Trauerforschung: Basis für praktisches Handeln - Heidi Müller - E-Book

Trauerforschung: Basis für praktisches Handeln E-Book

Heidi Müller

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Beschreibung

Professionelle Angebote für Trauernde gibt es seit über drei Jahrzehnten. Viele Fachkräfte verfügen über einen großen Schatz an Erfahrungswissen in der Trauerbegleitung. Doch wie steht es um die Kenntnisse aus der Trauerforschung? Welche Faktoren wirken auf das Erleben posttraumatischen Wachstums ein? In welcher Weise sind Kinder bei der Verlustverarbeitung auf ihre Eltern angewiesen? Welche Funktionen könnte die Komplizierte Trauer in der modernen Gesellschaft haben? Verlustsituationen sind komplex. Verkürzte Darstellungen und vereinfachende Annahmen sind wenig hilfreich. Die Autorinnen stellen Kernthemen der Trauerforschung vor, damit Fachkräfte auf wissenschaftlich fundierter Basis Betroffene besser unterstützen können.

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EDITION Leidfaden

Hrsg. von Monika Müller

Die Buchreihe Edition Leidfaden ist Teil des Programmschwerpunkts »Trauerbegleitung« bei Vandenhoeck & Ruprecht, in dessen Zentrum seit 2012 die Zeitschrift »Leidfaden – Fachmagazin für Krisen, Leid, Trauer« steht. Die Edition bietet Grundlagen zu wichtigen Einzelthemen und Fragestellungen im (semi-)professionellen Umgang mit Trauernden.

Heidi Müller/Hildegard Willmann

Trauerforschung: Basis für praktisches Handeln

Unter Mitarbeit von Miriam Sitter

Mit einer Abbildung und 2 Tabellen

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG,Theaterstraße 13, D-37073 GöttingenAlle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Umschlagabbildung: Lia Metzger

Satz: SchwabScantechnik, GöttingenEPUB-Produktion: Lumina Datametics, Griesheim

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

ISSN 2198-2856ISBN 978-3-647-99957-9

Inhalt

Vorwort

1 Einführung

1.1 Die Situation in Deutschland

1.2 Die Themen

1.3 Literatur

2 Gestärkt aus Krisen hervorgehen: Persönliche Reifung

2.1 Ein Thema – viele Bezeichnungen

2.2 Persönliche Reifung: Was lässt sich darunter verstehen?

2.3 Faktoren, die die persönliche Reifung beeinflussen

2.4 Fünf Bereiche persönlicher Reifung

2.5 Persönliche Reifung: Häufig eine Frage des Sinns

2.6 Einordnung des Erlebens von persönlicher Reifung

2.7 Wichtig für Betroffene, das soziale Umfeld und Fachkräfte

2.8 Auf einen Blick

2.9 Literatur

3 Trauer oder Depression?

3.1 Wann liegt eine Depression vor?

3.2 Was unterscheidet Trauer und Depression?

3.3 Zwischen Depression und Trauer: Deprimiertheit

3.4 Wichtig für Betroffene

3.5 Wichtig für Fachkräfte

3.6 Auf einen Blick

3.7 Literatur

4 Komplizierte Trauer ist kompliziert

4.1 Begriffsfindung

4.2 Komplizierte Trauer – Definitionsversuch

4.3 Zur Unterscheidung von »normaler« und Komplizierter Trauer

4.4 Trauer im DSM-5 und in der ICD-11

4.5 Prävalenz

4.6 Risikofaktoren

4.7 Komplizierte Trauer aus soziologischer Perspektive

4.8 Auf einen Blick

4.9 Literatur

5 Wenn Kinder trauern – Elternschaft in sorgenvollen Zeiten

5.1 Der Einfluss der Familiendynamik auf die Trauer von Kindern und umgekehrt

5.2 Es gibt Risiko- und immer auch Schutzfaktoren

5.3 Den Eltern helfen, sich angemessen um sich selbst zu kümmern

5.4 Exkurs: Wann trauert ein Kind »kompliziert«?

5.5 Was können Fachkräfte Eltern für den Umgang mit trauernden Kindern mitgeben?

5.6 Auf einen Blick

5.7 Literatur

Danksagungen

Für Eckhard und Miguel Ángel (H. M.)Für Josef (H. W.)Für Irmhild (M. S.)They are still with us!

Vorwort

Viele meiner Kolleginnen und Kollegen im Bereich der nationalen wie auch internationalen Trauerforschung sind durch eigene Verluste auf das Thema Trauer aufmerksam geworden. Ich denke, ihnen geht es wie vielen Praktikern auch. Für sie ist es eine Herzensangelegenheit, Betroffene zu unterstützen. Ich beschäftige mich inzwischen seit vielen Jahren mit dem Thema Trauer, sowohl in der psychotherapeutischen Arbeit mit Patienten als auch im wissenschaftlichen Kontext.

Seit fast zehn Jahren bin ich im wissenschaftlichen Beirat des Bundesverbandes Verwaiste Eltern und trauernde Geschwister und durch diese Aufgabe wurde mir immer wieder deutlich, wie schwierig der Verlust eines Kindes oder eines Geschwisterteils sein kann und wie langwierig der Trauerprozess oftmals ist. Betroffene brauchen viel Zeit und Geduld, aber auch die Gesellschaft braucht diese Geduld im Umgang mit ihnen.

Doch das ist nicht das Einzige. Die wissenschaftlichen Ergebnisse zeigen, dass es insbesondere in der Arbeit mit Trauernden mehr bedarf, als ein empathisches »offenes« Ohr zu haben. Eine sorgfältige Diagnostik und Therapieplanung mit trauerspezifischen Therapiemodulen ist ein Muss. In dem Zusammenhang ist mir auch die Verbindung von Wissenschaft und Praxis ein wichtiges Anliegen. Denn es ist von besonderer Bedeutung, diejenigen zu identifizieren, die tatsächlich von einer Trauerintervention profitieren. Eine gestufte Versorgung, wie sie international aktuell diskutiert wird, wäre auch in Deutschland wünschenswert. So reicht vielen Betroffenen die Unterstützung von Familie und Freunden aus. Personen mit einem höheren Risiko könnten hingegen von einer professionellen Trauerbegleitung/-beratung profitieren. Betroffene, bei denen sich Symptome einer trauerspezifischen Störung zeigen, sind hingegen auf spezifische Therapieangebote angewiesen.

Leider findet auch heutzutage der Austausch der Wissenschaftler und der Praktiker in Form von Fachtagungen und Weiterqualifikationen getrennt voneinander statt. Von gemeinsamen Tagungen und Workshops könnten meiner Ansicht nach beide Seiten erheblich profitieren. Umso erfreulicher ist es zu sehen, dass in der Weiterbildung zum Trauerbegleiter oder -berater wesentlich häufiger Erkenntnisse aus der Wissenschaft und aus Studien vermittelt werden. Projekte wie das Newsletter-Projekt »Trauerforschung im Fokus« oder Bücher wie das hier vorliegende haben großen Anteil daran. Denn obwohl der Prozess des Wissenstransfers ebenso langsam verläuft wie viele Trauerprozesse, ist diese Entwicklung wünschenswert. Denn nur dadurch steht unser Handeln auf einer gesicherten Grundlage. Und davon profitieren am Ende diejenigen, um die es uns allen gemeinsam geht, die Betroffenen.

Prof. Dr. Birgit Wagner, Medical School Berlin

1 Einführung

Im November 2019 durfte ich (Heidi Müller) zwei Aufsätze einer Schülerin der fünften Klasse lesen. Geschrieben wurden sie im Schulfach Ethik. Die Klasse setzte sich zu dem Zeitpunkt mit dem Thema Ehrlichkeit auseinander. Die Aufgabe des Lehrers lautete, eine Geschichte aus einer ganz anderen Welt zu erzählen, in der Ehrlichkeit oder auch Lügen eine zentrale Rolle spielen.

Die Schülerin berichtete in ihrem ersten Aufsatz von einem Mädchen namens Lisa, das zehn Jahre alt ist. Lisa lebt in einer Welt, in der alle erkennen können, wenn jemand lügt, denn der Lügner läuft automatisch rot an. Wenn Lisa also mal etwas anstellt und dabei erwischt wird, muss sie die Wahrheit sagen. Leugnen bringt ihr gar nichts, denn sie würde ja rot werden. Auch wenn Lisa es nicht gut findet, immer die Wahrheit sagen zu müssen, so erkennt sie positiv an, dass es in ihrer Welt keine Verbrechen gibt, denn die Täter würden sofort erwischt werden. Sie würde aber trotzdem gern in einer anderen Welt leben, denn ihre eigene findet sie extrem langweilig, weil nie etwas passiert.

Ob Lisa in der »Lügenwelt« leben wollte, darüber schreibt die Schülerin nichts. Doch in ihrem zweiten Aufsatz erzählt sie von Tom, auch zehn Jahre alt, der darin lebt. In dieser Welt lügt jeder Mensch, wenn es ihm nützt. Tom selbst hat auch schon oft gelogen. Zum Beispiel hat er seiner Mutter gesagt, dass sie Süßigkeiten kaufen müsse, weil sie keine mehr zu Hause hätten. Das war eine Lüge. Aber Tom wollte unbedingt neue Süßigkeiten haben. Obwohl ihm diese Lüge genützt hat, würde auch er gern in einer anderen Welt leben. Denn in der Lügenwelt hat niemand Freunde. Es gibt auch keine Gemeinschaft mehr, weil keiner dem anderen vertraut. Das findet Tom schlimm, er fühlt sich sehr einsam.

Nachdem ich die Aufsätze gelesen hatte, fragte ich die Schülerin: »In welcher Welt würdest du leben wollen?« Sie antwortete, dass sie in keiner der beiden Welten leben wolle. »Jeder Mensch braucht Freunde«, erklärte sie, »und eine Lüge ist auch mal ganz hilfreich, denn die Wahrheit kann andere ja auch verletzen.« Dann lachte sie, schüttelte den Kopf und belehrte mich: »Heidi, so einfach ist das alles nicht. Es gibt nicht nur schwarz und weiß.«

Zwei Seiten einer Medaille: Die Belehrung der Schülerin fand ich sehr beeindruckend. Insbesondere, da sie in eine Zeit fällt, in der leider allzu häufig dichotom gedacht wird, also in vielen Bereichen der Gesellschaft vereinfachende Einteilungen in like– dislike, krank–gesund, Gewinner–Verlierer, eben schwarz und weiß vorgenommen werden. Dieser Trend macht auch vor dem Tätigkeitsbereich »Trauer«1 nicht Halt.

Ich erinnere mich noch gut an ein Meeting, an dem ich vor einiger Zeit teilnahm. Nachdem ich mich vorgestellt hatte, wurde ausdrücklich begrüßt, dass ich nicht nur als Wissenschaftlerin, sondern auch als Trauerberaterin2 tätig sei. Denn es gebe so viele Wissenschaftler3 im Bereich der Trauerforschung, die keine praktische Erfahrung hätten.

Ob diese Behauptung so richtig ist, vermag ich nicht zu beurteilen. Ich persönlich kenne sehr viele Wissenschaftler mit Praxiserfahrung. Doch wie es sich insgesamt gesehen verhält, ist mir nicht bekannt. Allerdings habe ich mir mit einem Schmunzeln damals verkniffen zu fragen, wer der vielen Praktiker4 im Raum eigentlich Erfahrung in der Wissenschaft hat oder zumindest ein Interesse daran. Denn konsequenterweise ist es ja nicht nur wünschenswert, dass Wissenschaftler praktische Erfahrung, sondern auch Praktiker zumindest wissenschaftliches Interesse mitbringen.

Forschung und Praxis werden allzu oft als gegensätzliches Paar gesehen. Eine solche Betrachtungsweise ließe sich auch als vereinfachendes Schwarz-Weiß-Denken bezeichnen. Dabei stellen Erfahrungswissen und wissenschaftliche Erkenntnisse vielmehr zwei Seiten einer Medaille dar, die sich ergänzen. So können etwa Beispiele aus der Praxis in wunderbarer Weise abstrakte Ideen anschaulich machen. Umgekehrt ermöglicht die Forschung erst ein tiefgehendes und umfängliches Verständnis. Das wusste auch schon Kant, als er schrieb: »Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind« (Kant, 1996, S. 98).

1.1 Die Situation in Deutschland

Die Deutsche Nationalbibliothek erhebt für sich den Anspruch, unter anderem alle Bücher lückenlos vorliegen zu haben, die seit 1913 in deutscher Sprache erschienen sind. Die Einrichtung dient quasi als nationales Gedächtnis (Deutsche Nationalbibliothek, 2019). Ein Blick in die dort vorhandene deutschsprachige Trauerliteratur zeigt, dass sich unter den mehr als 6.700 Literaturangaben5 kaum ernstzunehmende Fachbücher befinden, sondern vielmehr (auto-)biografische Werke, Ratgeber und populärwissenschaftliche Abhandlungen, die selten den Ansprüchen einer wissenschaftlichen Arbeit genügen. Zudem findet in Deutschland kaum systematische und langfristige Trauerforschung statt (Wittkowski, 2013). Eine Untersuchung aktueller Lehrbücher für Studierende des Fachbereichs Medizin und Psychologie legt zudem nahe, dass der Wissensstand in den Büchern stark veraltet ist (Corr, 2019). Dies lässt den Schluss zu, dass der Trauerdiskurs wenig aktuelle Erkenntnisse beinhaltet und überwiegend durch Erfahrungswissen geprägt ist. Der bereichernde Forschungsanteil fehlt. Diese Schieflage hat weitreichende Folgen, vor allem für die Allgemeinbevölkerung.

So sind es überwiegend Fachkräfte, die Spezialwissen in den allgemeinen Diskurs einbringen (z. B. über Seminare, Interviews) und damit großen Einfluss darauf haben, über welchen Wissensstand eine Gesellschaft verfügt (Walter, 1999). Verfügen die Fachkräfte aber nur über unzureichende Kenntnisse, dann kommt es immer wieder zu vereinfachenden und verkürzten Darstellungen und Annahmen, die aber der komplexen Situation der Betroffenen kaum gerecht werden und wenig hilfreich sind.

Im Sinne der Betroffenen bleibt zu hoffen, dass sich diese Gesamtsituation zukünftig ändern wird. Dass dies schnell geschieht, ist kaum zu erwarten. Aus diesem Grund ist es umso wichtiger, dass sich Fachkräfte mit den Erkenntnissen der internationalen Trauerforschung vertraut machen. Möglich ist das über Fachzeitschriften wie »Death Studies«, »OMEGA – Journal of Death and Dying«, »Mortality« oder auch Bücher wie das hier vorliegende und Projekte wie den Newsletter »Trauerforschung im Fokus«6. Fachkräfte tun gut daran, sich ihrer gesellschaftlichen Verantwortung bewusst zu werden und auch ganz konkret trauerspezifische Forschung einzufordern. Erfreulich ist derzeit, dass sich diese Erkenntnis bei vielen Fachkräften immer stärker durchzusetzen scheint und die Neugierde in Richtung Trauerforschung zunimmt.

1.2 Die Themen

Es gibt zahlreiche trauerspezifische Themen, die es wert sind, in einem Buch erläutert zu werden, vor allem, wenn es wie in dieser Publikation darum geht, Praxis und Forschung zusammenzubringen. Wir haben uns für die folgenden vier Themen entschieden, weil Fachkräfte immer wieder damit konfrontiert werden und sie somit hohe praktische Relevanz haben.

In Krisensituationen geraten häufig die negativen Folgen in den Fokus von Praxis und Forschung. Doch einige Betroffene können für sich auch langanhaltende positive Einsichten gewinnen. Diese positiven Veränderungen werden unter dem Stichwort »Posttraumtisches Wachstum« zusammengefasst oder, wie wir es nennen, »Persönliche Reifung infolge einer Verlusterfahrung«. Dieses Thema betrachten wir im zweiten Kapitel unseres Buches. Dabei ist es uns vor allem ein Anliegen, deutlich zu machen, dass Betroffene unter Voraussetzung gewisser Umstände eine derartige Erfahrung machen können, diese Erfahrung aber nicht automatisch eintreten muss. Keinesfalls eignet sich die Idee posttraumatischen Wachstums als Ziel von verlustspezifischen Verarbeitungsprozessen.

Im dritten Kapitel geht es um die Frage, wie Trauer und Depression voneinander unterschieden werden können. Auf den ersten Blick scheinen beide Phänomene zum Verwechseln ähnlich zu sein. Doch ein genauerer Blick macht eine Differenzierung möglich. Eine sorgfältige Unterscheidung von Trauer und Depression ist in vielfacher Hinsicht sehr bedeutsam. Denn eine irrtümlich gestellte Diagnose kann gravierende Folgen für Betroffene haben. Sind Hinterbliebene fälschlicherweise mit der Diagnose »Depression« konfrontiert, kann das etwa zur Einnahme von Psychopharmaka mit fraglicher Wirkung und entsprechenden Nebenwirkungen führen. Auch kann die Fehldiagnose Reaktionsweisen bei den Betroffenen hervorrufen, die paradoxerweise die Entwicklung einer Depression fördern. Doch auch Trauernde, die nach einem Verlust an einer Depression erkranken, müssen sichergehen können, dass sie nicht als »Normal«-Trauernde eingestuft werden. Denn Studien zeigen, dass depressive Störungen eine starke Tendenz zur Chronifizierung entwickeln können.

Offensichtlich hinterlässt jede durchlebte depressive Episode tiefe Spuren im menschlichen System, die dazu führen, dass mit jeder durchlittenen depressiven Episode ein erneutes Erkranken wahrscheinlicher wird (Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde [DGPPN] et al., 2015; Wittchen, Jacobi, Klose u. Ryl, 2010). Frühe und angemessene Hilfe scheint vor diesem Hintergrund besonders bedeutsam zu sein und damit einhergehend auch eine zuverlässige Differenzierung zwischen Trauer und Depression.

Kapitel vier handelt von »Komplizierter Trauer«. Aktuell ist diese eines der zentralen Themen, die sowohl von Wissenschaftlern als auch Praktikern diskutiert werden. Auffällig ist dabei jedoch die einseitige Betrachtungsweise. So steht immer wieder die medizinisch-psychologische Perspektive und damit vor allem die Grenzziehung zwischen »normal« und »störungswertig« im Vordergrund, mit fraglichen Auswirkungen.

Grundlegend stellt sich die Frage, ob es ausreicht, klinisch auffällige Trauerverläufe als überwiegend individuelles, innerpsychisches Problem zu betrachten. Wir stellen zu Beginn des Kapitels zentrale Inhalte und aktuelle Entwicklungen aus medizinisch-psychologischer Perspektive vor. Anschließend laden wir Praktiker dazu ein, Komplizierte Trauer aus soziologischer Perspektive zu betrachten und damit die Grundlagen beziehungsweise Grundannahmen ihrer Tätigkeit zu überdenken und gegebenenfalls Änderungen vorzunehmen.

Verluste betreffen alle Altersgruppen. Doch wenn Kinder betroffen sind, stellt dies häufig eine Herausforderung für Eltern und andere erwachsene Bezugspersonen dar. Viele fühlen sich in dieser Situation hilflos und überfordert. Eine häufig zu beobachtende Reaktion ist ihr Versuch, die Kinder vor den Themen Sterben, Tod und Trauer zu schützen, indem sie möglichst wenig Berührung damit zulassen. Nichtsdestotrotz sind Kinder von Verlusten betroffen. So erleben in den westlichen Industrienationen etwa 3 bis 4 Prozent aller Kinder den Verlust eines Elternteils (Guldin et al., 2015). Da Annahmen zufolge 20 Prozent der Kinder ein bis zwei Jahre nach dem Verlust gesundheitliche Probleme zeigen (Cipriano u. Cipriano, 2019), sind die Sorgen der hinterbliebenen Elternteile entsprechend groß. Nicht zuletzt aus diesem Grund haben sich auch in Deutschland Fachkräfte darauf spezialisiert, Familien in Verlustsituationen zu unterstützen.

Auffällig ist dabei, dass gezielte Angebote für hinterbliebene Elternteile beziehungsweise erwachsene Bezugspersonen oftmals fehlen. Meist richten sich die Hilfsangebote ausschließlich an die Kinder. In der deutschsprachigen Literatur ist diese einseitige Priorisierung ebenfalls zu beobachten. Das ist erstaunlich, denn Studien weisen darauf hin, dass der Unterstützung der Eltern Priorität einzuräumen ist. Aus diesem Grund widmen wir uns im abschließenden fünften Kapitel dem Thema »Elternschaft in sorgenvollen Zeiten«. Dabei gehen wir insbesondere auf die Wechselwirkungen zwischen hinterbliebenem Elternteil und Kind ein und stellen Ansätze zur gezielten Unterstützung der hinterbliebenen Elternteile beziehungsweise erwachsener Bezugspersonen vor. Denn stabile Erwachsene sind die beste Hilfe für Kinder.

Wir wünschen eine spannende Lektüre!

1.3 Literatur

Cipriano, D. J., Cipriano, M. R. (2019). Factors underlying the relationship between parent and child grief. In OMEGA – Journal of Death and Dying, 80 (1), 120–136.

Corr, C. (2019). Elisabeth Kübler-Ross and the »Five Stages« Model in a sampling of recent textbooks published in ten countries outside the USA. https://doi.org/10.1177/0030222819840476 (Zugriff am 07.04.2020).

Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) et al. (2015). S3-Leitlinie/Nationale VersorgungsLeitlinie Unipolare Depression – Langfassung. https://www.dgppn.de/_Resources/Persistent/d689bf8322a5bf507bcc546eb9d61ca566527f2f/S3-NVL_depression-2aufl-vers5-lang.pdf (Zugriff am 15.01.2020).

Deutsche Nationalbibliothek (2019). Die Deutsche Nationalbibliothek im Porträt. https://www.dnb.de/DE/Ueber-uns/Portraet/portraet_node.html (Zugriff am 13.11.2019).

Guldin, M. B., Li, J., Pedersen, H. S., Obel, C., Agerbo, E., Gissler, M., Cnattinglus, S., Olsen, J., Vestergaard, M. (2015). Incidence of suicide among persons who had a parent who died during their childhood: A populations-based cohort study. In JAMA Psychiatry, 72 (12),1227–1234.

Harris, D. L. (Ed.) (2020). Non-Death Loss. Context and clinical implications. New York, Abingdon (Oxon): Routledge.

Kant, I. (1996). Kritik der reinen Vernunft. In: Kant, I. Werkausgabe in 12 Bänden. Hrsg. von W. Weischedel. Bd. 3. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Walter, T. (1999). On bereavement: The culture of grief. Buckingham: Open University Press.

Wittchen, H.-U., Jacobi, F., Klose, M., Ryl, L. (2010). Gesundheitsberichterstattung des Bundes. https://www.rki.de/DE/Content/Gesundheitsmonitoring/Gesundheitsberichterstattung/GBEDownloadsT/depression.pdf?__blob=publicationFile (Zugriff am 31.10.2019).

Wittkowski, J. (2010). Trauer – psychologisch. In H. Wittwer, D. Schäfer, A. Frewer (Hrsg.), Sterben und Tod. Ein interdisziplinäres Handbuch (S. 197–202), Stuttgart/Weimar: J. B. Metzler.

Wittkowski, J. (2013). WüTi. Würzburger Trauerinventar. Mehrdimensionale Erfassung des Verlusterlebens. Göttingen: Hogrefe.

1In Anlehnung an Wittkowski (2010) verstehen wir in diesem Buch unter dem Begriff »Trauer« den Anpassungsprozess der Hinterbliebenen an die neue, veränderte Lebenssituation ohne die verstorbene Person – wohl wissend, dass Menschen auch Verluste erleiden können, die nicht im Zusammenhang mit dem Tod stehen (Harris, 2020).

2Wir verwenden aus Gründen der Lesbarkeit die Begriffe »Trauerberater« und »Trauerbegleiter« synonym, obwohl uns bewusst ist, dass es inhaltliche Unterschiede gibt. Doch diese Unterscheidung ist für den Text von nachrangiger Bedeutung.Die Begriffe »Trauertherapeut« und »Trauertherapie« verwenden wir nicht, da sie irreführende Vorstellungen hervorrufen können. Sie suggerieren eine Form von Qualifizierung, die an jene eines psychologischen Psychotherapeuten erinnern mag, doch so nicht gegeben ist. Da es sich bei allen Begriffen (Trauerberater, Trauerbegleiter, Trauertherapeut) in Deutschland gleichermaßen um ungeschützte Bezeichnungen handelt, denen keine Qualitätsmerkmale zugewiesen sind, sehen wir keinen Sinn darin, diese Unterscheidung zu treffen und eine irreführende Vorstellung zu fördern. Des Weiteren halten wir es für wichtig, dass die Betroffenen, die etwa unter Depressionen, Angststörungen, einer Posttraumatischen Belastungsstörung oder auch einer Prolonged Grief Disorder (mehr dazu in Kapitel 4) leiden, nur von ärztlichen oder psychologischen Psychotherapeuten behandelt werden.

3Wir verwenden, wenn nicht ausdrücklich anders benannt, aus Gründen der Lesbarkeit nur die männliche Form der Bezeichnung. Sprechen wir von einer gemischtgeschlechtlichen Gruppe dient auch nur das Maskulinum als Basis für den Plural.

4Wir verwenden den Begriff »Praktiker« alternativ zu dem Begriff »Fachkraft«. Unter einer Fachkraft verstehen wir alle Berufsgruppen, die Umgang mit Menschen haben, die einen Verlust erlitten haben.

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