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Träume E-Book

Stefan Klein

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Beschreibung

Vergessen Sie alles, was Sie über Träume zu wissen meinten! Träume sind der verborgene Teil unseres Selbst. Aber in einer zunehmend hektischen Welt haben wir den Zugang zu unseren nächtlichen Erlebnissen verloren – und Sehnsucht danach, ihn zurückzugewinnen. Der Bestsellerautor Stefan Klein nimmt uns mit auf eine einzigartige Entdeckungsreise in das Land der Träume. Er stellt die Faszination, die Träume seit jeher auf uns ausgeübt haben, in den Rahmen der neuesten Wissenschaft. Mit Hirnscans und riesigen Traumdatenbanken hat sich diese in den letzten Jahren völlig neue Wege zu unserem Bewusstsein gebahnt. Stefan Klein zeigt uns verständlich und spannend, was Träume uns wirklich sagen, wie sie uns neue Einsichten und Horizonte eröffnen und wie wir sie als mentales Training nutzen können.

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Seitenzahl: 308

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Stefan Klein

Träume

Eine Reise in unsere innere Wirklichkeit

FISCHER E-Books

Inhalt

WidmungMottoEinleitungI. Was Träume sind1. Rückkehr in ein vergessenes Land2. Neue Wege in die Innenwelt3. Im Reich des Zwielichts4. Die Stufen der Nacht5. Durch die Augen einer BlindenII. Was Träume über uns sagen6. Die Düfte des Barons d’Hervey7. Die Elementarteilchen des Ichs8. Inseln des Bewusstseins9. Ein Mord in Toronto10. Die Unterströmungen der Seele11. Von Spritzen und BratpfannenIII. Wie Träume unser Leben verändern12. Lernen im Schlaf13. Dämon auf der Brust14. Die Kunst des Klartraums15. Franz K. und der WindhundeselEpilogLiteraturverzeichnis1. Rückkehr in ein vergessenes Land2. Neue Wege in die Innenwelt3. Im Reich des Zwielichts4. Die Stufen der Nacht5. Durch die Augen einer Blinden6. Die Düfte des Barons d’Hervey7. Die Elementarteilchen des Ichs8. Inseln des Bewusstseins9. Ein Mord in Toronto10. Die Unterströmungen der Seele11. Von Spritzen und Bratpfannen12. Lernen im Schlaf13. Dämon auf der Brust14. Die Kunst des Klartraums15. Franz K. und der WindhundeselEpilogDankBildnachweise

Für Alexandra

Warum sieht das Auge im Traum klarer als die Vorstellung wachend?Leonardo da Vinci

Einleitung

Ein neues Verständnis unserer Träume

Erinnern Sie sich? Vielleicht sind Sie durch die Straße geschwebt, in der Sie als Kind spielten. Oder Sie versuchten verzweifelt, einen Zug zu erreichen, doch immer neue Zwischenfälle hielten Sie auf. Möglicherweise sind Sie beim Schwimmen im Pool einem Eisbären begegnet.

Nein? Zweifellos hatten Sie in der vergangenen Nacht Erlebnisse solcher oder ähnlicher Art. Denn Sie haben geträumt. Und diese Szenen waren nicht bloß ein kurzes Zwischenspiel in einem sonst ruhigen Schlaf. Vielmehr waren Sie viele Stunden lang der Held in einer Welt, die Sie selbst erschufen. Schlafen heißt nämlich, wie wir seit kurzem wissen, fast immer auch träumen. Und da Schlaf gut ein Drittel Ihres Lebens ausfüllt, bedeutet das: Mit Träumen bringen Sie mehr Zeit zu als mit jeder anderen Tätigkeit.

Viele Ihrer nächtlichen Freuden, Schrecken und Kämpfe mögen Ihnen entfallen sein. Den meisten Menschen bleiben ihre Träume nur gelegentlich im Gedächtnis. Möglicherweise gehören Sie auch zu den Personen, die fast nie zu träumen glauben. Wenn Sie aber häufiger im Bewusstsein merkwürdiger Erlebnisse erwachen, dann wissen Sie, wie unvollständig Ihre Erinnerung daran ist. Sie bekommen nur ein paar Fetzen Ihrer Träume zu fassen. Doch Sie spüren, dass da viel mehr gewesen sein muss – als wären Sie nachts tief in einen fremden Kontinent eingedrungen, von dem Sie tagsüber nur einen Küstenstrich sehen. Dieser Kontinent ist Ihre Psyche.

Was also sind Träume? Sigmund Freud hat sie den Königsweg zum Unbewussten genannt. Er deutete sie als einen Ausdruck von geheimen Wünschen und Kindheitserlebnissen. Doch seit Freud sein bahnbrechendes Werk »Die Traumdeutung« veröffentlicht hat, ist mehr als ein Jahrhundert vergangen. Heute kennen wir Aspekte des nächtlichen Erlebens, zu denen Freud noch keinen Zugang hatte. So ist es an der Zeit, sich dem Phänomen Träume aus einem neuen Blickwinkel zu nähern. Mit diesem Buch will ich zeigen, dass Träume weit mehr als nur der Ausdruck unbewusster Sehnsüchte sind: Sie sind ein Schlüssel, um das Rätsel unseres Bewusstseins zu lösen. Sie lassen uns erkennen, wie unser Gehirn das hervorbringt, was wir als Realität empfinden.

Unser in den letzten Jahren enorm erweitertes Wissen über das Träumen verdanken wir zum einen neuen Methoden der Hirnforschung. Sie erlauben es beispielsweise, die Aktivität der Neuronen im Schlaf mit einer nie dagewesenen Genauigkeit zu vermessen. Die Vorstellung, man könne Ihre Träume, während Sie schlafen, direkt aus Ihrem Gehirn auslesen, würden Sie vermutlich als Science-Fiction abtun. Sie ist aber schon Wirklichkeit. Denn die Signale, die ein Scanner aus dem Kopf eines Schlafenden aufnimmt, verraten, was er gerade erlebt. Sie zeigen mit gewissen Einschränkungen sogar, welche Bilder er sieht.

Zum anderen trugen Wissenschaftler über Jahrzehnte hinweg systematisch Traumberichte zusammen. Früher wurden Träume nur vereinzelt, anekdotisch erzählt. Heute verfügen wir über riesige Traumdatenbanken; zehntausende Protokolle lassen sich vergleichen und analysieren. Sie geben zum Beispiel Aufschluss darüber, wie sich die Erfahrungen des Tages, die Lebensumstände und die Persönlichkeit im Traum spiegeln.

Träume verweisen aber nicht nur auf die Vergangenheit. Eine der überraschenden neuen Einsichten ist, dass Träume uns helfen, die Zukunft zu bewältigen. Während wir träumen, erweitern sich nämlich unsere Fähigkeiten, verändert sich das Gehirn. Wir lernen buchstäblich im Schlaf. Unsere Persönlichkeit entwickelt sich nachts weiter. Und deshalb zeigen uns Träume nicht nur, wer wir sind – sondern auch, wer wir sein können.

Die Beschäftigung mit Träumen und ihre Erforschung haben eine lange Geschichte. Von den antiken Orakeln bis hin zu Freud haben die Menschen drei große Fragen zu beantworten versucht:

Warum träume ich?

Was sagen meine Träume über mich?

Wie können Träume mir weiterhelfen?

Auf den folgenden Seiten werde ich mich bemühen, die Antworten im Licht unseres heutigen Wissens zu geben. Dazu werde ich ein neues Verständnis des Träumens darlegen, das sich aus den Erkenntnissen der letzten Jahre ergibt.

Während der Entstehung dieses Buchs habe ich erlebt, wie mir das Nachdenken über Träume meine eigenen Träume sehr viel bewusster machte. Auch Menschen, mit denen ich regelmäßig über mein Projekt sprach, berichteten, dass sie sich auf einmal häufiger und detaillierter daran erinnerten, was sie im Schlaf sahen.

Die Auseinandersetzung mit unseren Träumen hilft uns demnach nicht nur, unser Erleben und unser Bewusstsein besser zu verstehen: Sie lässt uns auch eine weitgehend unbekannte Seite unseres Daseins entdecken. Wäre es nicht schade, wenn Sie ein Drittel Ihrer Lebenszeit versäumten?

I.Was Träume sind

1.Rückkehr in ein vergessenes Land

Warum wir ein Drittel unserer Lebenszeit verpassen

Der Schlaf ist voller Wunder.

Charles Baudelaire

Einst empfanden Menschen ihre Träume als Teil der Wirklichkeit. In traditionellen Gesellschaften galten die Bilder der Nacht mindestens so viel wie die Ereignisse des Tages. Eindrucksvoll hat das der Ethnologe Gunnar Landtman dokumentiert, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts bei den Kiwai lebte, einem auf großen Flussinseln in Papua-Neuguinea isolierten Volk. Einmal träumte ein Kiwai, wie ihm ein Freund kostbare Geschenke vermachte. Nach dem Erwachen durchsuchte er sein ganzes Haus nach den Schätzen. Als seine Frau sich wunderte, warum er tastend auf dem Boden herumkroch, antwortete er ärgerlich: »Sei still. Ich habe gute Dinge gesehen.« Noch heute sprechen viele Völker in Papua-Neuguinea nicht davon, Träume zu »haben«. Sie sagen: »Ich sehe im Traum.«

Unsere eigenen Vorfahren dachten genauso. Noch vor gut zwei Jahrhunderten waren Träume in Europa Tagesgespräch, und selbstverständlich handelte man nach ihnen. Vom britischen König George II. ist verbürgt, dass er mitten in einer Nacht des Jahres 1732 die Pferde anspannen ließ, nachdem ihm im Schlaf seine verstorbene Frau erschienen war. Der Kutscher musste den Herrscher zu ihrem Sarg in der Königsgruft von Westminster Abbey fahren.

Heute erscheinen uns solche Begebenheiten absurd. Was wir nachts erleben, erinnern wir als entrückte, surreale Bilder – wenn überhaupt. Erscheint ein Kind von einem Albtraum aufgeschreckt nachts im Zimmer der Eltern, raten sie ihm, das Erlebnis zu ignorieren: »Es war doch nur ein Traum.« Unseren Vorfahren bedeuteten Träume Erkenntnis, für uns sind sie Hirngespinste. Jemanden einen »Träumer« zu nennen, hat schon etwas Despektierliches.

Wir haben uns unseren Träumen entfremdet, und das schnelle Tempo unseres Lebens macht es auch nicht leicht, sich ihnen wieder zu nähern. Wer sich bereits vom Takt seiner Tage bis an die Grenze der Erschöpfung gefordert fühlt, blendet verständlicherweise die Erfahrungen der Nacht aus. Viele Zeitgenossen sind sogar davon überzeugt, gar keine Träume zu haben. »In unserer westlichen Zivilisation wurden die Brücken zwischen der Tag- und der Nachthälfte des Menschen abgebrochen«, schreibt der französische Anthropologe Roger Bastide. Seit der Aufklärung achte man vor allem die Vernunft: »Wir haben die nächtliche Hälfte unseres Lebens entwertet.«

Manchmal allerdings ahnen wir, was uns entgeht. Am deutlichsten bemerken wir den Verlust, wenn wir erwachen. Während die ersten Geräusche des Tages in den Kopf eindringen und sich die ersten Gedanken breitmachen, befinden wir uns zugleich noch in einer anderen Welt – als hätte sich unser Leben plötzlich verdoppelt.

Bilder ziehen durch das Bewusstsein wie Nebelschwaden. Oft sind sie so schemenhaft, dass sie sich sofort verflüchtigen, sobald man versucht, sie zu erfassen. Manchmal jedoch sind die Traumbilder so überwältigend, dass man sie nicht abzuschütteln vermag und sie die Stimmung des ganzen Tages vorgeben. Gelegentlich kommen uns bestimmte Träume noch nach Jahren in den Sinn. In solchen Momenten spürt man, dass die Erfahrungen des Tages nur ein Ausschnitt der Wirklichkeit sind – und wie reich und interessant der andere Teil des Lebens sein kann, den wir gewöhnlich übersehen.

*

Träumen wir heute einfach weniger als frühere Generationen? Mit Sicherheit nicht. Dass Menschen, wohl auch Tiere, im Schlaf etwas erleben, ist eine angeborene Funktion des Gehirns. Und anders als der Körper ruht das Hirn nie. Lange galt es als ausgemacht, dass ein erwachsener Mensch nur ungefähr zwei Stunden pro Nacht träumt – und zwar ausschließlich während des sogenannten REM-Schlafs, von dem in Kapitel vier die Rede sein wird. Neue Untersuchungen haben diese Annahme als Mythos entlarvt. Alle Menschen sind in sämtlichen Phasen des Schlafs immer wieder oder sogar durchgehend bei Bewusstsein, sehen Bilder, haben Gefühle, hegen Gedanken, legen Erinnerungen an, üben Handlungen ein.

Wie konnten uns diese vielfältigen Erfahrungen so seltsam gleichgültig werden? Wir hetzen uns ab, um so viele Erlebnisse in unsere Tage zu pressen wie möglich. Viele Zeitgenossen versuchen verzweifelt, das Altern zu verzögern. Was gäben wir dafür, wenn uns jemand sechs Stunden zusätzliche Lebenszeit pro Tag verschaffen könnte? Das entspricht zwanzig weiteren Lebensjahren – und der Zeit, die der Deutsche im Durchschnitt träumend verbringt. Doch fast alles, was sich in dieser Zeit ereignet, ist schon am nächsten Morgen vergessen, verweht.

Zurück in die Traumwelt unserer Vorfahren können wir nicht – und würden es auch nicht wollen. Einer der am wenigsten beachteten Umbrüche in der Menschheitsgeschichte ist, dass unsere Vorfahren erst vor etwa acht Generationen begannen durchzuschlafen. Wer nicht gerade unter Schlafstörungen leidet, erwartet heute ganz selbstverständlich, sich abends ins Bett zu legen und, höchstens von einem Gang zur Toilette unterbrochen, am nächsten Morgen wieder aufzuwachen. Für unsere Vorfahren war das undenkbar.

Sie verbrachten ihre Nächte abwechselnd schlafend und wach, üblich war es, vom »ersten« und »zweiten« Schlaf einer Nacht zu sprechen. Wer nach harter körperlicher Arbeit erschöpft am frühen Abend ins Bett fällt, kann unmöglich zehn oder mehr Stunden bis zum Tagesanbruch schlafend verbringen. Auch den Wohlhabenden fielen bei Kerzenschein und ohne viel Ablenkung frühzeitig die Augen zu. Zudem förderten die Orte, an die man sich zur Ruhe zurückzog, nicht gerade den Schlaf. Zugige Zimmer sorgten dafür, dass man spätestens in den frühen Morgenstunden fröstelnd erwachte. Bis dahin freilich hatten die zappelnden, hustenden und schnarchenden Bettgenossen den Schläfer schon mehrmals geweckt, schließlich teilte man sein Bett mit der ganzen Familie. Eine eigene Matratze und eine eigene Decke waren ein Luxus, den nur die wenigsten genossen, sie garantierten im Übrigen auch keine Ruhe, denn darin lauerten Flöhe und Wanzen.

Immer wieder wurden die Menschen so aus ihren Träumen gerissen. Wenn sie erwachten, war die Erinnerung an das Gesehene noch frisch, die Szenen standen ihnen in allen Details vor Augen. »Mein Schlaf ist zerbrochen und voller Träume«, heißt es in der Komödie Gallathea, die zeitgleich mit Shakespeares Dramen am englischen Hof aufgeführt wurde. Anhand von Tagebüchern der frühen Neuzeit konnte der Historiker Roger Ekirch nachweisen, wie oft die Menschen »aufgewühlt«, »perplex« und manchmal auch »gequält« von ihren nächtlichen Erfahrungen waren.

*

In manchen Gegenden der Welt ist der Schlaf in mehreren Schichten heute noch üblich. Bei den Ávila Runa etwa, einem Volk am Oberlauf des Amazonas in Ecuador, ist der Schlaf sogar ein Teil des Gemeinschaftslebens. Niemand käme jemals auf die Idee, sich nachts in einem Zimmer zu isolieren; die Bewohner eines ganzen Dorfes schlafen nebeneinander unter einem freistehenden Strohdach. Wer von den Geräuschen der Tiere im Regenwald, der Unruhe seiner Nachbarn oder auch nur vom Vollmondlicht aufgewacht ist, setzt sich an ein die ganze Nacht brennendes Feuer, trinkt Tee und erzählt seine Träume. »Der Alltag ist untrennbar mit dem zweiten Leben des Schlafs und der Träume verwoben«, schreibt der Anthropologe Eduardo Kohn über seine Feldforschung bei den Runa. »Ihre Träume sind ein Teil der Erfahrungswelt.«

Die Unterbrechungen des Schlafs bewirken nämlich nicht nur, dass mehr Träume in Erinnerung bleiben, sondern führen auch dazu, dass die Traumszenen dem Erwachenden als besonders realistisch erscheinen. Das funktioniert auch bei modernen Großstädtern, wie der amerikanische Psychiater Thomas Wehr experimentell nachwies. Der Forscher simulierte im Labor lange Winternächte, die seine Versuchspersonen ohne Fernsehen und elektrisches Licht verbringen mussten; währenddessen maß Wehr ihre Hirnströme und Hormonwerte. Es zeigte sich, dass die Probanden keineswegs wachbewusst waren, wenn sie ihren ersten Schlaf hinter sich hatten und nach ein paar Stunden erwachten. Ihr Verstand befand sich vielmehr in einem etwas entrückten Zustand der Art, in dem sich die Grenze zwischen Außen- und Innenwelt auflöst. Meditierende kennen dieses Phänomen, und auch unsere Vorfahren müssen ihre Schlafpausen ähnlich erlebt haben. Erinnerten sie sich mitten in der Nacht an einen Traum, erschienen ihnen die Bilder so real wie die Gegenstände in ihrem Schlafzimmer.

*

Die Träume aus längst vergangenen Epochen bestimmen unser Leben bis heute. Denn die Bilder, die im Zwielicht zwischen Schlaf und Wachen ins Bewusstsein traten, prägten das Denken und hinterließen ihre Spuren in Philosophie und Religion. So formten die Träume unserer Ahnen unsere Vorstellung davon, wer wir Menschen eigentlich sind.

Heute meinen wir, in einer Wirklichkeit zu leben; sie aber lebten in zweien. Neben dem, was sie tagsüber wahrnahmen, stand gleichberechtigt die andersartige Erfahrung der Nacht. Damit führten frühere Generationen ein reicheres, aber auch widersprüchlicheres Leben als wir. Wie etwa war zu verstehen, dass im Schlaf Tote erscheinen, dass sich Dinge und Menschen ineinander verwandeln oder dass sich der Träumer mühelos über Raum, Zeit und sogar die Schwerkraft hinwegsetzen kann? Wer Träume als wirklich begreift, der muss auch davon ausgehen, dass es ihm in der Nacht möglich ist, zu fliegen und Toten zu begegnen. Der Schluss lag nahe, dass das Ich weder im schlafenden Körper angesiedelt noch den Naturgesetzen unterworfen sein kann. So brachte die Erfahrung des Träumens die wohl einflussreichste Idee aller Zeiten hervor: dass wir eine Seele haben. Und während die Seele tagsüber mit dem Körper verbunden ist, geht sie im Schlaf – und nach dem Tod – ihre eigenen Wege.

So argumentierte die vorsokratische griechische Philosophie, so denken traditionelle Kulturen bis heute. Für die Kiwai auf Papua-Neuguinea sind Träume die Erlebnisse von Seelen, die nachts wie Tauben durch die Welt fliegen (und auf ihrer Reise offenbar manchmal Geschenke bekommen). Die Ávila Runa, die am Oberlauf des Amazonas ihre Nächte gemeinsam verbringen, glauben, ihre Seelen würden im Schlaf mit verstorbenen Verwandten, aber auch den wilden Tieren des Dschungels Verbindung aufnehmen. Bei den philippinischen Tagalog ist es sogar verboten, Schläfer zu wecken, da ja deren Seele abwesend sei.

Uns mögen solche Vorstellungen naiv erscheinen. Und doch stellten die Mythen der Stammesvölker und die ersten Philosophen Träume in einen größeren Zusammenhang, den wir heute oft übersehen und den sich auch die Wissenschaft erst seit wenigen Jahren erschließt. Träume sind mehr als eine skurrile, doch belanglose Hervorbringung des Gehirns. Sie führen unmittelbar zu den großen Fragen der menschlichen Existenz: Was macht unsere Identität aus, Geist oder Körper? Und wie hängen beide zusammen? Ohne die Erfahrung ihrer Träume hätten sich die Menschen früherer Kulturen wohl nie diesen Rätseln gewidmet. Auf ähnliche Weise inspiriert das Phänomen »Traum« heute die Neurowissenschaft, die zeitgemäße Antworten auf diese Fragen sucht.

*

Die älteste Erklärung für die Bilder der Nacht ist, dass höhere Mächte sie dem Menschen eingeben. Eine der frühesten Erzählungen des Alten Testaments berichtet von Jakob, der erstaunliche Traumerfahrungen macht, weil in ihm »der Geist Gottes wohnt«: Er sieht im Schlaf die Himmelsleiter, an deren Ende Gott steht und Jakob viele Nachkommen verspricht. In einem anderen Traum kämpft Jakob mit einem rätselhaften Wesen, das sich schließlich als Gott zu erkennen gibt. Und weil Gott sich in Zeichen mitteilt, ist Jakobs Sohn Josef imstande, die Träume anderer zu deuten. Als der Pharao ihm von sieben fetten und sieben mageren Kühen erzählt, die er im Schlaf aus dem Nil steigen sah, sagt Josef Ägypten sieben gute und sieben schlechte Ernten voraus.

Aber schon bald näherten sich Menschen dem Geheimnis ihrer Träume auch auf andere Weise: Sie suchten in den nächtlichen Szenen Auskunft über sich selbst. Offenbar zeigte sich im Wachzustand nur ein Teil der Persönlichkeit, und um das menschliche Wesen besser zu erfassen, galt es, sich den Träumen zu öffnen. Eine lange buddhistische Tradition versteht die Erlebnisse im Schlaf als Entdeckungsreise, auf der sich die wahre Natur des Ichs offenbart und die sogar zur Erleuchtung verhelfen kann.

Auch die Weisen des Abendlandes erkannten, dass Träume nicht unbedingt chiffrierte Botschaften aus dem Jenseits sein müssen. Platon etwa, der große Lehrmeister der antiken Philosophie, sah sie entstehen, wenn »der wilde Teil der Seele … seine Triebe zu befriedigen sucht.« Die Denker der frühen Neuzeit schließlich begannen, in ihren Träumen nach Einsichten über die eigene Persönlichkeit zu suchen.

»Der weise Mann lernt sich selbst ebenso unter dem schwarzen Mantel der Nacht wie in den Strahlen des Tageslichts kennen«, schrieb der englische Essayist Owen Feltham im Jahr 1628. Doch die Nacht sei der bessere Lehrer, weil wir »im Schlafe die nackten und natürlichen Gedanken unserer Seelen« erfahren.

Feltham war auf dem richtigen Weg. Heute wissen wir einerseits, dass Menschen nachts tatsächlich Aspekte ihrer Lebensgeschichte erfahren und auf Ideen kommen können, die sich ihnen im Wachleben entziehen. Andererseits zeigen Träume, wie Bilder, Erinnerungen und Gedanken überhaupt in unseren Köpfen entstehen. Im Traum können wir zusehen, wie unser Geist funktioniert.

Und während unsere Vorfahren über ihre nächtlichen Erlebnisse nur mutmaßen konnten, sind wir heute imstande, sie zu erforschen. Damit eröffnet sich uns ein ganz neuer Zugang zu unseren Träumen – und die Chance, sie wieder zu einem Teil des Lebens werden zu lassen.

2.Neue Wege in die Innenwelt

Wie die Wissenschaft Träume greifbar macht

Du letzter Stern der Morgendämmerung hinterlass Deine Botschaft halb verschlafen, geheim

Rabindranath Tagore

Träumen Sie in Schwarz-Weiß oder in Farbe? Wenn Sie jünger als ungefähr 55 sind, dann sehen Sie wahrscheinlich Farben, auch wenn die Szenen oft dunstverhangen erscheinen mögen. Vielleicht erinnern Sie sich sogar an Nächte, in denen Ihnen die Welt so bunt und leuchtend vorkam, wie Sie es in der Natur nie erlebt haben. Blau wirkt dann blauer, Rot noch intensiver als sonst, unwirklich, als scheine ein Licht aus dem Inneren der Dinge heraus.

Stellt man diese Frage jedoch etwas älteren Menschen, so antworten sie, dass sie sich manchmal oder sogar immer durch eine Welt in Grautönen bewegen. Die farblosen Träume lassen sich nicht als Begleiterscheinung des Alterns deuten, denn die Betreffenden erklären, immer schon in Schwarz-Weiß geträumt zu haben.

So gaben im Jahr 1999 zwar 83 Prozent der befragten Amerikaner an, immer oder zumindest manchmal in Farbe zu träumen, doch ein paar Jahrzehnte zuvor fielen die Antworten ganz anders aus. Bei mehreren Untersuchungen in den 1940er und 1950er Jahren konnten sich gerade einmal zehn Prozent der Menschen an farbige Träume erinnern. Was hatte sich verändert?

Offenbar sind die schwarz-weißen Träume Mitte des 20. Jahrhunderts eine historische Anomalie, beschrieben doch Autoren von Aristoteles bis Freud bunte Bilder im Schlaf. Und wenn man heute Schläfer aus einem Traum weckt und sofort befragt, berichten sie ebenfalls von Farben. Im Jahr 1951 aber äußerte der führende Traumforscher Calvin Hall die Ansicht, Träume »in Technicolor« seien außergewöhnlich.

Wohl ohne sich dessen bewusst zu sein lieferte Hall damit das Stichwort zur Lösung des Rätsels: Das Kino habe die Traumerinnerung der Menschen verändert, erklärt der amerikanische Philosoph Eric Schwitzgebel. Zu allen Zeiten seien farbige Träume die Regel gewesen. Doch als Schwarz-Weiß-Filme erst über die Kinoleinwände, dann über die Fernsehschirme flimmerten, gewöhnte man sich daran, bewegte Bilder in Grautönen zu sehen. Und diese Erfahrung übertrugen die Filmzuschauer auf die Szenen der Nacht. So verschwand die Farbe aus den Träumen der Nachkriegsgeneration: Wenn die Menschen am nächsten Morgen zurückdachten, hatten sich die ursprünglich farbigen Bilder in Schwarz-Weiß-Szenen verwandelt.

Wer würde bestreiten, dass wir Träume als eine Art Kino empfinden? Mein Sohn erzählte im Alter von drei Jahren, er würde im Bett »Filme gucken«. Schwitzgebel ging der Frage auch in China nach und fand sich bestätigt: Dort gab es Farbfernsehen und Kinos lange Zeit nur in den Städten; die Landbevölkerung musste sich mit Schwarz-Weiß-Fernsehen begnügen. Und tatsächlich berichteten chinesische Städter von farbigen Träumen, Landbewohner hingegen von Szenen in Grau.

In seinem 1958 entstandenen Gemälde »Die Schule der Gelehrten« kritisierte der belgische Surrealist Paul Delvaux die beiden Richtungen der traditionellen Traumforschung: Der Neurobiologe links untersucht ein Gehirn, der Psychoanalytiker rechts deutet seiner Patientin deren verdrängte Wünsche. Aber niemand blickt auf die weite Traumlandschaft draußen.

*

Die ergrauten Träume der Hollywood-Ära sind ein eindrucksvolles Beispiel für die Schwierigkeit, das nächtliche Erleben anderer Menschen nachzuempfinden, und erst recht, es zu erforschen. Irritierend ist, in welchem Maß wir uns schon über unsere eigenen Träume im Unklaren sind. Wer morgens Szenen in Schwarz-Weiß erinnert, nachts aber von Farben berichtet, retuschiert offenbar die eigenen Erfahrungen, ohne es auch nur zu ahnen. Und wie oft erwacht man, weiß genau, dass man etwas Interessantes geträumt hat, und will das Erlebte rekonstruieren. Sobald man aber versucht, der Spur nachzugehen, verliert sie sich.

Und niemand kann helfen. Träume gehören zu unseren intimsten Erlebnissen überhaupt. Während uns die geschlechtliche Liebe immerhin mit einem Partner verbindet, sind wir im Traum völlig allein. Keiner nimmt wahr, was wir sehen, weil die Bilder ohne Zutun der Sinne entstehen. Sie sind rein innere Erlebnisse. Schon im Wachzustand ist die Frage vertrackt, was genau ein anderer Mensch sieht, hört oder fühlt. Aber wenigstens gibt es Anhaltspunkte. Wenn ich Ihnen eine Rose hinhalte, werden Sie vermutlich ähnlich rot sehen wie ich, und Schmerz fühlen, wenn Sie sich an ihr stechen. Im Schlaf dagegen entfällt dieser Bezug zur äußeren Wirklichkeit. Jeder träumt in seiner eigenen Welt.

Deshalb haben Wissenschaftler so spät begonnen, sich diesem Phänomen zu widmen. Lange Zeit gab es über Träume so gut wie keine gesicherten Daten. Bis heute erforschen mehr Experten die Galaxienhaufen am Rande des sichtbaren Universums als das nächtliche Erleben von Milliarden Menschen. Überdies sprengt das Thema das Selbstverständnis der modernen Wissenschaft, die sich um Objektivität bemüht und subjektive Erfahrungen außen vor lässt. Träume jedoch sind per se subjektiv.

 

 

Schon wenn wir beginnen zu träumen, stellt sich das erste Problem: Wir merken nicht, was mit uns los ist. Das kritische Denken ist im Schlaf so eingeschränkt, dass wir Träume fast nie als solche erkennen. Erst im Spiegel der Erinnerung wird klar, was wirklich geschah – dass zum Beispiel die Verfolger, vor denen wir davonliefen, nur in unserer Innenwelt existierten.

Leider ist das Gedächtnis kein sonderlich zuverlässiger Zeuge. Erinnerungen verblassen nicht nur, sie verändern sich. So werden aus farbigen Träumen schwarz-weiße. Oft überlagern sich ähnliche Erfahrungen, beispielsweise ein Film und ein Traum. Wie leicht und unbemerkt sich sogar glatte Fälschungen im Gedächtnis festsetzen, haben die amerikanische Psychologin Elizabeth Loftus und ihre Kollegen in vielen Versuchen gezeigt. Zum Beispiel muss man Erwachsenen lediglich eine Fotomontage vorlegen, die sie als Kind vor einem Heißluftballon zeigt; schon meint sich die Hälfte aller Versuchspersonen an diese Szene zu erinnern und beginnt ausführlich von einer Ballonfahrt zu erzählen, die es nie gab.

Die Traumerinnerung ist um nichts verlässlicher – im Gegenteil. Tagsüber funktioniert das Gedächtnis noch vergleichsweise gut. Wer zu Bett geht, kann abends eine Fülle von Wahrnehmungen und Gedanken der vergangenen Stunden Revue passieren lassen. Als James Joyce in seinem experimentellen Roman Ulysses das innere und äußere Erleben des Leopold Bloom am 16. Juni 1904 schilderte, füllte er fast tausend Seiten.

Was aber bleibt am Morgen von den Bildern der Nacht? Die meisten Menschen erinnern allenfalls eine Handvoll Träume im Monat. Und wer seine nächtlichen Erfahrungen aufzuschreiben versucht, bleibt Lichtjahre von der Detailfülle des Ulysses entfernt. Die wenigsten Berichte umfassen mehr als eine Seite. Träume wandern nur selten ins Langzeitgedächtnis, weil das chemische Milieu im schlafenden Gehirn dessen Aufnahmefähigkeit einschränkt. Am besten prägen sich die Szenen unmittelbar vor dem Erwachen ein. Das heißt: Der größte Teil der Nacht rauscht an uns vorbei.

*

Eine weitere Schwierigkeit wirft die Definition des Begriffs »Traum« auf: Träume sind Erlebnisse im Schlaf. In aller Regel handelt es sich um bildhafte Vorstellungen, jedoch nicht zwangsläufig: Manchmal hört ein Schläfer vielleicht nur eine Stimme oder hat das Gefühl zu fallen. Ebenso gehören die mehr oder weniger wirren Gedanken, die uns während des Schlafs im Kopf herumgeistern, dazu.

Sieht man nun von »Traumreisen«, »Traumhochzeiten« und sonstigen Luftschlössern, die mit Schlaf nichts zu tun haben, einmal ab, so wird das Wort »Traum« in drei verschiedenen Bedeutungen verwendet. Erstens bezeichnet er eine Erinnerung an die Nacht. Ein »Traum« ist demnach schlicht das, was man im Nachhinein dafür hält. In diesem Sinn haben die Menschen seit jeher von ihren Träumen gesprochen – und waren sich im Unklaren darüber, wie sehr die Erinnerung ihre Erlebnisse verzerrt.

In seiner zweiten Bedeutung benennt das Wort »Traum« das gegenwärtige innere Erleben eines Schlafenden. Doch dieses ist schwer zugänglich, weil sich normalerweise weder der Träumende selbst seines Zustands bewusst ist, noch Außenstehende herausfinden können, was er gerade erlebt. Ausgerechnet das eigentliche, unverfälschte Geschehen entzieht sich also der forschenden Betrachtung.

Und schließlich muss im Gehirn und im Körper etwas vorgehen, damit ein Mensch im Schlaf Erlebnisse hat. Zum Beispiel lässt sich beobachten, wie manchmal die Augen unter den geschlossenen Lidern zu wandern beginnen: Die leichte Wölbung, die die Hornhaut des Auges auf dem Oberlid bildet, zieht wie beim Betrachten eines Bildes einmal nach links, einmal nach rechts. Weckt man jemanden in diesem Moment sanft auf, wird er einen Traum erzählen. Und welcher Hundebesitzer hat noch nie darüber gestaunt, dass sein schlafendes Tier plötzlich erbebt, mit den Beinen zuckt und gelegentlich sogar knurrt oder schnappt, als wolle es eine imaginäre Jagdbeute fassen? Zwar können wir streng genommen nicht wissen, inwieweit schlafende Hunde bewusst sind; trotzdem sprechen wir davon, dass das Tier träumt. In diesem dritten Sinne meint »träumen« vor allem einen körperlichen Prozess.

Mit dem einen Wort »Traum« bezeichnen wir folglich drei unterschiedliche Phänomene: erstens die Erinnerung an ein Erleben im Schlaf, zweitens dieses innere Erleben selbst, und drittens die körperlichen Vorgänge dabei. Und nur wenn wir herausfinden, wie diese drei Phänomene zusammenhängen, werden wir Träume wirklich verstehen.

*

Wer den Begriff »Traum« hingegen auf eine der Bedeutungen reduziert, stiftet Verwirrung. Im 20. Jahrhundert redeten Forscher aus diesem Grund ständig aneinander vorbei. Sie führten erbitterte Kämpfe, bei denen sich zwei Lager unversöhnlich gegenüberstanden: Das eine hing der von Sigmund Freud begründeten Psychoanalyse an, das andere der Neurobiologie. »Scharlatan« gehörte in den jahrzehntelangen Auseinandersetzungen noch zu den freundlicheren Worten.

Den Psychoanalytikern galt die Traumerinnerung als einzig brauchbarer Zugang. Sie verstanden »Traum« also im ersten Sinn. Aus der Traumerzählung versuchten sie den unbewussten seelischen Prozess zu erschließen, der das Erlebnis ausgelöst haben mochte. In der Analyse, schrieb Freud, stelle sich der Traum als ein »sinnvolles psychisches Gebilde« heraus. Kein Detail sei zufällig, alles lasse sich aus der Lebensgeschichte erklären. Weil sie einzig die persönliche Erinnerung interessierte, betrachteten die Analytiker die Traumwelt jedes Individuums als einen eigenen Kosmos, zogen also nie systematisch Vergleiche.

Die Neurobiologen dagegen verwarfen die Erinnerung des Träumers als unzuverlässig (und die Theorien der Analytiker als unwissenschaftlich). Für sie zählte nur, was man messen konnte: elektrische Erregungen, das Zirkulieren von Botenstoffen, der Blutfluss in einzelnen Hirnregionen. Sie untersuchten das Träumen also als rein körperlichen Vorgang, in der dritten Bedeutung des Wortes.

Dieser Ansatz führte sie dazu, den Inhalt der Träume für unwichtig zu erklären. So schrieb der Amerikaner Allan Hobson, einer der großen Pioniere der neurobiologischen Traumforschung, im Jahr 2002: »Wir sollten in Betracht ziehen, dass der Trauminhalt nicht nur ein Schatz sein könnte, sondern auch geistiger Müll, nicht nur ein Signal von irgendetwas, sondern auch Rauschen.« Im Schlaf, so lautete eine gängige Theorie, erzeuge das Gehirn chaotische Signale, die es als Bilder oder Gefühle interpretiere.

Beide Lager redeten nicht nur aneinander, sondern auch am Kern des Themas vorbei. Die Analytiker deuteten Erinnerungen, die Neurobiologen vermaßen das Gehirn, doch niemand interessierte sich für die unmittelbare Erfahrung des Schlafenden. Diese Ignoranz ging so weit, dass manche Wissenschaftler sogar erklärten, es gebe überhaupt keine Träume. So behauptete der amerikanische Philosoph Daniel Dennett, Menschen seien grundsätzlich nur im Wachzustand zu bewusstem Erleben fähig. Und einer der renommiertesten deutschen Schlaf- und Gedächtnisforscher, Jan Born, vertrat noch im Jahr 2013 einen ähnlichen Standpunkt: Das Gehirn sei nachts erregt; wenn wir erwachen, legten wir uns schnell eine Geschichte zurecht. So erklärten wir uns selbst, warum wir so aufgewühlt sind – wie Kinder, die aus unruhigem Schlaf aufgeschreckt Monster unter dem Bett vermuten.

Mit dem Phänomen Traum schien die moderne Wissenschaft an eine unüberwindliche Grenze gestoßen: das Ich.

*

In den letzten Jahren jedoch öffneten sich der Wissenschaft gleich mehrere Tore zum subjektiven Erleben. Denn nicht nur die Techniken in den Hirnforschungslabors, sondern auch die Methoden der Innenschau haben sich weiterentwickelt. Beispielsweise lässt sich die Traumerinnerung trainieren, so dass jeder Mensch mehr über seine nächtlichen Erlebnisse herausfinden kann.

Lernen kann man sogar, im Schlaf Zeuge seiner Träume zu werden. Vielleicht haben Sie diese Erfahrung schon einmal gemacht: Mitten im Traum bemerken Sie plötzlich, dass etwas nicht stimmt. Sie fliegen oder tun andere unwahrscheinliche Dinge, alles sieht irritierend anders aus als tagsüber. Jetzt haben Sie die Gelegenheit, den Traum als Schöpfung Ihrer Fantasie zu beobachten, ihn manchmal sogar zu steuern. Solche Klarträume, mit denen sich das 14. Kapitel näher befasst, galten Wissenschaftlern bis vor kurzem als esoterisches Hirngespinst. Versuche bewiesen indes, dass es sie gibt. Damit erschließt sich auch das gegenwärtige innere Erleben der Forschung.

Und schließlich lässt sich der Unwille des Langzeitgedächtnisses, Träume zu speichern, aushebeln, indem man den Schlaf unterbricht. Der Weg, auf dem unsere Vorfahren unfreiwillig zu ihrer reichhaltigen Traumerfahrung gelangten, hat sich auch für die Forschung als lohnend erwiesen. Besonders wirksam ist es, Menschen gezielt aus bestimmten Schlafphasen zu wecken. Sobald die Versuchspersonen zu sich gekommen sind, geben sie zu Protokoll, was sie gerade erlebt haben. So erhoben Forscher tausende Träume aus allen Abschnitten der Nacht, von Männern und Frauen, von Jungen und Alten, von Menschen aus allen Teilen der Welt, von Gesunden und Kranken. Sie entwickelten Codes, um jedes Bild, jede Handlung, jedes Gefühl zu erfassen und die Berichte so vergleichbar und in Datenbanken verfügbar zu machen. Eine riesige Bibliothek der menschlichen Träume entstand.

Träume sind nicht mehr privat. Dieses Bild entstand aus Daten, die ein Hirnscanner am Zentrum für Neuroinformatik in Kyoto aus dem Kopf eines schlafenden Mannes auslas. Nach dem Erwachen schilderten die Versuchspersonen in 60 Prozent der Fälle Traumszenen, die den von den Wissenschaftlern rekonstruierten Sequenzen entsprachen.

 

 

Ein japanisches Labor tat schließlich den ersten Schritt, das subjektive Erlebnis Traum objektiv fassbar zu machen. Waren Träume bislang ein durch und durch intimes Erlebnis, neugierigen Blicken entzogen, so gelang es im Jahr 2012 am Zentrum für Neuroinformatik in Kyoto erstmals, den Inhalt von Träumen in Echtzeit aus den Köpfen zu lesen. Yukiyasu Kamitani, der Leiter der Gruppe, bediente sich dazu eines Scanners, der die Aktivität in verschiedenen Hirnregionen aufzeichnet. Daraus lässt sich erschließen, was ein Mensch gerade sieht: Blickt er etwa in ein Gesicht, sieht dieses Aktivitätsmuster etwas anders aus, als wenn er ein Auto betrachtet. Dieselben Muster ergeben sich, wenn man sich ein Bild lediglich vorstellt. Insofern eignet sich die Methode zum Gedankenlesen. Weil sich die für ein Bild typischen Muster allerdings von Mensch zu Mensch unterscheiden, muss man die Technik für jede Versuchsperson neu einstellen.

Kamitani befragte drei junge Männer zunächst nach ihren Traumerlebnissen. Gab ein Proband zum Beispiel an, häufig von Straßenszenen zu träumen, so zeigte der Forscher ihm passende Fotos und vermaß die Hirnreaktion auf jedes Bild. Anschließend legten sich die Männer im Kernspintomographen schlafen. In diesem Gerät einzudösen, ist ein Kunststück, weil der Lärm im Inneren der Röhre ungefähr dem eines startenden Düsenflugzeugs entspricht. Mit Ohrenschützern gelang es allerdings. Währenddessen zeichnete die Maschine die Hirnaktivität der Schlafenden auf. Und aus deren charakteristischen Mustern konnten Kamitani und seine Kollegen tatsächlich häufig entnehmen, wovon der Mensch in der Röhre gerade träumte. So ahnten die Wissenschaftler schon, wie die Traumberichte ausfallen würden, wenn sie die Versuchspersonen nach ungefähr einer Stunde Schlaf weckten:

»Aus dem Himmel, dem Himmel, was war es? Ich habe so etwas wie eine große Bronzestatue gesehen. Die Statue stand auf einem kleinen Hügel. Unter dem Hügel waren ganz gewöhnliche Häuser, Straßen und Bäume.«

So stammelte der als Nr. 3 bezeichnete Proband nach der 114. Weckung. Zuvor hatten die Wissenschaftler Hirnaktivitäten aufgezeichnet, die mit folgenden Inhalten zusammenhingen: ein großes Gebilde, eine geologische Formation, ein Haus, eine Straße, eine grüne Pflanze. Indem sie die entsprechenden Bilder aneinanderreihten, schufen die Neurowissenschaftler sogar Filme, die den geträumten Szenen zumindest ähneln. Die sichtbar gemachten Träume sind auf Youtube zu bewundern.[1]

Bei 60 Prozent der Weckungen schilderten die Träumer Erfahrungen, die gut zu der Hirnaktivität während des Schlafs passten. Sie hatten diese Szenen also wirklich erlebt. Damit hat sich die Behauptung skeptischer Neurowissenschaftler, dass wir uns Träume nach dem Aufwachen bloß zusammenreimen, ganz offensichtlich erledigt.

Auch Forscher am Münchner Max-Planck-Institut für Psychiatrie können inzwischen bestimmte Traumszenen live verfolgen; ihre Experimente sind im 14. Kapitel beschrieben. Und in Versuchen mit Ratten gelang es bereits zu steuern, was die Tiere im Schlaf sahen. Die Wissenschaftler mussten die Käfige nur nachts mit Tönen beschallen, welche die Nager aus bestimmten Situationen kannten; prompt ließen sich entsprechende Hirnaktivitäten in der Sehrinde der Ratten nachweisen. Stolz schreiben Matthew Wilson und seine Kollegen vom Massachusetts Institute of Technology in Boston: »Diese einfache Form der Traummanipulation eröffnet die Möglichkeit, während des Schlafs weitergehend auf das Gedächtnis Einfluss zu nehmen.« So ließen sich je nach Wunsch »Erinnerungen verstärken oder blockieren«. Werden wir also eines Tages unsere intimsten Gedanken und Gefühle preisgeben müssen? Könnte sich solches Wissen dazu einsetzen lassen, auch unsere Träume zu manipulieren? Abwegig klingen solche Befürchtungen keineswegs. Allerdings erscheint die Gefahr gering, in näherer Zukunft den elektronischen Traumfängern zum Opfer zu fallen. Die Geräte sind riesig und so laut, dass sie sich kaum zur heimlichen Traumspionage eignen. Vor allem verhält sich jedes Gehirn anders. Wer aber die typischen Reaktionen auf bestimmte Reize erfassen will, ist auf die Mitarbeit der Versuchsperson angewiesen. Gegen den Willen eines Menschen lassen sich seine Träume nicht durchleuchten.

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Zweifellos hat eine neue Ära der Traumforschung begonnen. Allen voran hätte Sigmund Freud seine Freude an den Experimenten der letzten Jahre gehabt, erfüllten sie doch seine Prophezeiung. Anders als viele seiner Jünger glaubte Freud nämlich keineswegs, mit seinem Werk sei das letzte Wort über Träume gesprochen. Die von ihm begründete Psychoanalyse hielt er vielmehr für eine Übergangslösung. In seinem 1899 erschienenen Werk Die Traumdeutung beschrieb er etwas gewunden seine Vision: »Selbst wo das Psychische sich bei der Erforschung als der primäre Anlass eines Phänomens erkennen lässt, wird ein tieferes Eindringen die Fortsetzung des Weges bis zur organischen Begründung des Seelischen einmal zu finden wissen.« Das heißt: Eine Tages werden die Menschen verstehen, dass ihr Körper und ihre Seele sich zueinander verhalten wie die zwei Seiten einer Medaille. Damit werden sich Träume auf ganz neue Weise erschließen.

Heute ist es soweit.

3.Im Reich des Zwielichts

Traum und Wacherleben durchdringen einander

Einschlafen, durch welches das Gehirn sich mild von der Außenwelt ablöset

Jean Paul

Ich sah zwei Zitronen. Sie waren enorm groß und kamen hinter einer strahlend gelben Wolke hervor, die sich schließlich in einem goldenen Regen entlud. Plötzlich war alles grau, dann zogen neue Wolken auf, diesmal in Rot und Blau. Sie verdichteten sich allmählich zu amorphen Gebilden, die mich an die Trickfilmfiguren der damals laufenden Kindersendung »Barbapapa« erinnerten. Und doch waren sie ganz anders als alles, was ich kannte.

Auch Gesichter erschienen mir. Manche blickten freundlich, andere belustigt. Einige schienen mir böse zu sein. Obwohl mir die Gesichter vertrauter vorkamen als die meiner Familie, konnte ich unmöglich sagen, wem sie gehörten. Besaßen sie überhaupt einen Körper? Und von woher beobachteten sie mich?

Ich sah diese Bilder zum ersten Mal abends im Bett, als ich ungefähr zehn Jahre alt war. Sie leuchteten intensiver, waren anschaulicher und lebhafter als Tagträume. Und sie kamen ungebeten, wie eine Abfolge von Dias, die jemand auf die Innenseite meiner Lider projizierte, oder wie Szenen aus einem Traum. Ich hatte sie nicht bewusst vor meinem inneren Auge heraufbeschworen und konnte sie nicht beeinflussen. Aber um richtige Träume handelte es sich auch nicht, oder vielleicht besser: noch nicht. Diese Bilder erzählten keine Geschichte. Und offenbar war ich noch wach. Wenn ich wollte, konnte ich die Augen öffnen und die Umrisse meiner Kinderzimmermöbel erkennen.