Trauer, Panik, Leidenschaft - Gabriel Rolón - E-Book

Trauer, Panik, Leidenschaft E-Book

Gabriel Rolón

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Beschreibung

Das Leben schreibt die besten Geschichten.

Eine alleinerziehende Mutter, die unter Panikattacken leidet. Ein Witwer, der sich auf eine neue Beziehung einlassen will. Eine junge Frau, die von ihrem Ehemann geschlagen wird. Respektvoll, einfühlsam und überraschend ehrlich erzählt der argentinische Psychoanalytiker Gabriel Rolón von seinen Patienten. Fünf Geschichten, die so vielfältig sind wie das Leben selbst, und doch so zentral und elementar, dass sie uns alle bewegen. Es geht um Familie, um die eigene Identität, um Verluste, um Scheitern, auch um Gewalt, um Schuld und Trauer, Veränderungen und Neuanfänge. Und natürlich um die Liebe.

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Seitenzahl: 277

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Zum Buch

Eine alleinerziehende Mutter, die unter Panikattacken leidet. Ein Witwer, der sich auf eine neue Beziehung einlassen will. Eine junge Frau, die von ihrem Ehemann geschlagen wird. Respektvoll, einfühlsam und überraschend ehrlich erzählt der argentinische Psychoanalytiker Gabriel Rolón von seinen Patienten. Fünf Geschichten, die so vielfältig sind wie das Leben selbst, und doch so zentral und elementar, dass sie uns alle bewegen. Es geht um Familie, um die eigene Identität, um Verluste, um Scheitern, auch um Gewalt, um Schuld und Trauer, Veränderungen und Neuanfänge. Und natürlich um die Liebe.

Zum Autor

GABRIEL ROLÓN, geboren 1961 in Buenos Aires, studierte Psychologie und avancierte in kürzester Zeit zum bekanntesten Analytiker Argentiniens. Seine Bücher »Auf der Couch« und »Trauer, Panik, Leidenschaft«, Erzählungen über wahre Fälle aus der Praxis, waren in Argentinien Bestseller.

Gabriel Rolón

TrauerPanikLeidenschaft

Geschichten aus der Psychotherapie

Aus dem Spanischen von Peter Kultzen

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Die Originalausgabe erschien 2009 unter dem Titel »Palabras cruzadas« bei Editorial Planeta, Buenos Aires.
Deutsche Erstveröffentlichung März 2016, btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Copyright © 2009 by Gabriel Rolón Umschlaggestaltung: semper smile, München Umschlagmotiv: © Fernando Bengoechea/Beateworks/Corbis Satz: Uhl + Massopust, Aalen LW · Herstellung: sc ISBN 978-3-641-16959-6V002
www.btb-verlag.dewww.facebook.com/btbverlag Besuchen Sie unseren LiteraturBlog www.transatlantik.de

Inhalt

PanikattackenNormas Geschichte

Identität und GewaltLucianas Geschichte

Familie, Verlust, ScheiternRodolfos Geschichte

Sexualität, Jugend, TrauerRocíos Geschichte

Vaterschaft, Beziehungen, SchuldVíctors Geschichte

Nachwort

PanikattackenNormas Geschichte

Vor der ersten Begegnung mit einem neuen Patienten habe ich jedes Mal ein seltsames Gefühl, eine Mischung aus Neugier und Argwohn. So sehr ich auch dagegen ankämpfe, ich schaffe es nicht, meinen Kopf davon abzubringen, ein Bild der Person zu entwerfen, die ich erwarte. Doch es ist wenig ratsam, vorab ein Urteil – oder vielmehr ein Vorurteil – über jemanden zu fällen, der seinen Besuch in der Praxis angekündigt hat, denn dann kann ich ihn nicht in angemessener Weise empfangen. Stattdessen ist es viel wichtiger, den Kopf möglichst frei von Vorstellungen zu halten, erst recht wenn es noch gar keine Grundlage für irgendwelche Vorstellungen gibt. Schließlich kenne ich zu diesem Zeitpunkt bloß die Stimme meines Besuchers, abgesehen von den wenigen Eindrücken während des kurzen Telefongesprächs, in dem wir unseren ersten Termin vereinbart haben.

Aber obwohl eine solche Unterhaltung nur wenige Erkenntnisse liefert, sollte man diese deshalb nicht ignorieren: der Tonfall des anderen, die Worte, die er wählt, sein Sprechrhythmus, all das sind nicht zu unterschätzende Hinweise, Orientierungspunkte, die zum Verständnis des zukünftigen Patienten beitragen können.

Im Fall von Norma verwies alles, was ich unserem ersten telefonischen Kontakt entnehmen konnte, darauf, dass sie sich in einem Zustand tiefer Trauer befand. Sie sagte kaum ein Wort, sprach sehr langsam und stimmte der Verabredung irgendwann zu, als hätte sie ohnehin nicht darüber zu entscheiden, geschweige denn die Möglichkeit, den Vorschlag zurückzuweisen.

Und sie erschien nicht allein in meiner Praxis, was auch etwas heißen wollte. Ich hatte jedoch nicht vor, sie nach dem Grund zu fragen. Jetzt jedenfalls noch nicht.

»Kommen Sie rein, Norma. Setzen Sie sich. Freut mich, Sie kennenzulernen.«

»Danke. Ich bin ein bisschen nervös. Ich bin zum ersten Mal beim Psychologen.«

»Das kann ich verstehen. Aber machen Sie sich keine Sorgen, letztlich ist ein Gespräch mit einem Psychologen gar nichts so Besonderes.«

Es war, als wollte sie sich verteidigen, sie schien regelrecht Angst zu haben. Unter diesen Umständen ist es für den Analytiker empfehlenswert, aktiv an den Patienten heranzugehen, statt schweigend abzuwarten. Außerdem sehe ich es als mein Recht an, bei den vorbereitenden Gesprächen nach allem zu fragen, was mir nötig erscheint, um auf einer belastbaren Grundlage entscheiden zu können, ob ich einen Fall übernehmen möchte oder nicht. Vorausgesetzt natürlich, der Patient ist seinerseits bereit, mich als seinen Analytiker zu akzeptieren.

»Erzählen Sie doch mal: Warum haben Sie beschlossen, meine Praxis aufzusuchen?«

»Eigentlich kam der Vorschlag von meinem Chef.«

»Und wie kam der dazu?«

Sie dachte nach.

»Ehrlich gesagt, es war kein Vorschlag. Es war ein Befehl.«

Sie senkte den Kopf und blickte schweigend zu Boden. Es fiel ihr offensichtlich schwer zu sprechen. Vor allem am Anfang. Noch kannte sie mich ja nicht und wusste nicht, ob sie mir vertrauen konnte. Damit sie sich in dieser Lage nicht überfordert fühlte, bat ich sie geradezu, fortzufahren.

»Möchten Sie mir nicht sagen, woran Sie denken?«

»Es ist mir peinlich.«

»Was ist daran peinlich?«

»Das, was passiert ist.«

»Und was ist passiert?«

»Also …«, sagte sie stockend. »Eine Kollegin von mir hat es ihm gesagt.«

Ich musste immer wieder nachfragen, um ein klares Bild zu bekommen.

»Wem?«

»Meinem Chef.«

»Was hat sie ihm gesagt?«

»Dass sie gehört hat, dass ich auf der Toilette geweint habe.«

Schweigen.

»Stimmt das?«

Sie nickte.

»Bitte sprechen Sie weiter.«

»Das war vor ein paar Tagen. Er hat mich offenbar beobachtet und darauf gewartet, bis es so weit war.«

»Und irgendwann war es dann so weit?«

»Ja.«

»Wann?«

»Vor zwei Tagen.«

»Und was war da?«

»Ich …«, sagte sie wieder stockend, »ich war auf der Toilette, und er hat an die Tür geklopft.«

»Haben Sie da geweint?«

»Ja.«

»Und was ist dann passiert, Norma?«

»Als ich das Klopfen gehört habe, bin ich erschrocken. Und erst recht, als ich seine Stimme hörte. ›Geht es Ihnen gut, Norma?‹, hat er gefragt. ›Antworten Sie. Machen Sie die Tür auf, bitte.‹ Da war ich auf einmal völlig verzweifelt. Mein Herz hat immer schneller geschlagen, mir ist der Schweiß ausgebrochen, und ich musste mich hinsetzen. Ich habe gedacht, gleich werde ich ohnmächtig. Und ich habe mich schrecklich gefühlt …«

»Inwiefern?«

»Ich hatte das Gefühl … Ich habe geglaubt, gleich sterbe ich.«

Sie sah mich an.

»Wissen Sie, was ich meine?«

Herzrasen, plötzlicher Schweißausbruch, das Gefühl, dass der Blutdruck absackt, Todesangst – natürlich wusste ich, wovon sie sprach. Sie schilderte eine Panikattacke. Ich fing an, mir auszumalen, was alles auf mich zukommen würde, wenn ich den Fall übernähme. Dann schüttelte ich diesen Gedanken sogleich wieder ab: Wir würden hart arbeiten müssen. Am besten fingen wir also sofort damit an.

»Ich weiß, was Sie meinen, Norma.«

Als Norma die Analyse bei mir begann, war sie 46 Jahre alt. Zwei Jahre zuvor hatte sie sich von ihrem Mann Esteban scheiden lassen. Sie hatten einen Sohn, Facundo, der inzwischen 17 war.

Nach dem vierten Vorgespräch beschlossen wir, gemeinsam eine Analyse durchzuführen. Zunächst würden wir einander gegenübersitzen, entschied ich, da ich den Eindruck hatte, sie sei noch nicht dafür bereit, auf der Couch liegend über sich zu sprechen.

»Esteban war der einzige Mann in meinem Leben«, erzählte Norma in einer der ersten Sitzungen.

»Heißt das, Sie haben nie mit einem anderen Mann geschlafen oder sind überhaupt nie mit jemand anderem ausgegangen?«

Sie senkte den Kopf, das Thema war ihr offensichtlich unangenehm.

»Beides.«

»Erzählen Sie bitte, wie war das damals?«

Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort:

»Wir waren Nachbarn. Wir wohnten nur eine Querstraße voneinander entfernt. Alle Kinder gingen zu der Zeit auf die Schule bei uns im Viertel, auf die staatliche Schule. Da wir gleich alt waren, wurden wir auch zusammen eingeschult, und bis zum Ende der Grundschule gingen wir dann in dieselbe Klasse.«

Zu der Zeit.

Norma war eine junge Frau. Trotzdem sprach sie über ihre Kindheit und Jugend, als wäre beides ewig lange her. Ich ging aber vorläufig nicht darauf ein. Sie hatte gerade erst angefangen, ein wenig ausführlicher von sich zu erzählen, und dabei wollte ich sie keinesfalls unterbrechen.

»Danach ging ich auf die Sekundarschule und er auf eine Handelsschule. Aber Sie wissen ja selbst, wie das damals war, oder?«

»Was genau meinen Sie damit?«

»Dass man sich weiterhin gesehen hat. Wir sind uns auf der Straße begegnet, beim Einkaufen, wenn es Tanzabende gab. Wissen Sie noch?«

Ich nickte.

»Sind Sie damals auch tanzen gegangen?«

Ich sah sie an und überlegte. Ich hätte nichts auf die Frage erwidern können. Meistens machte ich das so, aber sie wirkte entspannt, und ich hatte den Eindruck, dies sei eine gute Gelegenheit, um eine persönlichere Verbindung zwischen uns herzustellen. Sie würde sich mir dann näher fühlen.

»Ja, natürlich. Das war schön.«

»Ja, das war wirklich schön«, sagte sie begeistert.

Zum ersten Mal lächelte sie, und ihr sonst so bekümmerter Gesichtsausdruck verschwand.

»Möchten Sie darüber sprechen?«

»Gut. Obwohl man mir das heute nicht mehr ansieht, war ich als Mädchen sehr hübsch, viele Jungs wollten mit mir tanzen. Wirklich viele«, sagte sie noch einmal und lächelte sehnsüchtig.

»Und haben Sie mit ihnen getanzt?«

»Fast nie.«

»Warum?«

»Weil … Ich hatte bloß Augen für Esteban. Er war so …«

»So was?«

»Er sah so gut aus, und er war schon so erwachsen, ein richtiger Mann. Und er hatte einen so schönen Blick und eine ruhige Stimme. Er war einfach anders als die anderen.«

»Und Sie waren in ihn verliebt, wie ich sehe.«

Sie wurde rot.

»Merkt man mir das an?«

»Ja.«

»Ich glaube, damals hat man mir das auch angemerkt. Ich war immer schon leicht zu durchschauen.«

»Dann hat er auch gewusst, was Sie für ihn empfinden, nehme ich an?«

»Ja, natürlich. Aber damals war das alles ganz anders.«

»Anders als was?«

»Anders als heute.«

»Warum? Wie ist es denn heute?«

»Die Jugendlichen trauen sich heute viel mehr. Früher konnte ein Mädchen nicht einfach so einem Jungen den Hof machen.«

Ich lächelte.

Norma verstummte. Ihr Blick hatte sich schlagartig verändert. Irgendetwas stimmte nicht, das war klar. Auf einmal wirkte sie sehr ernst. Was sie plötzlich so verstört hatte, wusste ich nicht, aber ich musste es unbedingt herausfinden.

»Was ist, Norma? Ärgern Sie sich über etwas, das ich gesagt oder getan habe?«

Angespannt presste sie die Zähne aufeinander und holte tief Luft, als müsste sie sich zusammenreißen.

»Bitte, sagen Sie es mir.«

Ich beugte mich leicht vor, und sie lehnte sich instinktiv zurück. Als hätte sie Angst, ich würde mich gleich auf sie stürzen, über den kleinen Couchtisch hinweg, und ihr wehtun.

»Ich weiß wirklich nicht, was los ist«, fuhr ich fort, »können Sie mir sagen, was passiert ist?«

Sie sah mich an.

»Ich mag es nicht, wenn man über mich lacht. Auch wenn Ihnen das, was ich erzähle, dumm vorkommt – es ist nun mal meine Geschichte. Und es verletzt mich, dass Sie sich über meine Vergangenheit amüsieren.«

Wovon sprach die Frau? War sie verrückt geworden? Wann hatte ich mich über ihre Geschichte lustig gemacht? Sie hatte kein Recht, mich einfach so zu attackieren. Aber … Stopp! Was hieß hier, sie hatte kein Recht? Was sagte ich da?

Ich begriff, dass ich meinerseits, fast ohne es zu merken, sauer auf sie geworden und für kurze Zeit aus meiner Rolle gefallen war.

Zum Glück fielen mir gerade noch rechtzeitig die Worte meines eigenen alten Analytikers Gustavo ein:

»Vergessen Sie nie, dass Sie bei einer Sitzung nicht Sie selbst sind, Gabriel. Sie sind die Leinwand, auf die Ihre Patienten alle Ängste, Frustrationen und ihren ganzen Ärger projizieren. Ihr Gesprächszimmer ist für Ihre Patienten die Bühne, auf der sie alle möglichen Szenen aus der Vergangenheit noch einmal durchleben. Ihnen kann dabei die Rolle von jemandem zufallen, den Ihr Patient geliebt hat, Sie können für ihn aber auch eine verhasste Person darstellen. Dabei geht es jedoch nie um Sie selbst, so wichtig sind Sie nicht, glauben Sie das bloß nicht.«

Mit solchen Situationen richtig umzugehen, gehört zum Schwierigsten, was bei der analytischen Arbeit vorkommen kann. Auf einmal merkt man, dass man unversehens von Gefühlen ergriffen wird, die man keinesfalls nach außen dringen lassen darf. Ebenso wie sie das klare Denken des Analytikers nicht beeinträchtigen dürfen.

Ich atmete ein paarmal tief durch und richtete meine Aufmerksamkeit wieder auf das eigentlich Wichtige: meine Patientin.

»Norma, erlauben Sie mir zu sagen, dass hier ein Missverständnis vorliegt. Aus irgendeinem Grund glauben Sie, ich würde mich über Ihre Geschichte lustig machen, und das finden Sie natürlich respektlos. Aber Sie täuschen sich, ganz ehrlich.«

»Lügen Sie mich nicht an. Ich habe es doch gesehen.«

»Das stimmt nicht, Norma.«

»Wollen Sie behaupten, ich lüge?«

»Nein. Ich sage nicht, dass Sie lügen, ich sage bloß, dass Sie sich getäuscht haben. Ich weiß, Sie sind überzeugt, dass es so ist, wie Sie sagen. Aber lassen Sie mich es bitte erklären, ja?«

All das sagte ich mit sehr sanfter, ruhiger Stimme. Ich wollte keinesfalls aggressiv wirken, es sollte aber auch nicht so aussehen, als hätte ich ein schlechtes Gewissen, denn dann hätte sie sich erst recht bestätigt gefühlt. Ich bemühte mich also, einen möglichst neutralen, analytischen Tonfall anzuschlagen.

»Sehen Sie«, fuhr ich fort, »Sie haben gerade davon gesprochen, dass es ›zu Ihrer Zeit‹ anders war, dass ein Mädchen damals nicht von sich aus auf Jungen zugehen konnte, und …« Auf einmal begriff ich: »Norma, haben Sie sich geärgert, weil ich gelächelt habe?«

»Ja.«

»Aber ich habe mich nicht über Ihre Geschichte amüsiert.«

»Und wieso haben Sie dann gelächelt?«

Ich musste wieder lächeln.

»So wie Sie sich vorhin ausgedrückt haben – das habe ich schon lange nicht mehr gehört. Sie haben gesagt, ein Mädchen habe einem Jungen damals nicht einfach so den Hof machen können. Da musste ich an meine eigene Jugend denken. Das haben wir damals auch gesagt: Jemandem den Hof machen, und nicht: Jemanden aufreißen, oder so.« Ich sah sie verschwörerisch an. »Das hatte ich wirklich schon ewig nicht mehr gehört. Unglaublich, finden Sie nicht?«

»Wie meinen Sie das?«

»Dass ein Wort so viele Erinnerungen heraufbeschwören kann.«

Das war der Augenblick, um ihr Vertrauen zurückzugewinnen.

»Also gut, entschuldigen Sie. Aber als Sie das erzählt haben, habe ich mich auf einmal selbst nach der Zeit zurückgesehnt – wir sind schließlich beide damals aufgewachsen.«

Ihr Blick wurde weicher, und sie wirkte wieder weniger angespannt.

»Stimmt«, sagte sie lächelnd.

Diese Sitzung war sehr wichtig für den weiteren Verlauf der Analyse. Von da an wurde Norma viel lockerer und fing an, auch über ihre tief sitzenden Ängste zu sprechen. Ja, seit damals vertraute sie mir fast schon ein bisschen zu sehr.

Ihre Abhängigkeit von meiner Meinung bekam geradezu etwas Krankhaftes, bei allem und jedem fragte sie mich um Rat, und wenn sie von ihren Ängsten befallen wurde, konnte nur ich sie beruhigen.

Für einen Analytiker ist das nicht unbedingt angenehm. Der Patient hat das Gefühl, ob es ihm gut geht und ob er sich sicher fühlen kann, hängt nur von seinem Behandler ab. Wenn die Beziehung so eng wird, heißt es, wachsam sein, denn jedes Wort des Analytikers bekommt dann ein ungeheures Gewicht. Aber so lagen die Dinge nun einmal in diesem Fall, und ich beschloss, es vorerst hinzunehmen. Wie gesagt, besonders angenehm war das nicht. Aber es ging schließlich nicht darum, dass ich mich wohlfühlte, meine Aufgabe war zu helfen.

Wir setzten die Analyse mehrere Monate lang fort. Manchmal schien alles ins Stocken zu geraten, dann ging es langsam wieder weiter, so gut es eben möglich war. Norma gab das Tempo vor. Ich musste sehr behutsam mit ihr umgehen, wenn ihr etwas auch nur ein klein wenig zu viel wurde, konnte das alle möglichen Ängste wachrufen.

An den Tag erinnere ich mich noch genau. Es war Mittwoch, und es regnete. Mitten in der Sitzung mit einem anderen Patienten klopfte es an der Sprechzimmertür. Ich wunderte mich. Adriana, meine Sekretärin, wusste genau, dass man mich nur in wirklich wichtigen Fällen unterbrechen darf. Dies war offenbar ein solcher Fall. Ich bat meinen Patienten um Entschuldigung und ging zur Tür.

»Was gibt’s?«, fragte ich.

»Entschuldigen Sie die Unterbrechung, aber am Telefon ist eine Frau, die Sie sprechen möchte. Sie sagt, es ist dringend.«

Ich entschuldigte mich noch einmal und ging ins Empfangszimmer, um den Anruf entgegenzunehmen.

»Hallo.«

»Herr Rolón?«

»Ja.«

»Entschuldigen Sie die Störung. Ich heiße Verónica. Ich bin eine Arbeitskollegin von Norma Valverde.«

Mein Puls beschleunigte sich, und ich war schlagartig hellwach.

»Was ist passiert?«

»Sie hat mich gebeten, Sie anzurufen.«

»Und warum ruft sie nicht selbst an?«

Ich bemühte mich, ruhig und gelassen zu wirken.

»Norma hat sich auf der Toilette eingeschlossen. Sie sagt, sie geht nicht wieder raus. Und sie sagt, sie stirbt gleich. Sie hat mich gebeten, Sie anzurufen.«

Auf der Couch im Behandlungszimmer wartete mein Patient. Adriana blickte mich fragend an. Die Frau am Telefon klang sehr nervös, und ich sah die Situation vor mir: Norma, die sich im Büro auf der Toilette eingeschlossen hatte, wo sie weinend auf dem Boden lag. Der Geschäftsführer und die übrigen Kollegen, teils aufgeregt, teils bloß überrascht oder neugierig, auf der anderen Seite der Tür, darum bemüht, sie dazu zu bringen herauszukommen.

»Rufen Sie mich von einem Handy aus an?«, hörte ich mich sagen.

»Ja.«

»Könnten Sie den Apparat bitte an Norma weiterreichen?«

»Aber verstehen Sie nicht? Sie hat sich eingeschlossen.«

»Natürlich verstehe ich Sie. Ich bitte Sie bloß, zu ihr zu gehen und ihr zu sagen, dass ich am Telefon bin und mit ihr sprechen möchte.«

»Aber ich kann das Handy doch nicht an sie weitergeben, wenn sie die Tür nicht aufmacht.«

»Ich weiß«, sagte ich ein wenig gereizt, schließlich verstand sich das von selbst.

»Ach so, Sie glauben, in dem Fall wird sie aufmachen.«

»Keine Ahnung. Aber versuchen Sie es, bitte!«

Meine Stimme muss ziemlich autoritär geklungen haben, die Frau war jedenfalls offensichtlich überrascht. Sie sagte kein Wort mehr. Stattdessen hörte ich nun alle möglichen Geräusche und Stimmen, so als wäre sie mit dem Handy in der Hand unterwegs.

»Ich bin da«, sagte die Frau kurz darauf knapp. »Und was soll ich jetzt machen?«

»Sagen Sie Norma ganz ruhig, dass ich mit ihr sprechen möchte.«

Kurze Stille.

»Norma, mach auf, bitte …«

»Nein«, fiel ich der Frau durchs Telefon ins Wort, »bitten Sie sie nicht darum, dass sie aufmacht, sagen Sie ihr bloß, dass ich mit ihr sprechen möchte.«

»Aber …«

»Bitte, tun Sie, was ich sage.«

Die Frau wirkte irritiert, folgte aber meiner Aufforderung. Wenige Minuten später war Norma so weit, die Tür einen Spalt weit zu öffnen, damit man ihr das Handy durchreichen konnte. Sie nahm es entgegen und schloss die Tür wieder ab.

»Hallo Norma.«

Schweigen.

»Hören Sie mich? Ich bin’s, Gabriel Rolón.«

Sie sagte immer noch nichts. Stattdessen hörte ich ihr verzweifeltes Schluchzen.

»Keine Sorge, alles wird gut. Haben Sie keine Angst.«

»Gabriel«, sagte sie schließlich weinend, »ich sterbe, ich weiß, gleich sterbe ich.«

»Nein, das stimmt nicht. Sie machen gerade einen äußerst schwierigen Moment durch, das ist mir klar. Aber Sie sterben jetzt nicht, das verspreche ich Ihnen.«

Sie weinte immer noch.

»Doch, ich weiß es.«

Ich musste sie auf andere Gedanken bringen, sie von der fixen Vorstellung abbringen, dass ihr Tod unmittelbar bevorstand.

»Norma, stehen Sie? Oder liegen Sie auf dem Boden?«

»…«

»Norma, antworten Sie bitte. Stehen oder liegen Sie?«

»Ich sitze auf dem Boden«, sagte sie schließlich stockend.

»Ist das Licht an?«

»Nein.«

»Also, dann hören Sie jetzt bitte gut zu. Ich möchte, dass Sie das Licht anschalten.«

»Nein, ich traue mich nicht, mich zu bewegen.«

»Keine Angst, Ihnen passiert nichts, glauben Sie mir. Schalten Sie jetzt einfach das Licht an.«

»Ich kann nicht.«

»Doch, das können Sie. Los.«

Wenige Sekunden später kam die Antwort:

»Fertig.«

»Haben Sie das Licht angemacht?«

»Ja.«

»Sehen Sie, das war gar nicht so schwer. Sagen Sie, welche Farbe haben eigentlich die Wände der Toilette?«

»Was?«

»Ich hab gefragt, ob Sie mir sagen können, welche Farbe die Toilettenwände haben.«

»Weiß ich nicht.«

»Sehen Sie doch mal hin.«

»Beige.«

»Und sind sie gekachelt?«

»Ja.«

»Sind die Kacheln glatt?«

»Nein.«

»Haben sie ein Muster?«

»Ich weiß nicht … das könnten Blätter sein, oder kleine Vögel.«

»Norma, ein Blatt und ein Vogel sind zwei ganz verschiedene Dinge.« Trotz meiner Anspannung tat ich, als fände ich diesen Teil unserer Unterhaltung geradezu amüsant. »Dass Sie vor Angst ganz schön durcheinander sind, ist mir klar, aber ich nehme an, Sie können trotzdem noch Blätter und Vögel auseinanderhalten, oder?«

»Na gut, ich gebe mir Mühe. Aber werden Sie nicht böse.«

»Nein, natürlich nicht. Sie sollen mir bloß sagen, wie die Kacheln aussehen.«

So ging es eine ganze Weile weiter. An die genauen Worte erinnere ich mich nicht mehr, wichtig war aber ohnehin nur, dass Norma sprach, egal worüber. Mehrere Minuten später sagte ich zu ihr, sie solle bitte aufstehen und sich das Gesicht waschen. Allmählich beruhigte sie sich und sagte irgendwann, dass sie mich gerne sehen wolle. Von mir aus gerne, erwiderte ich, aber nur in meiner Praxis und dafür müsse sie die Toilette verlassen. Sie stimmte zu. Ich bat sie noch, ihre Kollegin an den Apparat holen, bevor sie sich auf den Weg machte.

»Verónica, könnten Sie Norma zu mir in die Praxis begleiten?«

»Ja, einverstanden. Ich glaube, man sollte sie jetzt nicht allein lassen.«

»Genau. Außerdem würde ich mich gerne persönlich bei Ihnen bedanken und mich entschuldigen.«

Schweigen.

»Hallo?«

»Ja, ich höre Sie.«

»Als wir vorhin telefoniert haben, hätten Sie mich am liebsten beschimpft, oder?«

»Ehrlich gesagt, ja.« Ich merkte, dass sie lächelte.

»Gut. Dann begleiten Sie Norma bitte hierher, und dann können Sie das mit dem Beschimpfen gerne nachholen …«

Hierauf traf ich eine wichtige Entscheidung: In Normas Fall würde ich mit einem Psychiater zusammenarbeiten. So etwas durfte Norma nicht noch einmal passieren, sie brauchte offensichtlich medikamentöse Unterstützung, die ich ihr nicht zukommen lassen konnte, denn als Psychologe darf ich selbst keine Arzneimittel verschreiben. Ich setzte mich also umgehend mit Doktor Carreiro in Verbindung, dem medizinischen Leiter meines Teams.

»Manuel, du musst dir unbedingt eine Patientin von mir ansehen.« Ich setzte ihm den Fall am Telefon auseinander, und wir einigten uns darauf, dass Norma sobald wie möglich zu ihm kommen solle. Manuel Carreiro war zudem nicht nur Psychiater, sondern hatte auch eine psychotherapeutische Ausbildung, weshalb er es gewohnt war, neben der rein medikamentösen Behandlung auch eine stärker gefühlsbetonte Beziehung zu seinen Patienten aufzubauen und diese ausführlich zu befragen und anzuhören. Aus all diesen Gründen kam ich mit ihm schnell zu einer Einigung. Nicht so einfach war es dagegen, Norma davon zu überzeugen, mit einem Psychiater zu sprechen.

Viele Patienten gehen bei dem bloßen Vorschlag, sich in die Praxis eines Psychiaters zu begeben, in Verteidigungsstellung. Sie fühlen sich dadurch als Verrückte abgestempelt und weigern sich, eine medikamentöse Behandlung in Betracht zu ziehen, weil sie sich nicht als krank ansehen.

»Norma, Sie werden nicht krank, weil Sie Medikamente nehmen – nicht die Medikamente machen Sie zur Kranken. Im Gegenteil, Medikamente können uns helfen, Ihre Krankheit besser in den Griff zu bekommen.«

Sie sah mich an.

»Es hilft nichts, Sie müssen es einfach akzeptieren: Sie sind krank, ob Sie nun Medikamente nehmen oder nicht. Und ich möchte, dass wir Ihre Probleme lösen können.«

»Glauben Sie wirklich, dass ich krank bin?«

Bei der Antwort musste ich vorsichtig sein. Für keinen Patienten ist es leicht hinzunehmen, dass er tatsächlich nicht gesund ist. Oft genug wird das Wort »krank« außerdem mit beleidigendem Unterton gebraucht. Ich musste mich also so behutsam wie möglich ausdrücken.

»Sie wissen, dass ich Psychoanalytiker bin, oder?«

»Ja.«

»Gut, und Psychoanalytiker kümmern sich um psychische Erkrankungen. Manche sind leichter, manche schwerer. Jetzt stellen Sie sich vor, Sie gehen zu einem Arzt. Vielleicht haben Sie Grippe, vielleicht bloß eine Erkältung, vielleicht auch Nierenschmerzen oder etwas noch viel Ernsteres. Auf jeden Fall sind Sie krank. Manche Ärzte werden sagen, Sie sollen sich ins Bett legen und sich ausruhen, andere werden Ihnen ein Antibiotikum verschreiben oder Sie für genauere Untersuchungen an einen Spezialisten überweisen. So ist es doch, nicht?«

»Ja.«

»Na gut, in Ihrem Fall ist es ähnlich: Manche Patienten sind einfach traurig oder voller Ärger oder deprimiert, andere dagegen, so wie Sie, können wegen ihrer Symptome ihren Alltag nicht mehr uneingeschränkt bewältigen. So geht es Ihnen doch, oder? Das, was Ihnen passiert, macht Ihnen das Leben ganz schön schwer, richtig?«

Sie nickte.

»Das, was Sie durchgemacht haben, muss ziemlich unangenehm gewesen sein, denke ich mir.«

Tiefes Schweigen.

»Es war schrecklich.«

»Erzählen Sie doch mal.«

»Die Tür aufzuschließen und aus der Toilette hinauszugehen – fast noch nie ist mir etwas so schwer gefallen. Ich habe gedacht, draußen stehen all die anderen und warten nur darauf, dass gleich ›die Verrückte‹ herauskommt. Ich habe zu Boden geblickt, ich wollte niemandem in die Augen sehen. Verónica hat meine Hand genommen, und ich habe den Arm um sie gelegt. So hat sie mich aus dem Büro geführt, bis zum Auto. Wissen Sie, was mich am meisten gewundert hat?«

»Nein.«

»Dass wir unterwegs niemandem begegnet sind, ganz anders als ich gedacht hatte.«

Ich sagte nichts. Das war eine gute Idee von Verónica gewesen: Sie hatte die anderen gebeten, in ihre Zimmer zurückzukehren, damit Norma in Ruhe das Büro verlassen konnte.

»Trotzdem, das mit den Medikamenten macht mir Angst.«

»Machen wir es doch so: Sie gehen zu Manuel in die Praxis, unterhalten sich mit ihm und hören sich an, was er zu sagen hat. Danach treffen wir uns wieder und sprechen weiter. Sie haben nichts zu verlieren. Im Gegenteil: Sie haben sich auf jeden Fall noch die Meinung von jemand anderem eingeholt. Keiner zwingt Sie, etwas zu tun, was Sie nicht möchten. Einverstanden?«

Wir sprachen noch eine Weile weiter, bis sie schließlich, wenn auch nicht gerade begeistert, zustimmte. Sie ging also in die Sprechstunde meines Kollegen Manuel, danach unterhielten wir uns wieder, und dann erklärte sie sich bereit, die vorgeschlagenen Medikamente einzunehmen. Bevor es losging, traf ich mich allerdings meinerseits noch einmal mit Manuel, um das weitere Vorgehen abzustimmen.

Am wichtigsten war es zu verhindern, dass es erneut zu einem Zusammenbruch wie dem im Büro kam. Wenn Norma ständig von der Furcht besetzt war, sie könne im nächsten Augenblick sterben, würde die ganze Analysearbeit wenig bringen. Insofern mussten zunächst einmal ihre Angstvorstellungen eingedämmt werden. Manuel hatte zu diesem Zweck ein leichtes Anxiolytikum ausgewählt, das man sich einfach auf die Zunge träufeln konnte. Das hatte den Vorteil, dass Norma, falls sie Anzeichen verspürte, dass der gefürchtete Zustand sich wieder einstellen wollte, ein rasch wirksames Gegenmittel zur Verfügung stand. Manchmal ist es wichtig, dem Patienten etwas an die Hand zu geben, was ihn beruhigt und ihm das Gefühl vermittelt, seinen Ängsten nicht wehrlos ausgeliefert zu sein. Von da an galt es, die Wirkung sorgfältig zu beobachten, denn es war zwar durchaus möglich, dass Norma keine weiteren Medikamente benötigte, andererseits war nicht auszuschließen, dass die Behandlung durch ein Antidepressivum ergänzt werden musste. Und das erwies sich in Normas Fall schließlich auch als notwendig. Was wiederum eine intensivere Zusammenarbeit mit meinem Psychiaterkollegen erforderlich machte. Denn gerade in den ersten drei, vier Wochen zeigt sich, ob ein Mittel in der gewünschten Weise anschlägt oder die Medikation angepasst werden muss.

Bei unserem nächsten Treffen sprach ich mit Norma darüber. Ich erklärte ihr, dass die Wirkung des Medikaments sich im Lauf der nächsten Wochen bemerkbar machen würde und sie mir alle Veränderungen, ob zum Guten oder zum Schlechten, mitteilen müsse.

»Sie stehen aber in Kontakt mit Manuel, oder?«, fragte Norma immer wieder.

Das Gefühl, dass ich mich um sie kümmerte und weiterhin die Behandlung anleitete, war für sie sehr wichtig.

»Natürlich«, sagte ich.

Ich musste ihr aber noch etwas anderes sagen, schließlich stellten die nun eingeleiteten Maßnahmen einen ernsthaften Eingriff dar, und das musste ich ihr klarmachen.

»Was ist los?«, fragte Norma, »Sie sehen so ernst aus.«

»Ich bin ein ernster Mensch, Norma«, sagte ich scherzend, um die Situation zu entspannen.

»Na gut, aber dann sagen Sie bitte, worum es geht.«

»Ich wollte Sie etwas fragen. Was würden Sie davon halten, sich eine Zeit lang beurlauben zu lassen?«

Schweigen.

»Urlaub aus psychischen Gründen, meinen Sie, oder?«

»Wenn Sie so wollen.«

Sie wurde unruhig.

»Ich muss aber arbeiten.«

»Das sollen Sie ja auch. Ich wollte nur vorschlagen, dass Sie eine Art Auszeit nehmen, bis die Krise vorüber ist.«

Sie sah mich wortlos an. Ich sprach weiter:

»So etwas ist im Arbeitsrecht durchaus vorgesehen. Sie sind nicht die erste und auch nicht die letzte Angestellte, die eine schwierige Zeit durchmacht und deshalb eine Weile freinehmen muss. Das ist so wie wenn …«

»Ich weiß – als würde ich mir den Blinddarm rausnehmen lassen.«

»Genau.«

»Trotzdem ist es nicht dasselbe. Wenn man nach einer Blinddarmoperation wiederkommt, sehen die Leute einen nicht so an, wie wenn man freigenommen hat, weil man durchgedreht ist.«

»Norma, Sie sind nicht durchgedreht.«

»Aber Sie sagen doch, ich kann jetzt nicht arbeiten, oder?«

»Das habe ich nicht gesagt, ich habe gesagt, es wäre gut, wenn Sie eine Weile aussetzen würden. Dass Sie überhaupt nicht arbeiten dürfen, habe ich nicht gesagt, so schlimm ist es nicht.«

Wichtig war, dass sie die Entscheidung mittragen konnte und sich nicht nur darauf einließ, weil ich es so sagte.

»Wenn Sie lieber weiterarbeiten möchten, nur zu. Ich wollte Ihnen bloß sagen – da das meine Pflicht ist –, was meiner Ansicht nach für Sie im Moment am besten wäre. Aber die Entscheidung treffen Sie alleine.«

Als Analytiker beeinflusse ich eigentlich nicht so konkret das Leben meiner Patienten. Doch in diesem Fall war es notwendig. Norma schwieg und sagte auch bis zum Ende der Sitzung – wir hatten noch eine ganze Weile Zeit – kein Wort mehr, genau wie ich.

Schließlich willigte sie ein, sich aus Gesundheitsgründen eine Weile beurlauben zu lassen. Das bewirkte bei ihr eine wichtige Veränderung: Sie schien deutlich entspannter, ja geradezu zufrieden. In der folgenden Zeit unterhielten wir uns ausführlich über ihre Vergangenheit.

Sie erzählte, dass sie mit sechzehn Estebans Freundin geworden war. Angefangen hatte es bei der Geburtstagsparty einer gemeinsamen Freundin. Sie waren auf der Terrasse, und irgendwann wurde so eine langsame Nummer aufgelegt. Als schließlich das Stück Muchacha, ojos de papel – Das Mädchen mit den Papieraugen – von Luis Alberto Spinetta erklang, hatte Esteban sie zum Tanzen aufgefordert.

Dass sie sich darauf einließ, mit ihm zu tanzen, bedeutete, dass er ihr gefiel. Und das wollte sie auch gar nicht mehr abstreiten. Alle wussten längst Bescheid, auch sie beide selbst.

Sie fingen also an zu tanzen. Sie lehnte den Kopf an seine Schulter, und er begann, mit ihren Haaren zu spielen. Als er merkte, dass sie offensichtlich nichts dagegen hatte, streichelte er ihren Hals. Sie konnte es kaum fassen, schließlich hatte sie schon so lange genau hiervon geträumt.

»Bloß jetzt nicht aufhören«, sagte sie sich. Und er hörte auch nicht auf.

Er nahm ihren Kopf zwischen die Hände, sah sie an, als wollte er sie um Erlaubnis bitten, und dann küsste er sie lange und innig.

»So ein tiefes Gefühl habe ich, glaube ich, nie wieder erlebt«, sagte Norma rückblickend.

Seit dem Abend waren sie unzertrennlich. Ihre Eltern wunderten sich nicht, sie hatten angeblich schon immer gewusst, dass die beiden »füreinander bestimmt« waren, weswegen sie die Verbindung auch unterstützten.

Ein Jahr später hatte Norma mit Esteban ihre erste sexuelle Erfahrung.

»Wie war das?«

»Schön, aber seltsam.«

»Was war daran seltsam?«

»Mich vor ihm auszuziehen. Das Gefühl, dass er mich nackt sah.«

Es fiel ihr schwer, darüber zu sprechen. Sie musste ihre Scham überwinden.

»Und ihn so zu sehen …« Sie lachte. »Es war alles sehr seltsam.«

»Aber Sie haben es offenbar sehr intensiv erlebt und genossen.«

»Ja, so war es. Er hatte etwas von einem Heiligen … auch wenn er ein wenig ungeschickt war.«

»Heilige sind beim Sex vielleicht auch wirklich nicht gerade die Geschicktesten, oder? Außerdem war es für ihn auch das erste Mal, haben Sie gesagt.«

»Ja. Er wusste nicht … Er fand zuerst nicht … Na ja, Sie verstehen schon.«

Ich nickte.

Normas Sexualleben hatte jedenfalls auf die denkbar beste Weise angefangen: Zusammen mit jemandem, der sie liebte, der zärtlich war, ein Partner, auf den sie sich verlassen konnte und der ihre Leidenschaft teilte. So nahm die Beziehung mit Esteban ihren Lauf, und bald danach, als beide neunzehn Jahre alt waren, beschlossen sie zu heiraten.

»Warum so früh?«, fragte ich.

»Esteban fühlte sich zu Hause nicht wohl. Sein Vater war ein ziemlich rücksichtsloser und selbstherrlicher Mensch, und seine Mutter lag fast die ganze Zeit mit Depressionen im Bett. Esteban liebte seine Mutter über alles, aber trotzdem hielt er es zu Hause nicht mehr aus.«

»Und Sie?«

»Ich … Meine Eltern waren ziemlich alt, sie waren als Bürgerkriegsflüchtlinge aus Spanien hierhergekommen. Besonders viel gesprochen haben sie mit mir nie. Ich habe Ihnen ja schon erzählt, dass ich für sie ein spätes Geschenk war. Geschwister habe ich keine. Es war alles irgendwie ziemlich merkwürdig.«

»Was meinen Sie mit merkwürdig?«

»Dass ich mich immer wieder mal gefragt habe, ob sie mich nicht in Wirklichkeit adoptiert hatten.«

»Haben Sie sie denn danach gefragt?«

»Niemals.« Sie sah mich entsetzt an. »Ihr Psychologen glaubt, man kann über alles reden. Aber es gibt bestimmte Themen, die sind zwischen Eltern und Kindern nur ganz schwer ansprechbar.«

»Dass es schwer ist, heißt nicht, dass es nicht geht.«

»Stimmt. Aber ich habe trotzdem nie mit ihnen darüber geredet.«

»Sie haben Ihre Zweifel also ihnen gegenüber nie angesprochen.«

»Nein. Ich habe mit ihnen aber sowieso kaum etwas geteilt, das war nicht das einzige Thema, worüber ich mit ihnen nicht reden konnte.«

»Und warum?«

»Wie gesagt, sie waren schon sehr alt und mit ihren Dingen beschäftigt. Mein Leben sollte ganz anders sein. Außerdem wollten wir …«

»Wer ist wir?«

»Esteban und ich, wir wollten … wir wollten die ganze Zeit zusammen sein, verstehen Sie?«

»Sie wollten also möglichst Ihre gesamte Zeit zusammen verbringen?«

»Nein.« Sie wurde rot. »Zusammen sein.«

»Ach so, Sie wollten die ganze Zeit vögeln, meinen Sie.«

Sie schlug die Hände vors Gesicht.

»Sagen Sie das nicht so …«