Träume aus Karamell - Luise Bastin - E-Book

Träume aus Karamell E-Book

Luise Bastin

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Beschreibung

Man nehme: Zucker, Sahne und eine Prise Liebe Werther in Westfalen, 1909: Anton Leyen ist am Rande der Verzweiflung. Seine Zuckerwarenfabrik läuft hervorragend, aber es fehlt ihm an Mitarbeitern. Ein Glücksfall, als Zuckerbäcker Fritz und seine Schwester Anne ihre Hilfe anbieten. Anton Leyen erlaubt Anne sogar, auch nach Feierabend in der Fabrik zu experimentieren und erklärt sich gern bereit, ihre Kreationen zu probieren. Über Zucker, Sahne und Butter kommen sich die beiden näher – bis Anne schließlich die perfekte Mischung findet. Sie nennen das Bonbon Annes Liebe und es findet reißenden Absatz. Doch jemand scheint der Firma den Erfolg zu neiden und verunreinigt eine Ladung Bonbons. Mit vereinten Kräften machen sich Anne und Fritz auf die Suche nach dem Unruhestifter. Süß, nostalgisch, sinnlich – ein Lesegenuss, nicht nur für Naschkatzen und Leckermäulchen

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Träume aus Karamell

Luise Bastin ist das Pseudonym der bekannten Bestseller-Autorin Eva-Maria Bast, die zusammen mit Jörn Precht auch unter den Pseudonymen Charlotte Jacobi und Romy Herold schreibt. Ihre Bücher wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt.

MAN NEHME: ZUCKER, SAHNE UND EINE PRISE LIEBEWerther in Westfalen, 1909: Anton Leyen ist am Rande der Verzweiflung. Seine Zuckerwarenfabrik läuft hervorragend, aber es fehlt ihm an Mitarbeitern. Ein Glücksfall, als Zuckerbäcker Fritz und seine Schwester Anna ihre Hilfe anbieten. Anton Leyen erlaubt Anna sogar, auch nach Feierabend in der Fabrik zu experimentieren und erklärt sich gern bereit, ihre Kreationen zu probieren. Über Butter, Sahne und Zucker kommen sich die beiden näher – bis Anna schließlich die perfekte Mischung findet. Das köstliche Karamellbonbon findet reißenden Absatz. Doch jemand scheint der Firma den Erfolg zu neiden und verunreinigt eine Ladung Bonbons. Wer will ihnen den Erfolg streitig machen und einen Keil zwischen sie treiben?

Luise Bastin

Träume aus Karamell

Die Bonbon-Saga

Ullstein

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Inhalt

Titelei

Das Buch

Titelseite

Impressum

 

Prolog

Teil 11909–1910

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Teil 2 1911–1912

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Epilog

Danksagung

Anhang

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Prolog

Prolog

Werther, Oktober 1900

»Da seid ihr ja!«

Die alte Dame mit dem weißen Haar, das sich in ordentlichen Wellen um ihren Kopf legte, beugte sich zu dem kleinen Mädchen hinunter und zog es in ihre Arme. Glücklich schmiegte sich Anne an Maria Dunst, ihre Großmutter. Es war wie immer, es war alles, wie es sein sollte: Die Großmutter sagte genau die richtigen Worte, wenn sie die Tür öffnete – sie sagte sie immer, wenn Anne, ihre Mutter, ihr Bruder und manchmal auch ihr Vater nach der fast einen Tag lang dauernden Fahrt endlich bei ihr ankamen, und sie sagte sie auch immer in genau dem gleichen Tonfall: »Da seid ihr ja.«

Dann folgte die Umarmung, die Anne regelrecht einhüllte und die immer ein wenig nach Lavendel duftete. Wenn Oma Maria sie aus ihren Armen entließ, um nun zuerst ihren Bruder und dann Margarethe, Annes Mutter, mit ihrer Zuneigung zu überschütten, trat Anne schon ins Haus, sog den so typischen Geruch tief in sich ein, und dann intensivierte sich das Lächeln auf ihrem Gesicht.

Streuselkuchen! Wie immer hatte die Großmutter Streuselkuchen für sie gebacken, und Anne wusste auch genau, wo dieser stand: im »Loch« neben der Küche. Das »Loch« war eine Art kleine Höhle, die in die Mauer unter der Treppe gehauen war und in der ein einzelner erwachsener Mensch kaum gerade stehen, geschweige denn sich um die eigene Achse drehen konnte. Anne und ihr Bruder Fritz gruselten sich immer ein wenig vor dem dunklen »Loch«, das ihrer Großmutter als Speisekammer diente – und gleichzeitig liebten sie es, weil es der Ort war, an dem die Großmutter ihren guten Streuselkuchen versteckte, dessen verführerischer Duft bereits durch das ganze Haus wehte. Flink schob Anne den Vorhang aus dickem Tuch zurück, schlüpfte ins »Loch« und stibitzte sich einen besonders dicken Streusel vom Kuchen. Sie wartete eine Sekunde, und da erklang auch schon die mahnende Stimme ihrer Großmutter von der Eingangstür her. »Finger weg von meinen Streuseln, Ännchen.«

Sie kicherte leise, während ihre Lippen den Dialog formten, der nun folgte, wie bei jedem Besuch: »Gibst du meinen Enkeln etwa nie etwas zu essen, mein Kind?«

Darauf das ein wenig tiefe, fröhliche Lachen ihrer Mutter: »Nein, Mutti, deshalb besuche ich dich ja regelmäßig, damit sie wenigstens ab und an etwas Festes in den Magen bekommen.«

Anne nahm sich noch einen Streusel, steckte ihn aber nicht in den Mund, sondern zählte leise von zehn rückwärts. Und als sie bei fünf angekommen war, wurde erwartungsgemäß der Vorhang aufgerissen, ihre Großmutter stand vor ihr, stemmte die linke Hand in die Hüfte, bemühte sich um eine empörte Miene und hob dann den rechten Zeigefinger. »Hab ich dich erwischt.«

Anne schickte sich an, den Streusel wieder zurückzulegen, was ihre Großmutter jedoch verhinderte. »Nun iss ihn schon«, sagte sie wie jedes Mal. »Ist ja nicht wie bei armen Leuten.« Um sodann die große graue Schüssel mit dem blauen Muster aus dem Regal zu ziehen, das ordentlich gestärkte weiße Leinentuch, das darüber lag, zu lüften und ihr und Fritz mit einem strahlenden Lächeln den Inhalt zu präsentieren. Eine ganze Schüssel Streusel. Nur für sie. »Streuselbonbons« nannte die Großmutter sie immer.

»Aber die gibt es erst nach ordentlich Kaffee und Kuchen und einem schönen Spaziergang«, mahnte sie dann wie stets, deckte die Schüssel wieder zu, griff nach dem Streuselkuchen und scheuchte sie die Treppe hinauf, wo im Kamin schon ein gemütliches Feuer flackerte und die Tafel anlässlich ihres Besuchs festlich gedeckt war. Anne und Fritz saßen wie immer auf dem Sofa unter dem Bild mit der großen Sonnenblume. Und auch wie immer fanden sie es herrlich, dass man bei der Großmutter auf einem Sofa am Tisch sitzen konnte. Während Mutti und Großmutter sich leise unterhielten – über diesen oder jenen Verwandten, Annes Vater Hans, der bei Stollwerck Maschinen entwickelte und ständig so viel Arbeit hatte, dass er selten die Zeit fand, sie zu seinen Eltern zu begleiten, und über Großmutters Nachbarinnen, bei denen es sich ebenfalls um zwei ältere Damen handelte –, kauten Anne und Fritz mit vollen Wangen und warfen sich dann und wann zufriedene Blicke zu. Ja, bei der Großmutter ließ es sich aushalten.

»Und nun, auf zum Spaziergang!«, rief Oma Maria exakt eine Stunde, nachdem das Kaffeekränzchen begonnen hatte – auch das war wie immer, und die Uhrzeit behielt sie stets dank der Standuhr in der Ecke, die immer so heimelig tickte, genauestens im Blick.

Wenn es Herbst war, so wie jetzt, dann liebte Anne diese Spaziergänge besonders. Der Weg führte vom Haus ihrer Großmutter an einer Weide vorbei in einen kleinen, lichten Laubwald auf einem Hügel. Wenn die Sonne schien, so wie heute, dann tauchten ihre Strahlen die roten und gelben Blätter an den Bäumen in ein nahezu magisches Licht. Anne hob den Kopf, um ihr Gesicht in den Sonnenstrahlen zu baden, da fühlte sie eine Hand auf ihrem Haar. Blinzelnd hob sie die Lider und blickte in die gütigen Augen ihrer Großmutter. »Wie wundervoll dein Haar in der Sonne leuchtet, mein Kind«, sagte die beinahe andächtig. Dann bückte sie sich flink, um eine Kastanie aufzuheben, die inmitten des Herbstlaubs auf dem Boden lag und verlockend schimmerte. »Dein Haar hat die gleiche Farbe wie diese Kastanie«, sagte sie. »Denk daran, die Kastanie ist die Königin des Herbstes. Und du bist meine kleine Herbstprinzessin.«

Sie bückte sich, um ihre Enkeltochter mit ihren stets ein wenig zu trockenen Lippen auf die Stirn zu küssen, dann nahm sie Annes Hand, legte die Kastanie hinein und schloss ihre Finger darum. »Das ist dein ganz persönlicher Schatz«, sagte sie. »Am besten hast du sie immer dabei. Wenn dir kalt ist, kannst du deine Finger daran wärmen. Wenn du wütend bist, umklammerst du sie ganz fest und presst all deinen Ärger in sie hinein. Und wenn du traurig bist, nimm sie heraus, und halte sie ins Licht. Erfreu dich an ihrem wunderschönen Glanz.«

»Und wenn ich glücklich bin?«, fragte Anne fasziniert.

»Wenn du glücklich bist«, sagte Maria, »wenn du glücklich bist, dann gibst du ihr einen Kuss, so wie ich dir eben.«

Dann lächelte sie ihre Enkeltochter an. »Dadurch speicherst du dein Glück in der Kastanie für Zeiten, in denen du es mal brauchst.«

»Wirklich?«, fragte Anne staunend.

»Ich glaube jedenfalls ganz fest daran«, erwiderte die Großmutter. »Und wenn man ganz fest an etwas glaubt, dann wird es auch wahr.«

Ernst drückte Anne ihre kleine Faust mit der kostbaren Kastanie an ihre Brust. »Ich werde sie immer aufbewahren, Großmutter«, sagte sie feierlich.

»Das ist fein.« Oma Maria lächelte, und ihr Gesicht legte sich dabei in unzählige Falten. »Wollen wir dann jetzt nach Hause gehen und Streuselbonbons essen?« Sie deutete auf Fritz, der mit der Mutter schon vorausgegangen war. »Sonst futtert dir dein Bruder alles weg.«

»Der kommt ja gar nicht ins Haus«, lachte Anne.

»Wenn du dich da mal nicht täuschst«, widersprach ihre Großmutter. »Inzwischen ist dein Großvater bestimmt vom Holzmachen nach Hause gekommen. Und du weißt ja …«

» … seinem Enkel kann er nichts abschlagen«, ergänzte Anne mit einem Grinsen. »Dann sollten wir uns besser beeilen.«

Schelmisch sah sie ihre Großmutter an. »Kannst du rennen?«

»Na, hör mal«, sagte Maria Dunst empört. »Auch wenn ich eine Großmutter bin, bin ich doch noch lange keine alte Frau. Lass uns sehen, wer schneller ist.«

Teil 11909–1910

Kapitel 1

Werther, Oktober 1909

Anne Dunst stieß ein tiefes Seufzen aus, als sie an der Seite ihres Bruders Fritz die Gemeindegrenze des kleinen Städtchens Werther in Westfalen passierte. Wie altvertraut die Wege doch noch waren, obwohl sie jetzt mit der Bahn anreisten – 1901 war der Bahnhof eröffnet worden –, während sie früher mit der Postkutsche gekommen waren.

Ein merkwürdiges Gefühl stieg in ihr auf. Eine Mischung aus … Anne spürte nach … ja, aus tiefer Trauer und großer Freude. Keine unbändige, jubelnde Freude war das, wie sie sie zum letzten Mal empfunden hatte, als ihr Vater ihr das ersehnte Veloziped zum Geburtstag geschenkt hatte, von dem sie so lange geträumt hatte. Eher die warme, satte Freude, die aus der Geborgenheit geboren wurde, die ihr die Großeltern immer geschenkt hatten. Die Großeltern, die nun tot waren, ebenso wie der Vater und die Mutter. Mit einem Mal spürte sie wieder den altbekannten Kloß im Hals und musterte verstohlen den Mann, der ihr im Abteil gegenübersaß und angespannt zum Fenster hinaussah.

Fritz. Ihr Bruder. An seiner Miene konnte sie erkennen, dass er von der Rückkehr in die kleine Stadt ihrer Großeltern mindestens ebenso angerührt war wie sie. Ihre Stimmung schlug schon wieder um. Der Kloß im Hals wich unbändiger Liebe für diesen Mann mit seinem eckigen Backenbart, seinem hellen rotbraunen Haar und den gütigen grauen Augen. Er war der Einzige, den sie noch hatte. Und sie war die Einzige, die er noch hatte. Nun würden sie ein gemeinsames Leben beginnen, in dem Haus, das ihre Großeltern ihnen vermacht und in dem sie so viele glückliche Kindertage verbracht hatten.

Als habe er ihren Blick gespürt, wandte er den Kopf, um ihr zuzulächeln, und deutete dann hinaus. »Siehst du die Rauchschwaden?«, fragte er.

Sie folgte seinem Blick und war von der prachtvollen Herbstlandschaft, die sich ihr eröffnete, wie verzaubert. Die Blätter an den Bäumen leuchteten gelb und rot, und wieder verschränkte sich das äußere Bild mit einem inneren, das tief aus der Kammer des Vergessens aufstieg. Eine kleine Kinderhand – ihre Hand –, die sich um den größten Schatz des Herbstes schloss: eine Kastanie! Die Sonne auf ihrem Gesicht, eine andere Hand, eine zärtliche, liebevolle, runzlige Hand auf ihrem Haar. Die Stimme der Großmutter. »Meine kleine Herbstprinzessin« hatte sie sie damals genannt.

Mit fahrigen Händen tastete Anne in ihrer Jackentasche nach der Kastanie. Sie wusste, dass das, was sie ertasten würde, nicht mehr so glatt und glänzend war wie der Schatz, den ihre Großmutter damals aufgelesen hatte. Und deswegen schimmerte die Kastanie auch nicht mehr im Licht. Ganz schrumpelig war sie inzwischen, so, wie es auch die Haut ihrer Großmutter mit den Jahren geworden war. Viel schrumpeliger noch als zu jener Zeit, als sie gemeinsam die Kastanie gefunden hatten. Aber genau deshalb liebte Anne sie so. Sie hatte das Gefühl, dass sich die Königin der Herbstfrüchte ihrer Großmutter angepasst hatte, um die Erinnerung in Anne noch lebendiger zu halten.

»Anne?«, fragte Fritz in ihre Gedanken hinein. »Siehst du den Rauch?«

»Was?«, fragte sie und sah ihn wie erwachend an.

»Den Rauch«, wiederholte er geduldig.

Wieder sah sie hinaus. »Stimmt«, sagte sie. »Ist mir gar nicht aufgefallen. Ich habe nur die leuchtenden Blätter gesehen und an Großmutter gedacht. Weißt du noch, wie wir immer mit ihr durch den Herbstwald gegangen sind?«

»Natürlich«, erwiderte er, und ein zärtliches Lächeln überzog sein Gesicht. »Der Rauch kommt übrigens von der Zuckerwarenfabrik von Anton Leyen.«

»Ach so«, murmelte Anne abwesend. Was interessierte sie die Zuckerwarenfabrik? Als diese vor sechs Jahren gegründet worden war, hatte ihre Großmutter das zwar am Rande erwähnt, sich aber nicht weiter darüber ausgelassen. Und sie, Anne, hatte es auch nicht interessiert. Im Gegensatz zu Fritz. Schließlich war er Zuckerbäcker.

»Anton Leyen versteht offenbar etwas von seinem Geschäft«, begeisterte sich ihr Bruder weiter. »Angefangen hat er seinerzeit mit drei Arbeitern und einem Dragee-Kessel, jetzt hat er schon ein Dutzend Arbeiter, einen Dampfkessel und eine Dampfmaschine und liefert seine Bonbons nach ganz Westfalen. Auf der Rückseite seines Wohnhauses sind riesige Werkshallen entstanden.«

Anne zwang sich, ihrem Bruder etwas Aufmerksamkeit zu schenken. Seit dem Tod ihrer Eltern hatten seine Augen nicht mehr so geleuchtet wie jetzt, wo er von den Erfolgen dieses Mannes sprach. Kein Wunder: Schließlich hatte er von jeher davon geträumt, einmal eine eigene Fabrikation oder eine Konditorei zu besitzen. Seine Ausbildung hatte er bei Stollwerck im heimischen Köln gemacht, dann hatte ihn sein Weg zu Oetker nach Bielefeld geführt – das ganz in der Nähe ihrer Großeltern gelegen war –, und schließlich war er durch die ganze Welt gereist, um von den Besten der Besten zu lernen. In Paris hatte er die Kunst der Herstellung von feinen Fondants erlernt und in England seine Kenntnisse verfeinert.

Aufmunternd lächelte sie ihm zu. »Dann lass uns diesem Anton Leyen doch mal einen Besuch abstatten. Vielleicht kann er ja Unterstützung gebrauchen.«

»Ich weiß nicht«, entgegnete Fritz zweifelnd.

»Warum nicht?«, fragte Anne ermutigend.

In diesem Moment kam der Zug mit einem lauten Quietschen am Bahnhof von Werther zum Stehen, einem zweistöckigen Gebäude mit Erker und kleinem, niederem Anbau. WERTHER stand in großen schwarzen Lettern zwischen dem ersten und dem zweiten Stockwerk auf die Mauer geschrieben. Der etwas brummige Schaffner riss die Tür auf, um sie, seine einzigen Fahrgäste, aussteigen zu lassen. Fritz trat zuerst hinaus, dann reichte er Anne den Arm und griff nach den beiden großen Koffern. Einer von ihm, einer von ihr. Darin befand sich ihr ganzes Leben, oder vielmehr das, was davon übrig geblieben war seit jenem schrecklichen Tag, und das nun im Haus ihrer Großeltern fortgesetzt werden würde.

Anne seufzte. Seit dem Tod des Großvaters vor fünf Jahren war nichts mehr gewesen wie zuvor. Ihre Großmutter hatte sehr um ihren Mann getrauert und dabei auch körperlich stark abgebaut. Als dann im Januar dieses Jahres Kaiser Wilhelm der Zweite seinen fünfzigsten Geburtstag gefeiert hatte, hatte die sehr um ihre Großmutter besorgte Anne endlich einen Lichtblick gesehen. Gemeinsam mit ihren Eltern und der Oma waren sie nach Berlin gefahren, wo die Straßen um das Hohenzollern-Schloss sich in ein wahres Fahnenmeer verwandelt hatten. Als Maria Dunst sogar einen kurzen Blick auf den Kaiser hatte erhaschen können, war sie vollkommen im Glück gewesen. Für einen kurzen Moment hatte Anne gehofft, es gehe wieder aufwärts.

»Wenn mein Karl das noch erlebt hätte«, hatte Oma Maria ein ums andere Mal selig gerufen, und zu Annes Freude hatte dabei keinerlei Trauer oder Bitterkeit in ihrer Stimme gelegen. In diesen Tagen hatte Anne ihre Oma zum ersten Mal seit dem Tod ihres Opas wieder lächeln sehen.

Annes Mutter, die niemals zuvor in Berlin gewesen war, hatte sich bei dieser Reise derart in die Stadt an der Spree verliebt, dass sie ihren Gatten dazu überredet hatte, den Sommerurlaub dort zu verbringen. Obwohl der lieber ans Meer gereist wäre, hatte er etwas widerwillig zugestimmt, und so waren sie im Juli nach Berlin gefahren. Sie hatten in einer schmucken Pension Unterkunft gefunden und die Stadt jetzt, ohne den Aufruhr um den Kaiser, noch einmal ganz neu kennengelernt. Als sie das zwei Jahre zuvor eröffnete KaDeWe besucht hatten, waren Anne beinahe die Augen übergegangen. Ihr Vater allerdings hatte diesem Einkaufsbummel nur sehr wenig abgewinnen können, und um seine Laune etwas zu bessern, hatte sich seine Frau bereit erklärt, ihn am achtzehnten Juli zum Steherrennen im Botanischen Garten zu begleiten, das anlässlich der feierlichen Eröffnung der neuen Rennbahn stattfand, und darauf bestanden, dass Anne mitkam.

Und dann war das Unfassbare geschehen: Der schweizerische Berufsfahrer Fritz Ryser war bei rasender Geschwindigkeit ins Schlingern gekommen, sein Motorrad fuhr mitten auf die Haupttribüne, wo mit einem lauten Knall der Tank explodierte und für eine gewaltige Stichflamme sorgte. Genau da, wo Anne und ihre Eltern gesessen hatten.

Als Anne drei Tage später erwachte, fand sie sich in der Charité wieder. An ihrem Bett saß ein völlig verzweifelter Fritz, der soeben aus Paris zurückgekehrt war und ihr erklärte, die Eltern seien unter den Todesopfern des Unglücks. Die Großmutter habe aufgrund der Nachricht einen Herzanfall erlitten und liege ebenfalls im Krankenhaus. Sie gebe sich die Schuld am Tod ihres Sohnes und ihrer Schwiegertochter. »Wäre mir der Kaisergeburtstag nicht so wichtig gewesen, wäre die Margarethe doch nie auf die Idee gekommen, in Berlin Urlaub zu machen«, sollte sie noch gejammert haben, bevor sie zusammengebrochen war.

Anne hatte die Nachricht kaum glauben können, doch während sie sich schnell von ihren Verletzungen erholte, gab es für ihre Großmutter keine Genesung mehr. Mit jeder Woche war es ihr schlechter gegangen, und so war sie wenige Monate nach ihrem Sohn und ihrer Schwiegertochter verstorben. An gebrochenem Herzen, da war sich Anne sicher.

Am liebsten wäre sie ihr gefolgt – dann hätte sie diesen unerträglichen Schmerz nicht aushalten müssen, der ihr beinah den Verstand geraubt hatte. Aber da war Fritz gewesen. Der ebenfalls fast wahnsinnig wurde vor Trauer und Kummer. Für ihn musste sie da sein, ihm musste sie Halt und Kraft geben. Die Geschwister hatten sich aneinandergeklammert, und als sie erfahren hatten, dass die Großmutter ihnen ihr Haus und etwas Geld vermacht hatte, hatten sie nicht lange gezögert. In Werther waren sie stets glücklich gewesen. Wenn es einen Ort gab, an dem sie ihr verlorenes Glück wiederfinden konnten, dann war es hier, auch, wenn die Erinnerungen sicherlich schmerzhaft waren, so versprachen sie doch auch einen gewissen Trost.

»Bereit?«, fragte ihr Bruder nun und schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln.

Sie atmete einmal tief ein und wieder aus. »Bereit«, sagte sie dann. Und folgte ihm über die altvertrauten Wege in Richtung des Hauses ihrer Großeltern. Das nun das ihre war.

Kapitel 2

Werther, Oktober 1909

Als das Haus ihrer Großeltern vor ihnen auftauchte, traf Anne der Schmerz mit solcher Wucht, dass sie aufkeuchte. Zitternd stieg sie die beiden grauen Steinstufen hinauf, zitternd hob sie ihre Hand, um die Klingel zu betätigen. Zitternd lauschte sie dem Klang der Glocke, der hohl durch das leere Gebäude dröhnte. Da spürte sie zwei Hände auf ihrer Schulter. »Sie wird nicht öffnen, Liebes«, sagte ihr Bruder und zog sie an sich.

»Natürlich nicht«, schluchzte sie. »Das weiß ich doch. Aber ich habe sie noch nie so sehr vermisst wie in diesem Moment. Sie hat doch immer die Tür aufgemacht. Und immer gesagt: ›Da seid ihr ja.‹ Und dann gab es Streuselkuchen, und …«

Er zog sie fester an sich. »Ich weiß«, sagte er und wiegte sie wie ein Kind. »Ich weiß.«

Dann kramte er in seiner Hosentasche nach dem Schlüssel, den der Notar ihm übermittelt hatte. »Aber ich verspreche dir, dass das Haus bald wieder vom Duft von Streuselkuchen erfüllt sein wird. Und wenn ich dann eines Tages meine eigene Patisserie habe, dann werde ich dort Streuselkuchen Oma Maria verkaufen – und Streuselbonbons.«

Seine Worte trösteten Anne, und sie löste sich sanft aus seinen Armen, während er den Schlüssel ins Schloss steckte.

»Ich bin ja nur wegen Omas Streuselkuchen Zuckerbäcker geworden«, sagte er und schob sie nach drinnen in die ungewohnt staubige Dunkelheit. Mit geübten Händen entzündete er die kleine Öllampe – die Großmutter hatte noch kein elektrisches Licht installieren lassen –, die immer auf der Kommode neben dem Eingangsbereich stand, schloss die Haustür, drehte seine Schwester dann zu sich herum und sah ihr ernst in die Augen. »Und wir beide geben uns jetzt ein Versprechen«, sagte er.

Sie schluckte mit Mühe die aufsteigenden Tränen hinunter. »Welches?«

»Oma hätte nicht gewollt, dass wir hier Trübsal blasen. Im Gegenteil. Sie hätte uns ziemlich was erzählt.«

Wider Willen musste Anne lächeln. »Da hast du wohl recht«, sagte sie.

»Und deshalb versprechen wir uns nun, dass wir gemeinsam das Beste aus dieser Situation machen«, fuhr ihr Bruder fort. »Wir gehen jetzt zusammen einholen. Dann backe ich uns einen schönen Streuselkuchen, und du kochst uns etwas Leckeres.«

»Das ist eine gute Idee. Aber nur, wenn du mir Streuselbonbons machst.«

»Natürlich mache ich dir Streuselbonbons«, versicherte Fritz und drückte seiner Schwester einen Kuss auf die Stirn. »Und nun lass uns losgehen – sonst bekommen wir nichts mehr.«

Satt und zufrieden saßen sich Anne und Fritz mehrere Stunden später am Küchentisch gegenüber. Zwischen ihnen stand eine große Schüssel Streusel – Fritz hatte spontan auf den Kuchen verzichtet und nur die Streusel hergestellt. Nun naschten sie abwechselnd davon. Es war ihnen gelungen, ihre Trauer in den Griff zu bekommen.

»Ich finde sogar«, sagte Anne nachdenklich in die zufriedene Stille hinein, »dass es hilft, hier zu sein. Großmutters Haus mit Leben zu füllen und es liebevoll weiterzuführen fühlt sich gut an.«

»Ja«, bestätigte Fritz und steckte sich noch ein Streuselbonbon in den Mund. »Ja, das finde ich auch.«

»Vielleicht solltest du wirklich zu diesem Anton Leyen gehen«, sagte Anne nachdenklich. »Du könntest ihm unsere Streuselbonbons anbieten.«

»Ich weiß nicht«, murmelte Fritz. »Ich bin ja kein Bonbonkocher. Eher sollte ich mich vielleicht bei Bäcker und Gastwirt Wöhrmann bewerben, wo Großmutter manchmal Backwaren geholt hat, wenn sie selbst nicht dazu kam. Oder auch bei der Bäckerei und Kolonialwarenhandlung Heinrich Hartwig. Leyen würde mich schon reizen, einfach, weil ich das Bonbonkochen gerne lernen würde. Aber vermutlich würde er mich nur auslachen, wenn ich ihn als Zuckerbäcker um eine Anstellung ersuche.«

»Oder auch nicht«, sagte Anne. »Schließlich hast du auch bei Stollwerck und Oetker gearbeitet, und das sind ja auch keine Zuckerbäcker.«

»Bei Stollwerck habe ich aber Kuchen für das Café gebacken«, widersprach er, doch sie schob nur die Hand über den Tisch und drückte ihrem Bruder ermutigend die Hand.

»Wenn du es nicht probierst, wirst du es nie erfahren.«

Binnen Sekunden hatten sie wieder die Rollen getauscht: Auch wenn Fritz in den letzten Monaten für sie da gewesen, sie gestützt und gehalten hatte, auch wenn er im Innenverhältnis der Geschwister der Stärkere, der Erwachsenere war: Nach außen hin litt der Dreiundzwanzigjährige unter enormer Schüchternheit, und seine resolute jüngere Schwester hatte ihm schon über manch eine unangenehme Situation hinweggeholfen. Wobei sich Fritz, wie sie fand, auf seiner zweijährigen Wanderschaft, die ihn in die Metropolen Europas und zu deren Rezepten geführt hatte, schon verändert hatte und offener geworden war.

»Weißt du was?«, sagte sie und lächelte ihrem großen Bruder ermutigend zu. »Ich komme einfach mit. Wir machen morgen früh einen Spaziergang zu dieser Fabrik. Und dann schauen wir mal, ob wir Anton Leyen finden.«

Anne hatte sich ein wenig vor der Nacht gefürchtet – der ersten, die sie nach deren Tod im Haus ihrer Großmutter verbrachte. Doch als sie sich spätabends in das Bett kuschelte, in dem sie schon als kleines Mädchen immer geschlafen hatte, fühlte sie sich herrlich geborgen und fiel in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

Als sie früh am nächsten Morgen erwachte, war sie ausgeruht wie schon lange nicht mehr. Beschwingt schlug sie die Decke zurück, kleidete sich an – die Koffer hatte sie gestern bereits ausgepackt und sowohl ihre als auch Fritz’ Kleider fein säuberlich in die Kleiderschränke gehängt – und ging hinunter in die Küche, um das Frühstück für sich und ihren Bruder vorzubereiten. Sie hatten von gestern noch frische Eier übrig, die sie kurz entschlossen zu Rührei verarbeitete, dazu gab es Butter, das frische Brot, das Fritz gestern Abend statt des Streuselkuchens noch gebacken hatte, und ein Glas von Großmutter Marias guter Erdbeermarmelade, die sie im »Loch« gefunden hatte.

»Das riecht ja köstlich«, sagte in diesem Moment ihr Bruder von der Tür her.

Lächelnd wandte sie sich um. »Fritz. Hast du gut geschlafen?«

Er reckte sich gähnend. »Das will ich meinen«, bestätigte er. »Und du?«

»Ich auch«, erwiderte sie und deutete auf den Tisch, den sie bereits liebevoll eingedeckt hatte. »Setz dich. Du brauchst eine Stärkung, bevor wir uns auf den Weg zu Leyen machen.«

Unbehaglich nahm Fritz einen Schluck Tee. »Ich weiß nicht recht«, murmelte er.

»Aber ich«, erklärte Anne resolut. »Irgendwo wirst du arbeiten müssen, also wirst du um ein Bewerbungsgespräch ohnehin nicht herumkommen. Und ob das nun mit diesem Anton Leyen ist oder bei irgendjemand anderem, macht doch keinen Unterschied. Und was soll schon passieren. Mehr als Nein sagen, kann er doch nicht tun.«

Sie griff nach dem Brotmesser, schnitt beherzt zwei Scheiben herunter, bestrich sie dick mit Butter und dann mit Marmelade und schob ihrem Bruder eines der Brettchen zu, die seinerzeit ihr Großvater für ihre Großmutter gefertigt hatte und die je eine Aussparung für ein Glas oder eine Tasse besaßen. Als Kind hatten sie und Fritz es immer geliebt, ihre Tassen in die Aussparung zu stellen. Und als ihr Bruder das auch jetzt tat, fühlte Anne ein tiefes Gefühl der Befriedigung in sich aufsteigen. Es war alles so, wie es sein sollte.

»Jetzt iss, und dann lass uns gehen«, bat sie ihn.

Er seufzte, griff nach seiner Stulle und nickte seiner Schwester zu. »Ich habe wohl keine andere Wahl«, mümmelte er. »Wenn du dir mal was in den Kopf gesetzt hast …«

Sie lächelte und beobachtete ihn genau, während er in seine Brotscheibe biss. Und sie tat es ihm gleich. Schloss die Augen und schmeckte. Himmlisch, dachte sie. Das luftige Brot, die milde Süße der Erdbeermarmelade, die dicke Butterschicht …

Sie öffnete die Augen wieder und blickte direkt in die ihres Bruders. »Als würde Großmutter noch leben«, sagte er.

»Ja«, bestätigte sie. »Als würde Großmutter noch leben.« Nachdenklich sah sie ihren Bruder an. »Kannst du dir erklären, warum bestimmte Dinge in bestimmten Umgebungen ganz anders schmecken?«

»Du meinst dieses Brot?«, riet er.

Sie nickte. »Dieses Brot hast du zu Hause in Köln so oft für uns gebacken. Wir haben es gegessen, dick mit Butter bestrichen und mit der Marmelade, die Großmutter uns immer mitgegeben hat. Und doch hat es nie so geschmeckt wie hier.«

»Ich denke, das kommt auf vieles an«, überlegte er zwischen zwei Bissen. »Auf die Luft, die wir beim Essen atmen, auf den Ofen, in dem das Brot gebacken wird. Aber ich glaube fest daran, dass wir auch die Erinnerungen schmecken können. So, wie uns Düfte ja auch an Situationen erinnern.«

Anne nickte gerührt. Das war eine schöne Erklärung. Und wenn sie die Erinnerung an ihre Oma wirklich schmecken konnte, dann war diese wunderbar süß und tröstlich.

Kapitel 3

Werther, Oktober 1909

Je näher sie der Zuckerwarenfabrik Werther kamen, desto zögernder wurden Fritz’ Schritte. Anne an seiner Seite jedoch schritt kräftig aus und genoss es, mit den Füßen durch das bunte Herbstlaub zu streifen. Schon als Kind hatte sie das geliebt!

Ungeduldig drehte sie sich zu ihrem Bruder um, der, wie sie fand, regelrecht durch die Straßen schlich. »Nun komm schon«, mahnte sie. »Es wird nicht einfacher, je weiter du es hinauszögerst.«

»Es sei denn, ich gehe gar nicht hin!«, murmelte Fritz und starrte auf seine Schuhspitzen. So tief hielt er den Kopf gesenkt, dass sie sein Gesicht unter seinem zeitgemäßen Hut kaum sehen konnte.

»Also, jetzt hör mir mal zu.« Durch das Herbstlaub fegte sie auf ihren Bruder zu und stemmte die Hände in die Hüften. »Ich weiß wirklich nicht, wie du es geschafft hast, bei den Besten dieser Welt zu lernen, wenn du so furchtbare Angst vor einem Vorstellungsgespräch hast.«

»Nun ja«, murmelte Fritz. »Offen gestanden hat sich meine Abneigung gegen diese Gespräche bei meiner Europareise erst noch verstärkt. Die Besten der Besten sind nämlich manchmal ziemlich herablassend. Sie halten sich für etwas Besonderes – und das zeigen sie auch.«

»Ein Fritz Dunst muss sich gewiss nicht herablassend behandeln lassen«, sagte Anne empört. »Und überhaupt: Jetzt bin ich ja bei dir. Wenn dieser Leyen nicht nett zu dir ist, dann werde ich ihm die Meinung sagen.«

Unwillkürlich musste Fritz lachen. »Wenn ich dich so anschaue, dann rate ich ihm, sich besser nicht mit dir anzulegen«, sagte er. »Du siehst wirklich bedrohlich aus.«

»Tatsächlich?«, fragte Anne und musste nun ebenfalls lachen.

»Tatsächlich!«, bestätigte er. »In dem Sonnenlicht funkeln deine Augen beinahe unnatürlich gelb, und deine Haare leuchten rot. Wenn du dann noch so finster dreinblickst, siehst du aus wie eine Hexe.«

»Danke für das Kompliment«, rief Anne mit gespielter Empörung.

»Du weißt, dass du eine Schönheit bist«, erwiderte er mit ernstem Blick. »Und es ist entzückend, dass du dich so für mich einsetzen willst. Aber eigentlich bin ich doch der große Bruder und sollte dich beschützen.«

Sie legte ihre Hand in die seine. »Und das tust du auch. Ohne dich wäre ich verloren. Aber ist es nicht viel schöner, wenn wir gegenseitig füreinander da sein können?«

»Ja«, bestätigte er. »Ja, das ist es.«

Da sah Anne im bunten Herbstlaub etwas Braunes schimmern. Sie bückte sich, hob es auf und legte ihrem Bruder die Kastanie in die Hand. »Bitte schön.«

»Eine Kastanie.« Er lächelte und schloss die Finger darum.

»Du weißt, was Großmutter immer gesagt hat?«

»Ja. Ich weiß.«

Nach kurzem Zögern fuhr sie mit ihrer freien Hand in ihre Jackentasche und holte die kleine, verschrumpelte Kastanie heraus, die ihr ihre Großmutter vor so vielen Jahren zugesteckt hatte. »Hier.« Sie legte sie zu der großen, frischen Kastanie. »Für das Gespräch.«

Fassungslos sah er sie an. »Dein Glücksbringer!«

»Großmutter würde wollen, dass ich ihn dir leihe«, sagte sie ernst. »Mit diesen beiden Kastanien in deiner Tasche kann nichts mehr schiefgehen.«

Kurz darauf stiegen die Geschwister Seite an Seite die Steinstufen zur Eingangstür des imposanten Fachwerkhauses hinauf, in dem die Bonbonfabrik beheimatet war. An der doppelflügeligen, hölzernen, in dunklem Grün gestrichenen Tür hing ein großer Klopfer aus Messing. Beherzt griff Anne danach und betätigte ihn laut und deutlich. Nichts regte sich. Sie versuchte es noch einmal, und als sich immer noch nichts tat, sahen die Geschwister einander ratlos an.

Anne legte ihr Ohr an die Tür, um zu lauschen. Just in diesem Moment wurde diese von innen aufgerissen, und Anne fiel in die Arme eines Mannes. Trotz ihres Schrecks war das Erste, was Anne wahrnahm, sein Geruch. Dieser Mann duftete nach Zucker! Dann bemerkte sie, dass er ziemlich knochig, wenn nicht gar dünn war. Im nächsten Moment befreite sie sich auch schon verlegen aus der Umarmung des Herrn, der sie geistesgegenwärtig aufgefangen hatte, und bemerkte, dass dieser Mitte zwanzig sein mochte und dass sein braunes, wild lockiges Haar derart wirr vom Kopf abstand, dass er beinahe absurd aussah. Sie unterdrückte ein Kichern und schob sich hinter Fritz.

»Guten Tag«, brachte der heraus. »Wir möchten gerne zu Anton Leyen. Ich bin Zuckerbäcker und auf der Suche nach Arbeit.«

Der Wildgelockte schmiss die Hände in die Luft und stieß einen Laut aus, der halb nach einem Jubelschrei, halb nach einem Ächzen klang. Dann strahlte er über das ganze Gesicht und machte einen großen Schritt auf Fritz zu, der eher einem Sprung glich, sodass dieser erschrocken zusammenzuckte. Für einen Moment hatte Anne das Gefühl, der Dürre wolle ihrem Bruder um den Hals fallen. Doch der Mann begnügte sich damit, Fritz’ Rechte zu packen, sie begeistert zu schütteln – wobei er seine Linke auf die ineinander verschlungenen Hände legte – und zu beteuern: »Sie schickt der Himmel. Ich weiß nicht, wo mir der Kopf steht. Ich habe viel zu wenige Arbeiter. Es ist ganz wunderbar. Alle wollen meine Bonbons. Und gleichzeitig ist es ganz furchtbar, weil ich nicht hinterherkomme mit dem Produzieren. Das bedeutet unzählige gebrochene Kinderherzen. Sie müssen sich das einmal vorstellen, liebe junge Dame«, wandte sich der Herr nun an die verblüffte Anne. »Da sparen Kinder jeden Groschen ihres Taschengeldes auf, um unsere Bonbons kaufen zu können, gehen in aufgeregter Erwartung ins Geschäft, und was finden sie da vor?«

Fragend starrte er Anne an, die verwirrt feststellte, dass seine Augen beinahe schwarz waren und sich wie Dolche in ihren Blick bohrten.

»Äh …«, machte sie hilflos.

»Ganz richtig!«, rief der Herr. »Bonbongläser!«

Der Blick in ihre Augen intensivierte sich, dann stieß er hervor: »Leere Bonbongläser.« Dabei warf er wieder die Hände in die Luft und machte einen Schritt zurück, was Fritz mit offensichtlicher Erleichterung quittierte.

»Können Sie sich die Enttäuschung der Kinder vorstellen?«, fragte der Herr traurig – und sah dabei nach wie vor Anne an.

»Äh, ja, das ist ja ganz furchtbar«, stieß sie hervor.

»Furchtbar, Sie sagen es«, bekräftigte der Mann, von dem Anne vermutete, dass es sich um den Fabrikdirektor handelte. Ein Arbeiter, selbst in leitender Position, hätte niemals so mit ihnen gesprochen! Außerdem war der Herr ausgesprochen elegant gekleidet. Dann erhellte ein Lächeln sein Gesicht wieder. »Aber jetzt sind Sie ja da, um mir zu helfen.« Nun galt sein Strahlen Fritz. »Wann können Sie anfangen? Jetzt gleich? Haben Sie schon gefrühstückt? Sie können unmöglich mit leerem Magen arbeiten. Ich lasse Ihnen etwas Kuchen bringen. Und …« Er ließ den Finger durch die Luft kreisen. »Filterkaffee. Wunderbaren krümellosen Filterkaffee. Haben Sie schon einmal von Melitta Bentz gehört? Eine patente Frau«, sprudelte er weiter. »Sie hatte eine ganz fantastische Idee, um diese lästigen Kaffeekrümel zu vermeiden. Ein paar Löcher in den Boden einer Blechdose, Löschpapier hineingelegt – schon ist die Sache erledigt. Und nun hat sie mit ihrem Mann eine Fabrikation gegründet, und seit Anfang des Jahres sind die Kaffeefilter zu haben. Frau Schnakenwinkel schwört darauf.«

»Das … äh …«, machte Fritz überfordert, während Anne zwischen Amüsement über den seltsamen Namen dieser Frau Schnakenwinkel und der Flut von Informationen, die hier auf sie niederprasselten, hin- und hergerissen war. Und da richtete sich die Aufmerksamkeit des Unternehmers auch schon wieder auf Anne. »Sind Sie auch Zuckerbäckerin?«, fragte er.

Anne kam aus der Verwunderung gar nicht mehr heraus. Sie hatte noch nie einen derart redseligen Menschen erlebt. Aber es war eigentlich gar nicht Anton Leyens Redseligkeit, die sie so faszinierte, sondern seine ganze Art. Dieser Mann strahlte eine derartige Energie und Begeisterung aus, dass Anne das Gefühl hatte, es sei viel zu viel für seinen zierlichen Körper. Wahrscheinlich machte Anton Leyen deshalb ständig so weit ausholende Bewegungen. Weil er irgendwo hinmusste mit seiner Energie. Dass er sie nun fragte, ob sie ebenfalls Zuckerbäckerin war, brachte sie vollends aus der Fassung. Gab es das überhaupt? Frauen, die Zuckerbäckerinnen waren? Sie hatte zumindest noch keine gesehen, nahm sich aber vor, Fritz später danach zu fragen.

Sie stellte sich vor, was ihre Eltern gesagt hätten, wenn sie, Anne, ihnen vorgeschlagen hätte, Zuckerbäckerin zu werden. Die Vorstellung war so absurd, dass sie ein leises Kichern ausstieß – was ihr Gegenüber als Zustimmung zu werten schien.

»Wunderbar«, rief er. »Dann fangen Sie also auch bei mir an. Ihr Mann hat sicher nichts dagegen?« Er warf dem inzwischen völlig verdatterten Fritz einen kurzen Blick zu, und bevor eines der Geschwister ansetzen konnte zu erklären, dass sie keineswegs Eheleute waren, hatte Anton Leyen schon auf dem Absatz kehrtgemacht und eilte – oder hüpfte – davon, den breiten Flur entlang, um sich nach einigen Schritten umzudrehen und die Geschwister, die wie vom Donner gerührt dastanden, zu fragen: »Na, wo bleiben Sie denn? Wir haben keine Zeit zu verlieren. Ich zeige Ihnen alles. Um den Papierkram kümmern wir uns später. Jetzt müssen wir Bonbons kochen.«

Er klatschte zweimal kräftig in die Hände, Anne und Fritz wechselten einen verwunderten Blick und folgten dem engagierten Fabrikdirektor dann durch einen auf der Rückseite des Gebäudes befindlichen Durchgang in dessen Produktionshallen.

»Das kommt nicht infrage«, zischte Fritz auf dem Weg dorthin, als er seine Sprache wiedergefunden hatte. »Auch wenn ich nicht dein Mann bin, so erlaube ich keineswegs, dass du arbeitest. Du bist meine kleine Schwester, und ich werde selbstverständlich für dich sorgen.«

»Fritz«, flüsterte Anne, der regelrecht der Kopf schwirrte von all dem, was die letzten Minuten auf sie eingeprasselt war, »dazu ist jetzt keine Zeit. Lass uns erst mal alles ansehen, und dann können wir das dem Herrn Leyen immer noch sagen, wenn wir nachher das Vertragliche mit ihm regeln.«

»Wenn ich das Vertragliche mit ihm regle«, korrigierte Fritz ärgerlich. »Das ist nun wirklich keine Frauensache.«

»Natürlich«, murmelte Anne verstimmt. Manchmal verstand sie ihren Bruder nicht. So gut sie sich auf der einen Seite vertrugen – gelegentlich war er einfach fürchterlich rückständig. Aber so war ihr Vater auch gewesen. Und leider orientierte sich ihr Bruder an ihm.

Zum Glück blieb ihnen jedoch keine Zeit mehr, ihren Disput fortzusetzen, denn in diesem Moment hatten sie die Fertigungshalle erreicht, deren Tür Anton Leyen mit einer triumphierenden Geste aufriss. »Willkommen im Reich der süßen Träume«, sagte er und ließ die Geschwister an sich vorbeigehen.

Drinnen war es etwas dunstig, und der süße Geruch, den Anne schon an Anton Leyen wahrgenommen hatte, waberte hier als Dunst durch den Raum. Sie erkannte einen langen Tisch, an dem einige weiß gekleidete Gestalten standen und konzentriert eine Masse bearbeiteten, die vor ihnen auf dem Tisch lag. In der Ecke stand ein großer Kessel, in dem zwei kräftig wirkende Männer mit großen Löffeln rührten.

Leyen schoss jedoch auf einen schlanken Mann mittleren Alters zu, der im Begriff war, eine klebrige Masse zwischen zwei Haken, die automatisch angetrieben wurden, zu bewegen, und dabei sehr routiniert wirkte. Wild gestikulierend redete er auf den Mann ein, der daraufhin einige Male zu den Geschwistern hinübersah und nickte. Sodann entschwand Anton Leyen mit einem »Das wird schon« wieder nach draußen, während der Mann an den Haken seine Tätigkeit unterbrach, sich die Hände an einem Tuch abwischte und mit einem Lächeln auf sie zuging.

»Willkommen«, sagte er und schüttelte erst Anne, dann Fritz die Hand. »Ich bin Hinner Tombroke, der Leiter der Bonbonkocherei. Ich werde Ihnen alles zeigen.«

»Danke«, sagte Anne. »Offen gestanden sind wir etwas überrumpelt. Wir kamen gar nicht richtig zu Wort, und …«

Hinner lachte auf, und seine grünen Augen funkelten amüsiert. »Mir müssen Sie nichts erzählen«, sagte er. »Ich kann mir lebhaft vorstellen, wie Ihr Gespräch vonstattenging. Unser Direktor hat ein sehr einnehmendes Wesen. Er ist ein kreativer Geist.«

»Eigentlich bin ich Zuckerbäcker«, sagte Fritz. »Ich bin schon gekommen, um einmal vorsichtig anzufragen, ob Herr Leyen vielleicht eine Beschäftigung für mich hat – ob das überhaupt vorstellbar ist. Aber damit, dass er mich sofort einstellen würde, habe ich nicht gerechnet. Denn ich bin kein Bonbonkocher.«

»Da machen Sie sich mal keine Sorgen«, sagte Hinner freundlich. »Ich bin ebenfalls Zuckerbäcker. So sehr unterscheiden sich die beiden Berufe gar nicht voneinander. Es geht um ein feines Gespür für Geschmack, um den sauberen Umgang mit Lebensmitteln, um korrektes Abmessen und natürlich um ganz viel Liebe. Denn wenn Sie nicht lieben, was Sie tun, schmeckt man das.«

Anne musste bei Tombrokes Worten daran denken, dass sie noch am Morgen mit ihrem Bruder darüber gesprochen hatte, warum gewisse Dinge an gewissen Orten anders schmecken. Wahrscheinlich schmeckte sie im Haus ihrer Großmutter einfach noch deren Liebe.

»Dass meine Schwester hier arbeitet, damit bin ich allerdings nicht einverstanden«, fuhr der eigentlich so schüchterne Fritz, der Zutrauen zu dem Bonbonkocher zu fassen schien, fort. »Sie wollte mich heute nur zu meiner Unterstützung begleiten, aber ich finde es nicht richtig, dass eine Frau arbeitet. Ich kann sehr wohl für sie sorgen.«

Es klang fast beleidigt.

»Schauen Sie mal«, sagte Hinner und deutete auf zwei junge Frauen, die an dem langen Holztisch standen. »Ihre Schwester wäre nicht die Einzige. Und so ungewöhnlich ist es nun auch wieder nicht, dass Frauen einer Erwerbstätigkeit nachgehen.«

»Ach, bitte, Fritz«, mischte sich Anne ins Gespräch. »Ich würde so gern …«

»Ich lasse Sie beide einmal kurz allein, dann können Sie sich darüber austauschen«, sagte Hinner höflich. »Ich gehe davon aus, dass unser Direktor einfach bestimmt hat, dass Sie hier arbeiten?«

»Ja«, sagte Anne betreten.

Hinner lachte auf. »Das passt zu ihm. Aber er ist ein lieber Kerl. Seine Fabrik ist sein Ein und Alles, und Bonbons, das hat er einmal so gesagt, sind zuckergewordene Träume.«

Zuckergewordene Träume, dachte Anne, während sie dem Leiter der Bonbonküche nachsah, der eine kurze Runde durch den lang gestreckten Raum begann, vermutlich, um sich zu überzeugen, dass alles seinen Gang ging. Wie wundervoll.

»Fritz«, sagte sie eindringlich. »Ich weiß, dass du für mich sorgen kannst, wirklich. Und ich rechne es dir hoch an, dass du das tun willst. Aber … Die Vorstellung, jeden Tag in Großmutters Haus zu sitzen, während du bei der Arbeit bist, die ist … die ist für mich ganz schrecklich.«

»Es ist ja nicht so, als hättest du nichts zu tun«, beharrte er. »Du musst dich um den Haushalt kümmern und einholen, kochen …«

»Das kann ich alles trotzdem machen«, begehrte Anne auf. »Das füllt doch keinen Tag aus. Und ich will wirklich nicht die ganze Zeit ohne dich sein.« Flehend sah sie ihn an. »Sieh es doch nicht so, dass du deine Schwester zum Arbeiten schickst, sondern dass du sie mitnimmst, damit sie nicht allein ist.«

Fritz lachte auf und fuhr sich durchs Haar. »Du wusstest schon immer, wie du deinen großen Bruder einwickelst.«

»Ist das ein Ja?«, fragte Anne atemlos.

»Das ist ein Wir-versuchen-es-mal«, erwiderte er und fügte dann leise hinzu: »Ich bin ja auch froh, dich an meiner Seite zu haben. Denn so, wie du nicht allein im Haus sein willst, will ich nicht allein unter all diesen Leuten sein.«

»Die scheinen mir aber alle sehr nett zu sein«, murmelte Anne und sah sich um. Ihr Blick traf den einer der Arbeiterinnen. Sie hatte blond gelocktes Haar, und die beiden Frauen lächelten einander freundlich zu. Dann schweiften ihre Augen weiter durch den Raum, blieben an den konzentriert arbeitenden Menschen hängen, an den glänzenden Massen, die in verschiedenen Formen und Trögen bereitstanden, an dem langen, schimmernden Band, das über die Haken gezogen wurde, über die ebenfalls automatisch laufenden Walzen, durch die die Bonbonmasse lief, und sie fühlte sich wie in einem Märchen. Bonbons sind zuckergewordene Träume, kam ihr der Satz des Fabrikdirektors wieder in den Sinn. Ja, dachte sie, hier war sie genau richtig. Und dieser Anton Leyen war in der Tat ungemein faszinierend. So einen Menschen, derart angefüllt von Begeisterung für das, was er tat, hatte sie noch nie kennengelernt!

Kapitel 4

Werther, Oktober 1909

Der Kaffee! Und der Kuchen! Anton wollte gerade sein Büro betreten, um endlich etwas Ordnung in seine Papierberge zu bringen, als es ihm siedend heiß einfiel! Er hatte dem ausgesprochen sympathischen Ehepaar Kaffee und Kuchen angeboten – und sie dann einfach in der Bonbonkocherei stehen lassen. Wo war er nur mit seinen Gedanken?

Er machte auf dem Absatz kehrt, um nach oben zu gehen und Frau Schnakenwinkel zu bitten, einen kleinen Imbiss für die Neuankömmlinge vorzubereiten, als ihm klar wurde, dass er ihnen schlecht Kaffee und Kuchen servieren lassen konnte. Schon gar nicht in der Bonbonkocherei, vor allen anderen. Sie waren seine Arbeiter! Manchmal sprudelte es einfach so aus ihm heraus, und er redete, ohne darüber nachzudenken. Vor allem dann, wenn er derart unter Strom stand wie zurzeit.

Das hohe Bestellaufkommen machte ihn unfassbar nervös – und zugleich verlieh es ihm ungeahnte Kräfte! Er schlief kaum noch, hatte Mühe, still zu sitzen, und manchmal überkam ihn das Gefühl, dass seine Füße den Boden beim Gehen gar nicht mehr berührten, weil er regelrecht schwebte vor Glück darüber, dass alle seine Bonbons wollten.

Sein Vater, bei dem er einst seine Ausbildung zum Feinbäcker gemacht hatte, wäre stolz auf ihn gewesen! Zu Recht: Schließlich hatte er vor zwei Jahren die riesigen Fabrikhallen hinter seinem Elternhaus errichten lassen. In der Halle, die sich dem Wohnbereich direkt anschloss, befand sich die Bonbonkocherei, in dem kleineren Gebäude ganz am Ende waren Dampfmaschine und Dampfkessel untergebracht.

In diesem Moment wurde die Tür aufgerissen, was ihn aus seinen Gedanken holte, und eine junge, blonde Frau stand vor ihm. Anton starrte sie an.

»Was?«, rief sie. »Was schaust du so?«

»Ach, Käthchen«, sagte er und strich seiner sechs Jahre jüngeren Schwester über die Wange, »ich kann mich einfach nicht an deine neue Frisur gewöhnen.«

Die einundzwanzigjährige Käthe war ausgesprochen modebewusst und hatte sich vor Kurzem zum Entsetzen ihrer Mutter von ihrem lockigen Nackenknoten getrennt. Nun trug sie das Haar nur noch kinnlang und onduliert. Anton fand zwar, dass ihr das gut stand, etwas ungewohnt war es aber dennoch.

»Und deshalb stehst du hier herum und traust dich nicht herein?«, lachte sie.

Er erwiderte ihr Lachen. »Nein«, sagte er. »Ich wollte mir eigentlich einen Kaffee holen.«

Streng schüttelte sie den Kopf und hob den Finger, um ihn ihrem großen Bruder gegen die Brust zu stechen. »Das lasse ich nicht zu«, erklärte sie ihm. »Kaffee macht dich noch aufgeregter, als du ohnehin schon bist. Außerdem hattest du heute mindestens schon sechs Tassen.«

»Kaffee verleiht mir Energie«, widersprach er. »Und die kann ich gebrauchen. Du weißt, alle wollen meine Bonbons.«