Träume altern nicht - Johanna Penski - E-Book

Träume altern nicht E-Book

Johanna Penski

4,7

Beschreibung

Am Vorabend des Zweiten Weltkriegs, in einer Kleinstadt bei Kolberg, träumt ein kleines Mädchen vom Film. Johanna möchte Filmluft schnuppern, die heiligen Hallen von Babelsberg betreten – koste es, was es wolle. Ein halbes Jahrhundert später wird ihr Mädchentraum endlich Wirklichkeit. Im Rentenalter beginnt Johanna Penski eine Laufbahn als Filmstatistin, und bald kennt und liebt ganz Deutschland die »Edelkomparsin aus Berlin-Tempelhof«. Bett- und Mordgeschichten, Komödien und Lovestorys, über 850 Drehs – in kleinen Rollen findet Johanna das große Glück und landet mit 86 Jahren unversehens auf dem roten Teppich der Filmgeschichte. Zu sehen ist sie dabei unter anderem in bekannten Filmen, wie Sonnenallee, Zweiohrküken und Der Baader Meinhof Komplex. Eine Geschichte, die Sehnsüchte weckt und zum Nacheifern einlädt. Eine Hymne auf das Leben, das manchmal schöner ist als jeder Film.

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://d-nb.de abrufbar.
Für Fragen und Anregungen:
[email protected]
1. Auflage 2015
© 2015 by mvg Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH
Nymphenburger Straße 86
D-80636 München
Tel.: 089 651285-0
Fax: 089 652096
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Redaktion: Dr. Carina Heer
Umschlaggestaltung: Kristin Hoffmann
Umschlagabbildung: Harry Schnitger
Bilder Innenteil: privat, außer gekennzeichnete Ausnahmen
Satz: Carsten Klein, München
E-Book: Daniel Förster, Belgern
ISBN Print 978-3-86882-547-3
ISBN E-Book (PDF) 978-3-86415-711-0
ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-86415-712-7
Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter
www.mvg-verlag.de

Inhalt

Titel
Impressum
Inhalt
I Mädchenträume
Stars und Sterne
Fräulein Heinze und der Männerchor
Trugbilder
Kolberg – Statistin im Hitlerstaat
Bauernmädel und Burgfräulein
Ausgeträumt
»Glück jehabt«
Fata Morgana
II Weiterleben
Hauptsache, gesund
Kein Schnee von gestern
Eine wie du
»Im Osten ist es wie im Westen«
Herzstillstand
III Träume altern nicht
»Ick glob, da kommt noch wat« – es ist nie zu spät für einen Neuanfang
Ein himmlischer Dreh – wie ich mich hinten anstellte und ganz nach vorne kam
Die Eiserne Jungfrau – wie Mut zur Hässlichkeit mir einen wunderschönen Moment bescherte
Flintenweib mit Lockenwicklern – im Alter macht man keine halben Sachen mehr!
Gekonnt abtreten – im Film stehst du immer wieder auf
Rückwärts gehen, zurückschauen – wie ich zur Zeitreisenden wurde
Die Nonne mit dem Schnapsglas – über den Sinn des Widersinns
Frau Senf und der Zucker – der Film als Mittel gegen die Einsamkeit
Die Fliege – Mut ist keine Frage des Alters
Wäschemodel mit weißem Haar – wie ich mit 60 anfing, mich hübsch zu finden
Der Oma-Trick – alt und kein bisschen dämlich
Dinosaurier – warum Altern kinderleicht sein kann
Der letzte Lauf – über die Magie des letzten Mals
Sternstunden – wie mich der Film nach Hause brachte
Einmal Hauptfigur – wie ich mit 86 Jahren auf den roten Teppich kam
Epilog

»Manchmal kann in einem Gesicht eine ganze Geschichte und eine ganze Zeit erzählt sein. Das muss nicht immer unbedingt eine Hauptrolle sein, in der man das sieht. Wenn man als Regisseur Glück hat, kann man auch plötzlich eine so wunderbare Frau wie Johanna Penski unter den Komparsen entdecken. Wie Peter Falk im ›Himmel über Berlin‹ über Statisten sagt: ›These people are extra. Extra people. Extra humans …‹1«

Wim Wenders

1 Dt.: Diese Leute sind eine Bereicherung. Sie sind etwas Besonderes. Besondere Menschen.

IMädchenträume

Oft wache ich morgens auf und denke, ich träume. Im Alter habe ich mir einen Wunsch erfüllt, der mich schon als kleines Mädchen beseelte. Vor bald 90 Jahren, in Treptow, einer Kleinstadt bei Kolberg. Damals ahnte ich nichts von den großen Umbrüchen, die das 20. Jahrhundert für uns bereithielt.

Ich liebte das Tanzen, und ich verehrte die deutschen Schauspieler. Eines Tages wollte ich Filmluft schnuppern, koste es, was es wolle.

Ich war kaum sechs Jahre alt, als ich vor dem Mietshaus, das ich mit Mutter, Vater und meiner Schwester Frieda bewohnte, die Straße entlangtanzte.

Stars und Sterne

Es ist Sonntag. Mutter hat mir eines der Kleider aus dem schweren Bauernschrank angezogen, der beinahe den ganzen Flur einnimmt, sie hat mir eine seidige Feder ins Haar gesteckt und mir einen Klaps gegeben. Mit drei Sätzen fliege ich die ausgetretenen Steinstufen hinunter, auf den Lippen eine jener Melodien, die Mutter in der Küche singt, und die direkt ins Blut gehen. Ich drehe mich, wilder, schneller. Atemlos die Straße vor unserem Haus hinunter. Das Klappern meiner Sandalen auf dem Kopfsteinpflaster, der Geruch von Holzkohle, das Lied, das mir das Herz hebt. Erst am Haus des Töpfers halte ich inne und sehe zu den Nachbarhäusern empor. Die Nachbarn rechts und links von uns und meine Mutter haben die Vorhänge beiseitegezogen, sie winken und applaudieren. Ich knickse nach allen Seiten, glücklich.

Dieses Gefühl aus meiner Mädchenzeit habe ich nicht vergessen. Ich habe es abgelegt, wie man ein geliebtes, aber aus der Mode gekommenes Kleid in die hinterste Ecke des Schrankes packt. Es passte nicht in mein Leben, zu Krieg, Flucht, Wiederanfang, es wurde übertönt vom Lärm und den Gefahren des Dritten Reichs, von der Geschäftigkeit der Nachkriegszeit und vom Schweigen nach dem Mauerbau. Im Alter kam dieses Gefühl zurück, das war wie ein kleines Wunder. Plötzlich war alles wieder da: die Freude am Spiel, an der Verwandlung. Die Lust und die Scheu, mich zu zeigen. Dieses köstliche Gefühl.

Fräulein Heinze und der Männerchor

Mein Vater war Schlossermeister in Treptow, ein strenger, korrekter Mann mit preußischen Idealen. Für uns Mädchen hatte er wenig Lob übrig, aber er liebte die Musik und brachte großzügig jene alten Lieder in unser Leben, von denen ich bis heute kein Wort vergessen habe. Sonntags sang er beim Schuhputzen rheinische Lieder, während seine drei Frauen noch in den Kissen lagen und träumten. Meine Mutter, meine Schwester Frieda – Fried­chen – und ich, Hanni, teilten uns anderthalb Zimmer mit ihm, aber eng wurde es uns nie. Gleich hinter dem Mietshaus, in dem wir wohnten, floss die Rega ruhig in ihrem grünen Bett und nur ein paar Straßen weiter lagen Fräulein Heinzes Säle, wo meine Mutter kellnerte. Wie das vornehme Fräulein zu einem Tanzlokal kam, in dem sie auch Bier ausschenkte, weiß ich nicht, aber wir liebten ihr Haus, als wäre es unser eigenes. Samstags fuhren meine Schwester und ich auf der blank gewienerten Tanzfläche Rollschuh, und wenn der Vater mit seinem Gesangsverein, dem »Männerchor Frohsinn«, auftrat, saßen wir in der ersten Reihe, stolz bis in die Haarspitzen. Auch meine Großmutter arbeitete für das Fräulein, noch heute sehe ich sie mit zwei Eimern Koks, die die riesigen Kohleöfen im großen Saal befeuerten, schwerfällig über den Hof gehen. »Lat mik in Ruh, Mäken«, sagte sie in ihrem lustigen Platt, wenn ich ihr Hilfe anbot, und ihre Augen blitzten vor Stolz, gebraucht zu werden. Die Frauen in meiner Familie gaben uns Mädchen etwas mit, für das ich bis heute dankbar bin. Sie brachten uns bei, dass Bescheidenheit und Stolz Geschwister sind. Dass eins ohne das andere wertlos ist.

Meine Mutter kochte mit derselben Hingabe Kirschklieben, mit der sie älteren Damen in weißer Schürze Kuchen servierte oder uns Kleider nähte. Im Winter, wenn Eisblumen am Fenster glitzerten und wir in unserer geheizten Stube zusammenrückten, setzte sie sich abends mit ihrer Singermaschine an unsere Betten und nähte die halbe Nacht durch. »Bin ich auch nicht zu laut?«, fragte sie und wusste doch, dass das Rattern der fußbetriebenen Nadel uns wie eine kleine Nachtmusik ins Reich der Träume begleitete. Unser erster Blick am Morgen ging dann zum Kohleofen, in dem noch Zeitungsasche glomm. Davor hatte die Mutter ihr Nachtwerk für uns bereitgehängt, ein Hemd, einen Rock oder ein Dirndl, das sie aus einem geblümten Bettbezug genäht hatte. Denke ich heute an diese Zeit zurück, erscheint es mir, als wäre das Leben damals langsamer gewesen und von einer größeren Intensität.

In Treptow hatten wir nicht viel, aber es fehlte an nichts. Mein Vater brachte sogar das Geld auf, Friedchen auf die höhere Töchterschule zu schicken, wo sie Französisch und Englisch lernte und mit den Kindern des Arztes auf Du und Du war. Von Geburt an hatte meine Schwester ein kürzeres Bein, und wenn sie schon keinen Mann abbekäme, sollte sie wenigstens eine gute Ausbildung haben. Gegen die Empfehlung meines Lehrers besuchte ich nur die Volksschule. Ich lernte gern, aber genauso gern träumte ich. Nie wäre ich auf die Idee gekommen, meinen Eltern krummzunehmen, dass mir eine bessere Ausbildung versagt blieb. Das Abitur konnte sich eben nicht jeder ­leisten – und gottlob hatte ich zwei gleich lange Beine, die mich einmal vor den Altar tragen würden, an der Seite eines schmucken jungen Mannes.

Wenn der Vater eine JUNO-Packung aufriss, um sich eine Zigarette anzuzünden, hielt ich die Hand auf. In jedem Päckchen steckte das Abziehbild eines UFA-Stars, Marlene Dietrich, Zarah Leander, Emil Jannings, Johannes Heesters und 100 andere. Stundenlang betrachtete ich die schönen, ebenmäßigen Gesichter. Sie sahen aus, als kennten sie ein Geheimnis, das ich nur ahnen konnte, als fände ihr Leben auf einem anderen Planeten statt, in einer fernen Dimension. So gesehen eröffnete mir die Zigarettenpackung meines Vaters einen Blick in die Sterne. Ich weiß nicht mehr, von wem ich das große Album geschenkt bekam, das ich hütete wie einen kostbaren Schatz. »Im Reiche des Films« stand in geschwungener Schrift auf der ersten Seite, und beim Umblättern knisterte das Papier. Darin war Platz für Dutzende Bildchen.

Heute, da ich mit Wim Wenders gedreht habe und hinter der »schnellen Gerdi« im Taxi durch Berlin-Mitte gefahren bin, weiß ich, dass Leinwandgrößen auch Menschen sind. Das Drehen hat mich an Orte geführt, die ich nicht kannte, und mir Kapitel der deutschen Geschichte gezeigt, von denen ich nichts geahnt habe. Für mich wurde aus einem Mädchentraum eine Welt, in der sich das wahre Leben zeigt – und die doch schöner ist, als ich sie mir erträumt hatte. Heute weiß ich, dass du deine Träume hegen musst, solange sie im Verborgenen blühen. Irgendwann kommt ihre Zeit.

Trugbilder

Das ruhige Glück meiner Kinderjahre machte in den 30er-Jahren einem Eifer Platz, den ich viel zu spät zu deuten vermochte. Hitler verdrehte uns jungen Mädchen buchstäblich den Kopf, er entfachte das Feuer, den Mut und die Leidenschaft, die in unseren Herzen loderten, und wir brannten wie Reisig für seine Ziele. Alles war Aufbruch, verheißungsvoll. Im BDM wurde ich Gruppenführerin, wir sangen, trieben Sport und lernten. Meine schwarz-weiße Uniform trug ich wie eine Auszeichnung.

Als der Krieg begann, glaubte ich an seine Richtigkeit, ja Notwendigkeit, und als später der freundliche Schneider Anton Silberberg verschwand, bei dem die Mutter gern Stoff kaufte, ließ ich mich mit einer Erklärung abspeisen, die mir heute die Schamesröte ins Gesicht treibt. Die Juden wären Kapitalisten, hieß es, sie müssten lernen zu arbeiten, und das wolle man ihnen nun beibringen.

Bald war von Mobilmachung die Rede, von Essensrationierung, von der Ostfront und dem Endsieg. Begeistert steckten wir Mädchen die Köpfe zusammen. Endlich würden wir mit eigenen Augen sehen, was wir aus den Gesprächen der Erwachsenen nur andeutungsweise verstanden und was so ungeheuer spannend schien. Wir witterten ein Abenteuer, wo nur Zerstörung war. Unmerklich verloren unsere Träume ihre Unschuld.

Auch den Film spannten die Nazis für ihre Ziele ein, Veit Harlans Jud Süß machte mir das Kino unheimlich, und die Bilder der Wochenschau, in der gezeigt wurde, wie Polen »Volksdeutsche« quälten, erfüllten mich mit einer Angst und Unruhe, die bis in die Morgenstunden anhielt und auch im hellen Tageslicht nicht verschwand. Als man in Fräulein Heinzes Sälen ein Lazarett einrichtete, sahen wir das wahre Gesicht des Krieges. Den Schmerz und das Leid. Wunden, für die es keine Heilung gab. Wie ich mich nun für meine Neugier schämte.

Etwa fünf Kilometer nördlich von Treptow lag eine Psychiatrie, Irrenanstalt, sagten wir damals. Ich war nie dort gewesen, kannte aber die Geschichten der Pfleger, die Fried­chen und mich mit einer Mischung aus Faszination und Grauen erfüllten. Irgendwann hieß es, in den Räumen der Anstalt habe man ein weiteres Lazarett errichtet, dort könnten wir Jungmädel uns nützlich machen. In der Hitze des Kriegssommers schulterten wir unsere Rucksäcke und liefen singend über die Felder, in drei geordneten Reihen. Damals war uns kein Weg zu weit, wenn es um das Wohl deutscher Soldaten ging.

Als wir auf dem weitläufigen Gelände ankamen, war von den »Irren« keine Spur. Müde Gesichter und hungrige Blicke über zerschlissenen Uniformen, der Geruch von Verbandsmaterial und Desinfektionsmittel, das Weiß der Ärztekittel, daneben unsere unerschöpfliche Tatkraft, wir wollten helfen, nur helfen. Wo aber waren die Menschen, die hier gelebt hatten? Was war aus den »Irren« mit ihren blinden Blicken, ihren unverständlichen Reden und ihren Geheimnissen geworden?

Nach dem Krieg ist keiner der Patienten aus der psychi­atrischen Anstalt vor Treptow zurückgekommen. Hinter vorgehaltener Hand erzählten die Leute, Hitler habe »die Irren alle erledigt«. Inzwischen weiß ich, was wirklich geschehen ist. Im Winter 1941 verschleppte man sie in die Wälder von Piaśnica. Dort hat man sie alle erschossen.

Die Kriegsjahre waren für mich eine Zeit voller widersprüchlicher Erfahrungen und Empfindungen. Neben Unruhe und Sorge war eine Lust, ein Appetit auf das Leben in mir, für die ich mich heute manchmal schäme. Wie kann es sein, dass ich inmitten dieses Unglücks glücklich war? Vielleicht fordert die Jugend zu allen Zeiten ihr Recht auf Leben ein?

Im Frühsommer 1944, der Krieg war schon fast verloren, aber unser Glaube an den Endsieg noch immer unerschütterlich, wurde für mich ein Traum wahr.

An der Ostfront waren die deutschen Truppen aus der Ukraine über den Dnjepr bis zum Dnjestr weitgehend zurückgedrängt worden. Zu den niederschmetternden Nachrichten von der Front kam die drastische Verschlechterung der Versorgung mit Nahrungsmitteln. Meine Mutter kaufte heimlich von einer Zigeunerin – damals war dieser Ausdruck noch gebräuchlich – Essenskarten, und jede Butterstulle war eine Kostbarkeit. Trotzdem war unser Glaube an die bessere Zeit, in die Hitler uns führen würde, ungebrochen.

Eines Morgens sah ich einen frischen Anschlag auf dem Treptower Marktplatz. »Komparsen gesucht für den Film Kolberg«. Bald erschien auch in unserem Blättchen, dem Treptower General-Anzeiger, eine Ankündigung. Es hieß, der große Veit Harlan plane einen opulenten Historienfilm, und einer der Drehorte werde unser bescheidenes Städtchen sein. Natürlich würde ich mich bewerben.

Kurz vor Pfingsten nutzte ich einige freie Tage – ich war gerade 17 Jahre alt und arbeitete zu dieser Zeit als Sekretärin bei der Hitlerjugend –, um Hauptstadtluft zu schnuppern, und fuhr nach Berlin. Das tat ich, wann immer sich eine Gelegenheit dazu bot. Berlin war damals für mich der Nabel der Welt – und in gewisser Weise schuldete ich der Stadt meinen Dank. Unsere Familiengeschichte besagt, dass meine Mutter und mein Vater sich in Mitte kennengelernt haben, Friedchen und ich verdankten Berlin also nicht weniger als unser Leben.

Wie jedes Mal, wenn ich reiste, kribbelte mir die Vorfreude in den Knien, ich war voller Neugier auf alles, was kommen würde.

Der Zug war beinahe voll besetzt, und der letzte freie Fensterplatz des Abteils, in das ich gestiegen war, wurde von einer schweren Reisetasche belegt. Ihr Besitzer war auf dem gegenüberliegenden Sitz eingeschlafen. Kurzerhand hob ich die Tasche in das Gepäcknetz und nahm ihren Platz ein. Ich hing meinen Gedanken nach, als der Mann gegenüber plötzlich aufschreckte. »Meine Tasche«, rief er, »wo ist sie?« Sofort gewann meine gute Kinderstube die Oberhand und ich bat um Entschuldigung: »Verzeihen Sie, ich habe sie in das Gepäcknetz gehoben, da Sie schliefen.« Der Fremde, ein dunkelhaariger Mann mittleren Alters, dessen feiner Ledermantel mir sofort aufgefallen war, schien erleichtert. Mit einem Seufzen erklärte er, es handle sich um wichtiges Material, das er für den Film Kolberg brauche. »Ich bin Aufnahmeleiter. Friedrich Schwab ist mein Name«, holte er die Vorstellung nach. Wie von selbst entzündete sich ein Gespräch und schließlich lud mein neuer Bekannter mich auf einen Kaffee ein. »Der Zug hält in Stettin, dort müssen wir beide umsteigen«, stellte er fest. »Begleiten Sie mich auf ein Stück Kuchen ins ›Café Willi‹?«

Heute weiß ich nicht, was mich mehr beeindruckte, die Filmwelt, in der Herr Schwab sich offenbar so selbstverständlich bewegte, die Tatsache, dass ein Mann – noch dazu ein Fremder – mich auf einen Kaffee einlud, oder die Aussicht auf ein Stück saftigen Obstkuchen mit Schlagsahne in Kriegszeiten. Aufgeregt zog ich meinen Reiseplan hervor. Leider, leider, die Zeit war zu kurz. Mit Bedauern verabschiedete ich mich am Bahnsteig von dem Aufnahmeleiter, nur um wenige Minuten später, kaum dass sein Rücken in der Menge verschwunden war, meinen Irrtum zu bemerken. Mir blieb über eine Stunde Zeit, mehr als genug für eine kleine Plauderei. Kurz entschlossen fuhr ich dem Fremden mit der Trambahn hinterher, zum »Café Willi«.

Die nächste halbe Stunde verging wie im Flug. Friedrich Schwab spürte meine Begeisterung für den Film und wollte mich fördern, er sprach sogar davon, mich bei der Reichsfilmkammer anzumelden. Natürlich hing ich an seinen Lippen. Dieser Fremde aus dem Zug erschien mir wie ein Schicksalsbote – während er sprach, nahm alles, wovon ich so lange geträumt hatte, die Gestalt des Möglichen an. Unnötig zu sagen, dass ich romantisch veranlagt war – ich bin es ja noch heute.

»Mit Sicherheit sehen wir uns bei den Dreharbeiten zu Kolberg wieder«, versprach Schwab – er wolle schon zusehen, dass ich ganz vorne zu stehen komme. »Sehen Sie«, er wies mit einer kaum merklichen Kopfbewegung zu einer stark geschminkten Dame an einem unserer Nachbartische, »solche Künstlichkeit suchen wir beim Film gar nicht. Auf Natürlichkeit kommt es uns an – und Sie haben ein so schönes Lippenrot, das würde in jedem Farbfilm hervorragend zur Geltung kommen.« Dieses Kompliment fiel auf fruchtbaren Boden, schließlich hatte ich mich immer für unansehnlich gehalten, trotz meines weizenblonden Haars, das, wie ich wusste, in Hitlerdeutschland von Vorteil war. Dass über 40 Jahre später wieder Filmleute von meiner Natürlichkeit schwärmen würden, hätte ich mir damals nicht träumen lassen.

Kolberg– Statistin im Hitlerstaat

Kurz nach Pfingsten begannen die Dreharbeiten. Man hatte mich sofort angenommen, genau wie die meisten meiner Freundinnen. Zusammen mit bald 500 anderen Komparsen – mir schien, die halbe Stadt war auf den Beinen – drängte ich mich in der Ankleide unserer Turnhalle und in den schmalen Straßen, die zum Marktplatz führten. Ganz Treptow war im Ausnahmezustand. Es hieß, unser Städtchen sei aufgrund des barocken Rathauses und der schönen Giebelhäuser am alten Marktplatz als Drehort ausgewählt worden.

Der Film spielt im Jahr 1806, als Napoleon bei seinen Feldzügen durch Europa Triumphe feierte, und erzählt von dem erfolgreichen Widerstand der Festung Kolberg gegen die übermächtigen Truppen. Goebbels hatte ihn als einen sogenannten »Durchhaltefilm« in Auftrag gegeben: Der Mut und die Opferbereitschaft der Bürger sollten uns ein Vorbild sein. Wie sie sollten wir alles für unser Vaterland geben.

Veit Harlan hatte Heinrich George und Kristina Söderbaum für die Hauptrollen verpflichtet – berühmte Schauspieler unserer Zeit. Kolberg war der teuerste Farbfilm, der zur Hitlerzeit entstand, die Produktion verschlang rund 8,5 Millionen Reichsmark. Man sagt, Harlan habe die Komparserie an manchen Drehorten von einem Fesselballon aus dirigiert. Bei den Massenszenen kamen 2000 bis 3000 Pferde zum Einsatz, fast 5000 Wehrmachtssoldaten wurden aus ihren Kasernen geholt und als Komparsen in historische Uniformen gesteckt.

Noch heute höre ich das vielstimmige Hufgetrappel, höre Veit Harlans Stimme, die aus einem Megafon über den ganzen Platz schallte, und spüre die allgemeine Spannung, die mich umgab. Der Mai 1944 war ungewöhnlich warm, und in der Frühsommerhitze verschmolz der historische Stoff mit unserer Wirklichkeit – die Soldaten in ihren stolzen Uniformen, mit ihren Epauletten und Kniebundhosen, stammten aus dem nahegelegenen Fliegerhorst, sie waren »echt«, genau wie wir, das Volk, das ihnen zujubelte. Während sie in Viererreihen über den Platz marschierten, sangen wir wie aus einem Mund: »Ahnungsgrauend todesmutig bricht der große Morgen an.«

Bis heute kann ich Kolberg nicht vergessen, den Moment, als ich zum ersten Mal vor einer Kamera stand. Wir wussten wohl, dass Goebbels die Hand über das Projekt hielt, und der galt nicht nur in meiner Familie als »Großschnauze«, aber während des Drehs verschwendete ich nicht einen Gedanken an ihn oder seine Propagandamaschinerie. Die Stimmung am Set war einzigartig, wir einfachen Mädchen waren unverhofft Teil von etwas Großem, und unsere Hoffnungen flogen mit den Jubelrufen in den Himmel auf. Das also war der Film, von dem ich immer geträumt hatte.

Später habe ich von der ungewöhnlichen, inoffiziellen Filmpremiere in den letzten Kriegsmonaten gelesen: Am 30. Januar 1945 warf ein Flieger über dem von Amerikanern eingekesselten Wehrmachtsstützpunkt im französischen La Rochelle Filmrollen ab. Ich kann mir kaum vorstellen, dass der historische Streifen die Wehrmachtssoldaten in den Schützengräben erbaut hat.

Am 6. März desselben Jahres wurde der Antrag des Kommandanten des echten Kolberg, die Stadt kampflos zu übergeben, abgelehnt. Zwölf Tage später unterlag der Ort der gegnerischen Übermacht.

Ich selbst sollte meinem Vater nicht einmal ein Jahr nach dem Dreh voller Bitterkeit vorwerfen, er habe uns in unserer Verblendung nicht die Augen geöffnet. Er war als SPD-Mann nie der Partei beigetreten, und auf unsere Frage, warum er kein Genosse war, hatte er stets nur müde abgewunken. Heute weiß ich, wie gefährlich die Wahrheit in jener Zeit war. Die Erkenntnis, wie sehr wir uns täuschen ließen, schmerzt aber noch immer.

Bauernmädel und Burgfräulein

Obwohl Friedrich Schwab sich vor Kriegsende noch wiederholt bei mir meldete und mich in meinem Traum bestärkte, zum Film zu gehen, entschied ich mich für eine Ausbildung zur Sportlehrerin. »Was willst du beim Film, Hanni, mach bloß was Anständiges«, hatte meine Mutter gesagt, als sie von meinen Plänen hörte. Vielleicht fehlte mir auch die Traute. Beim Dreh hatte ich mich in der zweiten Reihe ganz wohl gefühlt. Hanni Wudtke, Filmschauspielerin? Das klang in meinen Ohren gar zu fremd. Beim Sport war ich in meinem Element, und gewiss würde ich eine gute Lehrerin werden.

Hitler hatte befohlen, dass jede Ausbildung mit einem sechsmonatigen Arbeitsdienst begann, und so zog ich im Herbst 1944 mit einer Gruppe junger Frauen aufs Land. Wir wohnten auf einem riesigen ehemaligen Rittergut bei Stolp und zogen morgens mit dem ersten Sonnenstrahl zum Korndreschen auf die umliegenden Höfe. Wir fühlten uns als Bäuerinnen und Burgfräulein, waren Landmädchen und Träumerinnen, und die Zukunft stand uns offen. Heute möchte ich die harte Arbeit nicht missen, genauso wenig wie das Beisammensein mit den Mädchen an diesem verwunschenen Ort mitten im Wald.

Auf einen schönen, sonnigen Herbst folgte ein kalter Winter. Das letzte Weihnachten vor Kriegsende verbrachten wir Mädchen draußen im Schnee. Unsere Betreuerinnen hatten eine riesige, stolze Tanne mit richtigen Kerzen geschmückt, die im kalten Winterweiß strahlte und funkelte wie ein wahr gewordener Traum. Voller Andacht fassten wir uns an den Händen und sangen die Weihnachtslieder, die für uns Heimat waren. Als wir spät nachts verfroren und glücklich zurück ins Warme traten, erwartete uns im Speisesaal die Post unserer Lieben von einem ganzen Monat. Was für ein schönes Geschenk!

Ausgeträumt

Nach Silvester war unser Traum zu Ende. In der Neujahrsnacht weckte uns Geschützlärm. Das Rollen der Panzer in der Ferne wie Donnergrollen. Die Russen rückten näher, und wir mussten fliehen. Monatelang hatten wir in einem Traumschloss gelebt, während die Welt, wie wir sie kannten, unterging. Bei minus 15 Grad liefen wir in aller Frühe nach Giesebitz, wo ein völlig ausgekühlter Zug auf uns wartete. Ich kam in einem Abteil neben einer jungen Frau zu sitzen, die wimmernd ein Bündel an ihre Brust drückte. »Mein Gott, es rührt sich nicht mehr«, sagte sie voller Verzweiflung. Das Kind war in ihren Armen erfroren. Die Erinnerung an sie zerreißt mir noch heute das Herz. Nie, niemals werde ich diesen Anblick vergessen.

Obwohl unser Reiseziel Thüringen war, stieg ich in Treptow aus dem Zug. Eine Nacht nur wollte ich bei meiner Familie sein. Zu Hause flog ich meiner Mutter in die Arme »Ach Hanneken«, höre ich sie heute noch rufen und sehe ihr sorgenvolles schmales Gesicht, »dass du wieder da bist.« Wir hatten einander monatelang nicht gesehen. Sie buk mir Pfefferkuchen und brachte mir eine Wärmflasche, und ich fühlte mich, wenn nicht sicher, so doch geborgen. In dieser Nacht blieb Muttchen wieder bei uns in der Stube. Später erzählte sie, sie habe kein Auge zugetan. »Du hast die ganze Nacht gemurmelt: ›Wie warm es hier ist, so schön warm‹«, erzählte sie mir.

Frühmorgens ging die Fahrt weiter nach Lobenstein in Thüringen, wieder in Uniform. Ein paar Wochen half ich – weiter im Rahmen des Arbeitsdienstes – in der Küche einer Gärtnerei aus und schälte bergeweise Kartoffeln. Wo ich untergebracht war, weiß ich nicht mehr, aber ich höre noch die Stimme des alten Gärtners: »Sieh bloß zu, dass du nicht zu viel wegschneidest. Und heb die Schalen auf, die trocknen wir für nach dem Krieg.« Wie mussten mit allem rechnen. Bald hieß es: »Der Russe steht an der Oder, der Ami an der Elbe.« Nur der Landstrich von Bayern bis Brandenburg war noch nicht besetzt, und nur wer eine Wohnanschrift innerhalb dieses Gebiets vorweisen konnte, wurde vom Arbeitsdienst entlassen. Am schlimmsten war, nicht zu wissen, was aus Muttchen und Frieda geworden war. Gewiss waren sie geflohen, aber wohin? Und wann würde ich sie wiedersehen? Immerhin wusste ich, wo mein Vater war. Schon vor Monaten hatte man ihn als Waffenschmied nach Potsdam berufen, wo er in der Wohnung seines Onkels untergekommen war. Dessen Adresse gab ich nun an und durfte – endlich, endlich – gehen.

Zu dieser Zeit herrschte in Deutschland das Chaos. Am Lobensteiner Bahnhof drängten sich die Massen beängstigend auf den Bahnsteigen, der Zug nach Berlin war so überfüllt, dass an ein Einsteigen nicht zu denken war. Verzweifelt sah ich vom Bahnsteig aus ins Innere des Zuges, als mich drei junge Landser bemerkten. Kopf voran zogen sie mich durch das offene Fenster ins Abteil, feixend, als wäre all das nichts als ein großer Spaß. »Schon Goethe hat jesacht, genieße das Leben in vollen Zügen«, flachste ein Rotschopf, ein Scherz, den ich ihm nicht verdenken konnte.

Als wir in Berlin einfuhren, breitete sich Stille in unserem Abteil aus. Das war, als hielte jeder den Atem an. Berlin, die Stadt, die für mich immer die schönste von allen gewesen war, lag in Schutt und Asche. Ruinen, von denen Rauchsäulen aufstiegen, Flüchtlingszüge, Tierkadaver, Plünderer. Mir sinkt das Herz, wenn ich daran denke. Noch war Berlin nicht eingenommen, aber die endgültige Niederlage warf bereits ihre Schatten voraus.

Das Wiedersehen mit meinem Vater war kurz – mit hungrigem Magen schickte er mich weiter nach Grabow in Mecklenburg. Dorthin waren meine Mutter und Fried­chen geflohen, und ich sollte sie nach Potsdam holen. Ohne Zugfahrkarte und mit Angst im Bauch saß ich zwei dicken Bauern gegenüber, die genüsslich in ihre Leberwurststullen bissen. Um ihnen nicht das Wurstbrot vor Hunger aus der Hand zu reißen, stand ich auf und verließ langsam das Abteil. Noch heute dreht sich mir der Magen um, wenn ich Leberwurst sehe oder rieche. Oft entzündet sich die Erinnerung an ganz alltäglichen Bildern und Gerüchen, seltsam ist das.

Nach einer mehrstündigen Odyssee, die mich von Grabow über Elmenhorst bis ins nördliche Pinneberg führte, hielt ich mich kaum noch auf den Beinen. Auf einer Polizeiwache in Bahnhofsnähe bat ich um Hilfe. »Ich suche meine Mutter, Maria Wudtke«, sagte ich mit vor Erschöpfung zitternder Stimme. Während der ältere Beamte die Melderegister durchging, ließ ich meinen Blick durchs Fenster nach draußen wandern. »Wenn du müde bist, musst du den Augen Erholung gönnen«, hatte Muttchen uns eingebläut, wenn wir lange an einer Näharbeit oder über einem Aufsatz saßen. Ich schaute also durch das Fenster und bemerkte eine kleine Bewegung im zweiten Stock des gegenüberliegenden Mietshauses. Ein heller Vorhang, der von einer schmalen Hand zur Seite geschoben wurde. Am Fenster erschien eine Frau mit einer Tasse Kaffee in der Hand … meine Mutter! Da stand sie, nicht einmal 20 Meter entfernt, und schaute im selben Moment wie ich auf die Straße hinaus. Ich weiß noch, dass ich vor Glück und Erstaunen geweint habe – und dass auch dem freundlichen Polizisten die Tränen kamen ob unseres unwahrscheinlichen Wiedersehens.