das Licht ausgeschaltet – die funzelige Glühbirne war endlich durchgebrannt. Heui-Jin hatte geschrien wie am Spieß und dann geweint. Schließlich war sie so erschöpft gewesen, dass sie das nasse, kalte Handtuch aufgehoben, sich hineingewickelt und auf den Toilettendeckel gehockt hatte.

Im Flur hörte sie immer wieder Seon-Yeongs hastige Schritte. Manchmal klickten die Krallen der Kaninchen über den Boden. Aber sie wartete auf ein anderes Geräusch: darauf, dass jemand klingelte und ihren Namen rief. Das würde ihre jüngere Kollegin sein. Seon-Yeong würde sie dann vielleicht fortschicken wollen. Doch Heui-Jin würde schreien.

Das Bad hatte ein kleines Fenster, vor dem ein Ventilator angebracht war. Tagsüber fiel ein wenig Licht hindurch, aber jetzt war es draußen stockdunkel. Heui-Jin saß im Finstern. Der Bildschirm ihres Smartphones war ihre einzige Lichtquelle. Ihre Hände waren kalt und verschwitzt. Hin und wieder ballte sie sie zu Fäusten oder wischte sie sich an ihrem feuchten Handtuch ab.

Sie biss die Zähne zusammen, um nicht wieder in Tränen auszubrechen: Der Akku ihres Smartphones würde bald leer sein, obwohl sie die Helligkeit aufs Minimum reduziert hatte. Wer lud schon sein Handy auf, nur um es kurz mit ins Bad zu nehmen?

Über KakaoTalk und per SMS hatte sie ihre Kollegin angeschrieben. Sie wohnte nicht allzu weit fort. Heui-Jin hatte sie gebeten, zu ihr nach Hause zu kommen, aber nicht die Polizei zu rufen. Da sie auch über Twitter vernetzt waren, schrieb Heui-Jin ihr auch dort: Sie solle bitte ihre Messenger-Nachrichten lesen. Die junge Kollegin legte ihr Smartphone bloß zum Schlafen aus der Hand; sie würde Heui-Jins Hilferuf bekommen.

Wenn sie gleich aufbrach, würde sie etwa eine Stunde brauchen.

Im Dunkeln verging die Zeit schleppend. Heui-Jin war überzeugt, die Stunde müsse längst vergangen sein, doch als sie auf die Uhr schaute, waren gerade erst fünf Minuten vorbei.

Der Zimmermannshammer war verschwunden. Sie hatte das Regal von oben bis unten durchwühlt, aber nichts gefunden als den Fön, Seifenstücke und Toilettenpapierrollen. Das ließ nur einen Schluss zu: Seon-Yeong hatte geplant, sie hier einzuschließen.

Aber warum? Warum bloß?

Die Polizei hatte sie nicht gerufen. Sie wollte diese Sache nicht an die Öffentlichkeit tragen. Ruhig und höflich wollte sie bleiben, selbst wenn sie sich von Seon-Yeong trennen musste, deren Verhalten sie nicht verstand. Die ihr Angst einjagte. Aber sie wollte kein Aufhebens machen. Das tat sie nicht nur für Seon-Yeong, sondern auch für sich selbst – immerhin waren sie beinahe vierzehn Jahre lang zusammen gewesen. Was würde aus Cham-Yi und Ggong-Yi werden? Aber darüber wollte sie jetzt nicht nachdenken …

Sie hatte die Knie an die Brust gezogen, aber jetzt rutschte eine ihrer Fersen vom Toilettendeckel ab und knallte auf den harten Fliesenboden. Das tat so weh, dass Heui-Jin einen Klagelaut ausstieß, in den sich vielleicht auch eine Spur Zorn mischte.

»Heui-Jin? Alles in Ordnung?«, fragte Seon-Yeong von draußen. Ihre Stimme war tiefer als die der meisten Frauen in ihrem Alter. Sie war Heui-Jin so vertraut. Beinahe wider Willen sagte sie:

»Ich hab dir doch erzählt, dass mein Cousin mich früher manchmal verprügelt und im Bad eingesperrt hat. Du weißt genau, wie schlimm es für mich ist, wenn ich irgendwo nicht gleich raus kann. Trotzdem hast du mich eingeschlossen. Wie kannst du mich da fragen, ob alles in Ordnung ist?«

Stille.

Dann läutete es, und eine junge Frau rief: »Seon-Yeong! Seon-Yeong! Bitte öffnen Sie … Ich bin es, Na-Yeong! Heui-Jins Kollegin!«

Darauf hatte Heui-Jin gewartet. »Na-Yeong! Hallo! Ich bin hier!«, schrie sie aus voller Kehle.

Offenbar hörte Na-Yeong sie durch zwei geschlossene Türen hindurch, denn sie rief nun nach ihr. »Heui-Jin? Ist bei dir alles okay?«

Heui-Jin sprang auf und rüttelte am Knauf. Natürlich nützte das nichts, aber Heui-Jin gab nicht auf.

»Komm nicht raus …«, sagte Seon-Yeong ganz leise.

Heui-Jin erstarrte. »Hey, weinst du?«

Die Kollegin, die immer noch anklopfte und rief, war vergessen. Heui-Jin trommelte gegen die Tür und brüllte: »Warum heulst du denn jetzt? Was ist bloß los mit dir? Mach auf und schau mir ins Gesicht!«

Sie nahm kaum wahr, dass Na-Yeong an der Haustür ihre Bemühungen einstellte. Mit aller Kraft umklammerte sie den Knauf. Sie bildete sich nicht ein, die Tür aufzubekommen; sie brauchte nur etwas, an dem sie sich festhalten konnte.

Wieder wurde es ganz still. Es schien, als hätte die Finsternis jedes Geräusch verschluckt.

»Heui-Jin«, sagte Seon-Yeong direkt hinter der Tür. »Ich hab dich vermisst. Ich hab dich so vermisst …« Und dann begann sie, unterdrückt zu schluchzen.

Wieder läutete es an der Tür. »Polizei! Bitte öffnen Sie!« Eine laute Männerstimme übertönte Seon-Yeongs leises Weinen.

Benommen fragte Heui-Jin sich, ob sie nicht gerade auch Sirenen gehört hatte. Sie wählte die Nummer ihrer Kollegin, vertippte sich zweimal, kam aber endlich durch.

Na-Yeong klang furchtbar eingeschüchtert. »Es tut mir leid, Heui-Jin … Ich hab doch die Polizei gerufen. Ich hatte große Angst, dass dir was passiert ist …«

Es war Heui-Jins und Seon-Yeongs Hochzeitstag.

Sie waren einander im ersten Semester an der Universität begegnet, in einer Philosophievorlesung.

»Dieses Leben, wie du es jetzt lebst und gelebt hast, wirst du noch einmal und noch unzählige Male leben müssen; und es wird nichts Neues daran sein, sondern jeder Schmerz und jede Lust und jeder Gedanke und Seufzer und alles unsäglich Kleine und Grosse deines Lebens muss dir wiederkommen … und ebenso diese Spinne und dieses Mondlicht zwischen den Bäumen … Die ewige Sanduhr des Daseins wird immer wieder umgedreht …«

Es war um Nietzsche gegangen, daran erinnerte Heui-Jin sich schwach. Der Professor hatte über das Buch »Die fröhliche Wissenschaft« gesprochen.

Eingelullt von seiner ruhigen Stimme, war Heui-Jin der Kopf auf die Brust gesunken. Doch dann war die pummelige Studentin auf dem Platz neben ihr mit einem Mal in Tränen ausgebrochen, und Heui-Jin war aufgefahren. Sie hatte sie noch nie zuvor gesehen.

Die junge Frau schluchzte immer weiter. Nach und nach richteten sich alle Blicke auf sie und Heui-Jin. Sahen ihre Kommilitoninnen sie tadelnd an? Als hätte Heui-Jin ihre Sitznachbarin zum Weinen gebracht? Ich hab doch gar nichts gemacht! Verstört schaute Heui-Jin sich um, begriff aber schnell, dass ihr niemand zu Hilfe kommen würde. Sie nahm die weinende junge Frau am Ellenbogen, zog sie sanft in die Höhe und bugstierte sie aus der engen Sitzreihe und dem Hörsaal. Draußen führte sie sie zu einer Bank in einiger Entfernung und setzte sich mit ihr. Behutsam legte sie ihr einen Arm um die Schultern.

»Geht’s dir nicht gut? Ist irgendwas passiert? Warum weinst du denn so?«

Vermutlich hatte sie lauter dumme Fragen gestellt und dem Mädchen dabei ungeschickt den Rücken getätschelt.

Dieses Mädchen war niemand anders als Seon-Yeong gewesen.

Nach diesem Zwischenfall freundeten sie sich an. Sie gehörten beide der Fakultät für Geisteswissenschaften an und hatten mehrere gemeinsame Vorlesungen.

Ja, am Anfang waren sie bloß Freundinnen gewesen. Heui-Jin studierte Linguistik und Literatur, war mager und hatte dünnes Haar, durch das sich schon die ersten grauen Strähnen zogen. Seon-Yeong war Geschichtsstudentin und beinahe in jeder Hinsicht ihr genaues Gegenteil. Sie mochten ein ungleiches Paar sein, erregten jedoch keinerlei Aufmerksamkeit – dafür waren sie beide einfach zu gewöhnlich.

Heui-Jin hätte gern gewusst, warum Seon-Yeong damals im Hörsaal so schrecklich geweint hatte. Doch sie kam nie dazu, ihre Freundin zu fragen, weil sie so viel um die Ohren hatten. Dauernd lernten sie für Prüfungen oder schrieben Hausarbeiten.

Trotzdem saßen sie manchmal mit anderen Studenten zusammen in der Cafeteria und plauderten.

»Wie waren eure Noten denn so in der Schule?«

Das war ein gern diskutiertes Thema. Wer war gut, wer war schlecht gewesen? Hatte man es leicht oder gerade eben so an die Uni geschafft? Einmal sagte Seon-Yeong etwas dazu, das Heui-Jin aufhorchen ließ.

»Ich war eine solche Niete in Mathe … Ich hatte bloß ein einziges Mal in meinem Leben die volle Punktzahl.«

»Wirklich? Wann war denn das?«

»In der Abschlussklausur des zweiten Halbjahres im fünften Grundschuljahr!«, sagte sie und lachte.

Heui-Jin lachte ebenfalls. »Willst du uns echt mit Grundschulnoten kommen?«

»Ich muss! Ich war so mies in Mathe … Das ist mein einziger Triumph!«

Sie lächelte, aber kurz glaubte Heui-Jin, eine merkwürdige Einsamkeit in ihren Augen zu sehen. Wie kam es, dass Seon-Yeong sich inmitten der scherzenden, kichernden Studentinnenschar allein fühlte? Heui-Jin zerbrach sich den Kopf darüber. Habe nur ich das gemerkt?

Möglich.

War Seon-Yeong immer so einsam? Die Frage beschäftigte sie. Und tatsächlich schien Seon-Yeong von Einsamkeit durchtränkt zu sein – aber nicht so, als wäre sie in einen Wolkenbruch geraten, sondern eher, als liefe sie schon ewig durch den Nieselregen.

Hatte sie vielleicht auch in der Philosophieveranstaltung vor lauter Einsamkeit zu weinen angefangen? Heui-Jin war neugierig, brachte aber nie das Gespräch darauf. Irgendwie hatte sie das Gefühl, sie müsste nicht fragen.

Manchmal zogen die Leute aus ihrer Clique sie auf. »Ständig hängt ihr aufeinander! Dabei studiert ihr nicht mal dasselbe … Seid ihr ineinander verschossen?«

Seon-Yeong setzte dann jedes Mal eine übertrieben ernste Miene auf. »Na, hört mal! Bin ich etwa ein Kerl? Und selbst wenn ich einer wäre … Glaubt ihr denn, Heui-Jin würde mit einem wie mir was anfangen?«

»Warum sollte ich nicht? Was stimmt denn nicht mit dir?«, fragte Heui-Jin ein bisschen empört.

Seon-Yeong war um eine Antwort verlegen. Die versammelten Freunde dagegen sparten nicht mit »hilfreichen« Ratschlägen.

»Da hat sie aber recht, Seon-Yeong. An dir gibt’s nichts auszusetzen. Das musst du dir bloß ab und zu auch mal sagen!«

»Weißt du, wenn du ein bisschen abnehmen würdest, wärst du richtig hübsch!«

»Genau, Seon-Yeong! Wie wär’s, sollen wir zusammen eine Diät machen? Wir könnten uns für den Uni-Sport anmelden!«

»Magst du dann ab heute mit mir Salat essen?«

Da platzte Heui-Jin der Kragen. Sie hakte sich bei Seon-Yeong unter. »Quatsch, seid nicht albern! Heute gibt’s Schnitzel in der Mensa.«

Später erzählte Seon-Yeong, spätestens da habe sie gewusst, dass sie in Heui-Jin verliebt war. Sie tat, als könnte sie sich nicht wehren, und ließ sich lachend von ihr mitziehen.

Auch zum Filmclub schleppte Heui-Jin Seon-Yeong mit. »Gib dir einen Ruck!«, sagte sie. »Jeder mag Filme. Und du kannst dich doch eh zu nichts anderem entschließen … Dann kannst du auch mit mir dahin gehen!«

Aber Seon-Yeong sah sie so eigenartig an, dass sie zögerte.

»Was? Glaubst du, das passt nicht zu mir?«

»Du siehst eher so aus, als würdest du Idols mögen.«

»Wie sieht denn jemand aus, der Idols mag? Du hast im Übrigen recht.«

Seon-Yeong legte den Kopf schief. Ihr Gesichtsausdruck war eigenartig. »Big Bang oder Girls’ Generation?«

Big Bang war eine Boy-, Girls’ Generation eine Girlgroup. Heui-Jin schluckte nervös. »Girls’ Generation.«

Worauf wollte Seon-Yeong hinaus? Aber sie waren vom Thema abgekommen. »Du schaust doch gern Filme, oder?«

Seon-Yeong musterte sie. »Eigentlich nicht.«

»Aber warum willst du dann dem Filmclub beitreten?«

»Weil du gesagt hast, ich soll«, erwiderte Seon-Yeong gelassen und klopfte an die Tür des Raums, in dem sich der Filmclub traf. »Hallo? Ist jemand da?«

Erschrocken zog Heui-Jin sie ein Stück den Flur hinunter. »Was, wenn uns drinnen jemand gehört hat? Aber davon mal abgesehen … Willst du denn wirklich?«

Seon-Yeong zuckte mit den Schultern. »Ich halte echt nicht viel von Filmen. Am wenigsten mag ich’s, DVDs zu schauen. Das kommt mir immer irgendwie grausam vor.«

Verwirrt starrte Heui-Jin sie an. »Aber ins Kino gehst du schon? Und warum findest du DVDs so schlimm? Redest du von Horrorfilmen?«

»Ach, es ist bloß … Für die Leute im Film ist der Film die Realität. Ihr trauriges, leidvolles Leben. Und wir gucken uns das an und haben noch Spaß dabei.« Seon-Yeong hatte zögerlich gesprochen, aber als Heui-Jin nun Einspruch erheben wollte, wurde sie nachdrücklicher. »Natürlich haben wir Spaß! Wir sitzen gemütlich auf unserem Hintern und sind in Sicherheit, während die Figuren im Film leiden. Willst du wirklich behaupten, das sei nicht grausam? Ich würde nicht wollen, dass mir Leute dabei zuschauen, wie’s mir schlecht geht! Wenn jemand vielleicht sogar irgendeine Szene immer wieder zurückspult, bloß weil sie ihm besonders gefällt … Und ich müsste sie ihm Mal um Mal wieder vorspielen.«

Seon-Yeong schien aus tiefster Seele zu sprechen. Plötzlich fiel Heui-Jin wieder ein, was eine ehemalige Freundin einmal über Seon-Yeong gesagt hatte: »Die zieht einen immer so runter.«

Heui-Jin schüttelte leicht den Kopf, als könnte sie so die hässlichen Worte vertreiben. Dann nickte sie. »So hab ich das noch nie gesehen. Aber ich glaube, ich weiß, was du meinst.«

Da schaute Seon-Yeong sie ganz seltsam an – mit einem Blick, wie Heui-Jin ihn noch nie zuvor gesehen hatte. Dieser Blick, dachte sie, könnte vermutlich die Nacht erhellen.

»Ist nicht schlimm, wenn du’s nicht verstehst«, sagte Seon-Yeong.

Heui-Jin klopfte ihr auf die Schulter. »Tu ich aber.«

Und Seon-Yeong, die Filme nicht leiden konnte, trat gemeinsam mit Heui-Jin dem Filmclub bei.

Im Jahr 2007 wurde auf Partys viel getrunken. An der Frauenuni, die Heui-Jin und Seon-Yeong besuchten, war das nicht anders. Die Studentinnen aus den höheren Semestern verlangten alles Mögliche von den Erstsemestern, und meistens hatten die keine Ahnung, was überhaupt gemeint war. Bei den Trinkspielen nicht mitzumachen, kam allerdings nicht in Frage.

Heui-Jin stürzte kaltes Wasser hinunter. Sie hatte schon wieder etwas falsch gemacht, dabei war sie schon so abgefüllt! »Wie soll ich denn spielen, wenn ich immer besoffener werden, je … je mehr ich trinke?«, fragte sie. »Das … ha… hat doch weder Hand noch Fuß, o… oder?«

Die älteren Studentinnen brachen in schallendes Gelächter aus.

»Nein, wie süß! Ein Trinkspiel muss man aber nun mal lernen, während man trinkt, das ist der Sinn der Sache! Du kriegst eine Strafe. Küss die Studentin neben dir! Aber richtig!«

Diese besoffene Bande! Heui-Jin drehte sich schwankend zur Seite. Und schaute Seon-Yong ins Gesicht, die sie mit weit aufgerissenen Augen anstarrte.

In ihrem Kopf war es seltsam still, als sie einander küssten.

Heui-Jin konnte sich später nicht daran erinnern, was hinterher gewesen war. Was hatten die Älteren gesagt? Wie war das Spiel weitergegangen? Sie erinnerte sich nur, wie sie mit Seon-Yeong davongeschlüpft war. Sie hatten sich kichernd aus der schummrigen Bar in die Toilette geflüchtet und einander dort angelächelt.

»Alles okay?«

»Warum fragst du?«

Seon-Yeongs Gesicht, das sie sich gerade mit kaltem Wasser gewaschen hatte, sah auch im hellen Licht der Toilette eigentlich ziemlich attraktiv aus. War der Alkohol daran schuld? So musste es wohl sein. Während sie noch darüber nachdachte, redete sie schon wieder.

»Weil wir uns doch geküsst haben. Wenn du das nicht mochtest, tut’s mir leid.«

»Oh, was? Du wolltest doch eigentlich auch nicht.« Seon-Yeong grinste schief. Normalerweise lächelte sie nicht so, aber sie war eben auch betrunken.

Heui-Jins Gedanken kamen ihr nicht wie ihre eigenen vor. Es war, als plapperte ihr jemand ins Ohr. Sie lachte mit der Fremden zusammen.

»Du musst dir keine Sorgen machen. Ich steh’ auf Frauen.«

»Ich auch.«

Plötzlich lachte niemand mehr.

»Echt?«

»Du auch?«

»Ich fand’s gut. Also muss es doch in Ordnung sein, denkst du nicht?«

Es war nicht in Ordnung.

Zumindest nicht bei ihrem ersten Date.

»Das will ich nicht!« Die Worte schienen einfach aus Seon-Yeong herauszuplatzen.

Verstohlen sah Heui-Jin im Restaunrant um. Hatte sie jemand gehört? Mit schamroten Wangen und gesenktem Kopf fragte sie leise: »Warum denn nicht? Das Essen hier ist wirklich gut!«

»Ich mag keine Pfannkuchen. Gar nicht! Davon hab ich in meinem Leben echt schon genug gegessen.«

»Wann hast du denn ohne mich Pfannkuchen gegessen? Ach, egal … Schau mal, das sind gar keine gewöhnlichen Pfannkuchen. Die heißen Soufflé-Pancakes und kommen aus Japan, glaube ich … Die sind wirklich richtig lecker! Könnte sein, dass das ein ganz großes Ding wird. Dann stehen die Leute dafür Schlange!«

»Du hast recht … So was hab ich noch nie gesehen. Die Pfannkuchen, die meine Mutter für mich gemacht hat, sahen ganz anders aus.« Misstrauisch stocherte Seon-Yeong mit der Gabel in ihren Soufflé-Pancakes herum. »Was soll denn das sein?«, murmelte sie.

Wie wählerisch sie war! Heui-Jin schluckte ihren Ärger hinunter und aß stumm beinahe ihren ganzen Teller leer.

Sie passten nicht gut zueinander.

Oft hätte sie sich beinahe getrennt.

Heui-Jin hatte ihre Eltern bei einem Autounfall verloren und war bei Verwandten aufgewachsen. Das verzweifelte Bedürfnis, sich auszudrücken, trieb sie an. Deshalb hatte sie koreanische Sprache und Literatur studieren wollen und sich erfolgreich um ein vierjähriges Stipendium beworben. Seon-Yeong dagegen war eine folgsame Tochter. Stets hatte sie getan, was ihre Eltern ihr gesagt hatten. Nun, fern von zu Hause, tat sie, was Heui-Jin ihr sagte.

Heui-Jin konnte aufbrausend und ungeduldig sein; dass Seon-Yeong manchmal langsam war und oft unbedacht handelte, konnte sie zur Weißglut treiben. Keine von beiden sprach es je aus, aber sie hatten wohl beide nicht geglaubt, dass ihre Beziehung lange halten würde. Sie trafen sich trotzdem, weil sie es wollten. Und die Zeit verging rasend schnell.

Nach der Uni arbeitete Heui-Jin zuerst für einen Literaturverlag und dann für eine recht unpopuläre Kinderzeitschrift. Sie verdiente nicht viel, aber die Interviews mit den Kindern machten ihr Spaß. Seon-Yeong mit ihrem Abschluss in Geschichte wanderte von Aushilfsstelle zu Aushilfsstelle, bis sie schließlich im Vertriebszentrum fest angestellt wurde. Stark und gesund, wie sie war, gewöhnte sie sich schnell an die Schufterei. »Alle haben immer gesagt, ein Schreibtischjob sei besser, aber davon bin ich nicht mehr überzeugt«, sagte sie und zuckte mit den Schultern.

Nun lag es schon sechs Jahre zurück, dass sie ein Pärchen geworden waren. Ein Mann und eine Frau hätten an ihrer Stelle sicher längst übers Heiraten gesprochen. Nicht viele Freunde wussten, dass sie zusammen waren; sie hatten es nie an die große Glocke gehängt. Es war wohl auch so, dass ihnen niemand zugetraut hätte, eine Hochzeit in Erwägung zu ziehen. Hätte man sie gefragt, hätten die Freunde wohl unbehaglich gesagt, Heui-Jin und Seon-Yeong seien doch zufrieden.

Doch auf Seon-Yeong traf das nicht zu. Sie saß auf dem Sofa in Heui-Jins Mietswohnung und spielte auf ihrem Smartphone herum.

»Wär’ schon schön, wenn wir mehr Platz hätten«, sagte sie.

»Wieso? Willst du hier einziehen?«, fragte Heui-Jin. Sie hatte den Kopf in Seon-Yeongs Schoß liegen und ging Berichte für die Arbeit durch.

Seon-Yeong nickte.

Heui-Jin machte »Hm« und vertiefte sich wieder – bis ihr plötzlich klar wurde, was Seon-Yeong gemeint hatte.

»Hast du mich gerade gefragt, ob ich dich heiraten will?«

»Ich glaub schon!«

Heui-Jin sprang auf. »Was war das denn bitte für ein Antrag!«

So heirateten sie. Sie nahmen ein bisschen von dem Geld, das sie beiseitegelegt hatten, und ließen sich Platinringe anfertigen. Auf eine Feier verzichteten sie.

Regelmäßig saßen sie in Heui-Jins kleiner Wohnung vor dem Laptop und suchten nach einem Haus, aßen etwas, suchten weiter und gingen schließlich schlafen. Seon-Yeong fing an, Lotto zu spielen. Es sind ja bloß 1.000 Won* in der Woche, sagte sie. Irgendwann könnte sie Glück haben. Heui-Jin begriff nicht, was das sollte. Es passte nicht zu Seon-Yeong, sich in einer derart sinnlosen Sache zu verbeißen. Sie überprüfte die Lottozahlen nicht nur jeden Samstag, nein – sie lernte sie auswendig!

»Das ist doch Unsinn, was bringt dir das? Du könntest genauso gut wieder für die Aufnahmeprüfung der Uni büffeln!«

Seon-Yeong lächelte schelmisch. »Die Lottozahlen zu kennen, ist nützlicher. Stell dir vor, ich würde in der Zeit zurückreisen! Dann wüsste ich lieber die Zahlen als die richtigen Antworten für die Aufnahmeprüfung.«

Heui-Jin lächelte zurück. »Und was machst du dann mit dem Geld?«

»Ich kaufe uns ein Haus, und dann reise ich mit dir ein Jahr lang um die Welt! Und wenn wir zurückkommen, adoptieren wir zwei Kaninchen.«

»Kaninchen?«

»Ja! Die sind echt so niedlich.«

Natürlich gewann Seon-Yeong nicht im Lotto. Sie fanden eine Bank, die ihnen ein Darlehen gab, aber selbst damit konnten sie bloß ein Haus mieten – keinen schicken Neubau, sondern ein altes Haus aus roten Backsteinen. Ein Haus war es trotzdem. Das Zuhause von frisch Vermählten.

»Bist du gar nicht müde?«

Seon-Yeong lag im Halbdunkel und starrte mit abwesendem Blick an die Decke. Es war ihre erste Nacht im neuen Haus. Draußen vor dem Fenster flackerte das Licht der Nachtclubs, und man hörte Motorräder und die lauten Stimmen Betrunkener, aber das störte Heui-Jin nicht. Im Gegenteil: So fühlte sie sich nicht so eingesperrt.

»Ich schlaf’ nicht gern«, antwortete Seon-Yeong.

Darüber lachte Heui-Jin. »Du wieder! Ich bin noch keinem Menschen begegnet, der nicht gerne schläft!«

»Wirklich.« Seon-Yeong drehte sich zu ihr hin. Die neue steife Bettdecke raschelte. »Ich hab Angst, dass ich in der Vergangenheit wieder aufwache.«

»In welcher Vergangenheit? Unserer?«

»Ja, auch unserer.«

Heui-Jin gähnte und nahm Seon-Yeong in die Arme. »Das lassen wir lieber. Wir haben in der Vergangenheit schon so viel angestellt, wir kriegen bloß Ärger, wenn wir da wieder auftauchen!«

»Sie haben die Polizei wegen eines Streits unter Freundinnen gerufen?« Einer der Beamten lachte ungläubig.

Schuldbewusst verbeugten sich Heui-Jin und Seon-Yeong vor den beiden Männern, die zwei Meter entfernt standen und Masken trugen.

Heui-Jin war noch immer benommen. Als die Polizei aufgekreuzt war, hatte Seon-Yeong die Badezimmertür geöffnet. Heui-Jin hatte ins Licht geblinzelt und Seon-Yeong erblickt, die ihre Sachen im Arm hielt. Ihre Lippen waren ganz schmal gewesen, und Heui-Jin hatte ihr deutlich angesehen, dass sie geweint hatte.

»Zieh dir was an«, hatte sie heiser gesagt. »Und vergiss deine Maske nicht!«

Heui-Jin war in ihre Kleider gestiegen und hatte Seon-Yeong dabei keine Sekunde aus den Augen gelassen. »Hast du mir nicht was zu sagen?«

Seon-Yeong war ihrem Blick ausgewichen. »Später«, hatte sie gemurmelt.

Heui-Jin hatte sich mit den Fingern das feuchte Haar gekämmt. Immer wieder war sie hängen geblieben, und das hatte sie so frustriert, dass sie hätte schreien oder weinen mögen. Wie dumm! Sie hatte die Maske vom Tisch genommen und sie aufgesetzt.

Seon-Yeong hatte derweil durch die Haustür mit den Polizisten gesprochen. »Sie sind von der Polizei? Wir haben Sie nicht gerufen!«

»Uns wurde gemeldet, dass hier heftig gestritten wird. Bitte öffnen Sie kurz die Tür.« Der Polizist klang wie ein Mann in den mittleren Jahren.

Seon-Yeong warf Heui-Jin einen flüchtigen Blick zu. »Wir hatten lediglich eine Meinungsverschiedenheit. Und wir haben uns beide mit Corona infiziert. Ich fürchte, wenn wir die Tür öffnen, besteht für Sie Ansteckungsgefahr.«

Was sollte denn das nun wieder?

Ungläubig starrte Heui-Jin Seon-Yeong an, die stur die Tür anschaute.

»Ist die Infektion bestätigt?«, rief der Polizist durch die Tür.

»Bei mir noch nicht, aber bei meiner Freundin«, antwortete Seon-Yeong.

Erfand sie eine Lügengeschichte, um die Polizisten loszuwerden? Warum sonst sollte sie so etwas erzählen?

Vielleicht hätte Heui-Jin sich selbst an die Polizisten wenden und sie um Hilfe bitten sollen. Aber sie war wie gelähmt. Der Ausdruck in Seon-Yeongs Augen beunruhigte sie zutiefst. Heute Morgen, als Heui-Jin zur Arbeit aufgebrochen war, hatte Seon-Yeong sie an der Tür verabschiedet. Wie warm und liebevoll sie Heui-Jin da angesehen hatte! Doch jetzt war ihr Blick schwermütig und schrecklich düster.

Heui-Jin begriff nicht, was mit Seon-Yeong nicht stimmte, doch offenbar hatte sie einen Plan. Sollte Heui-Jin einfach mitspielen? Sie konnte immer noch die Polizei rufen, sollte es später Probleme geben.

Später?, schrie eine Stimme in ihrem Kopf. Es gab doch längst Probleme! Oder hatte sie schon vergessen, dass sie über eine Stunde lang im finsteren Badezimmer eingeschlossen gewesen war?

Heui-Jin kaute auf ihrer Unterlippe. Gerade noch war ihr Leben in bester Ordnung gewesen … Was war nur schiefgegangen? Ihr brummte der Schädel.

Die Polizisten hatten sich miteinander beraten, waren nun aber wohl zu einem Schluss gekommen. »Öffnen Sie bitte!«, rief einer. »Wenn uns eine Meldung vorliegt, müssen wir das überprüfen. Ich möchte Sie jedoch bitten, Abstand zu halten!«

Seon-Yeong zögerte, gehorchte aber schließlich. Zwei stämmige Männer mit Masken standen vor der Tür.

Einer der beiden blickte an Seon-Yeong vorbei und schaute Heui-Jin an. »Sind Sie Heui-Jin? Ihre Kollegin hat uns angerufen, weil sie sich Sorgen um Sie gemacht hat. Ist alles in Ordnung? Möchten Sie über irgendetwas mit uns sprechen?«

Heui-Jin atmete tief durch. »Es ist wirklich alles in Ordnung.«

Da verabschiedeten die Polizisten sich.

Seon-Yeong ging in die Küche und nahm am Tisch Platz. Endlich sah sie Heui-Jin an. »Setzt du dich zu mir?«

Das tat Heui-Jin. Dann fragte sie: »Warum hast du das gesagt? Dass ich Corona habe?«

»Weil es die Wahrheit ist.«

»Und woher weißt du das?«

Seon-Yeongs Mundwinkel bebten. Würde sie wieder in Tränen ausbrechen? Aber Seon-Yeong weinte nicht. Sie lachte bitter. »Ich weiß es eben.«

Heui-Jin senkte den Blick. Es fiel ihr plötzlich schwer, ihre Frau anzuschauen.

»Es ist nicht das erste Mal«, sagte Seon-Yeong.

»Wie bitte?«

Seon-Yeong sprang auf, füllte zwei Tassen mit Milch und stellte sie in die Mikrowelle. Heui-Jin sah ihr stumm dabei zu, wie sie diese alltäglichen Handgriffe tat. Sie machte ihnen Kakao. Ein vertrautes Ritual. Aber was in ihr vorging, konnte Heui-Jin sich nicht einmal vorstellen.

Seon-Yeong hielt sich an dem Regal fest, auf dem die Mikrowelle stand. »Fünfmal musste ich nun schon mitansehen, wie du krank geworden bist. Ich bin … Ja, ich kann es nur so erklären. Ich bin jetzt zum sechsten Mal in die Vergangenheit zurückgekehrt.«

Heui-Jin runzelte die Stirn. In die Vergangenheit zurückgekehrt … Das klang wie der Plot eines Romans. Sprach Seon-Yeong von Zeitreisen? Und sie wollte gleich sechsmal eine unternommen haben?

Und jedes Mal erkranke ich an Corona?

»Was erzählst du denn da?«

Ruhig sprach Seon-Yeong weiter. »Ich nenne es ›Wiederholungsmodus‹. Warum? Ich hab früher einen MP3-Player mit englischen Hörübungen drauf mit mir rumgetragen, für die Aufnahmeprüfung an der Uni. Erinnerst du dich an die Dinger? Wie man die bediente? Man konnte nicht nur zurückspringen, um eine Übung noch einmal anzuhören, man konnte den Player sogar so einstellen, dass er einen Track immer wieder abspielte. So oft man wollte. Dafür musste man bloß den Wiederholungsmodus auswählen.«

Heui-Jin gab sich die größte Mühe, Seon-Yeong zu folgen. Sie erinnerte sich an das letzte Mal, dass sie selbst englisches Hörverständnis geübt hatte. Das war für den TOEIC-Test gewesen.

Ihr fiel ein, dass ihr Player einmal hängengeblieben war und endlos eine einzige Vokabel wiederholt hatte: »Repeat. Repeat. Repeat.«

Wiederholen. Wiederholen. Wiederholen.

Die Mikrowelle machte »Ding!« und schaltete sich aus. Seon-Yeong holte die beiden dampfenden Tassen heraus, stellte sie auf den Tisch, gab Kakaopulver hinein und rührte mit einem Essstäbchen um.

»Hast du … Willst du sagen, du hast übernatürliche Kräfte? Dieser Wiederholungsmodus, ist das deine Gabe? Aber warum wiederholst du ausgerechnet diesen Moment?«

Seon-Yeong erstarrte. Langsam hob sie den Kopf und schaute Heui-Jin an, als wäre sie ein Geist. »Eine Gabe? Ich glaube nicht, dass man es so nennen kann. Ich kann die ganze Sache nicht beeinflussen, nichts dabei gewinnen. Es ist viel eher ein Fluch!«

Ihr plötzlicher Ausbruch verwirrte Heui-Jin nur noch mehr. Sie sah ihre Frau groß an.

»Es ist, als würde ich träumen. Zumindest ist alles, was während des Wiedergabemodus geschieht, ebenso