Trauernden Jugendlichen zuhören - Miriam Haagen - E-Book

Trauernden Jugendlichen zuhören E-Book

Miriam Haagen

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Beschreibung

Gespräche mit Jugendlichen sind herausfordernd. Insbesondere beklagen Mitarbeiter:innen von Beratungsstellen, dass Jugendliche schwerer für ihre Angebote zu interessieren sind als Kinder. Nach einer Einführung in die psychische Entwicklung von Jugendlichen, bei denen ein Elternteil gestorben ist, geben die Autorinnen Einblicke in deren Erleben. Basierend auf Interviews wird bei dem vorgestellten innovativen Ansatz der Gesprächsanalyse der Fokus darauf gerichtet, wie miteinander gesprochen wird, nicht wie bei inhaltsanalytischen oder biografischen Ansätzen, die sich mit dem Was von Gesprächen befassen. Die Psychotherapeutin Miriam Haagen und die Linguistin Heike Knerich schulen anhand von beispielhaften wortgetreuen Äußerungen trauernder Jugendlicher das Beobachten von interaktiver Gesprächsstrukturierung und leiten daraus Anregungen für die beraterische Praxis ab. Es wird deutlich, wie gewinnbringend dieses Vorgehen für die Begleitungsarbeit mit Jugendlichen ist.

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EDITION Leidfaden

Hrsg. von Monika Müller, Petra Rechenberg-Winter, Katharina Kautzsch, Michael Clausing

 

Die Buchreihe Edition Leidfaden – Begleiten bei Krisen, Leid, Trauer ist Teil des Programmschwerpunkts »Trauerbegleitung« bei Vandenhoeck & Ruprecht, in dessen Zentrum seit 2012 die Zeitschrift »Leidfaden – Fachmagazin für Krisen, Leid, Trauer« steht. Die Edition bietet Grundlagen zu wichtigen Einzelthemen und Fragestellungen im (semi-)professionellen Umgang mit Trauernden.

Miriam Haagen / Heike Knerich

Trauernden Jugendlichen zuhören

Anregungen aus der Gesprächsanalyse

Unter Mitarbeit von Justine Kohl

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.

© 2022 Vandenhoeck & Ruprecht, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe

(Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich)

Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Umschlagabbildung: Gloria Garrels

Satz: SchwabScantechnik, GöttingenEPUB-Produktion: Lumina Datametics, Griesheim

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

ISSN 2198-2856

ISBN 978-3-647-99408-6

Inhalt

Vorwort

Einführung

1 Theoretischer Hintergrund

1.1 Wegen Umbau geschlossen: Herausforderungen des Jugendalters

1.2 Wie erleben Jugendliche den Verlust einer Bindungsperson?

Was verstehen wir unter Trauer?

Trauerreaktionen von Jugendlichen

Hilfreiche Haltungen in Gesprächen mit Jugendlichen nach Verlust

Exkurs: Verwaiste Kinderbuchhelden

Studien zu den Folgen von Elternverlust im Jugendalter

1.3 Erzählen und Bewältigen

1.4 Einführung in die linguistische Gesprächsanalyse

Gespräche im Wortlaut genau betrachten: Wozu brauchen wir Transkripte?

Erzählungen von Jugendlichen im Kontext existenzieller Erfahrungen

2 Forschungspraxis: Ausgewählte Ergebnisse

2.1 Vorstellung der interviewten Jugendlichen

2.2 Der Gesprächseinstieg

Eine Beziehung aufbauen in der Vorbereitungsphase

Förderliche Aspekte in der Eröffnungs- und Übergangsphase

2.3 Zuhören und Reagieren

2.4 Agency

2.5 Erzählen und Berichten

Formen der narrativen Darstellung

Aktualisierung und Distanzierung

3 Abschließende Überlegungen: Anregungen für Gespräche mit Jugendlichen

Danksagung

Literatur

Transkriptionskonventionen GAT 2

Vorwort

Trauernden Jugendlichen zuhören ist in doppelter Hinsicht ein besonderes Buch: Zum einen kommen hier die Jugendlichen selbst zu Wort und erzählen spontan im Gespräch von ihrem Verlust, zum anderen werden ihre Erzählungen so dokumentiert und aufgearbeitet, dass eine ganz genaue und sehr differenzierte Beschäftigung auch mit sonst oft unbeachteten Einzelheiten möglich wird – darin liegen die Anregungen aus der Gesprächsanalyse. Die Autorinnen verbinden in sehr gelungener und überzeugender Weise zwei verschiedene disziplinäre Perspektiven: eine psychotherapeutische und eine gesprächsanalytische.

Andere Untersuchungen zu klinischen Themen der Psychotherapie stützen sich oft auf Fallberichte und Vignetten, die von den behandelnden Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten in Gedächtnisprotokollen festgehalten und im Nachhinein zu theoretisch gesättigten Erzählungen kondensiert werden. Der auf der Hand liegende Nachteil dieser Art der Wissensgenerierung besteht darin, dass die »Datenbasis« nur in der Erinnerung der beiden am therapeutischen Dialog beteiligten Interaktionspartner gegeben ist. Diese Art der »Datenbasis« kann von Außenstehenden schlechterdings nicht mehr nachvollzogen werden und sie ist auch anfällig für alle der von Schacter (1999) genannten sieben Todsünden des Gedächtnisses, zu denen nicht nur die Verdrängung, sondern auch das normale Vergessen gehört.

Eines der wegweisenden Merkmale dieses Bandes ist deswegen, dass hier eine andere, wissenschaftlichere Vorgehensweise gewählt wurde. Sie besteht darin, narrativ orientierte Interviews, die nach definierten Regeln erhoben wurden, zu transkribieren und diese Transkripte mit Hilfe einer spezifischen Methode, der linguistischen Gesprächsforschung, zu analysieren. Durch die Untersuchung der Erzählungen der von Verlusterfahrungen betroffenen Jugendlichen öffnet sich so ein Fenster, das dem Leser, der Leserin detaillierte Einblicke in die Verarbeitungsprozesse der Verlusterfahrung der betroffenen Jugendlichen vermittelt.

Mit dem Thema der Trauer bei Jugendlichen, die einen Verlust erlebt haben, betreten die Autorinnen zugleich ein wichtiges und lange vernachlässigtes klinisches Feld. Während Trauer und Verlust in ihren vielseitigen psychischen und psychosomatischen Aspekten im Erwachsenenalter extensiv untersucht worden sind, ist das Thema bezogen auf die hier im Zentrum stehende Altersgruppe der Jugendlichen zwischen 14 und 18 Jahren noch relativ wenig erforscht. Die Autorinnen weisen zu Recht darauf hin, dass gerade in dieser Altersspanne durch die besonderen Entwicklungsaufgaben der Adoleszenz, die in der sukzessiven Lösung von den Eltern, der Ausbildung einer sozialen Identität und der Integration der Geschlechtlichkeit bestehen, die Vulnerabilität ohnehin hoch ist. Zusätzlich ist die Bereitschaft und wohl auch die Fähigkeit, die mit der Verlusterfahrung verbundenen schmerzlichen Emotionen auszudrücken und mit anderen zu teilen, in der Regel geringer ausgeprägt als im Erwachsenenalter.

Umso bemerkenswerter ist es, dass es den Autorinnen gelungen ist, eine Gruppe von Jugendlichen zu Interviews einzuladen und sie durch eine Haltung der Offenheit und der Resonanz anzuregen, von ihren Verlusterfahrungen zu erzählen.

Die aus diesen Gesprächen erstellten Transkripte werden detaillierten Einzelfallanalysen unterzogen, deren Ergebnisse anhand von Beispielen unter verschiedenen thematischen Aspekten zusammengefasst werden. So erfährt man beispielsweise, wie die Beteiligten den Gesprächseinstieg gestalten, wie Zuhören deutlich gemacht wird, wie sie sich als handelnde oder eher passiv erleidende Personen darstellen oder welche Formen des Berichtens oder Erzählens sie wählen. Im Unterschied zu Fragebögen oder standardisierten Interviews, in denen durch vorbereitete Fragen Relevanzen festgelegt werden, können beim spontanen Erzählen die Erzählenden – in diesem Fall also die Jugendlichen – deutlich machen, was für sie relevant ist. Das ist oft an Einzelheiten im Transkript zu erkennen, die leicht übersehen oder überhört werden, aber von großer Bedeutung sein können. Dazu gehören Verzögerungen, Pausen, Versprecher, Selbstkorrekturen oder Abbrüche und Neuansätze ebenso wie Wortwahl, Metaphern, Stilmittel der Redewiedergabe oder das Detaillieren bzw. Kondensieren an bestimmten Stellen. Auch die Sprechweise, Betonungen, Veränderungen in der Lautstärke oder im Sprechtempo sind im Transkript vermerkt und werden in die Analyse einbezogen, ebenso das Auslassen oder Verschweigen von Einzelheiten. Aufseiten der Gesprächspartnerinnen und -partner geht es darum, sehr genau zuzuhören und zu beobachten.

Die Autorinnen betonen also zu Recht, dass der Fokus ihrer Untersuchungen nicht so sehr auf dem Inhalt oder dem Was der Erzählungen liegt, sondern mindestens ebenso sehr auf dem Wie, das heißt den Formen der sprachlichen Gestaltung. Die Auffassung, dass das Gespräch immer ein Prozess ist, an dem beide Gesprächsteilnehmende beteiligt sind, lenkt die Aufmerksamkeit auf die Aktivitäten der Interviewerinnen und die Art und Weise, wie sie durch ihre Einlassungen und Äußerungen zur Ko-Konstruktion der Erzählungen beitragen.

Über Einzelfälle hinaus haben die Analysen einen exemplarischen Charakter: Sie zeigen, was das Erzählen in solchen krisenhaften Situationen leisten kann. Die Chance, dass das Erzählen zu einer Bewältigung und Verarbeitung der Verlusterfahrung führt, kann durch die Art des aktiven Zuhörens verbessert werden. Darin liegt unter anderem die praktische Bedeutung dieser Forschung. Die Analyse der Transkripte lässt sehr genau erkennen, durch welche Form der Gesprächsführung die Jugendlichen sich am ehesten anregen lassen, über ihre schmerzlichen Erfahrungen zu sprechen.

So schließt das Buch gleich mehrfache Wissenslücken: Es zeigt zum einen – und dies ist vielleicht der grundlegendste Beitrag –, wie interdisziplinäre Forschung an der Schnittstelle zwischen Psychotherapie und Gesprächsforschung funktionieren kann und welcher Erkenntnisgewinn dadurch auch für die Praxis generiert wird. Zum anderen, und das ist vor allem der Nutzen für die klinisch-psychotherapeutische Arbeit, lernen wir etwas über die individuellen Unterschiede in der Verarbeitung des Verlustes bei den Jugendlichen, die sich in den Interviews zeigen. Und schließlich lassen sich daraus wichtige Hinweise ableiten, die Gespräche so zu führen, dass die narrative Bewältigung gefördert wird.

Aus diesen Gründen ist das Buch für einen breiten Adressatenkreis von Interesse. Dazu gehören alle diejenigen, die sich in Beratungsstellen, Praxen und Institutionen mit der Unterstützung und Therapie von Jugendlichen befassen. Aber das Buch ist auch für Linguistinnen und Gesprächsforscher lesenswert, denn es zeigt, wie ertragreich und fruchtbar eine an Einzelfällen orientierte qualitative Forschung auf der Grundlage sorgfältiger Gesprächsanalysen für einen spezifischen Kontext sein kann. Es ist ein ermutigendes Beispiel interdisziplinärer Kooperation.

Elisabeth Gülich und Carl E. Scheidt

Einführung

Seit über zwanzig Jahren begleite ich, Miriam Haagen, als ärztliche Psychotherapeutin für Kinder, Jugendliche und Erwachsene Menschen, die den Verlust eines nahen Angehörigen in Kindheit oder Jugend erlebt haben. Das sind zum einen Jugendliche, die einen Elternteil oder ein Geschwister verloren haben, und zum anderen Eltern, die einen Elternverlust in ihrer Kindheit oder Jugend erlebten, wie auch Eltern, die den Verlust eines Kindes zu verkraften haben und sich dadurch in ihren Möglichkeiten, auf die Gefühle ihrer Kinder einzugehen, beeinträchtigt fühlen. Ungelöste Themen der Trauer führten zu den verschiedensten Symptombildungen, die sie dann auf die Suche nach einer Psychotherapie gebracht haben. Häufig bestand ein erheblicher Druck seitens der Patientinnen und Patienten1, diese Symptome aufzulösen. Dieser Druck prägte die psychotherapeutischen Erstgespräche.

Die Jugendzeit (Adoleszenz) und Trauerprozesse haben unter psychodynamischen Gesichtspunkten einiges gemeinsam, sodass ein Verlust durch Tod in der Jugend einen »double dose«-Effekt (Keenan, 2014, S. 21) haben kann. Die Unfähigkeit, in einen gesundenden Trauerprozess einzutreten, kann daher im Jugendalter besonders ausgeprägt sein und die Betroffenen für ihr ganzes Leben verletzlicher machen.

Mich interessierte, wie Jugendliche, die häufig nicht selbst motiviert in meine Praxis kamen, in einem anderen Rahmen über ihren Verlust sprechen würden und ob sie Hinweise geben könnten, was sie eigentlich bräuchten. Die existierenden Beratungs- und Begleitungsangebote für Jugendliche sind in der Regel nicht an internationalen Forschungsergebnissen zu Verlustreaktionen und inneren Trauerprozessen von Jugendlichen orientiert (Keenan, 2014).

Jugendliche sind nicht immer leicht mit Hilfsangeboten zu erreichen. Manche gut überlegten Angebote für Jugendliche mit Verlusterlebnissen werden nicht oder kaum angenommen. Woran mag das liegen? Was brauchen sie, bevor sich krankheitswertige Symptome entwickeln? Aus dieser Fragestellung entstand die Idee zu der hier beschriebenen Interviewstudie.

Der Begriff »Trauer« wird unterschiedlich verwendet, und erst im weiteren Kontext wird deutlich, was genau er bezeichnen soll. Es wird damit der emotionale Ausdruck, der auf einen Verlust folgt, ebenso beschrieben wie die gesellschaftliche Rolle, hinterblieben, eben trauernd, zu sein.

Die englische Sprache kennt für Trauer verschiedene Begriffe: »bereavement«, »grief«, »mourning«. So ist es möglich, den sozialen Status des Hinterbliebenen zu beschreiben (bereaved), ohne eine Aussage über dessen Gefühle zu machen. Unter »grief« werden die emotionalen und kognitiven Reaktionen auf einen Verlust verstanden, wohingegen »mourning« eher den inneren Prozess des Trauerns beschreibt (siehe auch Krause, 1994). In unseren Ausführungen vermeiden wir den Begriff »trauernde Jugendliche«, weil die Anzeige des Verlustes nicht zwingend bedeutet, dass im psychologischen Sinn getrauert wird. Außerdem könnte es sein, dass Jugendliche selbst nicht als Trauernde angesprochen werden möchten. Den englischen Ausdruck »parentally bereaved adolescents« übernehmen wir daher hier und sprechen von »halbverwaisten Jugendlichen«.

Immer noch existieren wenige Untersuchungen von Jugendlichen, weil es schwer scheint, Jugendliche zu finden, die kürzlich einen Trauerfall erlitten haben (Brewer u. Sparkes, 2011). Es gibt inzwischen etliche Arbeiten zu der Bedeutung von Verlust für Jugendliche, aber Jugendliche sind selten selbst befragt worden. Insbesondere, wie Jugendliche es selbst erleben bzw. es selbst beschreiben (Field, 2006), kann mit qualitativen und interaktiven Forschungsmethoden untersucht werden. Dabei werden die Erfahrungen von Verlust und Trauer als Teil des Lebens der Betroffenen untersucht und weniger als behandlungsbedürftige Störung (Valentine, 2008).

Vor sieben Jahren lernte ich, Heike Knerich, Miriam Haagen auf einer Tagung der Thure von Uexküll-Akademie für Integrierte Medizin kennen. Sie leitete einen Workshop, in dem es um Gespräche über die Themen »lebensgefährliche Erkrankung, Sterben und Trauer mit Familien« ging. Seit vielen Jahren forsche ich gesprächsanalytisch an Arzt-Patient-Gesprächen auch mit Jugendlichen. Uns beiden schwebte eine Kooperation vor und wir planten ein Projekt über halbverwaiste Jugendliche und ihre Wahrnehmungen und Wünsche. Aus persönlichen Gründen ist es bei dem Pilotprojekt mit fünf Erzählinterviews geblieben. Wir haben uns sehr gefreut, dass Justine Kohl – damalige studentische Hilfskraft des Projekts – in diesem Rahmen ihre Masterarbeit geschrieben hat. Sie hat damit erheblich zur Auswertung der Gesprächsinterviews beigetragen, und wir freuen uns sehr, dass sie auch bei diesem Buch mitgedacht und mitgeschrieben hat.

Das Buch gliedert sich in drei Teile. Im ersten Kapitel geben wir einen Einblick in unsere zugrunde liegenden theoretischen Hintergründe. Zunächst führen wir in die Entwicklungspsychologie des Jugendalters ein, danach folgt ein Kapitel zur Psychologie von Trauerprozessen. Nach einem Kapitel über Erzählen und Bewältigen aus psychotherapeutischer und gesprächsanalytischer Perspektive und Gedanken zum interdisziplinären gemeinsamen Forschen folgt eine Einführung in die linguistische Gesprächsanalyse. Sie wird hier nach unserer Kenntnis erstmals ausführlich für eine nichtlinguistische Leserschaft vorgestellt. In unseren interdisziplinären Gesprächen entstand der Begriff des »geisteswissenschaftlichen Mikroskops« für die Gesprächsanalyse, in Anlehnung an das in den Naturwissenschaften verwendete Mikroskop, durch das man etwas, was mit dem bloßen Auge nicht sichtbar ist, durch das Objektiv ausgeschnitten und vergrößert betrachten kann. So zeigt die Gesprächsanalyse mithilfe von detaillierten Transkripten und Audio- oder Videoaufnahmen, dass jede Äußerung bedeutungsvoll ist. Jede Äußerung eines Gesprächspartners ergibt sich aus der Interaktion zwischen beiden Partnern und wirkt auf diese zurück. Zudem ermöglicht das »geisteswissenschaftliche Mikroskop« Zugang zu bewussten und unbewussten Vorstellungen der Sprechenden und deren Nachweis am Datenmaterial. So können aus der genauen Betrachtung von Einzelfällen Hypothesen generiert werden.

Im zweiten Kapitel werden Ergebnisse der interdisziplinären Analyse der Gesprächsinterviews vorgestellt. Hier werden immer wieder Abschnitte aus den Transkripten original abgedruckt und beschrieben. Wir haben uns entschieden, die Interviews nicht der Reihe nach als »Fallbeispiele« zu präsentieren, sondern verschiedene Aspekte der Gespräche darzustellen. So gibt es eine Betrachtung zu den Gesprächseinstiegen, zum Zuhören, zum Erzählen und anderem. Wir sind in helfenden Gesprächen häufig so sehr mit dem Inhalt des vom Gegenüber Erzählten beschäftigt und versuchen, uns diesen zu merken. Dabei können wir oft nicht bemerken, wie wir das Gespräch selbst mitgestalten. Mithilfe des interdisziplinären Dialogs über die aufgezeichneten Gespräche ist eine vertiefte Reflexion der Interaktion möglich jenseits der Auseinandersetzung mit dem Inhalt des Gesagten. Indem gemeinsam auf das Transkript geschaut wird, wird das Vertraute zunächst fremd. Das liegt an der besonderen Art, wie der Wortlaut aufgeschrieben wird. Auch ist es ungewohnt, die eigene Rede zu lesen. Mit unseren Darstellungen von Transkripten im zweiten Kapitel wollen wir auch Neugier für diese Methode der qualitativen Einzelfallforschung wecken.

Im dritten Kapitel beschreiben wir die Bedeutung unserer Erkenntnisse für den praktischen Umgang. Zum Beispiel: Wie werden Gespräche begonnen? Welche innere Haltung ist beim Zuhören hilfreich? Oder: Wie können Erzählungen unterstützt werden? Wir hoffen, damit Anregungen für die Praxis der Begleitung und Beratung trauernder Jugendlicher zu geben.

1 Im Sinne einer gendersensiblen Sprache verwenden wir in diesem Buch die männliche und weibliche Form in zufälligem Wechsel oder nennen beide Formen.

1 Theoretischer Hintergrund

1.1 Wegen Umbau geschlossen: Herausforderungen des Jugendalters

Die Jugend bildet die neue Generation, die ihre Vorgänger ablösen wird. An sie knüpfen sich viele Wünsche und Erwartungen, aber auch Ängste und Befürchtungen. Die Jugendzeit wird entwicklungspsychologisch auch als zweite Chance gesehen, in der Themen der Kindheit neu verhandelt und weiterentwickelt werden können. Die verinnerlichten Erfahrungen des Kindes mit seiner Familie werden überprüft. Dazu bedarf es eines Möglichkeitsraums, der ein Ausprobieren zulässt. Dieser Möglichkeitsraum wird nicht nur in den Familien und in der Gesellschaft mehr oder weniger bereitgestellt, sondern auch innerlich erworben. In diesem innerlichen Prozess finden verschiedene Bewegungen mit starken Gefühlen statt. Der Umbau des kindlichen Körpers mit seinem Gehirn löst Emotionen aus, die eine veränderte Wahrnehmung und ein entsprechend verändertes Verhalten der Jugendlichen bewirken. Der sich verändernde Körper kann zu Irritationen und einer Diskrepanz zwischen körperlicher und emotionaler bzw. sozialer Entwicklung führen. Für diese Zeit gibt es das Bonmot: »Wegen Umbau geschlossen«.

Zu diesem Umbau gehört der Abschied von der Kindheit. Dieser wird in der psychodynamischen Entwicklungspsychologie als ein erster ernsthafter Trauerprozess angesehen, der die Fähigkeit zur Wandlung und zum Neubeginn ermöglicht. Die Kindheit, in der wir, wenn es gut geht, ungestört idealisieren dürfen, wird abgelöst durch die Jugendzeit, und dieser Abschied verursacht Schmerzen. Er bedeutet eine anhaltende Entzauberung der Welt. Aber damit wird auch der Weg zu eigenständiger Entwicklung frei. Dieser Weg ist voller Herausforderungen und Risiken für beide Seiten: sowohl für die Heranwachsenden als auch für die sie begleitenden Erwachsenen. Denn mit der Ablösung von den Eltern geht auch eine Ablösung der elterlichen Generation einher.

Welche Veränderungen hat der oder die Heranwachsende zu bewältigen? In der Pubertät kann das Gefühlsleben starken Schwankungen ausgesetzt sein und sich zwischen himmelhochjauchzend und zu Tode betrübt bewegen. Grenzen werden vermehrt ausgetestet, bisherige Wert- und Orientierungssysteme grundlegend hinterfragt. Die Suche nach eigener Identität, Lebens- und Zukunftsperspektive, die von teilweise heftigen Konflikten und Auseinandersetzungen mit Eltern, Lehrkräften und anderen Erwachsenen begleitet ist, kann auch die Jugendlichen anstrengen. Sie fühlen sich häufig von den Eltern und anderen Erwachsenen missverstanden. Dies ist eine Form der Abgrenzung, die wichtig ist, um das Eigene (»ich bin ganz anders«) zu behaupten oder zu schützen. Ängste vor Versagen und Krisen in der Schule treten in dieser Zeit häufig auf. Plötzliche und unkontrollierbare Stimmungsschwankungen mit raschem Wechsel der Gefühle von leidenschaftlicher Schwärmerei zu kühler Indifferenz, von Liebe zu Hass sind charakteristisch. Auch stellen die Veränderungen des Körpers mit der Entwicklung der Geschlechtsmerkmale eine große Verunsicherung dar, weil sie sichtbar sind und nicht der Kontrolle der Jugendlichen unterliegen; der Körper entwickelt sich »eigenmächtig«, unbeeinflussbar, was zu einer zum Teil ängstlichen Beobachtung des Körpers führt, die von Schamgefühlen begleitet wird. Vieles wird »so peinlich«. Der oder die Jugendliche wird dadurch empfindlich und verletzlich. Gleichzeitig kann das Erleben des veränderten eigenen Körpers auch mit Stolz und Freude und Lustgefühlen verbunden sein. Der starke Anstieg der Geschlechtshormone überflutet auch das Gehirn und wirkt destabilisierend auf Denken und Verhalten.

Die seelischen Entwicklungen der Ablösung und Reifung führen dazu, dass die kindliche Beziehung zu den Eltern unwiederbringlich verloren geht. Dies kann zu intensiven Gefühlen der Einsamkeit und des Alleinseins führen. Damit einher geht eine Labilisierung des oder der Jugendlichen, weil es das neu Entwickelte, was diesen Verlust ausgleichen könnte, noch nicht stabil gibt. Der israelische Psychoanalytiker Yecheskiel Cohen (2010) spricht sich bei der Beschreibung der Adoleszenz gegen die doppelte Verneinung »nicht Kind und nicht Erwachsener« aus. Stattdessen schlägt er Simultanität vor, dass also verschiedene Prozesse simultan stattfinden: so zum Beispiel die Sehnsucht, die Kindheit hinter sich zu lassen, bei gleichzeitiger Furcht davor. Darin ähnelt die Pubertät dem Trauerprozess bei Erwachsenen: einer emotionalen Pendelbewegung zwischen der Hinwendung zu dem schmerzhaften Verlust auf der einen Seite und einer Hinwendung zum Weiterleben ohne den geliebten Menschen auf der anderen Seite. Diese Pendelbewegungen in der Pubertät – wie in der Trauer – führen zu Erschütterungen des seelischen Gleichgewichts, und man kann sich gut vorstellen, wie zu diesem Zeitpunkt eine schon bestehende depressive Tendenz bei zusätzlich schwierigen äußeren Bedingungen manifest zum Ausbruch kommen kann.

Die Bewältigung der enormen Veränderungsprozesse stürzen die Jugendlichen und mit ihnen häufig auch ihre Eltern in innere und äußere Krisen. Eltern sorgen sich, weil ihre Kinder sich plötzlich von ihnen zurückziehen, es zu Hause zu ungewohnt heftigen Auseinandersetzungen kommt, die den familiären Frieden, aber auch das psychische Gleichgewicht der Eltern ins Wanken bringen. Ältere Jugendliche wenden sich mitunter von sich aus an den Therapeuten oder die Beratungslehrerin, weil sie sich zu Hause überhaupt nicht mehr verstanden fühlen, teilweise verbunden mit dem Wunsch, dass ihre Eltern nichts über diese Kontaktaufnahme erfahren.

Ältere Jugendliche sind beschäftigt mit der Integration der körperlichen Veränderungen, dem Aufbau intimer und sexueller Beziehungen und der Annahme des Selbst bzw. individuellen Seins mit allen Stärken und Schwächen. Die Entwicklung der Identität und eines positiven Selbstwertgefühls sowie äußere und innere Ablösung sind wichtige Entwicklungsschritte auf dem Weg ins Erwachsensein. In diesem Alter (15–18 Jahre) fällt es ihnen in der Regel leichter, Gedanken und Gefühle auszudrücken und darüber zu sprechen. Die Gleichaltrigengruppe – Peergroup – und andere soziale Beziehungen haben große Bedeutung und bieten wichtige Unterstützung. Sie können Zugehörigkeit und Anerkennung anders vermitteln als Erwachsene, deren Aufgabe es manchmal regelrecht sein kann, dass die Jugendlichen ihnen zeigen dürfen, dass sie sie nicht brauchen. Der Peergroup kommt die Aufgabe eines Übergangsraums zwischen Familie und Gesellschaft zu, die entwicklungsfördernde oder -hemmende Wirkung haben kann.

Mit der Identitätssuche sind auch Fragen nach dem Tod und der eigenen Sterblichkeit verbunden. Die zentralen Fragen dieser Phase lauten: »Wer bin ich?«, »Wo komme ich her?« und »Wo werde ich hingehen?«. Wenngleich der Tod als endgültig und irreversibel anerkannt wird, entwickeln nicht wenige Jugendliche Vorstellungen, unverletzlich zu sein und dem Tod in letzter Sekunde entkommen zu können. Riskante Verhaltensweisen oder zerstörerische Phantasien können vorkommen. Sie wehren ihre Angst mit Sachlichkeit oder Sarkasmus ab. Die in diesem Alter typischen Suizidphantasien oder Tagträume über die eigene Beerdigung können auch als Ausdruck der Auseinandersetzung mit Tod und Sterblichkeit verstanden werden. Nicht selten ist bei den beobachteten Verhaltens- und Gefühlsäußerungen die eindeutige Trennung zwischen Gesundheit und Krankheit nicht so leicht möglich. Entscheidend sind die Vorerfahrungen. Ein Kind, das sich in den vorherigen Entwicklungsphasen stabil entwickeln konnte, kann diese stürmische Zeit auch unter dem Erleben kleinerer und größerer Katastrophen bewältigen; wenn jedoch aufgrund von schwierigen Beziehungserfahrungen, etwa durch schwer erkrankte oder verstorbene Familienmitglieder, nur wenig Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten aufgebaut werden konnte (z. B. mit Spannungen und Konflikten umzugehen), dann kann es in der Adoleszenz zu behandlungsbedürftigen Störungen kommen.