Traumasensitive Achtsamkeit - David Treleaven - E-Book

Traumasensitive Achtsamkeit E-Book

David Treleaven

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Beschreibung

Die 5 Prinzipien traumasensitiver Achtsamkeit Von Grundschulen über MBSR-Kurse bis hin zu psychotherapeutischen Praxen - Achtsamkeitsmeditation hat sich in vielen Bereichen der Gesellschaft etabliert. Gleichzeitig ist Trauma eine Tatsache in unserem Leben: Fast jeder Mensch ist irgendwann einmal mit einem traumatischen Ereignis konfrontiert. Das bedeutet, dass es überall dort, wo Achtsamkeit praktiziert wird, jemanden geben wird, der oder die mit Trauma zu kämpfen hat. David Treleaven ist Psychotherapeut und forscht seit vielen Jahren zu Achtsamkeit und Trauma. Auf dieser Basis formuliert er fünf Prinzipien, mit deren Hilfe Traumaüberlebende von der positiven Wirkung eines Achtsamkeitstrainings profitieren können. Er zeigt 36 spezifische Modifikationen für die Achtsamkeitspraxis, die dazu dienen, die Sicherheit und Stabilität von Traumaüberlebenden zu unterstützen. Ein wegweisender und praktischer Ansatz und eine enorm hilfreiche Lektüre für alle Achtsamkeitslehrenden und Traumatherapeuten. Stimmen zum Buch: "Eine seltene Mischung aus fundierter Wissenschaft, hilfreichen praktischen Anregungen und engagierter Fürsprache für all die Menschen, die Traumata erlitten haben." Rick Hanson, Autor von Das Gehirn eines Buddha

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DAVID TRELEAVEN

Traumasensitive Achtsamkeit

David Treleaven

Traumasensitive Achtsamkeit

Posttraumatischen Stresserkennen und vermindern

Sicherheit und Stabilität vermitteln

Mit 36 konkreten Modifikationenfür die Praxis

Mit einem Vorwort von Willoughby Britton

Aus dem Englischen von Anna Stippa

Arbor VerlagFreiburg im Breisgau

Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel:

Trauma-sensitive mindfulness. Practices for safe and transformative healing

bei W.W. Norton & Company, Inc. New York, USA.

Deutsche Erstausgabe

© 2019 der deutschen Ausgabe: Arbor Verlag GmbH, Freiburg

Copyright der Originalausgabe

© 2018 by David A. Treleaven

Lektorat: Judith Mark, Freiburg

E-Book-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim, www.brocom.de

Hergestellt von mediengenossen.de

Alle Rechte vorbehalten

E-Book 2019

www.arbor-verlag.de

ISBN E-Book: 978-3-86781-270-2

Vorwort von Willoughby Britton

Einführung: Warum traumasensitive Achtsamkeit?

TEIL 1: GRUNDLAGEN TRAUMASENSITIVER ACHTSAMKEIT

1 Die Allgegenwärtigkeit von Trauma:sichtbare und unsichtbare Formen

2 Sich in der Gegenwart verankern:Achtsamkeit und traumatischer Stress

3 Durch die Vergangenheit geprägt:Eine kurze Geschichte von Achtsamkeit und Trauma

4 Trauma und Achtsamkeit:die Auswirkungen auf Körper und Gehirn

TEIL 2: DIE FÜNF PRINZIPIEN TRAUMASENSITIVER ACHTSAMKEIT

5 Innerhalb des Toleranzfensters bleiben:die Rolle von Arousal

6 Aufmerksamkeit verlagern, um Stabilität zu unterstützen:den Angst-/Immobilitätskreislauf vermeiden

7 Den Körper im Auge behalten: mit Dissoziation arbeiten

8 Beziehungen als Form der Praxis:Sicherheit und Stabilität bei Traumaüberlebenden fördern

9 Mit sozialem Kontext arbeiten:soziale Unterschiede wirksam überbrücken

Fazit: Trauma transformieren

Dank

Literaturverzeichnis

Anmerkungen

Über den Autor

Vorwort

VON WILLOUGHBY BRITTON

2012 hatte ich ein Zusammentreffen mit Seiner Heiligkeit, dem XIV. Dalai Lama, in der Mayo Klinik in Rochester, Minnesota. Ich besuchte das 24. Mind & Life Dialogforum. Dort geht es um die Verknüpfung von Wissenschaft und kontemplativer Praxis, und ich präsentierte meine Forschung zum Thema Achtsamkeit und Meditation.1

Als klinische Neurowissenschaftlerin war ich es gewohnt, vor anspruchsvollem Publikum zu sprechen, aber an diesem Tag fühlten sich die gewohnten Schmetterlinge in meinem Bauch eher wie mittelgroße Flugsaurier an. Der Dalai Lama sah aufmerksam zu mir hin, und ich machte mir Sorgen, wie er auf meine Arbeit reagieren würde.

Ich erforsche die möglicherweise schädlichen Auswirkungen der Meditation. Während sich der Großteil meiner Forschung der letzten 20 Jahre auf die klinischen Vorzüge meditativer Praxis konzentrierte, habe ich meine Arbeit des letzten Jahrzehnts um die Untersuchung der eher problematischen Aspekte kontemplativer Praxis erweitert. 2007 hatte ich in meinem Labor an der Brown Universität eine Studie mit dem Titel Die Vielfalt kontemplativer Erfahrung begonnen.2

Das Projekt beinhaltete Interviews mit mehr als 100 meditationserfahrenen Menschen und Meditationslehrern, die sich, sofern vorhanden, mit den Schwierigkeiten beschäftigten, die sich innerhalb ihrer Praxis aufgetan hatten. Trauma kristallisierte sich bei diesem Projekt als ein Hauptthema heraus – vom Doktoranden, der bei einem Zehn-Tage-Retreat quälende Flashbacks erlebte, bis hin zum erfahrenen Meditationslehrer, der, wie sich herausstellte, seit Jahren trauma-bedingte Dissoziation in seiner Praxis erfuhr.3

Immer wieder stieß ich in meiner Forschung auf diese schwierige Beziehung zwischen Meditation und Trauma. Als Menschen, die beim Meditieren mit Trauma assoziierte Probleme hatten, mich um Hilfe baten, konnte ich nicht viel mehr tun, als ihnen zu versichern, dass sie nicht alleine waren und dass das, was sie erlebten, nicht ihr Fehler war.

Gern hätte ich diesen Menschen damals mehr geboten – eine umfangreiche Erklärung etwa, warum sie diese Probleme hatten und was dagegen zu tun war.

Dann, einen Monat nach meiner Präsentation bei Mind & Life, stolperte ich online über das unscharfe Video der Verteidigung einer Doktorarbeit zum Thema Achtsamkeitsmeditation und Trauma. Ich hatte zuvor noch nie von David Treleaven gehört, saß jedoch wie gebannt da, während er sehr eloquent die Antworten auf die Fragen gab, die ich mir seit Jahren stellte. Über längere Zeit hatte ich nach einem klaren Rahmen gesucht, den ich den Meditierenden, die mit ihren Schwierigkeiten zu mir kamen, zur Verfügung stellen konnte, ebenso wie Meditationslehrern und Wissenschaftlern, die sich für Meditation und Achtsamkeit interessierten. Plötzlich hatte ich diesen Rahmen gefunden. Ein Puzzleteil nach dem anderen fand seinen Platz.

Letztlich überwies ich zahlreiche Menschen an David, von denen mir viele berichteten, dass ihre Arbeit mit David und das Rahmenwerk, das er bereitstellte, ihr Leben positiv verändert hatte. Ihre Geschichten waren so überzeugend – und ihr Fortschritt so offensichtlich –, dass ich mich entschloss, eine mehrjährige Ausbildung in Traumatherapie aufzunehmen.

Bis dahin hatte ich gedacht, dass ich eine ausreichende Vorbildung als Psychologin und Neurowissenschaftlerin mitbrachte, aber durch Davids Erkenntnisse wurde mir klar, dass ich mein Wissen zum Thema Trauma erweitern musste, um die Probleme, denen ich in meiner Praxis und Forschung begegnete, effektiv angehen zu können.

David und ich hielten Kontakt, und als ich den ersten Entwurf des Buches, das Sie nun in Ihren Händen halten, las, fühlte es sich wie ein Geschenk an. Basierend auf den Unterhaltungen, die ich mit Meditationslehrern, Wissenschaftlern und Achtsamkeitspraktikern geführt habe, glaube ich, dass dieses Buch für viele Menschen eine langersehnte Quelle der Information und Unterstützung sein wird. Gewissenhaft und mit Mitgefühl und Einsicht behandelt es einige der häufigsten, bislang jedoch kaum beachteten Probleme, denen Meditierende, die Traumata erfahren haben, begegnen können.

Leserinnen und Leser dieses Buches werden wissen, dass Achtsamkeit seit einigen Jahren in aller Munde ist. Von Schulen und Kliniken bis hin zu Gefängnissen und Unternehmen – Achtsamkeit und Meditation werden heute an einer Vielzahl von Schauplätzen praktiziert, und wissenschaftliche Erkenntnisse untermauern ihre Vorzüge. Man kann jedoch nicht uneingeschränkt davon ausgehen, dass Achtsamkeit und Meditation eine Art Allheilmittel für alle möglichen Probleme und eben auch Traumata sind. Wir alle haben gehört und gelesen, welche Vorteile es hat, zu meditieren, und viele Menschen, die dies regelmäßig tun, kommen in den Genuss dieser Vorteile. Aber ich habe auch Menschen kennen gelernt, die sich zutiefst schämen, wenn sie diese positiven Erfahrungen nicht machen – und besonders häufig sind dies Menschen, die ein Trauma erfahren haben. Sie fühlen sich oft, als hätten sie beim Meditieren versagt, etwas falsch gemacht oder als wären sie zutiefst und unwiderruflich gebrochen.

Davids Buch begegnet dem Problem der Scham frontal. Es stellt sich der Annahme entgegen, dass Menschen, die beim Meditieren Schwierigkeiten erfahren, schlichtweg unzulänglich oder schlechte Meditierende seien. Viele der Meditierenden, die mich kontaktieren – oft sind sie selbst Meditationslehrer –, fühlen sich gedemütigt dadurch, dass sie nicht in der Lage sind, ihre Symptome mit Meditation positiv zu beeinflussen. David zeigt uns die Risiken für Traumaüberlebende, die Achtsamkeit praktizieren, erklärt, warum sie existieren und stellt Praktiken vor, die eine sichere und transformative trauma-sensitive Praxis unterstützen. Seine Arbeit stützt sich auf Belege, ist in klinischer Forschung verwurzelt und offen für Anpassungen, sobald neue wissenschaftliche Erkenntnisse verfügbar werden. Insofern dient dieses Buch auch als Grundlage für die weitere Auseinandersetzung mit dem Thema.

Das Buch bietet uns darüber hinaus einen systemischen Blick auf Traumata. Analog zu Davids eigenem Weg überführt es Achtsamkeit vom isolierten Leiden einzelner Meditierender – und deren individuellem Nervensystem – in die sozialen, kulturellen und politischen Räume, die eine Rolle bei der Entstehung und Aufrechterhaltung von Traumata spielen. Obwohl die Idee der Interdependenz – dass wir alle zutiefst miteinander verbunden sind und uns gegenseitig beeinflussen – für die Achtsamkeitsgemeinschaft keine neue ist, wird sie oft dargestellt, als wäre sie eine Art metaphysische Salbe, die prosoziales Verhalten inspiriert, ohne dass eine tiefere persönliche Auseinandersetzung erforderlich ist. Durch seine Arbeit mit Organisationen, die sich für soziale Gerechtigkeit einsetzen, fordert David uns heraus, unser Umfeld zu hinterfragen, um, wie er sagt, die „Rahmenbedingungen, die uns geboten wurden, kritisch zu durchleuchten und uns zunehmend unserer eigenen Rolle bewusst zu werden“.

Davids Buch erscheint zu einem Zeitpunkt, an dem eine nuanciertere Diskussion zum Thema Achtsamkeit und Meditation dringend nötig ist.

Ich habe den Großteil meiner akademischen Karriere damit verbracht, mich für diese Form des Dialogs stark zu machen, ob es in meinem Hörsaal war, in meinem Labor, bei akademischen Konferenzen, bei achtsamkeitsbasierten Interventionen, Lehrerausbildungen oder mit Journalisten, die nach vielversprechenden Slogans über die Vorzüge von Achtsamkeit suchten.4 Manchmal fühlte ich mich, als wäre ich die einzige Person, die argumentierte, dass wir bei der Nutzung kontemplativer Praktiken vorsichtig vorgehen und uns der potenziellen Schwierigkeiten, mit denen Menschen sich beim Meditieren konfrontiert sehen, bewusst werden müssen.5 In letzter Zeit vertreten jedoch zunehmend mehr meiner Kollegen diese Auffassung. Im Jahr 2018 kamen 15 Achtsamkeitsforscher zusammen, um Richtlinien zu erstellen, die sich für eine vorsichtigere und nuanciertere Präsentation von Achtsamkeitsmeditation aussprechen und sowohl die Vorteile als auch ihre Grenzen benennen.6 Diese Herangehensweise soll Menschen nicht von der Meditation abschrecken, ganz im Gegenteil: Ihr Ziel ist es, die Praxis zu stärken und für ein breiteres Publikum anwendbar zu machen.

Ich freue mich, sagen zu können, dass wir mit diesem Buch zusammen einen weiteren Schritt in diese neue Richtung gehen. David Treleaven hat für diejenigen von uns, die Achtsamkeit in einer traumasensitiven Form praktizieren möchten, eine fundierte, zugängliche und empirisch belegte Ressource geschaffen. Es ist ein Geschenk zur rechten Zeit, und ich hoffe, es ist eines, das Ihnen genauso sehr helfen wird, wie es mir geholfen hat.

WILLOUGHBY BRITTON, PH.D.

Willoughby Britton ist klinische Psychologin und Neurowissenschaftlerin an der Brown University Medical School; sie ist ausgebildet als MBSR-Lehrerin und gilt als eine der wichtigsten Frauen der Achtsamkeitsbewegung. Ihr

Forschungsschwerpunkt liegt auf möglichen unerwünschten psychologischen Nebenwirkungen von Meditation.

EINFÜHRUNG

Warum traumasensitive Achtsamkeit?

Ein Teil von mir wünschte, ich hätte die E-Mail nicht gesehen. Es war weit nach Mitternacht, als ich aus einer Laune heraus noch einmal in meinem Posteingang nachsah. „Bitte um Hilfe …“ stand in der Betreffzeile, „Meditationskrise“. Ich lehnte mich in meinem Stuhl zurück, als ich weiterlas. Es war die dritte E-Mail dieser Art, die ich in diesem Monat erhalten hatte.

Die Nachricht kam von Nicholas, einem Lehrer aus Vermont, der über einen Artikel gestolpert war, in dem ich über negative Begleiterscheinungen von Achtsamkeitsmeditation geschrieben hatte.1 Nicholas hatte mit Achtsamkeitsmeditation angefangen, um mit seinen Angstzuständen besser zurechtzukommen, und schon bald hatten sich positive Auswirkungen seiner Übungen eingestellt: eine gesteigerte Klarheit, ein geschärftes Gedächtnis und ein nachhaltigeres Gefühl innerer Ruhe. In letzter Zeit hatte Nicholas jedoch ein entnervendes Symptom festgestellt: Wenn seine Stoppuhr das Ende der kurzen Meditation signalisierte, fiel es ihm schwer, nach seinem Handy zu greifen – sein Körper schien vor Angst paralysiert zu sein. Es fühlte sich für ihn an, als wäre er gefesselt.

Je mehr Nicholas meditierte, desto intensiver und verstörender wurden diese Erlebnisse. Sobald er die Augen schloss, erschienen Bilder vor seinem inneren Auge – zerschmettertes Glas, offener Himmel, Rauch. Sein Schlaf wurde von nervenaufreibenden Albträumen heimgesucht, Routineaufgaben versetzten ihn in Panik und das Geschnatter in seinem Kopf wurde unerträglich. Die Ruhe, die er in der Meditation gesucht hatte, hatte sich in ihr Gegenteil verkehrt – in unterschwelligen Terror und Grauen, die ihn Tag und Nacht verfolgten.

Eine Woche später trafen Nicholas und ich uns in einer Videokonferenz, und sofort konnte ich die Besorgnis und Verwirrung in seinen Augen erkennen. Als ich ihn fragte, ob die Bilder, die sich ihm während seiner Meditation aufgedrängt hatten, für ihn irgendeine Bedeutung hatten, nickte er. Einige Jahre zuvor war er in einen schweren Autounfall verwickelt gewesen – hilflos war er eine Stunde lang in seinem Auto eingeschlossen gewesen, bevor er gerettet werden konnte. Aber es war nicht der Unfall, der ihn verunsicherte, sondern seine Verwirrung über Achtsamkeitsmeditation. Wie konnte eine Praktik, die zunächst so konstruktiv und positiv gewesen war, ihn jetzt in solche Panik und Haltlosigkeit versetzen?

Mir war diese Frage nicht fremd. Als Psychotherapeut und Wissenschaftler hatte ich jahrelang darum gerungen, ein besseres Verständnis für die komplexen Zusammenhänge zwischen Achtsamkeit und Trauma zu entwickeln – eine extreme Form von Stress, die unsere Fähigkeit, mit belastenden Situationen zurechtzukommen, außer Kraft setzen kann. Nebeneinander betrachtet, können Trauma und Achtsamkeit wie natürliche, geradezu zwangsläufige Verbündete wirken. Beide haben mit der Natur des Leidens zu tun. Beide basieren auf sensorischer Erfahrung. Und während Trauma Stress verursacht, erweist sich Achtsamkeit als Weg, diesen Stress zu reduzieren. Theoretisch scheint es also so, als könne jeder, der ein Trauma erfahren hat, davon profitieren, Achtsamkeitsmeditation zu praktizieren. Was sollte dabei schon schiefgehen?

Ziemlich viel, wie sich allmählich herausstellt. Für Menschen, die ein Trauma erfahren haben, kann Achtsamkeitsmeditation die Symptome traumatischen Stresses verstärken. Dies kann Flashbacks, erhöhte emotionale Erregungszustände und Dissoziation umfassen, also eine Abspaltung der eigenen Gedanken, Emotionen und physischen Sinneserfahrungen. Obwohl Meditation wie eine sichere und harmlose Praktik erscheinen mag, kann sie Traumaüberlebende* direkt in die Tiefen ihrer Verletzungen stürzen, die zur Heilung mehr als ein achtsames Gewahrsein erfordern. Durch Verlagerung der Aufmerksamkeit auf Verletzungen, die oft innerlich und nicht sichtbar sind, können sich Traumaüberlebende in einem Zustand wiederfinden, der dem von Nicholas ähnlich ist: desorientiert, verstört und gedemütigt, weil sie die Dinge irgendwie schlimmer gemacht haben.

Gleichzeitig kann Achtsamkeit auch eine unschätzbare Quelle für Traumaüberlebende sein. Die Forschung hat gezeigt, dass sie das Körpergefühl stärken kann, die Aufmerksamkeit erhöht und uns in die Lage versetzt, Emotionen zu regulieren – alles entscheidende Fähigleiten bei der Traumaheilung. Ebenso kann Achtsamkeit etablierte Trauma-Therapiemethoden unterstützen, indem sie Menschen hilft, in Augenblicken, in denen sie sich mit Traumasymptomen konfrontiert sehen, Stabilität zu finden.

Werden wir uns daher der Wichtigkeit des aktuellen Moments bewusst. Während des letzten Jahrzehnts ist Achtsamkeit sehr populär geworden. Achtsamkeitsmeditation wird an den unterschiedlichsten Schauplätzen angeboten – einschließlich buddhistischer Gemeinden, nicht-religiöser Programme und Psychotherapie. Vielfach wird sie als harmlose Methode zur Stressreduktion verkauft. Gleichzeitig sind Traumata sehr verbreitet. Geschätzte 90 Prozent der Bevölkerung sind traumatischen Erlebnissen ausgesetzt, und acht bis 20 Prozent davon werden eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) entwickeln.2 Das bedeutet, dass, egal in welchem Umfeld Achtsamkeitsmeditation unterrichtet wird, die Wahrscheinlichkeit, dass irgendjemand im Raum in der Vergangenheit ein Trauma erlitten hat, hoch ist.

Daher stellt sich die Frage: Wie können wir die potenziellen Gefahren der Achtsamkeitsmeditation für Traumaüberlebende minimieren und gleichzeitig die positiven Möglichkeiten zu ihrem Vorteil nutzen?

Dieses Buch beschäftigt sich mit genau dieser Frage. Ich möchte zeigen, dass eine grundlegende Achtsamkeitspraxis effektiver ist, wenn sie mit einem Verständnis für Trauma gepaart wird. Egal ob es der Meditationslehrer eines etablierten Retreats für Stille-Meditation ist, die Sozialarbeiterin, die Achtsamkeitsinterventionen in ihrer Arbeit nutzt, oder die Lehrerin, die fünfminütige Meditationen in ihrer Grundschulklasse anleitet – ich bin überzeugt, dass alle, die Achtsamkeit als Angebot nutzen, über die Risiken informiert sein sollten, die sie für Menschen birgt, die mit Trauma zu kämpfen haben.

Ich habe dieses Thema während des letzten Jahrzehnts untersucht. Ich habe theoriegeleitete akademische Forschung betrieben, habe ganze Wände mit Zetteln voll abstrakter Ideen vollgeklebt und habe in informellen Interviews Achtsamkeitsausbilder, psychologische Fachkräfte und Traumaüberlebende zu dieser Thematik befragt. Als Psychotherapeut habe ich ebenfalls eng mit Traumaüberlebenden zusammengearbeitet, die unerwünschte Erfahrungen mit Achtsamkeitsmeditation gemacht hatten. Nicht zuletzt bin ich das Thema allerdings als jemand angegangen, der selbst eigene Herausforderungen mit Achtsamkeit und Trauma erlebt hat. Ich wollte verstehen, was mir da widerfahren war.

EIN PERSÖNLICHER WEG

Als ich anfing, Achtsamkeitsmeditation zu praktizieren, arbeitete ich als Psychotherapeut mit männlichen Sexualstraftätern in Vancouver, Kanada. Ich hatte diese Arbeit wegen meines Interesses an Sexualität und opferorientierter Gerechtigkeit aufgenommen. Nach einem Jahr in diesem Beruf fühlte ich mich jedoch ausgebrannt. Ich litt unter starken Stimmungsschwankungen und verfügte nicht über das Handwerkszeug, um damit zurechtzukommen. Als eine Kollegin mir vorschlug, sie zu ihrer örtlichen Achtsamkeitsmeditationsgruppe zu begleiten, war ich leichte Beute: Achtsamkeit genoss einen zunehmend positiven Ruf in der Psychologie, und mir gefiel die Idee, eine bewusstere Beziehung zu meinem Geist aufzubauen. Während ich also dasaß und meine Aufmerksamkeit auf meinen Atem lenkte, fragte ich mich: Wie schwer kann das schon sein?

Natürlich war es unmöglich. Ich verbrachte meine erste Meditationseinheit komplett in Gedanken versunken und realisierte dies erst, nachdem am Ende der Sitzung die Glocke geläutet hatte. Nichtsdestotrotz fing ich an, diese Praxis zu lieben und erkannte, dass sie mir in vielerlei Hinsicht half. Ich war mir meines Körpers bewusster, weniger an aufwühlende Gedanken gebunden und fühlte mich zufriedener und glücklicher, als ich es je zuvor gewesen war. Ich schuf neue Verbindungen zur Welt und fand Bedeutung und Resilienz außerhalb meiner Arbeit mit Straftätern – zum Beispiel, wenn ich dem Wind im Erdbeerbaum vor meinem Küchenfenster lauschte oder wenn ich meine Füße spürte, wie sie auf dem Weg zur Arbeit den Boden berührten. Wenn ich unter emotionalem Schmerz litt, verhalf mir Achtsamkeit zu neuer Perspektive und Raum. Sie half mir dabei, mir selbst mit neuem Mitgefühl und auf nicht wertende Weise zu begegnen.

Dann, völlig unerwartet, gingen die Lichter aus. Ich befand mich auf einem Stille-Meditationsretreat im ländlichen Massachusetts, als mich das Gefühl überkam, jemand hätte so etwas wie einen Hauptschalter in meinem Körper umgelegt. Ich hatte Schwierigkeiten gehabt, mich auf meine Übungen einzulassen, weil mir eine bestimmte Geschichte sexueller Gewalt aus meiner therapeutischen Arbeit immer und immer wieder durch den Kopf ging. Wenn ich meine Augen in dem schwach beleuchteten Raum öffnete, sah ich, dass alles da war, wo es sein sollte: Mitmeditierende, die neben mir auf ihren Kissen ruhten, die Buddha-Statue auf der Stirnseite des Raumes, und durch das Fenster sah ich die schmale Mondsichel zwischen den Bäumen. Nichts hatte sich gerührt und nichts Äußerliches hatte sich verändert.

Dann aber sah ich mich selbst. Ich schaute von einem der Dachbalken von oben auf meine Schultern herab. Panik ergriff mich, und trotzdem blieb ich so regungslos wie die Statue, auf die ich mich zu konzentrieren versuchte. Ich vertraute darauf, dass diese Erfahrung, wie jede andere, die ich während meiner Meditation gehabt hatte, vorübergehen würde – wenn nicht bis zum Ende der Sitzung, dann doch sicherlich bis zum nächsten Morgen.

Leider war dem nicht so. Zumindest nicht ganz. Während der nächsten Woche des Retreats verwandelte sich die Welt in einen finsteren, unterirdischen Ort. Mir war, als würde ich zwischen zwei Sphären schweben, von denen sich keine auf festem Boden zu befinden schien. Ich war physisch anwesend, jedoch nur oberflächlich. Meine Sinne waren wie gedämpft und stummgeschaltet, mein Appetit verschwand und ich hatte das düstere, durchdringende Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Es war, als hätte sich ein wesentlicher Teil von mir dazu entschlossen, aufzustehen und davonzulaufen, ohne jegliche Absicht, je wieder zurückzukommen. An jedem zweiten Tag des Retreats traf ich mich mit einem der Meditationslehrer – und häufig spürte ich, sobald ich mich hinsetzte, Tränen in mir aufsteigen. Jedes Gespräch verließ ich mit ähnlichen Instruktionen: Sei achtsam. Nimm die Ablösung wahr. Gib nicht auf. Vertraue dem Prozess. Und für den Rest des Retreats tat ich genau das.

TRAUMA ENTDECKEN

Als ich in diesem Sommer nach Hause kann, konnte ich in den Gesichtern meiner Freunde und Familie ablesen, was mir bereits klar war: Ich war lädiert vom Retreat zurückgekehrt. Ich fühlte mich desorientiert, innerlich taub und hatte Probleme, mich wieder in meinen Alltag einzugewöhnen. Als ich mit meinen Freunden und Kollegen über meine Erfahrungen sprach, überraschte es mich, dass sie das Wort „Trauma“ gebrauchten – einen Begriff, mit dem ich mich zwar theoretisch beschäftigt hatte, den ich aber nie mit meinem Leben in Verbindung gebracht hatte.

Für mich beschränkte sich diese Bezeichnung auf Handlungen schlimmster Übergriffe und Gewalt. Überfallopfer trugen Traumata in sich. Veteranen mit Kampferfahrung erlebten Traumata. Menschen, die durch Unterdrückungs-Regimes grausame und ungerechte Behandlung erfahren hatten – zum Beispiel in Form von Rassismus oder Behindertenfeindlichkeit –, ertrugen Traumata. Ich hatte ein relativ beschütztes Leben geführt, und meine Erfahrungen als „traumatisch“ zu beschreiben, schien, als würde man die Ungeheuerlichkeit des Schmerzes von Traumaüberlebenden trivialisieren.

Trauma jedoch, wie ich seitdem gelernt habe, beschreibt nicht so sehr den Inhalt einer Erfahrung als vielmehr die Auswirkungen – unerwartet und fortlaufend, – die sie auf unsere Physiologie hat. Die Veteranentraumaspezialistin Pat Ogden schreibt: „Jedes Erlebnis, das genug Stress verursacht, um uns hilflos, verängstigt und überwältigt oder zutiefst unsicher fühlen zu lassen, wird als Trauma angesehen.“ (2015, S. 66) Sei es, dass man Zeuge von Gewalt wird oder diese selbst erfährt, einen geliebten Menschen verliert oder zum Ziel von Unterdrückung* wird, Menschen erleben Trauma auf unterschiedlichste Art und Weise. Und meiner ursprünglichen Annahme entgegengesetzt, minimiert die Auseinandersetzung mit den verschiedenen Formen persönlichen Traumas nicht die Wichtigkeit des Traumas einer anderen Person. Vielmehr kann dies sogar Ursprung eines Gesprächs über die sozialen Bedingungen sein, die Traumata in erster Linie aufrechterhalten.3

Durch Freunde ermutigt, fing ich an, einen Traumatherapeuten zu besuchen. Es waren bereits sechs Wochen seit dem Retreat vergangen, und die Last der Erfahrung machte mir noch immer zu schaffen. Ich dissoziierte regelmäßig, hatte wiederkehrende Albträume und entwickelte zum ersten Mal in meinem Leben Schlafstörungen. Nach einigen Sitzungen stelle mein Therapeut die These auf, dass ich möglicherweise stellvertretendes bzw. sekundäres Trauma durch meine Arbeit mit Sexualstraftätern erlebte, weil ich kontinuierlich Geschichten von Gewalttaten ausgesetzt war, die sich letztendlich traumatisierend auf mich auswirkten. In diesem Rahmen begannen die Symptome, die ich erlebte – aufdringliche Gedanken, emotionale Distanziertheit, Dissoziation –, Sinn zu ergeben.

Wie sich herausstellte, sollten die Sitzungen mein Leben verändern. Ich hatte in der Vergangenheit das Privileg gehabt, verschiedene Formen der Gesprächstherapie zu erleben – Jungsche Therapie, kognitive Verhaltenstherapie, psychodynamische Therapie –, hatte aber nie den Eindruck gehabt, dass die Einsichten, zu denen ich dabei gekommen war, eine bleibende Veränderung herbeiführten. Traumaarbeit erwies sich als etwas anderes. Sie half mir, mich auf eine Art zu verändern, wie es vorherige Therapien und Meditationen nicht vermocht hatten. Aber ich bemerkte auch, dass mir meine Achtsamkeitsausbildung während der Sitzungen half, die intensiven Emotionen und physischen Wahrnehmungen, die zum Vorschein kamen, besser wahrzunehmen und mit ihnen präsent zu bleiben. Angetrieben von den Vorteilen der Traumatherapie, schrieb ich mich für ein mehrjähriges Trainingsprogramm, genannt Somatic Experiencing, ein – ein zeitgenössischer therapeutischer Ansatz, der von dem Biophysiker Peter Levine entwickelt wurde.4 In dem Kurs lernte ich sowohl, wie der Körper auf Trauma reagiert, als auch sichere und praktische Wege, wie man mit Traumaüberlebenden arbeiten kann. Es ist eine beeindruckende Methode, die mein Denken geformt hat. Allerdings hatte ich auch das Gefühl, dass in dieser Arbeit etwas fehlte. Fortwährend sprachen Lehrer über die biologischen Wurzeln von Trauma, diskutierten jedoch nie die sozialen Ursprünge – einschließlich der mit Trauma einhergehenden unterdrückenden Systeme. Mir wurde beigebracht, Trauma als eine ausschließlich individuelle, vom Rest der Welt abgekoppelte Erfahrung zu betrachten. Und obwohl mir dieses Rahmenwerk als Studierender westlicher Psychologie vertraut war, fühlte es sich im Zusammenhang mit Trauma besonders problematisch an. Ich war zuvor politischer Aktivist gewesen, und nun war ich auf der Suche nach einem Heilungsansatz, der eine Brücke zwischen persönlicher und sozialer Veränderung schlug.

Ein Jahr später fand ich ihn. Ein Freund stellte mich Staci Haines vor, eine Lehrerin, Klinikerin und soziale Aktivistin, die in ihrer Arbeit ein systemisches Verständnis von Trauma vorschlägt.5 Zusammen mit Spenta Kandawalla, die sich für soziale Gerechtigkeit einsetzt und Akupunkteurin ist, gründete Staci Generative Somatics – eine nationale Non-Profit-Organisation mit Sitz in Oakland, Kalifornien, die soziale Analyse mit Traumaheilung kombiniert. Durch das Verweben von Erkenntnissen aus Neurowissenschaft, politischer Theorie und Prinzipien der transformativen Gerechtigkeit6 bietet die Organisation eine ganzheitliche Herangehensweise für die Heilung von Traumata an. Im Zentrum der Kurse stehen die Erfahrungen von Menschen, die durch Trauma und Unterdrückung am meisten betroffen sind7, und die Vision einer kollektiven Transformation bewegte mich bis ins Mark. Durch diese lebensverändernde Arbeit wurde Trauma zunehmend zu einer Linse, durch die ich die Welt zu sehen und zu verstehen lernte.

TRAUMA UND ACHTSAMKEIT

Auch während dieser Zeit fühlte ich mich weiterhin stark zur Achtsamkeitsmeditation hingezogen. Nach meiner Retreaterfahrung war ich noch immer auf der Hut, freute mich jedoch, Forschungsstudien zu finden, die bestätigten, was ich ebenfalls erfahren hatte: dass Achtsamkeit wirkliche, positive und messbare Veränderungen herbeiführen kann.8 Dennoch fragte ich mich weiterhin: Wie viele Menschen da draußen mochten sich wohl ebenso sehr quälen, wie ich es getan hatte? War meine Erfahrung eine Anomalie oder spiegelte sie einen größeren Trend wider? Ich fing an, Literatur zu studieren, die auf diese Fragen eine Antwort geben konnte, und realisierte, dass sich nur wenige Menschen geradeheraus mit der Beziehung von Achtsamkeit und Trauma beschäftigt hatten. Dadurch ermutigt, schrieb ich mich für ein Postgraduiertenprogramm der Psychologie ein, verfasste eine Dissertation zu dem Thema und fing schließlich an, über die Herausforderungen, die ich erfahren hatte, zu sprechen und zu schreiben.

Mir wurde schnell klar, dass ich nicht allein war. Nachdem ein Video von einer meiner Vorlesungen zu dem Thema anfing, im Internet seine Runden zu machen9, meldeten sich Menschen wie Nicholas bei mir, die ähnliche Erfahrungen gemacht hatten wie ich. Nicht jeder von ihnen war auf einem langen Retreat gewesen oder betrieb eine intensive Meditationspraxis. Oftmals hatten sie Achtsamkeitsmeditation lediglich bei einer der momentan vielfältig angebotenen Gelegenheiten ausprobiert – im örtlichen Gemeindezentrum, bei einem Stressreduktionsprogramm oder mithilfe von Anleitungen, die sie online gefunden hatten.

Dies war alarmierend. Ich nahm an, dass die meisten Achtsamkeitslehrer zwar wussten, was Trauma war, allerdings war ich weniger davon überzeugt, dass sie ausreichend ausgerüstet waren, um angemessen damit arbeiten zu können. Waren sie in der Lage, Trauma zu erkennen, geschweige denn zu sehen, wann ein Traumaüberlebender Hilfe brauchte? Wussten sie, wann ein Kursteilnehmer an einen Traumaspezialisten überwiesen werden musste? Und konnten sie Verbindungen zwischen Trauma und der systemischen Unterdrückung herstellen, der viele Menschen täglich ausgesetzt sind?

So entwickelte ich meine Leitfrage: Wie könnten Achtsamkeitslehrende, in Anbetracht der Allgegenwärtigkeit von Trauma, sicherstellen, dass sie Achtsamkeit in effektiver, kundiger und traumasensitiver Form lehrten?

TRAUMASENSITIVE ACHTSAMKEIT

Aus dieser Fragestellung heraus habe ich ein Rahmenwerk aus Prinzipien und Modifikationen entwickelt, die dazu dienen, traumasensitive Achtsamkeit zu unterstützen. Als eine Art „Best-Practices“-Ansatz zu dem Thema ist traumasensitive Achtsamkeit eine Stimme in einem eben beginnenden Diskurs darüber, wie eine trauma-bewusste Herangehensweise an Achtsamkeit und Meditation aussehen könnte.10 Traumasensitive Achtsamkeit bietet praktische Vorschläge im Kontext der Achtsamkeitslehre und richtet sich besonders an Achtsamkeitslehrer, Traumaexperten und an jeden, der daran interessiert ist, mehr zu diesem Thema zu erfahren.

Meine Definition von traumasensitiver Praxis stammt vom U.S. National Center for Trauma-Informed Care (2016):

Ein Programm, Organisation oder System, das trauma-kundig ist, nimmt die weitreichenden Auswirkungen von Trauma wahr und kennt potenzielle Wege, um sich von einem Trauma zu erholen; es erkennt Zeichen und Symptome von Trauma bei Klienten, Familien, Personal und anderen im System Involvierten; es reagiert, indem es Wissen über Trauma vollständig in seine Grundsätze, Prozeduren und Praktiken integriert; und es strebt aktiv danach, Retraumatisierung zu vermeiden.

Diese Definition ist eine praktische, auf gesundem Menschenverstand basierende Herangehensweise an traumasensitive Praxis und dient diesem Buch als Wegweiser. Durch die Einsicht, wie weitverbreitet Trauma ist, möchte ich Sie in die Lage versetzen, traumatische Symptome zu erkennen und eine Retraumtisierung Ihrer Klienten während Ihrer Achtsamkeitsarbeit zu vermeiden. Jedes Kapitel und jede Modifikation bezieht sich auf einen Teil dieser Definition: das Wahrnehmen von Trauma, das Erkennen der Symptome, das Reagieren darauf oder das Vermeiden einer Retraumatisierung.

Das Rahmenwerk, das ich Ihnen präsentieren werde, beinhaltet fünf Kernprinzipien, die zur Unterstützung von traumasensitiver Praxis konzipiert wurden. Diese fünf Prinzipien sind nicht als vorgeschriebener Ansatz zur Traumheilung gedacht – dafür ist Trauma viel zu komplex. Vielmehr biete ich Anregungen anstelle von Arbeitsschritten, die Sie dazu befähigen sollen, die für Ihre achtsamkeitsbasierte Arbeit relevanten Informationen einzubauen. Ich glaube fest daran, dass es in unserer Verantwortung liegt, Achtsamkeit dahingehend zu adaptieren, dass sie sich den spezifischen Bedürfnissen des Traumaüberlebenden anpasst und wir nicht davon ausgehen sollten, dass diese Menschen sich uns anzupassen haben.

Wie bin ich zu diesen Prinzipien gekommen? Ich begann mit der Suche nach Trauma-Schlüsselkonzepten, die mit Achtsamkeit in Verbindung standen. Dann habe ich jedes Konzept dazu genutzt, um mir Achtsamkeit wie durch eine Linse anzusehen– ein Prozess, der sowohl die Risiken als auch den Nutzen von Achtsamkeit in Bezug auf Trauma offenbarte. Beispielsweise glauben viele Traumaspezialisten, dass Körperarbeit entscheidend für die Heilung ist. Aus diesem Blickwinkel heraus kann Achtsamkeitsmeditation unterstützend wirken, weil sie das eigene Bewusstsein für den Körper erhöht, indem sie sich physischen Sinneswahrnehmungen widmet. Allerdings kann Achtsamkeit, ohne die richtige Anleitung, eine rein geistige und dissoziative Praktik sein, die Menschen dazu bringt, Empfindungen zu umgehen, die um Aufmerksamkeit wetteifern. Daher stellt sich die Frage: Was sind unter diesen Umständen die besten Wege für Menschen, die Trauma erleben, körperorientierte Achtsamkeit zu praktizieren? Bei meiner Arbeit bin ich daher durch drei primäre Ziele geleitet worden:

1 Das Leid für Menschen,die Achtsamkeit praktizieren, minimieren

Diejenigen von uns, die Achtsamkeit lehren oder in ihrer Arbeit anwenden, tragen die Verantwortung, sicherzustellen, dass die Menschen, mit denen sie arbeiten, bei der Achtsamkeitsmeditation so sicher und stabil wie möglich sind. Das Ziel jedweder Traumaarbeit, schrieb Babette Rothschild, muss es sein, „das Leid zu mindern und nicht zu intensivieren“. (2010, S. xi) Dies kann in Anbetracht dessen, dass Achtsamkeitsmeditation oft Stillsitzen mit geschlossenen Augen beinhaltet, eine erstaunlich schwierige Aufgabe sein. Woher können wir also wissen, ob jemand auf die von uns angebotenen Meditationsanleitungen traumatisch reagiert?

Es gibt keine einfachen Antworten auf diese Frage. Jede Person und jede Situation ist einzigartig. Jedoch können wir als Lehrer und Experten für seelische Gesundheit unser Bestes tun, um uns stetig fortzubilden. Wir können lernen, wie man Trauma erkennt und wie man effektiv darauf reagiert; wir können unsere Klienten an Menschen überweisen, die auf die Arbeit mit Trauma spezialisiert sind, und wir können unsere Achtsamkeitsarbeit an die Bedürfnisse traumatisierter Klienten anpassen – all dies kann einer Retraumatisierung vorbeugen. Mein Ziel ist es, Ihnen praktische, vernünftige Wege anzubieten, die zumindest versuchen, sicherzustellen, dass sich die Menschen in Ihrer Obhut nicht selbst schaden.

2 Ein systemisches Verständnis von Trauma voranbringen

Dieses Ziel wurde durch meine Arbeit mit Generative Somatics geprägt. Ich glaube, dass es mehr bedarf als des bloßen Abwandelns traditioneller therapeutischer Techniken, um ein traumasensitiver Achtsamkeitspraktiker zu werden. Wir müssen erkennen, was Trauma mit der Welt um uns herum zu tun hat. Wenn wir uns ausschließlich auf einzelne Teilbereiche von Trauma konzentrieren, gehen wir das Risiko ein, dass unsere Aufmerksamkeit von den unterdrückenden Systemen, die so oft die Wurzel von Traumata bilden, abgelenkt wird. Traumatischer Stress ist eine körperliche und seelische Erfahrung, aber darüber hinaus ist er eben auch eine politische Erfahrung. Dies zu verstehen – unseren eigenen soziologischen Kontext eingeschlossen –, kann Sicherheit und Vertrauen aufbauen und uns dabei helfen, die Menschen, mit denen wir arbeiten, bestmöglich zu unterstützen.

3 Für eine kontinuierliche Partnerschaft zwischenAchtsamkeitspraktikern und Traumaspezialisten eintreten

Jede dieser beiden Berufsgruppen hat der jeweils anderen unverzichtbare Erfahrung zu bieten. Traumaexperten, die die biologischen, psychologischen und sozialen Dimensionen von Trauma verstehen, können Achtsamkeitspraktikern dabei helfen, mehr über Trauma zu erfahren und somit eine entscheidende Rolle in deren Beratung spielen. Achtsamkeitspraktiker* wiederum verfügen über ein umfassendes Verständnis dafür, wie man geschickt mit dem Geist arbeitet, problematische Geisteszustände eingeschlossen. Während die Beziehung zwischen Achtsamkeit und Psychologie längst etabliert ist, bietet die aufkeimende Beziehung von Achtsamkeitspraktikern und Traumaexperten ein großes Potenzial für gemeinsames Vorankommen.

EINE WEGBESCHREIBUNG

Teil I dieses Buches bringt gewissermaßen Achtsamkeit und traumatischen Stress miteinander ins Gespräch. Ich definiere Trauma und Achtsamkeit, betrachte ihre jeweilige besondere Geschichte und untersuche, wie moderne Neurowissenschaft unser Verständnis von beidem formt. In Teil II behandle ich die fünf Prinzipien der traumasensitiven Achtsamkeit, indem ich relevante Theorien und Modifikationen präsentiere, die Sie bei Ihrer Arbeit anwenden können.

Dazu noch einige Vorbemerkungen. Erstens: Manchmal werde ich gefragt, ob es Achtsamkeit ist, die für Traumaüberlebende problematisch ist, oder ob es Achtsamkeitsmeditation ist, welche die Schwierigkeiten verursacht. Wie Sie sehen werden, tendiere ich zu Letzterem. Es ist wichtig, zwischen Achtsamkeit als Geisteszustand und der Art und Weise, wie dieser Zustand erreicht wird, zu unterscheiden. Achtsamkeit an sich verursacht kein Trauma – es ist die Ausübung von Achtsamkeitsmeditation, die ohne ein entsprechendes Traumaverständnis angeboten wird, die traumatische Symptome verstärken und verfestigen kann. Menschen praktizieren Achtsamkeit in unterschiedlichen Kontexten: zu Hause, im Rahmen einer Psychotherapie oder wenn sie an längeren Retreats teilnehmen. Angesichts der beschränkten Zahl empirischer Studien zur Beziehung von Achtsamkeit und Trauma bleibt uns nichts anderes übrig, als unseren gesunden Menschenverstand walten zu lassen. Was für den einen Traumaüberlebenden ein Trigger sein kann – wie zum Beispiel ein Meditationsretreat im Schweigen –, tut dem anderen gut. Wir sollten daher in der Lage sein, für die individuellen und andauernden Bedürfnisse unserer traumaüberlebenden Klienten empfänglich zu bleiben.

Zweitens: Traumasensitive Achtsamkeit ist nicht als Ersatz für bewährte Methoden der Traumaheilung gedacht. Sie werden von mir nicht die Behauptung hören, dass Achtsamkeit „heilen“ kann, was für viele ein so komplexes, intensives und andauerndes Thema ist. Statt dessen werde ich mich darauf konzentrieren, in welcher Weise Achtsamkeit eine Ressource für Traumaüberlebende sein kann, genauer gesagt, in welcher Weise Achtsamkeit dabei helfen kann, Erregungszustände zu regulieren und Stabilität beim Erleben von traumatischen Symptomen zu unterstützen – ein notwendiger Schritt innerhalb der Traumaheilung.

Zuletzt möchte ich klarstellen, dass ich nicht behaupte, dass Achtsamkeit – oder das Umfeld, in dem Menschen diese lehren und praktizieren – fehlerhaft ist. Ganz im Gegenteil glaube ich, dass sie eine tiefgreifende Ressource für Traumaüberlebende ist und dass Achtsamkeitsgemeinschaften sich zutiefst dem Wohlergehen ihrer Mitglieder verpflichtet fühlen. Gleichzeitig glaube ich aber auch, dass wir es besser machen können. Achtsamkeit muss nicht für jeden funktionieren, aber ich bin überzeugt, dass bestimmte Modifikationen dabei helfen können, Traumaüberlebende zu unterstützen – zumindest aber verhindern können, dass diese sich innerhalb ihrer Praxis selbst retraumatisieren. Die Rahmenbedingungen des Lehrens und Praktizierens von Achtsamkeit trauma-bewusst zu gestalten, ist ein natürlicher – und wie ich finde, notwendiger – Schritt in der Entwicklung einer zeitgenössischen Achtsamkeitsbewegung.

Die Auseinandersetzung mit Trauma verlangt uns eine Menge ab. Wie die feministische Psychiaterin und Professorin Judith Herman schrieb, konfrontiert es uns „mit der Verwundbarkeit des Menschen in seiner natürlichen Umwelt und mit der Fähigkeit zum Bösen als Teil der menschlichen Natur“. (2003, S. 17) Trauma zu studieren bedeutet auch, das Leid, das in größeren unterdrückenden Systemen gebunden ist, zu untersuchen – Systeme, die ganze Gemeinschaften von Menschen anfälliger für Trauma machen und andere Gemeinschaften wiederum davor schützen. Achtsamkeit kann uns dankenswerterweise dabei helfen. Sie stärkt unsere Fähigkeit, mit dem Unerträglichen gegenwärtig zu sein. Dies, so glaube ich, ist eine Aufgabe innerhalb der traumasensitiven Arbeit: sich dem Leid in seinen vielen Formen zu stellen. Wie der Schriftsteller und Gesellschaftskritiker James Baldwin schrieb: „Nicht alles lässt sich ändern, aber nichts ändert sich von selbst.“

* Ich benutze den Begriff „Traumaüberlebende“ durchgehend im Buch, als Kürzel für „Kursteilnehmer und Klienten, die Symptome posttraumatischen Stresses erleben“. Wie ich im Weiteren noch genauer ausführen werde, erfährt nicht jeder Traumaüberlebende notwendigerweise posttraumatischen Stress oder hat Schwierigkeiten mit Achtsamkeitsmeditation.

* „Unterdrückung“ schrieb die Polit-Pädagogin und somatische Praktikerin Sumitra Rajkumar, „ist der soziale Zustand, in dem die brachialen Machtdynamiken historischer Kräfte, wie zum Beispiel Kapitalismus, weiße Vorherrschaft und Patriarchat, unnötiges Leid erzeugen und das Leben und die Selbstbestimmung einschränken.“ (persönliches Gespräch, 12. Juni 2016)

* Ich gebrauche den Ausdruck „Achtsamkeitspraktiker“, um sowohl Achtsamkeitslehrende zu beschreiben, als auch Menschen, die auf Achtsamkeit basierende Interventionen innerhalb ihrer psychotherapeutischen Arbeit nutzen. Die Bezeichnungen „Klienten“ und „Kursteilnehmer“ benutze ich durchgängig im Buch, um jene Menschen zu beschreiben, die Achtsamkeit unter der Anleitung von Lehrern/Therapeuten/Heilpraktikern üben.

TEIL I

Grundlagentraumasensitiver Achtsamkeit

KAPITEL 1

Die Allgegenwärtigkeit von Trauma:sichtbare und unsichtbare Formen

Die Dinge verschlechtern sich nicht, sie werden aufgedeckt.

Wir müssen uns gegenseitig stützen und damit fortfahren, den Vorhang wegzuziehen.

Adrienne Maree Brown

Manchmal erleben wir Dinge, die unserem Bedürfnis nach Sicherheit, einer verlässlichen Ordnung, nach Berechenbarkeit und Rechtmäßigkeit so sehr zuwiderlaufen, dass wir damit nicht mehr fertigwerden – dass wir nicht mehr in der Lage sind, Dinge zu integrieren, und schlicht und einfach unfähig, so weiterzumachen wie bisher. Unfähig, die Realität zu ertragen. Diese Art von Erlebnissen, die uns zutiefst erschüttern, nennen wir Traumata. Niemand von uns ist gegen sie immun.

Stephen Cope

„Der Schaden, den ich erlitten habe, ist innerlich, unsichtbar. Ich trage ihn mit mir. Du hast mir meinen Wert genommen, meine Privatsphäre, meine Energie, meine Zeit, meine Sicherheit, meine Intimsphäre, mein Selbstvertrauen, meine eigene Stimme, bis heute.“

Diese Worte sagte eine 23-jährige Frau in einem Gerichtssaal in Kalifornien am 2. Juni 2016.11 Sie richteten sich vor der Urteilsverkündung an Brock Turner, einen Studenten der Stanford University, der in drei Anklagepunkten sexueller Nötigung vor Gericht stand. In der Nacht der Attacke war Turner – damals 19 und Mitglied des Stanford-Schwimmteams – von zwei ausländischen Studierenden gestellt worden. Sie waren Zeugen geworden, wie Turner eine halbnackte, bewusstlose Frau am Rande einer Campusparty angegriffen hatte – dieselbe Frau, die nun hier vor ihm im Gerichtssaal stand.

„Ich stand da und betrachtete meinen Körper unter dem Wasserstrahl“, führte die Frau ihre Erfahrungen in der Notaufnahme weiter aus, „und ich beschloss, dass ich meinen Körper nicht länger haben wollte. Er erschreckte mich … Ich wollte meinen Körper wie eine Jacke ablegen und ihn mit allem anderen im Krankenhaus zurücklassen.“

Turner konnte nicht wissen, dass das Statement, das man ihm da vorlas, in der folgenden Woche 14 Millionen Mal online abgerufen werden würde.12 Darüber hinaus wurde es live und ohne Unterbrechung 25 Minuten lang auf CNN vorgelesen. Die Menschen waren geschockt und verstört, als die Frau – deren Identität der Öffentlichkeit nicht bekannt ist – den seelischen Schiffbruch darlegte, den sie als Nachwirkung der Attacke erlitt: schlimmste Angstzustände, ein überwältigendes Gefühl der Scham und chronische Albträume von Übergriffen, ohne aufwachen zu können.

Ebenso schrecklich war für viele die milde Strafe, die Turner erhielt: sechs Monate in einem Bezirksgefängnis statt bis zu 14 Jahre in einem Staatsgefängnis. Der Richter, der über diesen Fall entschied, selbst ein Stanfordabsolvent, hatte die Befürchtung, dass ein längerer Gefängnisaufenthalt einen „schwerwiegenden Effekt“ auf Turner haben und sich negativ auf seine Olympiahoffnungen auswirken könnte – ein Thema, das während der Gerichtsverhandlung wiederholt aufkam. In einem Brief, in dem Turners Vater als Leumundszeuge auftrat, schrieb er, dass Brock zu hart für eine „20 minütige Tat“ bestraft würde und dass er „zuvor noch nie anderen gegenüber gewalttätig gewesen“ sei, und auch in der Nacht der Attacke sei er es nicht gewesen.13

Am Tag nach der Urteilsverkündung war ich mit meiner engsten Freundin in einem Café und beobachtete sie dabei, wie sie das Statement des Opfers las. Es war quälend, mit ansehen zu müssen, wie sie die Worte in sich aufnahm. Dies war eine Freundin, von der ich viel über Sexismus gelernt hatte, die mein Bewusstsein für die sozialen Normen, die sie als Frau zum Objekt herabwürdigen und Männer wie Turner schützen, erweitert hatte. Ich mochte diese Freundin sehr. Ihr dabei zusehen zu müssen, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten, erfüllte mich mit einer Mischung aus Wut und Hilflosigkeit. Praktisch alle Frauen in meinem Leben – meine Freundin eingeschlossen – sind Opfer sexueller Gewalt geworden. Instinktiv verstand sie daher den inneren Aufruhr, die Flashbacks, die Isolation, die Turners Opfer beschrieb.

Später am gleichen Morgen erfuhren wir, dass ein vierter Polizeibeamter aus Baltimore für den Totschlag an Freddie Gray – einem 25 jährigen afro-amerikanischen Mann, der im vorausgegangenen Jahr in Polizeigewahrsam gestorben war – freigesprochen worden war.14 Es war einer aus einer Reihe von Vorfällen – Michael Brown in Ferguson, Missouri; Rekia Boyd in Chicago, Illinois; Tamir Rice in Cleveland, Ohio –, bei denen ein unbewaffneter schwarzer Mensch durch die Hand eines Polizisten gewaltsam zu Tode kam. Meine Freundin und ich hatten den Prozess in Teilen verfolgt, und wir waren ziemlich verzweifelt. Wir hätten beide gerne daran geglaubt, dass diese Fälle, von denen wir an diesem Tag gelesen hatten, Ausnahmen waren.

Aber sie waren es nicht. In den Vereinigten Staaten wird nahezu eine von fünf Frauen im Laufe ihres Lebens vergewaltigt15, und Schätzungen zufolge wird alle 28 Stunden ein schwarzer Mensch von der Polizei, Sicherheitspersonal oder durch vom Staat geduldete Bürgerwehren ermordet.16 An diesem Tag wurden wir lediglich an diese Tatsache erinnert, konfrontiert mit einer Form von traumatisierender Gewalt, die, obwohl sie so vielen vertraut ist, oft unterdrückt und außerhalb der öffentlichen Wahrnehmung gehalten wird.17

An diesem Abend besuchten meine Freundin und ich eine Achtsamkeitsgruppe. Die Meditation half mir, mich von meinen Grübeleien freizumachen, Verbindung mit meinem Körper aufzunehmen und Empathie für mich selbst und für andere herzustellen. Mir als weißem, heterosexuellem Mann mit politischer Urteilsfähigkeit half Achtsamkeit dabei, meine Fähigkeit auszubauen, mich Formen unterdrückender Gewalt zuzuwenden, statt mich reflexartig von ihnen abzuwenden. Kurz nachdem wir zwei frei Plätze im Meditationsraum gefunden und es uns bequem gemacht hatten, erklang die Glocke, um die halbstündige Schweigemeditation einzuläuten. Meine Freundin griff nach meiner Hand und drückte sie leicht.

Nach der Hälfte der Zeit wurde es für meine Freundin schwierig. Ich merkte, wie sie neben mir unruhig wurde, und als ich meine Augen öffnete, sah ich, dass ihr Gesicht angespannt war und ihre Schultern zitterten. Einige Minuten später stand sie leise auf und ging.

Während der Pause fand ich sie zitternd in der Kälte. Sie war von Bildern der Gewalterfahrungen aus ihrer Vergangenheit überwältigt worden – Erinnerungen, die durch das Lesen der Schilderungen von Brock Turners Opfer an diesem Morgen ausgelöst worden waren. Ihre Herzfrequenz war während der Meditation hochgeschnellt, und das Gewahrsein ihres Pulses hatte ihre Anspannung nur noch intensiviert. Normalerweise war Meditation meiner Freundin eine Zuflucht, aber an diesem Abend hatte sie in ihr ein Gefühl des In-der-Falle-Sitzens ausgelöst, verbunden mit dem Gefühl, kurz vor einer Panikattacke zu stehen.

Als wir ins Foyer zurückgingen, trat eine Frau mittleren Alters zu uns. Sie machte sich Sorgen, denn sie hatte meine Freundin während der Meditation fortgehen sehen und wollte wissen, ob sie helfen konnte. Durch die freundliche Geste getröstet – und durch das Wissen, dass diese Frau über viel Meditationserfahrung verfügte –, beschloss meine Freundin, zu erzählen, was mit ihr während der Meditation geschehen war. Die Frau nicke empathisch, offensichtlich berührt von dem, was sie zu hören bekam. Nach ihrer Erfahrung, so sagte sie sanft, könne Meditation diese Form von Schmerz hervorrufen. Es sei keine Praxis für schwache Nerven. Aber sie war auch überzeugt, dass Durchhaltevermögen der Schlüssel zum Erfolg war. Wenn meine Freundin über genug Entschlusskraft verfügte, würde sich der eiserne Griff der Erinnerungen lösen. Die Frau war sich sicher – beruhend auf ihrer eigenen Erfahrung –, dass Achtsamkeit jeden Schmerz heilen konnte.

Meine Freundin und ich dankten ihr. Im Stillen jedoch hoffte ich, ich könnte ihre Überzeugung teilen.

TRAUMASENSITIVE ACHTSAMKEIT

Wenn Menschen erfahren, dass ich über Trauma und Achtsamkeit schreibe, erwarten sie oft, dass ich mich ausschließlich zu Möglichkeiten äußere, wie Achtsamkeit die Traumaheilung unterstützen kann. Tatsächlich kann sie das auch: Achtsamkeit kann das Bewusstsein für den gegenwärtigen Augenblick erhöhen, unser Selbstmitgefühl steigern und die Fähigkeit zur Selbstregulation bei Menschen, die von posttraumatischem Stress betroffen sind, verbessern.18,19 Achtsamkeit kann aber eben auch Probleme für Menschen schaffen, die mit traumatischem Stress zu kämpfen haben.20 Wenn wir jemanden, der ein Trauma erlitten hat, auffordern, seiner inneren Welt genaue und ausdauernde Aufmerksamkeit zu schenken, fordern wir ihn zum Kontakt mit traumatischen Stimuli auf – Gedanken, Bilder, Erinnerungen und physische Sinneseindrücke, die mit dem traumatischen Ereignis in Verbindung stehen. Dies kann, wie meine Freundin erfahren musste, Symptome von traumatischem Stress verstärken und intensivieren und in manchen Fällen sogar zu einer Retraumatisierung führen – einem Rückfall in einen zutiefst traumatisierten Zustand.

Dies wirft entscheidende Fragen für diejenigen von uns auf, die Achtsamkeitsübungen anleiten. Welche Verantwortung tragen wir Menschen gegenüber, die Trauma erleben? Ist ein gewisses Maß an Schmerz beim Üben von Achtsamkeit zu erwarten? Wie können wir wissen, ob ein Traumaüberlebender meditieren sollte oder eher nicht? Und wie können wir unsere eigenen Grenzen beim Verstehen der Traumata anderer Menschen zu einem Mittel machen, um diese Menschen bestmöglich zu unterstützen? Zusammengefasst: Wie können wir Achtsamkeitsübungen auf eine traumasensitive Art anbieten?

Ob traumasensitiv oder trauma-bedacht, in der Praxis bedeutet das, dass wir über ein grundsätzliches Verständnis von Trauma im Kontext unserer Arbeit verfügen müssen. Zum Beispiel kann ein traumabewusster Arzt Patienten um Erlaubnis bitten, bevor er sie berührt. Oder ein trauma-kundiger Schulpsychologe könnte einen Schüler fragen, ob er die Tür während der Sitzung lieber offen oder geschlossen halten möchte und sich nach einer angenehmen Sitzentfernung erkundigen. Mit trauma-kundiger Achtsamkeit wenden wir dieses Konzept in der Achtsamkeitsanleitung an. Wir verpflichten uns, Trauma zu erkennen, angemessen darauf zu reagieren und vorbeugende Schritte zu unternehmen, damit sich Menschen, die sich von uns anleiten lassen, nicht selbst retraumatisieren.21

Der Bedarf an traumasensitiver Achtsamkeit wird klar, wenn man einen Blick auf die Statistik wirft. Währen des letzten Jahrzehnts ist die Popularität von Achtsamkeit explosionsartig angestiegen.22 Sie wird heute an einer Vielzahl nicht-religiöser Orte angeboten, etwa an Grund- und weiterführenden Schulen, in Unternehmen und Krankenhäusern23. Eine Vielzahl an Workshops, Retreats, Konferenzen, Seminaren und Instituten bieten Achtsamkeitsübungen an. Bücher und Artikel zu diesem Thema haben den Markt geradezu überschwemmt24. Gleichzeitig ist Trauma sehr weitverbreitet. Die Mehrheit von uns – wie ich in Kürze detaillierter beschreiben werde – wird im Verlauf unseres Lebens mindestens einer Art von traumatischem Erlebnis ausgesetzt sein, und einige von uns werden in der Folge beeinträchtigende Symptome entwickeln. Wenn wir Ziel systemischer Unterdrückung sind25 – wie etwa jemand, der arm ist, der Arbeiterschicht entstammt, behindert, eine „Person of color“, Transgender oder eine Frau ist –, sind wir einer weitaus größeren Wahrscheinlichkeit ausgesetzt, im Laufe unseres Lebens zwischenmenschliches Trauma zu erfahren und jeden Tag unter traumatisierenden Umständen leben zu müssen.26

Dies bedeutet, dass, wo auch immer Achtsamkeit praktiziert wird, die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass jemand der Anwesenden mit traumatischem Stress zu kämpfen hat. Vom Schüler, der Zeuge häuslicher Gewalt wurde, bis zum älteren Menschen, der kürzlich seinen Partner durch einen Sturz verloren hat, Trauma wird oft präsent sein. Und obwohl nicht jeder, der ein Trauma erfahren hat, notwendigerweise negativ auf Achtsamkeit reagieren wird, müssen wir auf diese Eventualität vorbereitet sein.

Ich werde in jedem Kapitel ein Beispiel präsentieren, um das Konzept, das ich vorstelle, zu verdeutlichen. Jeder dieser Fälle wird sich aus Erfahrungen mit verschiedenen Menschen, mit denen ich gearbeitet habe, zusammensetzen, wobei jedoch alle identifizierenden Merkmale geändert wurden. Dies vorausgeschickt, lassen Sie mich RJ vorstellen – ein Schüler, der sich an der Schnittstelle von Meditation und traumatischem Stress wiederfand.

RJ: IN STILLE LEIDEN

RJs Magen verkrampfte sich, als der Achtsamkeitslehrer den Klassenraum betrat. Es war Dienstagnachmittag, und er hatte vergessen, dass dies die Unterrichtstunde war, in der die Meditationsübungen stattfanden. Ihm brach der Schweiß aus, und er sah sich im Klassenraum um, nur um seine Klassenkameraden entspannt und gut gelaunt vorzufinden – ein Anblick, der seine eigene Not noch verstärkte. Plötzlich fühlte er sich,

als müsste er sich übergeben.

Seit drei Wochen lernte RJ an seiner Schule Achtsamkeitsmeditation. Ursprünglich war er der Idee gegenüber sehr offen gewesen – dankbar für die willkommene Ablenkung vom regulären Unterricht. Allerdings empfand er die Praxis schnell als quälend. Während der Meditationsübungen überlagerte sich die Stimme seines Lehrers mit dem Geräusch seines Herzschlags. Er konnte sich nicht auf seinen Atem konzentrieren und bemerkte, dass er jede Meditation extrem aufgewühlt verließ und dieser Zustand für den Rest des Tages anhielt. Nachdem er um Erlaubnis gefragt hatte, der Stunde an diesem Nachmittag fernzubleiben, lief RJ zügig zu den Toiletten, schloss sich in einer der Kabinen ein und nahm sein Telefon heraus. Er hielt es nicht aus, von Menschen umgeben zu sein und musste flüchten, um sich beruhigen zu können.

Vor vier Monaten hatte RJ seine ältere Schwester Michelle durch einen Autounfall verloren. Sie war beim Joggen in der Nachbarschaft von einem Autofahrer erfasst worden, der übersehen hatte, dass sie bereits in die Kreuzung gelaufen war. RJ war nach dem Fußballtraining nach Hause gekommen, um seine Eltern, beide im Schockzustand, mit einem Polizisten am Tisch sitzend vorzufinden. Er erfuhr, dass Michelle seine neuen Kopfhörer getragen hatte – diese waren vermutlich der Grund dafür gewesen, dass sie das nahende Auto nicht gehört hatte. Er litt sehr darunter, sich für den Tod seiner Schwester verantwortlich zu fühlen, und für den Rest der Woche war ihm, als befände er sich im freien Fall.

Die folgenden Monate waren grauenvoll. Seine Lehrer sahen ihn oft allein im Flur sitzen, desolat und verloren. Die Essenspakete, die ihm seine trauernde Mutter für die Mittagspause mitgab, blieben unberührt27, RJ gab das Basketballtraining auf und begann die Schule zu schwänzen, um im nahegelegenen Park Drogen zu konsumieren. Darüber hinaus entwickelte er Albträume über den Unfall und bekam Panikattacken, sobald er Jogger in seiner Nachbarschaft sah. Emotional abwesend und taub, fühlte sich RJ gefangen in einem Vakuum zwischen seinem jetzigen Leben und dem Tag, an dem er seine Schwester verloren hatte.

Stille fiel RJ am schwersten. Nachts lag er wach in seinem Zimmer und wartete darauf, seine nach Hause kommende Schwester zu hören. Er erinnerte sich an die Art, wie sie ihren Schlüssel auf den Tisch gelegt hatte und dann leise zum Kühlschrank geschlichen war. In der Hoffnung, dass der Unfall nur ein Albtraum gewesen war, wartete er auf das Geräusch ihrer Schritte vor der Tür seines Zimmers. Aber sie kam nie mehr zurück.

Dies machte RJ die Achtsamkeitsmeditation unmöglich. Sobald er seine Augen schloss, fühlte er sich von der Stille und Dunkelheit überwältigt. Er versuchte seine Aufmerksamkeit auf seinen Atem zu konzentrieren, aber alles, was er sehen konnte, war das Gesichts seiner Schwester. Manchmal sah er die Straßenecke, an der sie gestorben war. Insgesamt rief die Meditationspraxis bei ihm ähnliche Symptome hervor, wie sie meine Freundin an jenem Abend im Meditationsraum erfahren hatte – ein Gefühl der Angst und des Erstickens, gepaart mit extremer Anspannung. An jenem Nachmittag waren für RJ das Verlassen des Klassenzimmers und das Einschließen in der Toilette die einzige Möglichkeit, mit der Situation umzugehen.

STRESS UND TRAUMA

Was passierte da mit RJ? Abgesehen von der verständlichen Trauer über den Verlust seiner Schwester, was war es, das diese spezifischen Symptome verursachte?

Ohne sich darüber klar zu sein, erfuhr RJ traumatischen Stress. Seine Isolation, der Appetitverlust, die erhöhte Anspannung, sein Leichtsinn und die Albträume waren alle Traumasymptome. Dasselbe galt für die Bilder seiner Schwester, die sich ihm während der Meditation aufdrängten. Trauma kann eine qualvolle, niederschmetternde Erfahrung sein, die uns verängstigt und hilflos sein lässt und uns von jeglicher Form von Leichtigkeit und Freude entfremdet – und RJ steckte mittendrin in dieser Qual.

Um traumatischen Stress besser zu verstehen, sollten wir damit beginnen, ihn zu definieren. Unsere zeitgenössische Definition dieses Begriffs stammt von Hans Selye, einem österreichisch-ungarischen Endokrinologen. Selye charakterisierte Stress als die unspezifische körperliche Antwort auf jedweden Veränderungsbedarf.28 Er erkannte, dass Stress an sich weder gut noch schlecht ist – er ist lediglich etwas, das einen Einsatz unsererseits verlangt. Unser Nervensystem unterscheidet nicht zwischen „positivem“ und „negativem“ Stress. Fahrradfahren, Autofahren oder sexuelle Aktivität sind allesamt Stressoren. Sogar gute Neuigkeiten – wie zum Beispiel die Nachricht einer erhofften Schwangerschaft oder einer Beförderung am Arbeitsplatz –, sind eine Form von Stress. Meist verbinden wir „Stress“ jedoch mit Belastung und Problemen. Endlose Arbeitstage, finanzielle Schwierigkeiten, zwischenmenschliche Konflikte oder abwertende Kommentare sind allesamt Beispiele für negativen Stress. Es gibt eine ganze Industrie, die sich mit Stressreduktion befasst, und Achtsamkeit spielt darin eine tragende Rolle.

Obwohl negativer Stress sich stark auf unsere Lebensqualität auswirken kann, ist er von traumatischem Stress – der intensivsten Form von Stress, die wir erleben können – klar abgegrenzt. Traumatischer Stress resultiert aus dem Erleben eines einzelnen oder einer Reihe traumatischer Ereignisse. Viele Menschen haben multiple Traumaerfahrungen, zum Beispiel, wenn bestimmte Erlebnisse sich ständig wiederholen und, oft kollektiv, geleugnet werden. Dies kann sexuelle und häusliche Gewalt sein, „Date Rape“ oder die Art sexuellen Übergriffs, wie ich sie eingangs dieses Kapitels beschrieben habe. Darüber hinaus wird jedes Mal, wenn ein erneutes Hassverbrechen oder ein durch die Polizei verursachter Mord geschieht, durch diese fortwährende Unterdrückung traumatischer Stress erzeugt. Traumatischer Stress bezieht sich nicht immer nur auf einen einzelnen, isolierten Vorfall.

In der aktuellen fünften Ausgabe des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (5. Auflage, DSM-5; American Psychiatric Association, 2013) wird ein traumatisches Erlebnis definiert als die tatsächliche oder gefürchtete Erfahrung, Tod, schwerer Verletzung oder sexuellem Missbrauch ausgesetzt zu sein. Diese Exposition kann aus dem persönlichen Erleben oder Miterleben eines traumatischen Ereignisses resultieren oder auch daraus, dass ein Familienmitglied oder ein enger Freund einem solchen Vorfall ausgesetzt war. Sie kann auch dadurch entstehen, dass man Einzelheiten dieses traumatischen Vorfalls wiederholt oder in extremer Weise ausgesetzt ist. Manchmal geschieht das im Kontext der eigenen Arbeit – wie zum Beispiel bei Ersthelfern oder medizinischem Notfallpersonal oder jedem, der sich näher mit Trauma beschäftigt.

DAS SPEKTRUM VON TRAUMA

Ein einzelnes traumatisches Erlebnis wird keine Langzeitfolgen verursachen. Es trifft uns, aber wir sind in der Lage, die Erfahrung umzuwandeln – also unsere Gedanken, Erinnerungen und Emotionen zu verarbeiten, ohne von ihnen übermannt zu werden oder in ihnen steckenzubleiben. Manchmal entwickeln wir jedoch Symptome, die über das traumatische Ereignis hinaus reichen. Dies können wiederholte Flashbacks, quälende körperliche Empfindungen oder starke Stimmungsschwankungen sein, die völlig unvermittelt auftreten. Irgendeines unserer inneren Warnsysteme schaltet nicht ab, und wenn eine traumatische Erfahrung durchkommt, richtet sie in unserem Körper und Geist Verwüstungen an.

Dies bezeichnet man als posttraumatischen Stress – eine Erfahrung, bei der traumatische Symptome über das traumatische Ereignis hinaus erlebt werden. Da wir nicht in der Lage sind, das Erlebte zu integrieren, verfolgt uns der Eindruck des Traumas bis in die Gegenwart und spielt sich dort wieder und wieder für uns ab. Posttraumatischer Stress stellt daher das Konzept, dass Zeit alle Wunden heilen kann, fundamental in Frage.