Träume unter roter Sonne - Elizabeth Haran - E-Book
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Träume unter roter Sonne E-Book

Elizabeth Haran

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Beschreibung

Auf dem roten Kontinent warten Abenteuer und die große Liebe ...

England, 1941: Die junge Lehrerin Lara Penrose wird nach Australien versetzt. Zunächst ist sie entzückt vom Städtchen, das an einem idyllischen Seitenarm des Mary River gelegen ist. Doch der Fluss beherbergt Hunderte von Krokodilen, die immer wieder an Land kommen und die Bewohner des Ortes in Angst und Schrecken versetzen. Aus diesem Grund engagiert Lara einen Krokodiljäger. Als sie sich seinem Charme kaum noch entziehen kann, steht ihre zarte Beziehung zu dem attraktiven Arzt Jerry auf dem Spiel ...

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Inhalt

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Weitere Titel der Autorin

Am Fluss des Schicksals

Der Duft der Eukalyptusblüte

Der Glanz des Südsterns

Der Himmel über dem Outback

Der Ruf des Abendvogels

Die Insel der roten Erde

Ein Hoffnungsstern am Himmel

Eine Liebe in Australien

Ein Traum in Australien

Heller Mond, weite Träume

Im Glanz der roten Sonne

Im Hauch des Abendwindes

Im Land des Eukalyptusbaums

Im Schatten des Teebaums

Im Tal der Eukalyptuswälder

Im Tal der flammenden Sonne

Jenseits der südlichen Sterne

Jenseits des leuchtenden Horizonts

Leuchtende Sonne, weites Land

Über dieses Buch

Auf dem roten Kontinent warten Abenteuer und die große Liebe …

England, 1941: Die junge Lehrerin Lara Penrose wird nach Australien versetzt. Zunächst ist sie entzückt vom Städtchen, das an einem idyllischen Seitenarm des Mary River gelegen ist. Doch der Fluss beherbergt Hunderte von Krokodilen, die immer wieder an Land kommen und die Bewohner des Ortes in Angst und Schrecken versetzen. Aus diesem Grund engagiert Lara einen Krokodiljäger. Als sie sich seinem Charme kaum noch entziehen kann, steht ihre zarte Beziehung zu dem attraktiven Arzt Jerry auf dem Spiel …

eBooks von beHEARTBEAT – Herzklopfen garantiert.

Über die Autorin

Elizabeth Haran wurde in Simbabwe geboren. Schließlich zog ihre Familie nach England und wanderte von dort nach Australien aus. Heute lebt sie mit ihrem Mann und ihren zwei Söhnen in einem Küstenvorort von Adelaide in Südaustralien. Ihre Leidenschaft für das Schreiben entdeckte sie mit Anfang dreißig, zuvor arbeitete sie als Model, besaß eine Gärtnerei und betreute lernbehinderte Kinder.

ELIZABETH

HARAN

Träume unterroter Sonne

Aus dem australischen Englischvon Ulrike Werner-Richter

Digitale Neuausgabe

»be« - Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG

Für die Originalausgabe: Copyright © 2014 by Elizabeth Haran Titel der australischen Originalausgabe: »Flight of the Jabiru« The author has asserted her Moral Rights. Published by Arrangement with Elizabeth Haran-Kowalski

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Für diese Ausgabe: Copyright © 2015/2021 by Bastei Lübbe AG, Köln Lektorat: Melanie Blank-Schröder Textredaktion: Marion Labonte, Labontext Covergestaltung: Guter Punkt, München unter Verwendung von Motiven von © Shutterstock eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde

ISBN 978-3-7517-0259-1

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

Ich widme dieses Buch Michelle Horan, die am 10. Februar 2013 ihren tapferen Kampf gegen den Krebs verlor. Michelle war eine herzliche, fürsorgliche und vollkommen selbstlose Frau, die ihre Tochter Michaela innig liebte, ihrem Partner Harry eine treue Gefährtin war und sehr an ihren Eltern und Geschwistern hing. Mir war sie eine ganz besondere Freundin.

Michelle, Gott brauchte einen Engel, und er hat dich auserwählt. Er hat dich früher zu sich genommen, als es uns recht war, aber du wirst immer in unseren Herzen wohnen und niemals vergessen sein. Ich werde die vielen Jahre unserer Freundschaft immer in Erinnerung behalten und finde Trost in dem Wissen, dass ich dich wiedersehe, wenn ich eines Tages zu den Engeln geholt werde. Du wirst dort sein und mir zeigen, wie ich meine Flügel nutzen kann.

1

Newmarket, County Suffolk, EnglandMärz 1941

»Da bist du ja«, schimpfte Lara, als sie ihren Vater endlich in der Box eines Pferdes entdeckte. Sie hörte selbst, dass ihre Stimme vorwurfsvoll klang, aber es hatte sie unendlich viel Mut gekostet, hierherzukommen. Der Geruch der warmen Pferdekörper und der Duft nach frischem Heu, Sattelseife und geöltem Leder beschworen Kindheitserinnerungen herauf, die sie eigentlich sicher in den Tiefen ihrer Seele verstaut wähnte.

Der Stall und die Pferde waren die Welt ihres Vaters. Für Lara bedeuteten sie nichts als das schmerzliche Andenken an den Verlust ihrer Mutter.

Trotzdem hatte sie jetzt schon fast dreißig Boxen in den Fitzroy Stables abgesucht, in denen ihr Vater seit fast zehn Jahren als Stallmeister arbeitete. Beinahe hatte sie schon befürchtet, ihn überhaupt nicht mehr zu finden, und genau genommen sah Lara auch jetzt über den Rand der Box nur seine Haare, der Rest von Walter Penrose war hinter einem großen Pferd verborgen. Der braune Lockenschopf aber war unverwechselbar. Die ganze Woche über hatte sie ihn bekniet, sich doch endlich das Haar schneiden zu lassen. Es wuchs schnell und war schwer zu bändigen, aber ihr Vater hatte nur gelacht und gescherzt, dass es den Pferden, um die er sich kümmerte, ziemlich egal wäre, wie er aussah. Und ihm selbst sowieso. Er war noch nie besonders eitel gewesen.

Nun stand er halb gebückt hinter einem grau gescheckten Polopony und prüfte, ob der Steigbügel richtig eingestellt war. Als er ihre Stimme vernahm, warf er einen Blick über den Widerrist des Pferdes und blinzelte überrascht. »Lara? Was willst du denn hier?«, fragte er und richtete sich auf. Der Stall war so ungefähr der letzte Ort, an dem er seine Tochter zu sehen erwartete.

»Ich habe dich gesucht. Oder besser gesagt, ich suche nach Harrison Hornsby und dachte, er wäre bei dir«, erklärte Lara. In diesem Moment schüttelte sich das Pferd, und Lara wich erschrocken einen Schritt zurück.

»Ganz ruhig, Echo«, besänftigte Walter das Tier. Er wusste nur zu gut um Laras Ängste und deren Ursache. Sie war erst vier Jahre alt gewesen, als sie vor nunmehr neunzehn Jahren ihre Mutter verlor, aber sie hatte sofort verstanden, dass ihr Verlust mit einem Pferdeunfall zu tun hatte. Daraufhin hatte das Kind eine starke Angst vor allem, was mit Pferden zu tun hatte, entwickelt, und auch wenn es Walter bisher nicht gelungen war, diesen Gefühlen rational beizukommen, hegte er dennoch die Hoffnung, dass sie ihre Furcht eines Tages überwinden würde. »Keine Sorge, Lara«, tröstete er seine Tochter. »Echo tut dir nichts.«

»Pfui!«, rief Lara entsetzt und rümpfte ihre Stupsnase, »jetzt bin ich in einen Pferdeapfel getreten! Diese Stiefel trage ich heute zum ersten Mal, nachdem ich ein halbes Jahr lang Bezugsscheine dafür gesammelt habe. Wo ist denn bloß der Stallbursche? Hier sollte es wirklich sauberer sein.«

»Und du solltest nicht hier sein, Lara«, raunte Walter. Hastig band er Echo an der hinteren Wand der Box an, öffnete die Tür und zog Lara herein. Er hoffte inständig, dass sein meist schlecht gelaunter Arbeitgeber sie noch nicht bemerkt hatte. »Unbefugte haben keinen Zutritt zu den Stallungen. Das weißt du doch! Aufhalten dürfen sich hier außer mir nur die Besitzer der Pferde, die Polospieler, die Stallburschen und die Pferdepfleger.«

»Ich weiß schon, dass ich eigentlich nicht befugt bin, Vater«, flüsterte Lara. Vorsichtshalber erwähnte sie nicht, dass sie bereits von einem höchstens fünfzehnjährigen Stalljungen darauf hingewiesen worden war.

»Wir haben natürlich auch weibliche Stallgehilfen, aber so schick, wie du angezogen bist, gehst du kaum als solche durch.«

»Das will ich auch hoffen«, sagte Lara und zupfte am Saum ihres maßgeschneiderten Jacketts. »Das Kostüm hier ist zwar schon fast drei Jahre alt, hat mich aber mindestens ein halbes Monatsgehalt gekostet. Und den Hut habe ich so selten getragen, dass ich ihn als neuwertig betrachte«, fügte sie hinzu. »Aber das Schlimmste ist der Pferdemist an meinen neuen Stiefeln.«

»Du befindest dich in einem Stall, Lara. Da passiert so etwas nun einmal. Feine Kleider haben hier nichts verloren. Vor allem, wenn sie sauber bleiben sollen.«

Lara wusste insgeheim, dass er recht hatte, dennoch konnte sie nicht aus ihrer Haut. Sie versuchte immer, sich modisch zu kleiden, gerade jetzt in Zeiten des Krieges und der nahezu unablässigen Bombardierungen Londons und anderer großer Städte. Heute trug sie zum wadenlangen Wollrock eine passende zweireihige Kostümjacke in einem Blau, das wenige Nuancen dunkler war als ihre Augen. Die schwarzen, kniehohen Lederstiefel harmonierten mit ihren weichen Handschuhen. Unter ihrem geschmackvollen Glockenhut aus mitternachtsblauem Samt quollen blonde Locken auf den Kragen aus falschem Pelz. Der eisige Wind an diesem bitterkalten, trostlosen Samstag hatte ihren Wangen eine gesunde rosige Farbe verliehen. Mit ihren großen blauen Augen, dem goldblonden Haar, der hellen Haut und ihrem für gewöhnlich strahlenden Lächeln wirkte Lara wie ein warmer Sonnenstrahl an einem düsteren Tag.

Walter konnte seinem einzigen Kind nie lange böse sein. Er verstand nur zu gut, warum erwachsene Männer weiche Knie bekamen, wenn Lara lächelte. Auch ihn selbst wickelte sie mühelos um den kleinen Finger, und sie hatte mehr Herzen gebrochen, als er sich einzugestehen wagte.

Lara selbst vertrat die Ansicht, dass Männer sie nicht ernst nahmen, weil sie zierlich, blond und hübsch war – ungeachtet der Tatsache, dass sie es in puncto Intelligenz mit jedem von ihnen aufnehmen konnte. Ihr schlaues Köpfchen war auch der Grund dafür, dass Lara Lehrerin geworden war und im Moment die fünfte Klasse in Newmarket unterrichtete. In ihren Kreisen hatte eine Frau ab einem bestimmten Alter zu heiraten und Kinder zu bekommen. Vielleicht würde das ja auch bei ihr eines Tages so sein, aber bis dahin wollte Lara gesellschaftlich etwas bewirken und nicht nur als hübsche Verpackung, sondern als intelligente Frau wahrgenommen werden.

Walter betrachtete seine Tochter zärtlich.

»Was willst du von Harrison?«, fragte er leise.

»Ihm bei seinem Polomatch zujubeln.«

»Aber du interessierst dich doch überhaupt nicht für Pferdesport!«, stellte Walter überrascht fest.

»Das stimmt schon. Es geht mir eigentlich auch mehr um Harrison. Er wollte an diesem Match nicht teilnehmen, aber sein aufgeblasener Vater hat ihn dazu gezwungen. Wer außer einem Adeligen könnte sich jetzt im Krieg auch sonst noch Pferde leisten? Harrison hatte jedenfalls die ganze Woche über schreckliche Angst, und ihn moralisch zu unterstützen ist das Mindeste, was ich für ihn tun kann.«

»Nicht so laut, Lara.« Walter warf erneut besorgt einen Blick aus der Box. »Lord Hornsby läuft irgendwo da draußen herum.« Insgeheim aber konnte er die Angst des Jungen nachvollziehen. Mit seinem Stockmaß von 153 Zentimetern war der lebhafte und kräftige argentinische Criollo-Mix Echo ein ziemlich großes Pferd für den kleinen Harrison Hornsby – ein zu großes, wie Walter befürchtete, denn den Zehnjährigen konnte man bestenfalls als zierlich beschreiben. Echo aber brauchte eine starke Hand. Unglücklicherweise teilte der Vater des Jungen, Lord Roy Hornsby, diese Ansicht nicht. Er meinte, seinem Sohn mit einem erfahrenen und talentierten Pferd einen Gefallen zu tun. Echo war eines von vier nervösen Ponys, die Harrison an diesem Tag reiten sollte. Er würde nach jeder chucka – der Zeitspanne, die einem Viertel des Polospiels entsprach – das Pferd wechseln, und es grenzte an ein Wunder, wenn es dem Jungen gelingen sollte, während der gesamten Zeit im Sattel und obendrein gesund zu bleiben. Dennoch wagte Walter nicht, diese Ansicht auch in Gegenwart des Lords konsequenter zu vertreten.

»Lara, ich habe wirklich keine Lust, deinetwegen meinen Job zu verlieren. Ich bin heilfroh, eine Arbeit zu haben, die mir Spaß macht. So viele Männer und Frauen werden wegen des Kriegs zu irgendwelchen Zwangsarbeiten abgestellt!«

»Lord Hornsby mag dein Arbeitgeber sein, Vater, aber Harrison ist mein Schüler. Wenn er Angst hat oder beunruhigt ist, leiden seine schulischen Leistungen, weil ihm alles gleich auf den Magen schlägt. Gestern verbrachte er mehr Zeit auf der Toilette als im Klassenzimmer. Der arme Kleine ist mit den Nerven völlig am Ende.«

Walter bewunderte Laras Sorge um ihre Schüler, die weit über das Klassenzimmer hinausging. Das, was sie ihm gerade erzählte, war ihm durchaus nicht neu. Auch an diesem Morgen, bei den Vorbereitungen für das Match, hatte sich Harrison schon zweimal zur Toilette abgemeldet. Und vermutlich hielt er sich auch jetzt gerade wieder dort auf.

»Harrison hasst Polo«, fuhr Lara fort. »Und das weißt du auch. Er ist einfach kein sportlicher Typ. Aber sein Vater will es nicht wahrhaben! Ich verstehe das nicht. Vielleicht sollte ich einmal ein Wörtchen mit ihm reden …«

»Auf keinen Fall, Lara! Misch dich da nicht ein. Du würdest Lord Hornsby nur wütend machen.«

»Aber es kann ihm doch nicht einerlei sein, was er seinem Sohn antut!«

»Du weißt doch, dass Lord Hornsby einmal einer der besten Polospieler Englands war.« Nicht, dass Walter seinen Arbeitgeber verteidigen wollte, aber er versuchte zumindest, ihn zu verstehen. »Er wünscht sich einfach, dass Harrison ihm nacheifert. Ist es nicht ganz natürlich, wenn ein Vater sich wünscht, dass sein Sohn in seine Fußstapfen tritt?«

»Aber es ist doch nicht Harrisons Schuld, dass sein Vater im Krieg verletzt wurde und nicht mehr Polo spielen kann«, wandte Lara ein. »Harrison hat doch auch Rechte. Er interessiert sich eben nicht für Sport, sondern sammelt Briefmarken und liebt es, Vögel zu beobachten. Außerdem liest er viel. Am liebsten Krimis. Wenn sein Vater sich nur Zeit für ihn nähme, würde er schnell feststellen, was für einen wunderbaren Sohn er hat.«

Walter konnte Laras Vorwürfe gut nachvollziehen. Oft schon hatte er den schwierigen Umgang von Vater und Sohn miterlebt und sich jedes Mal auf die Zunge beißen müssen, den Kleinen nicht unwillkürlich zu verteidigen. Vor einigen Wochen hatte er einmal eine vorsichtige Bemerkung gewagt und wäre dafür beinahe entlassen worden. Gerettet hatten ihn lediglich sein geradezu legendäres Gespür für Pferde sowie die Tatsache, dass die meisten guten Stallmeister als Soldaten eingezogen worden waren. Walter war dieses Schicksal erspart geblieben, da er als Jugendlicher nach einer Krankheit eine Niere verloren hatte.

Walter hatte seinen Job also behalten dürfen, dennoch hatte seine Bemerkung unangenehme Folgen für ihn. Seit jenem Tag bemängelte Lord Hornsby ständig seine Arbeit und machte ihm wegen jeder Kleinigkeit die Hölle heiß. Walter war mehr als zuvor auf der Hut, denn eine Kündigung konnte er sich nicht leisten. Nicht nur, dass er das Geld brauchte – je länger der Krieg andauerte, desto stärker sank die Zahl der Pferdezüchter und damit der für ihn infrage kommenden Stellen.

Echo scharrte ungeduldig mit den Hufen. Lara presste sich eng an die Boxenwand.

»Meiner Ansicht nach grenzt das, was der Lord dem armen Harrison antut, schon an körperliche Gewalt«, fauchte sie.

»Bitte, Lara. Nicht so laut«, raunte Walter. Im Gang hatte er Lord Hornsby und Harrison ausgemacht, die ihnen jedoch glücklicherweise den Rücken zuwandten. »Du musst hier raus. Geh und setz dich auf die Tribüne, wenn du dir das Spiel ansehen willst.« Leise öffnete er die Boxentür und wies in Richtung Seitenausgang, wo Lara Lord Hornsby nicht begegnen würde. »Und komm bitte nicht mehr her. Wir sehen uns später zu Hause.«

»Aber ich wollte Harrison noch Glück für das Match wünschen«, schmollte Lara, als ihr Vater sie entschlossen durch die Tür schob.

»Ich sage ihm, dass du hier warst«, versprach Walter und schloss mit Nachdruck die Boxentür hinter ihr.

Das Polomatch war ein jammervoller Anblick – selbst für jemanden, der die Regeln nicht kannte. Lara jubelte dem kleinen Harrison lautstark zu, obwohl ihr bald qualvoll bewusst wurde, dass der Junge unmöglich mithalten konnte. Kaum bekam er den Ball, hatte er ihn auch schon wieder verloren. Außerdem gelang es ihm kaum, den nervösen Echo zu bändigen, und schon bald äußerten die ersten Zuschauer spöttische Kommentare. In der Pause wäre Lara am liebsten zu dem Jungen gegangen und hätte ihn getröstet.

Im zweiten Viertel wurde es noch schlimmer. Der Junge saß jetzt auf einem anderen Pferd, das offenbar noch schwieriger zu kontrollieren war. Es war muskulös und durchtrainiert und hätte die Hand eines erfahrenen Reiters gebraucht, der Harrison nicht war. Dem Jungen gelang gar nichts, und er war seinem Team keine Stütze, im Gegenteil. Lara betrachtete Lord Hornsby, der mit finsterem Gesichtsausdruck und verschränkten Armen an der Seitenlinie stand. Er war ein Mann, der allein durch sein Auftreten den Anschein von Macht erweckte. Lord Hornsby war von mittlerer Körperlänge und recht knochig, seine Schultern waren zwar schmal, aber sehr gerade, und er lief, als hätte er einen Stock verschluckt. Er wirkte kühn und unnahbar und hätte mit seiner Haltung jedem Offizier Ehre gemacht. Sein einziges Handicap war ein verkürztes Bein, das aus einem Angriff in den ersten Kriegstagen herrührte, bei dem Lord Hornsbys Oberschenkelknochen durch eine feindliche Kugel zerschmettert worden war. Seinen in der Folge leicht hinkenden Gang hielt er selbst für schlimmer, als andere ihn wahrnahmen. Das hatte Auswirkungen auf sein Selbstbewusstsein, und Lord Hornsby versuchte, den vermeintlichen Mangel durch eine kalte, dominante Art zu kompensieren. Die zeitweise starken Schmerzen verhinderten nicht nur, dass er seinem geliebten Pferdesport nachgehen konnte, sie veränderten nach und nach auch seine Persönlichkeit – und zwar nicht zum Besseren, wie seiner Umgebung schnell klar geworden war. Auch jetzt sprach er mit den anderen Eltern kein Wort, noch machte er Anstalten, seinen Sohn zu ermutigen. Es musste schrecklich für Harrison sein, auf diese Weise von seinem Vater beobachtet zu werden! Enttäuscht richtete Lara ihren Blick wieder auf das Spielfeld. Plötzlich ritt ein Gegenspieler, der Harrison körperlich weit überlegen war, ganz nah an den Jungen heran und versetzte ihm einen kräftigen Stoß mit der Schulter. Entsetzt mussten die Zuschauer mitansehen, wie Harrison aus dem Sattel fiel und zu Boden stürzte. Lara sprang auf, doch im Gewühl auf dem Spielfeld konnte sie zunächst nur noch Pferdebeine und Hufe über dem Jungen erkennen. Wie viele andere ringsum hielt sie den Atem an, als Harrison zur Seite rollte und schließlich zusammengekrümmt und reglos liegen blieb.

»Lebt er?«, fragte eine Frau mit lauter Stimme.

»Möglicherweise haben die Pferde ihn totgetrampelt«, antwortete der Mann neben ihr. »Es war von hier aus nicht zu erkennen.«

Lara ertrug das Gerede nicht. Sie drängte sich durch die Leute, sprang von der Tribüne und rannte zum Rand des schlammigen Spielfeldes. Harrison lag auf einer Trage, und als Lara sah, dass er sich bewegte, atmete sie erleichtert auf. Ihr Herz aber hämmerte noch immer wild.

Sie ließ ihren Blick zu Lord Hornsby wandern, der immer noch steif an der Seitenlinie stand und nicht die geringste Gefühlsregung zeigte. Selbst als sein Sohn aufstöhnte und sich mit schmerzverzerrtem Gesicht ans Bein griff, machte er keine Anstalten, zu ihm zu gehen. Lara spürte die Wut in sich wachsen. Am liebsten hätte sie ihn angeschrien, dass er glücklich sein könne, dass sein Sohn überhaupt noch lebte. Sie verspürte das Bedürfnis, zu Harrison zu gehen und ihn zu trösten, doch sie wusste nur zu gut, dass das weder ihrem Vater noch Lord Hornsby recht gewesen wäre.

Lara beobachtete also tatenlos, wie Harrison vom Spielfeld zu seinem Vater getragen wurde. Erst in diesem Moment fiel ihr auf, dass Lady Nicole Hornsby, Harrisons Mutter, nicht anwesend war. Vermutlich hatte Lord Hornsby seiner Frau wie so oft verboten, das Match zu besuchen, um jede Verzärtelung zu unterbinden.

Lord Hornsby beugte sich kurz über seinen Sohn, griff nach dessen Arm und zerrte den Jungen auf die Füße. Nach einer kurzen, offenbar heftigen Diskussion mit den Sanitätern schleppte er den stark hinkenden Jungen hinter sich her in Richtung der Ställe.

Mit offenem Mund starrte Lara ihnen nach. Das konnte doch nicht wahr sein! Sie beschloss, sofort nach dem Jungen zu sehen, auch wenn das seinem Vater nicht gefallen würde. Sie war schließlich seine Lehrerin, und damit war ihre Sorge mehr als begründet. Und ihr Vater? Nun, der würde es verstehen müssen.

Lord Hornsbys Donnerstimme war schon von Weitem zu hören.

»Du hast heute wirklich alles falsch gemacht, was man nur falsch machen konnte, Harrison!«, brüllte Lord Hornsby. »Ist denn nichts von alldem, was ich dir beigebracht habe, in deinem verbohrten Kopf haften geblieben?«

Lara folgte der Stimme vorbei an leeren Boxen den Mittelgang des Stalls entlang.

»Hast du eine Ahnung, wie oft ich von einem Polopferd gefallen bin? Unzählige Male! Wenn ein Sportsmann stürzt, steigt er auf und macht weiter. Und zwar sofort! Unter keinen Umständen bleibt er auf dem Boden liegen und heult wie ein Mädchen.«

Lara hörte Harrison schluchzen, was ihr Bedürfnis ihn zu trösten sowie die Wut auf seinen Vater noch verstärkte. Eilig suchte sie weiter, und schließlich entdeckte sie Vater und Sohn bei einem Stapel Heuballen. Auf einem saß kleinlaut und schluchzend Harrison und ließ die Tirade seines Vaters, der mit dem Rücken zu Lara stand, über sich ergehen. Ein Hosenbein des Jungen war zerrissen, das Knie blutete stark und schien ihm wehzutun. Lara zerriss der Anblick fast das Herz. Die Schmerzen, dazu der Schock, aus dieser großen Höhe vom Pferd gefallen zu sein, und jetzt auch noch die Standpauke seines Vaters – was Harrison jetzt brauchte, waren die tröstlichen Arme seiner Mutter und einen Verband.

»Hör endlich auf zu flennen«, raunzte Lord Hornsby seinen Sohn an. »Du bist kein Baby mehr, also benimm dich auch nicht so.«

Lara traute ihren Ohren nicht. Warum beleidigte dieser Vater seinen Sohn? Der Junge rang sichtlich um Fassung, doch es wollte ihm einfach nicht gelingen. Jedes Mal, wenn er einatmete, bebten seine schmalen Schultern. Außerdem hielt er sich die Seite, auch dort schien er Schmerzen zu haben. Vielleicht waren seine Rippen ja angebrochen oder gar gebrochen? Der Junge musste zu einem Arzt, wieso ließ der Vater ihn nicht untersuchen? Lara konnte sich nur unter Aufbietung all ihrer Willenskraft zurückhalten, nicht vorzustürmen und Harrison in die Arme zu nehmen. Leider reichte diese Willenskraft nicht mehr für ihre Zunge.

»Hören Sie sofort auf, Ihren Sohn zu drangsalieren!«, rief sie. Sie stieß die Tür auf und betrat bebend vor Zorn die Box. »Harrison ist kein erwachsener Mann! Er ist ein Kind, dem noch viel Zeit bleibt, heranzureifen. Außerdem mag er weder Pferde noch Polo. Wenn Sie nicht so besessen davon wären, Ihren eigenen sportlichen Ehrgeiz durch Ihren Sohn zu stillen, wüssten Sie das vielleicht.«

Harrison blickte sie an. Sein Gesicht war tränenüberströmt, spiegelte aber auch Verwirrung. Lara konnte sich gut vorstellen, dass er sich wunderte, dass seine Lehrerin seinem Vater die Stirn bot. Und dann auch noch seinetwegen? Auch Lord Hornsby wirkte verblüfft, so hatte sicherlich noch nie jemand gewagt, mit ihm zu sprechen. Doch seine Verblüffung verwandelte sich rasch in Empörung.

»Es geht Sie absolut nichts an, wie ich mit meinem Sohn rede, Miss Penrose«, schnauzte Lord Hornsby Lara an.

»Er ist verletzt, vielleicht sind ein paar seiner Rippen gebrochen, und Ihnen fällt nichts Besseres ein als der Befehl, wieder in den Sattel zu steigen und sich wie ein Mann zu verhalten? Lieber Himmel, er ist erst zehn!«

»Ich werde ihn um nichts in der Welt von einer Frau verhätscheln lassen. Harrison muss hart sein, wenn er in dieser Welt überleben will, und ein solcher Wettstreit bietet dafür eine hervorragende Gelegenheit.«

Das also war es, worauf er hinauswollte. Lara wählte ihre Worte mit Bedacht, in der Hoffnung, ihn zur Einsicht bringen zu können. »Es tut mir aufrichtig leid für Sie, dass Sie nicht mehr reiten können, Lord Hornsby, aber dadurch, dass Sie Harrison zum Polo zwingen, werden Sie sich nicht besser fühlen.«

Etwas Unpassenderes hätte sie nicht sagen können. Lord Hornsbys Gesicht färbte sich dunkelrot. Er presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen, was ihm ein grausames Aussehen verlieh, und heftete seinen Blick auf sie, der sie geradezu zu durchbohren schien.

»Wie können Sie es wagen«, donnerte er und trat einen Schritt auf sie zu. Lara spürte ihren Mut sinken. Lord Hornsbys Wutanfälle waren legendär, aber einen davon aus erster Hand mitzuerleben, schüchterte selbst sie ein.

»Sie sind genau wie Ihr Vater«, schrie er zornig. »Sie überschreiten eindeutig Ihre Grenzen. Aber ohne mich! Untergebene haben nicht mit mir zu reden wie mit einem Gleichgestellten. Ihnen steht keinerlei Kritik darüber zu, wie ich meinen Sohn behandele.« Seine Wut schien noch zu wachsen, sofern das möglich war. Er trat einen weiteren Schritt auf Lara zu. Ihrer eigenen Aufgebrachtheit zum Trotz bedauerte Lara in diesem Moment, ihm den Fehdehandschuh hingeworfen zu haben. Er war ein furchteinflößender Mann, und sie wusste genau, wie der arme Harrison sich fühlte. Doch jetzt, wo sie begonnen war, würde sie die Schlacht auch schlagen.

»Als Lehrerin Ihres Sohnes bin ich verpflichtet, mich um sein Wohlergehen zu kümmern«, erwiderte Lara so ruhig wie möglich. »Und Harrison ist ein äußerst sensibler Junge.«

»Sie sind die Tochter meines Stallmeisters«, polterte Lord Hornsby. »Der Mann hat Glück, dass ich ihn überhaupt noch beschäftige, wo er seine Nase doch auch so gern in anderer Leute Angelegenheiten steckt. Sie stehen, genau wie Ihr Vater, gesellschaftlich weit unter mir – vergessen Sie das nicht!«

Lara atmete tief ein. »Auch wenn Sie uns für weniger wert erachten«, entgegnete sie mit ruhiger Stimme, »gibt das Ihnen nicht das Recht, Harrison derart schlecht zu behandeln. Er ist immerhin Ihr Fleisch und Blut.«

»Daran müssen Sie mich nicht erinnern«, schäumte Lord Hornsby. »Er ist ein Hornsby, und deswegen hat er für sich selbst einzustehen. Und was Sie betrifft, so werde ich dafür sorgen, dass Sie Ihren Job verlieren. Diese Unverfrorenheit lasse ich mir nicht bieten.«

Ungläubig starrte Lara ihn an. »Sie wollen mich feuern lassen?«

»Oh ja«, bestätigte Lord Hornsby mit einem selbstgefälligen Lächeln. Lara ahnte, dass er tatsächlich die Macht dazu hatte.

»Weil ich Ihren Sohn verteidigt und mir Sorgen um ihn gemacht habe?« So weit würde er doch wohl kaum gehen.

»Weil Sie sich vorlaut in meine Erziehungsmethoden eingemischt haben.«

Nun kochte Lara vor Wut. Er würde ihr sowieso ihre Arbeit nehmen, also konnte sie auch sagen, was sie zu sagen hatte, sie hatte nichts mehr zu verlieren. »Sie sind ein Tyrann«, giftete sie den Lord an. »Sie missbrauchen die Macht, die Sie kraft Ihres Titels haben. Nur, weil Sie einmal Offizier waren, glauben Sie, jeden herumkommandieren zu dürfen. In Wirklichkeit aber sind Sie ein kleiner Wicht mit einem ziemlich aufgeblasenen Selbstbewusstsein. Gut, dass Harrison Ihnen nicht im Geringsten ähnelt.«

Lord Hornsbys Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, langsam ballte er seine Hände zu Fäusten. Er sah aus, als könnte er jederzeit explodieren, und Lara wurde plötzlich bewusst, dass sich außer ihnen niemand im Stall befand. Zwar bereute sie ihre Worte nicht, er hatte sie mehr als verdient, aber plötzlich überkam sie eine Welle der Angst. Wer wusste schon, wozu dieser Mann fähig war? Vorsichtshalber wich sie ein Stück in Richtung Boxentür zurück.

Sofort setzte Lord Hornsby an, mit drohend erhobener Faust auf sie zuzustürmen. Doch schon nach einem Schritt traf ihn der Stiel einer Harke, die im Heu versteckt gelegen hatte und auf deren Zinken er getreten war, mit voller Wucht mitten im Gesicht. Lord Hornsby verlor das Gleichgewicht, strauchelte und stieß sich im Fallen den Kopf an einem Eimer. Lara starrte den Mann an, der jetzt beängstigend still auf dem Stallboden lag. Aus seinem Mund rann ein Tropfen Blut. Harrison blickte verständnislos von seinem Vater zu Lara.

Lara schüttelte die Starre ab und beugte sich hastig über den Mann. War er etwa tot? »Lord Hornsby!«, rief sie panisch und griff nach seinem Handgelenk. Sie fühlte seinen Puls und atmete erleichtert auf. Vorsichtig drehte sie den Mann auf die Seite und öffnete seinen Mund, woraufhin ein blutiger Schneidezahn ins Heu fiel. Am Hinterkopf war glücklicherweise kein Blut zu sehen, dafür aber eine dicke Beule.

»Ist mein Vater tot?«, wimmerte Harrison.

»Nein«, sagte Lara beruhigend, während sie sich aufrichtete. »Er ist nur bewusstlos und braucht einen Arzt, genau wie du. Ich hole jetzt Hilfe.«

»Lassen Sie uns nicht allein«, rief Harrison verängstigt. Der Kleine sah extrem blass aus.

»Du bist doch ein tapferer Junge, Harrison«, sagte Lara. »Du passt jetzt auf deinen Vater auf, während ich Hilfe hole.«

»Und was soll ich tun, wenn er aufwacht?«

»Gar nichts. Er soll sich nur möglichst wenig bewegen. Ich bin gleich zurück.«

Lord Hornsbys Verletzungen wurden im Krankenhaus versorgt, wo er anschließend ein paar Stunden zur Beobachtung bleiben sollte. Lara konnte von ihrer Position im Krankenhausflur ab und an einen Blick auf ihn erhaschen, wenn die Schwestern hineingingen, um ihn zu versorgen. Sein Gesicht war lädiert und seine Lippe geschwollen. Sie verdrängte den Gedanken daran, wie unglaublich wütend er über den Verlust seines Zahns sein musste. Selbst durch die geschlossene Zimmertür war zu hören, wie er den Schwestern barsch Befehle erteilte, und sie bemerkte, dass diese das Zimmer jedes Mal nervös und mit rotem Gesicht verließen.

»Dürfte ich kurz zu Lord Hornsby?«, erkundigte sie sich bei einer von ihnen.

»Er will niemanden sehen. Noch nicht einmal seine Frau«, lautete die knappe Antwort. Der Blick der Frau verriet mehr als deutlich, dass sie Lara für verrückt hielt, sich freiwillig im selben Zimmer wie der Mann aufhalten zu wollen.

»Aber ich habe etwas für ihn.« Lara holte ihr sorgfältig zusammengefaltetes Taschentuch hervor.

Die Schwester betrachtete sie verwirrt. »Ich glaube kaum, dass er etwas braucht.«

Vorsichtig faltete Lara das Taschentuch auseinander.

Die Schwester lächelte und nahm den Zahn an sich. »Ich werde dafür sorgen, dass er ihn bekommt.«

»Vielen Dank.«

Laras Vater war bereits zu Hause, als sie dort ankam. Nervös wanderte er im Zimmer auf und ab. Im Stall hatte man ihm nur mitgeteilt, dass Lord Hornsby ins Krankenhaus gebracht worden war. Er hatte das zunächst für eine Fehlinformation gehalten und angenommen, Harrison befände sich im Krankenwagen, da er sich beim Polospiel verletzt hatte. Doch dann wusste jemand zu berichten, dass sein Arbeitgeber gestürzt und bewusstlos gewesen war und Lara den Krankenwagen gerufen hatte. Ansonsten war nichts über die näheren Umstände bekannt.

»Wo warst du denn die ganze Zeit?«, fragte er daher beunruhigt, als Lara eintrat.

»Im Krankenhaus.«

»Warum?«

»Weil ich sichergehen wollte, dass Lord Hornsby nicht ernsthaft verletzt ist.«

Die Verblüffung stand Walter ins Gesicht geschrieben. »Aber wieso?«

»Nun, ich war dabei, als …« Lara suchte nach den richtigen Worten.

Walter stöhnte. »Sag bitte nicht, dass du etwas mit seiner Einlieferung ins Krankenhaus zu tun hast.«

»Es war nicht meine Schuld …«

»Was soll das heißen? Du solltest dich doch von den Ställen fernhalten!«

Ehe Lara etwas erwidern konnte, klopfte es an der Tür. Walter öffnete und sah sich zwei Polizisten gegenüber.

»Ich bin Sergeant Andrews«, stellte der Ältere sich vor. »Und dies ist mein Kollege Constable Formby. Wohnt hier eine Miss Lara Penrose?«

»Das ist richtig«, bestätigte Walter.

»Und Sie sind?«

»Ich bin Laras Vater. Walter Penrose.«

»Ist Miss Penrose zu Hause, Sir?«

»Ja, das ist sie.«

»Dann möchten wir bitte gern mit ihr sprechen, Sir.«

»Selbstverständlich. Worum geht es?«

Lara trat vor. »Ich bin Lara Penrose«, begrüßte sie die beiden Beamten. »Wie kann ich Ihnen helfen?« Sie ging davon aus, dass sie zu dem Vorfall am Stall befragt werden sollte.

Aber Sergeant Andrews griff sofort nach ihrem Arm. »Hiermit sind Sie vorläufig festgenommen, Miss Penrose.«

Walter schnappte hörbar nach Luft. »Sie nehmen sie fest? Aber weswegen?«

»Wegen eines tätlichen Angriffs auf Lord Hornsby.«

»Ich habe ihn nicht angegriffen«, verteidigte sich Lara. »Fragen Sie ihn doch selbst.«

»Lord Hornsby hat ausgesagt, Sie hätten genau das getan, Miss Penrose.«

Lara bekam weiche Knie. »Das muss ein Missverständnis sein«, sagte sie. »So etwas würde Lord Hornsby nie behaupten. Es ist nämlich nicht wahr.«

»Sie sollten Ihrer Tochter einen guten Anwalt besorgen, Sir«, schlug der Sergeant vor und wandte sich zum Gehen.

»Wo bringen Sie sie denn hin?«

»Zum Polizeirevier in der Vicarage Road. Dort wird offiziell Anklage gegen sie erhoben.«

»Das ist ein Missverständnis, Dad«, rief Lara über die Schulter zurück.

2

Lara hatte die Situation vor der Haustür als dramatisch empfunden, aber die Angelegenheit entwickelte sich schließlich zu einem wahren Albtraum.

»Das ist doch lächerlich!«, rief sie, einer Hysterie nahe, als die beiden Polizisten sie wie eine Kriminelle auf die Polizeiwache führten. Längst war es ihr nicht mehr möglich, Haltung zu bewahren. Allein ihr Stolz verbot es ihr, vor den beiden Beamten auf die Knie zu fallen und darum zu betteln, dass man sie gehen ließ.

Seit dem Moment ihrer Festnahme hatte sie versucht, den Vorwurf zu entkräften, aber mit fortschreitender Dauer war auch ihre Frustration gewachsen. Die beiden Polizisten versuchten nicht einmal ansatzweise ernsthaft, ihre Schilderung des Sachverhalts anzuhören, geschweige denn, ihr Verständnis entgegenzubringen. »Sie können doch nicht allen Ernstes glauben, ich hätte Lord Hornsby angegriffen! Er ist ein kampferprobter Offizier, ich hingegen bin eine zierliche Frau, nicht einmal einen Meter sechzig groß. Das macht doch keinen Sinn!«

»Es heißt, Sie haben ihn überrascht. Er hat Ihren Angriff nicht kommen sehen.«

»Aber das stimmt nicht!«

»Daran, dass Lord Hornsby angegriffen wurde, herrscht nicht der geringste Zweifel, Miss Penrose. Und er sagt, dass Sie es waren«, stieß Sergeant Andrews ungeduldig hervor.

Er glaubte also Lord Hornsby. In seinen Augen war es vermutlich undenkbar, dass der Lord etwas behauptete, was nicht der Wahrheit entsprach. Außerdem wäre es ziemlich peinlich für einen ehemaligen Soldaten, sich von einer zierlichen Frau k. o. schlagen zu lassen.

»Aber ich habe Ihnen doch nun schon mehrfach erklärt, dass er auf eine Harke getreten ist und den Stiel ins Gesicht bekommen hat.« Laras laute Stimme zeugte von ihrer Ungeduld und Wut.

»Das behaupten Sie!«

»Mag ja sein, dass es unglaubwürdig klingt, aber …«

»Sie können sich vor Gericht verteidigen, Miss Penrose«, unterbrach Sergeant Andrews sie. »Ich schlage vor, dass Sie nichts mehr sagen, bevor Sie mit Ihrem Anwalt gesprochen haben.«

»Ich brauche keinen Anwalt«, brauste Lara den Tränen nahe auf. »Ich bin unschuldig.«

Auf der Stuhlreihe an der Wand saßen ein Mann und eine Frau und beobachteten die Szene. Lara vermutete, dass es sich um Straftäter handelte, die auf ihre Vernehmung warteten. Und zu dieser Art Menschen sollte sie nun gehören? Nie hatte sie sich derart gedemütigt gefühlt.

»Setzen Sie sich«, forderte Constable Formby sie auf und zeigte auf den freien Stuhl zwischen den beiden. »Ich muss noch den Papierkram erledigen.«

Lara bekam es mit der Angst.

»Kann ich nicht vielleicht anderswo warten?«, fragte sie leise. »Etwas weniger öffentlich?« Die Situation war schon peinlich genug, sie wollte nicht auch noch Anlass für Gerüchte sein.

»Unsere Büros sind alle besetzt.«

»Ich setze mich auch auf einen Gang oder in eine Ecke. Hauptsache, ich werde nicht gesehen. Ihnen muss doch klar sein, dass ich keine Kriminelle bin! Diese Angelegenheit wird sicher innerhalb kürzester Zeit erledigt sein.«

Der Mann und die Frau grinsten amüsiert.

»Sie können in einer der Zellen warten, wenn Ihnen das lieber ist«, meinte Constable Formby ungerührt.

Lara überlegte. »Sind in den Zellen Leute?«

»Dafür sind Gefängniszellen gemacht«, gab der Constable kühl zurück.

»Leute wie … diese beiden hier?«, flüsterte sie mit einem Kopfnicken in Richtung der Wartenden.

»Ja, Miss. Sie befinden sich hier auf einer Polizeiwache. Unsere Häftlinge gehören in aller Regel nicht zur Crème de la Crème der Gesellschaft.«

Lara gab sich geschlagen. »Dann warte ich doch lieber hier.« Sie setzte sich auf die äußerste Kante des Stuhls zwischen den beiden, zupfte nervös am Saum ihrer Jacke und machte sich ganz schmal, um weder mit dem Mann noch mit der Frau in Berührung zu kommen.

Der Mann starrte ungeniert auf ihre Beine, woraufhin Lara ihren Rock so weit wie möglich hinunterzog. Dann wagte sie einen nervösen Blick auf die Frau auf dem Stuhl neben ihr, die ein schlecht sitzendes schwarzes Kleid mit tiefem Ausschnitt trug. Ihre Gesichtszüge waren hart, und sie war so dürr, dass ihr Brustansatz an vertrocknete Pflaumen erinnerte. Als die Frau ihren Blick erwiderte, senkte Lara den Kopf und studierte den Fußboden. Die Schuhe der Frau waren derart abgetragen, dass sich das ehemals vermutlich rote Leder an den Seiten aufrollte. Die Dame verströmte einen ausgesprochen unangenehmen Geruch.

In dem Versuch, ein weiteres Stück von ihr abzurücken, stieß Lara gegen den Arm des Mannes. Sie zuckte zusammen und hob den Blick. Als sie bemerkte, dass er sie von Kopf bis Fuß musterte, wandte sie sich angeekelt ab.

»Was haste verbrochen, Schätzchen?«, erkundigte sich die Frau plötzlich neugierig. Der Geruch ihrer verfaulten Zähne traf Lara wie eine Keule.

»Nichts«, gab sie kurz angebunden zurück. »Aber niemand will mir glauben.«

Die Frau schlug ihre dünnen Beine übereinander, woraufhin eine lange Laufmasche zum Vorschein kam. »Klar«, grinste sie. »Ich bin auch vollkommen unschuldig.«

»Ich bin wirklich unschuldig«, erklärte Lara, den Tränen nah. »Sehe ich etwa aus, als würde ich jemanden angreifen? Ich bin Lehrerin und ein unbescholtenes Mitglied der Gesellschaft.«

»Oh, Verzeihung«, erwiderte die Frau belustigt. »Haste das gehört, Fred? Hier sitzt ’ne unbescholtene Lehrerin. Ziemlich etepetete, die Kriminellen hier in Newmarket.« Sie gackerte.

Mühsam kämpfte Lara die Tränen nieder.

»Was meinste, Hazel, wie viel mag so ein Pauker wohl verdienen?«, fragte der Mann mit einem Blick auf Laras maßgeschneidertes Kostüm und die Lederstiefel.

»Jedenfalls mehr als ich aufm Strich«, flüsterte Hazel so leise, dass der Constable sie nicht hören konnte, und gackerte wieder.

Lara war fassungslos. Diese Hazel war eine Prostituierte! In was für eine Gesellschaft war sie da bloß geraten? Und alles nur, weil sie Harrison unterstützen wollte. Das war doch wirklich absurd!

Sie sprang auf und trat an den Schreibtisch. »Diese Situation ist einfach lächerlich«, erklärte sie dem eifrig schreibenden Beamten. »Ich gehe jetzt ins Krankenhaus und spreche mit Lord Hornsby. Er wird ganz sicher bestätigen, dass ich ihn nicht angegriffen habe.« Von hinten erklang Hazels Gackern. Lara drehte sich um und funkelte sie wütend an.

»Ich wette, Lord Wie-auch-immer hat es verdient«, grinste das Straßenmädchen. »Er sollte Manns genug sein, es zuzugeben.«

»Ich habe Lord Hornsby nicht angegriffen. Harrison kann das bestätigen.«

»Wer isn Harrison? Dein Spezi?«, fragte Fred mit eindeutig lüsternem Blick.

»Natürlich nicht. Er ist zehn Jahre alt, Lord Hornsbys Sohn und einer meiner Schüler, ein sehr sensibles Kind übrigens. Er ist heute Nachmittag beim Polo schwer gestürzt, und anstatt ihn zu trösten, hat sein Vater ihn ausgeschimpft.«

Hazel riss in gespielter Entrüstung die Augen auf. »Oh, wie schrecklich, findest du nicht auch, Fred?«, spöttelte sie.

»Ich habe nur eingegriffen, um Harrison zu verteidigen.«

»Aber klar doch, Schätzchen!«

»In einem Gespräch mit Lord Hornsby wird sich sicher alles sofort aufklären, und wir können den ganzen Unfug hier vergessen.«

»Klingt, als hättest du einen triftigen Grund gehabt, den Knilch zu vertrimmen«, tönte Hazel von hinten.

»Ich habe ihn nicht vertrimmt, wie Sie es nennen«, wehrte sich Lara.

Sergeant Andrews stand auf. »Sie gehen nirgendwohin, Miss Penrose. Setzen Sie sich. Sollten Sie sich weigern, lasse ich Sie umgehend in eine Zelle bringen.«

»Aber warum darf ich denn nicht mit Lord Hornsby reden? Das würde uns eine Menge Zeit ersparen.«

»Wir haben Ihnen bereits gesagt, dass er derjenige war, der Sie beschuldigt hat.«

»Aber dann lügt er«, brach es aus Lara heraus. Sie war am Ende ihrer Kraft.

Sergeant Andrews und Constable Formby sahen sich an, dann trat der Constable entschlossen neben Lara und umschloss mit einem festen Griff ihren Arm.

»Au!«, schrie sie. »Lassen Sie mich sofort los!« Eine Welle der Panik ergriff sie. Kraftvoll riss sie ihren Arm nach vorne, um sich aus dem Griff zu befreien. Dabei riss die Ärmelnaht der Kostümjacke, Laras befreiter Arm schnellte nach hinten und traf Sergeant Andrews mitten auf die Nase, die sofort zu bluten begann.

»Sie haben mir die Nase gebrochen«, keuchte er mit tränenden Augen. Er wischte sich über die Nase und starrte dann auf das Blut auf seinem Handrücken. Zornig verzog er das Gesicht.

Lara traute ihren Augen nicht. Das konnte doch nicht wahr sein! »Es tut mir unendlich leid«, entschuldigte sie sich. »Das war wirklich keine Absicht.«

»Abführen!«, befahl der Sergeant und suchte in seiner Tasche nach einem Taschentuch, um sich das Blut aus dem Gesicht zu wischen. Hazel und Fred japsten vor Lachen.

Constable Formby griff erneut nach Laras Arm. »Noch ein solcher Tobsuchtsanfall, und ich lege Ihnen Handschellen an«, drohte er.

»Das war doch ein Unfall! Ich kann nichts dafür. Bitte stecken Sie mich nicht in eine Zelle«, bettelte Lara. »Ich bleibe auch ganz ruhig sitzen.«

»Sie hatten Ihre Chance«, brummte der Constable und zog sie mit festem Griff hinter sich her.

»Sie wissen genau, dass das, was gerade passiert ist, zum Teil Ihre Schuld war«, versuchte Lara zu argumentieren, erntete aber nur einen bösen Blick. »Natürlich war es nicht Ihre Absicht, ebenso wenig wie meine«, fügte sie eilig hinzu. »Aber schauen Sie, was Sie mit meiner Jacke gemacht haben!«

Der Constable führte Lara durch einen langen Flur mit knarrenden Holzdielen, zu dessen rechter Seite vier vergitterte Zellen lagen, in denen sich jeweils mehrere Gefangene aufhielten und ihr teils lüsterne, teils drohende Bemerkungen zuriefen.

Der Constable schloss die letzte Zelle auf und schob Lara hinein. Es roch nach abgestandenem Urin und ungewaschenen Körpern.

»Jetzt liegen zwei Anzeigen wegen Körperverletzung gegen Sie vor«, stellte der Polizist fest, während er das Gitter hinter ihr abschloss. »Damit haben Sie gute Chancen auf einen längeren Gefängnisaufenthalt.«

Lara traute ihren Ohren nicht. »Das kann doch nicht Ihr Ernst sein«, stammelte sie.

Der Constable antwortete nicht, aber sein Blick ließ keinen Zweifel daran, dass es ihm durchaus ernst war.

»Hoffentlich bezahlen Sie wenigstens für den Schaden an meiner Jacke«, rief sie trotzig, als er sich zum Gehen wandte. Sie hörte selbst, wie lächerlich ihre Worte klangen. Die zerrissene Jacke dürfte jetzt ihre geringste Sorge sein.

Langsam wandte sie sich um. Drei neugierige Augenpaare musterten sie, die struppigen Landstreichern in zerlumpten Kleidern gehörten, zwei Frauen und einem Mann. Die Frauen waren mittleren Alters, aber vielleicht war dieser Eindruck auch nur der Zeit und unbarmherzigen Umständen geschuldet. Der Mann war ein wenig älter und sah aus wie einer der zahlreichen Obdachlosen der Stadt.

»Möchte einer von Ihnen vielleicht etwas sagen?«, fragte Lara kratzbürstig.

Weder die Frauen noch der Mann antworteten.

Eine Stunde später betrat Walter Penrose mit einem langjährigen Freund und dessen Onkel, einem Rechtsanwalt, das Polizeirevier. Nach einer kurzen Diskussion ließ man sie zu Lara, die während der ganzen Zeit so weit wie möglich entfernt von ihren Zellengenossen auf dem Boden gesessen und mit ihrer Situation gehadert hatte. Sogar ein paar Tränen hatte sie geweint, und nun war sie zutiefst erleichtert, ihren Vater zu sehen. Sie stürzte auf ihn zu und umklammerte durch das Gitter seine Hände.

»Ist alles in Ordnung mit dir, Lara?«, erkundigte Walter sich besorgt.

Lara nickte, von Gefühlen überwältigt.

Dann entdeckte Walter den abgerissenen Ärmel. »Was habt ihr mit meiner Tochter gemacht?«, fuhr er die Zellengenossen an.

»Sie haben nichts damit zu tun, Dad. Kannst du mich hier herausholen?«

»Wir versuchen es, aber es sieht nicht gut für dich aus. Es stimmt doch hoffentlich nicht, dass du Sergeant Andrews angegriffen hast, oder?«

Lara berichtete, wie es zu dem Unfall gekommen war.

»Ist deine Jacke deshalb zerrissen?«, wollte Walter wissen.

Lara nickte.

Walter seufzte. »Erinnerst du dich an meinen Freund Bill Irving, Lara?«

»Aber natürlich. Hallo, Mr Irving.«

»Darf ich Ihnen meinen Onkel Herbert vorstellen, Lara?«, sagte Bill. »Er ist Rechtsanwalt.«

Lara ergriff durch die Stäbe hindurch seine Hand. »Guten Tag, Mr Irving. Können Sie mich hier herausholen?«

»Ich wünschte, ich könnte sagen, dass ich es kann«, erklärte Herbert freundlich. »Aber es wird nicht leicht werden. Lord Hornsby hat die Vernehmung seines Sohnes untersagt. Es gibt also keine Möglichkeit, Ihre Version des Vorfalls zu bestätigen.«

Das waren in der Tat schlechte Nachrichten. »Kann man nichts dagegen tun?«

»Leider nicht. Harrison ist minderjährig, daher brauchen wir für eine Vernehmung die Erlaubnis des Erziehungsberechtigten. Und jetzt kommt auch noch die Anzeige des Sergeants hinzu …«

Lara fühlte, wie sich eine unendliche Leere in ihr ausbreitete. Enttäuscht ließ sie den Kopf hängen.

»Ich werde alles tun, was in meiner Macht steht. Sicher werden Sie schon bald dem Richter vorgeführt. Vielleicht kann ich in der Zwischenzeit den Sergeant dazu bringen, seine Anzeige zurückzuziehen. Gab es unbefangene Zeugen?«

»Zeugen?« Plötzlich war Lara hellwach. »Aber ja! Im Raum saßen ein Mann und eine Frau, sie hießen Fred und Hazel. Hazel ist Prostituierte; warum Fred hier ist, weiß ich nicht. Vermutlich sind sie noch dort, denn nach mir wurde niemand mehr in den Zellentrakt gebracht.«

»Eben war niemand im Empfangsraum«, sagte Walter.

»Sie wissen nicht zufällig die vollständigen Namen?«, erkundigte sich der Anwalt. »Das würde die Suche nach ihnen erleichtern.«

Lara schüttelte den Kopf.

»Gut, dann werde ich zunächst einmal mit Sergeant Andrews reden. Vielleicht hat er sich inzwischen ein wenig beruhigt und ist Argumenten zugänglich«, sagte Herbert, doch seine Stimme klang nicht sehr zuversichtlich.

»Vielen Dank, Mr Irving«, sagte Lara traurig. »Eigentlich hatte ich gehofft, die Nacht nicht hier verbringen zu müssen.«

»Es tut mir sehr leid, Lara«, antwortete der Anwalt, »aber danach sieht es leider aus.«

3

Laras Nervosität war das Erste, was Herbert Irving auffiel, als sie zur Verhandlung über die Festsetzung einer Kaution in den Saal geführt wurde und neben ihm Platz nahm. Sie strahlte diese »Ich kann gar nicht glauben, dass das hier gerade passiert«-Haltung aus, die er schon bei so vielen Klienten gesehen hatte, die unschuldig waren. Und er war überzeugt davon, dass Lara unschuldig war. Bill kannte Lara schon seit ihrer Geburt und hatte die Hand für ihren Charakter ins Feuer gelegt, aber abgesehen von diesem Zeugnis hatte Herbert selbst genug Menschenkenntnis und Erfahrung, um in ihr zu lesen wie in einem Buch. Er zweifelte nicht im Geringsten daran, dass Lord Hornsby Lara eins auswischen wollte. Der Lord wusste mit Sicherheit, was wirklich passiert war, würde diese Schmach aber niemals zugeben.

Nach zwei Nächten in der Gefängniszelle trug Lara noch immer dieselben Kleider. Sie sah sehr müde und ein wenig zerzaust aus. Ihr Vater hatte ihr frische Kleidung zum Wechseln bringen wollen, war auf der Wache aber von einem jungen Polizisten mit der Begründung abgewiesen worden, Sergeant Andrews, der aufgrund seiner Verletzungen krankgeschrieben war, habe Anweisung gegeben, dass Lara kein Anrecht auf Privilegien wie beispielsweise Geschenke habe und ausschließlich Besuch von ihrem Rechtsbeistand empfangen dürfe.

Herbert folgte Laras Blick zu ihrem Vater, dem einzigen Gast im Zuschauerraum. Vielen Schülereltern war der Zutritt verwehrt worden, und diese Eltern, die alle an Laras Unschuld glaubten, hatten sich nun vor dem Gericht versammelt und forderten Laras Freilassung.

Walter Penrose war in den vergangenen Tagen deutlich gealtert. Zwar lächelte er tapfer, um seine Tochter aufzumuntern, doch war für alle im Saal sehr wohl ersichtlich, wie schlecht es ihm ging. Er hatte mehrfach versucht, mit Lord Hornsby zu sprechen, war aber nie vorgelassen worden.

Herbert wusste, dass Lara sich schwere Vorwürfe machte, sie hatten in den vergangenen beiden Tagen mehrfach darüber gesprochen. Sie sorgte sich, dass Walter seine Stelle als Stallvorsteher verlieren könnte, was für ihn persönlich einer Katastrophe gleichkäme. Er hatte eine ganz besondere Beziehung zu jedem einzelnen der von ihm betreuten Tiere, und dieses Band zwischen ihm und den Tieren war einzigartig, fast wie zwischen einem Vater und seinen Kindern. Nicht auszudenken, was geschehen würde, wenn man ihm den Zugang zu seinen Schützlingen untersagte. Doch das war nicht geschehen. Sicher waren auch Lord Hornsby die Qualitäten ihres Vaters bewusst, doch Lara sorgte sich, dass die Situation für ihren Vater sicher nicht leichter wurde, nun, da offensichtlich war, dass Lord Hornsby ein Lügner und Betrüger war, dem jedes Mittel recht zu sein schien.

Herbert sah die Sorge im Blick seiner Mandantin und flüsterte ihr zu, dass Richter Winston Mitchell, der mit ihrem Fall betraut war, als äußerst fair galt. »Einen besseren hätten wir kaum bekommen können«, sagte er, um ihr wenigstens ein bisschen Angst zu nehmen.

»Dann gibt es also Hoffnung, dass ich nachher mit Vater nach Hause gehen kann?«

»Ich bin einigermaßen optimistisch.«

»Nur einigermaßen?«

»Nun ja …« Er tätschelte ihren Arm und riet ihr, sich zu entspannen.

Lord Hornsbys Anwalt verlas eine Stellungnahme seines abwesenden Mandanten, in der er Lara vorwarf, sich ständig einzumischen sowie streitsüchtig und gewalttätig zu sein. Weiter berichtete Lord Hornsby, Lara habe mit einer Harke nach ihm geschlagen, was ihn einen Schneidezahn gekostet hätte.

Anschließend wurde Sergeant Andrews in den Zeugenstand gerufen. Sein Gesicht sah wirklich sehr mitgenommen aus. Andrews beschrieb Lara als stürmisch, launisch und gemeingefährlich. Richter Mitchell lauschte dem Bericht über ihren sogenannten »Angriff« mit großem Interesse.

Herbert bemerkte, dass Lara neben ihm unruhig auf ihrem Stuhl hin- und herrutschte. Auch ihn selbst beschlich zunehmend Unbehagen ob der nahezu wortgleichen Äußerungen des Sergeants und Lord Hornsbys, die das Bild einer gefährlichen und gewalttätigen jungen Frau zeichneten. Im Vorfeld hatte Herbert sich bemüht, vom Direktor der Schule, Richard Dunn, ein Leumundszeugnis für seine Mandantin zu bekommen. Aber obwohl Lara von der Lehrerschaft offenbar sehr geschätzt wurde, verweigerte der Direktor ihr die Bestätigung. Auf Nachfrage sagte man ihm, dass Dunn eng mit Lord Hornsby befreundet war. Keine Auskunft bekam er über eventuelle Pläne, Lara zu entlassen. Herbert schloss daraus, dass Lara ihre Arbeitsstelle wahrscheinlich verlieren würde, entschied sich aber, ihr vorerst nichts davon zu sagen.

Herbert hatte auch mit den Eltern von Laras Schülern gesprochen, die sofort bereit waren, den guten Charakter der jungen Lehrerin zu bezeugen. Herbert hatte drei der schriftlichen Stellungnahmen ausgewählt, die er nun dem Gericht präsentierte. Richter Mitchell war wenig beeindruckt und bestand auf einem Leumundszeugnis des Arbeitgebers.

»Mir liegt keines vor, Euer Ehren.«

»Warum nicht?«, erkundigte sich der Richter.

»Soweit ich informiert bin, ist der Schuldirektor ein guter Bekannter von Lord Hornsby und nicht bereit, sich in eine Konfliktsituation zu begeben.«

»Verstehe.« Seine Stimme klang kühl.

Herbert holte tief Luft, bevor er dem Gericht ausführlich Laras Version der Ereignisse darlegte, nicht ohne zu betonen, dass Harrison alles bestätigen könnte, sofern der Vater in eine Vernehmung einwilligte.

»Was den tätlichen Angriff auf Sergeant Andrews angeht«, hakte der Richter nach, »gab es da irgendwelche Zeugen?«

»In der Tat, Euer Ehren, es gab Zeugen. Einen Mann und eine Frau. Leider konnten wir sie nicht ausfindig machen, weil sie keinen festen Wohnsitz haben.«

»Mit anderen Worten, die Zeugen gehören dem fahrenden Volk an?«

Herbert Irving räusperte sich. »Es scheint so, Euer Ehren.«

Nach einer Pause verkündete Richter Mitchell, dass er nach Sachlage entschieden habe, eine Freilassung auf Kaution abzulehnen, was er vor allem mit dem fehlenden Leumundszeugnis von Laras Arbeitgeber begründete. Im Übrigen habe Lord Hornsby seiner Sorge Ausdruck verliehen, Lara könne in der Schule Druck auf Harrison ausüben oder ihn ungerecht behandeln. Als Lara rief, dass sie so etwas nie tun würde, ermahnte der Richter sie, sich ruhig zu verhalten, und drohte ihr im Wiederholungsfall eine Strafe wegen Missachtung des Gerichts an. Auch die Bitte des Anwalts um eine Freilassung auf Kaution mit Auflagen wurde abgelehnt. Lara wurde in ein Gefängnis nach Suffolk geschickt. Richter Mitchell versprach ihr aber, die Gerichtsverhandlung so bald wie möglich anzusetzen.

»Du solltest nicht hier sein, Nicole«, sagte Richter Winston Mitchell zu seiner Schwester, als sie sein Büro im Gerichtsgebäude betrat.

»Aber warum denn nicht? Ich bin doch deine Schwester!«, rief Nicole.

»Du weißt genau, warum. Erst gestern habe ich eine Freilassung auf Kaution in einem Fall abgelehnt, in den dein Mann verwickelt ist. Ich muss unparteiisch sein, aber dein Auftauchen hier könnte den Eindruck erwecken, dass ich es nicht bin.« Tatsächlich hatte Winston Mitchell sich bemüht, den Fall an jemand anderen abzugeben, doch war kein anderer Richter frei gewesen.

»Ich bin gerade wegen Miss Penrose hier, Winston«, erklärte Lady Nicole, während sie ihre Jacke ablegte und sich setzte. Sie war dürr, nicht zuletzt wegen ihrer nervösen Veranlagung, und ihr Teint war so hell, dass er fast durchsichtig wirkte. Ihr dunkles, gelocktes Haar trug sie meist unter einem modischen Hut verborgen, und ihre großen grünen Augen waren von dicken dunklen Wimpern umrahmt. Sie war gewiss keine schöne Frau, eher auf ätherische Art attraktiv.

Winston war fast zehn Jahre älter und hatte ein wenig zu viel Gewicht auf seinen Hüften angesammelt. Sein Gesicht war narbig, als Folge einer schweren Akne während der Pubertät, und sein Haar weiß nach einer ernsten Erkrankung mit Mitte zwanzig. Er hatte nie geheiratet und eine Familie gegründet, war aber mehr als einmal für Nicoles Vater gehalten worden.

»Ich darf nicht darüber reden, und das weißt du ganz genau, Nicole«, knurrte Winston.

»Natürlich weiß ich das. Aber wenn du Miss Penrose nicht wenigstens für eine Weile ins Gefängnis schickst, wird mein Zusammenleben mit Roy vermutlich nicht mehr zu ertragen sein. Überhaupt ist er seit dem Vorfall ein wahres Scheusal. Und wegen des fehlenden Zahns geht er nicht mehr aus dem Haus. Du weißt ja, wie eitel er sein kann.«

»Und warum geht er nicht zum Zahnarzt und lässt den Zahn ersetzen?«

»Weil er befürchtet, dass man es trotzdem sehen wird.«

»Von einer Entwicklung zum Scheusal kann doch gar keine Rede sein, ich kenne ihn eigentlich nur schlecht gelaunt und eitel«, sagte Winston lächelnd. Er hatte seinen Schwager noch nie leiden können. Seiner Meinung nach verfügte Roy weder über ein Mindestmaß an Charme noch über ein sonderlich gutes Aussehen. Das alles war zwar nicht zwingend notwendig, wenn er wenigstens einen freundlichen Charakter sein Eigen hätte nennen können, aber dem war nicht so. Winston vermutete, dass allein Roys ererbter Status des wohlhabenden Lords ihm den Weg im Leben geebnet und Nicoles Aufmerksamkeit erregt hatte. Sie liebte kostspielige Dinge, und als Lady Hornsby hatte sie Zugang zu allem, was ihr Herz begehrte: ein luxuriöses Haus auf einem großen Anwesen, Schmuck, Kleider, ein Auto samt Chauffeur und die Anerkennung der gewöhnlichen Sterblichen in County Suffolk. Aber sie zahlte einen hohen Preis. Einen zu hohen, nach Winstons Ansicht.

»Ehrlich gesagt, verstehe ich nicht, wieso du immer noch mit ihm verheiratet bist«, verlieh er seiner Sorge zum wiederholten Male Ausdruck. »Aber wie dem auch sei: Ich kann nicht garantieren, dass Miss Penrose zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wird. Es war ja schon schwierig, sie nicht gegen Kaution freizulassen.«

Er sah, wie seine Schwester auf ihrem Stuhl in sich zusammensackte. »Roy ist der Meinung, dass Miss Penrose ihn bloßgestellt hat. Ich halte seine Reaktion für übertrieben, aber du kennst doch seine psychischen Probleme seit dem Krieg.«

»Er war doch gar nicht lange im Krieg«, unterbrach Winston sie irritiert. Natürlich lag es ihm fern, das Geschehene herunterzuspielen, aber er würde es niemals als Entschuldigung für Roys schlechtes Benehmen seiner Schwester gegenüber tolerieren.

»Seine Verletzung gibt ihm das Gefühl, weniger männlich zu sein, gerade weil er so leistungsorientiert ist. Unglücklicherweise hat Miss Penrose mit ihrer Tat genau in diese Kerbe geschlagen. Das hat ihn an den Rand des Wahnsinns getrieben, das kannst du mir glauben. Er ist überzeugt, dass er zum Gespött von ganz England wird, wenn sie nicht hart genug bestraft wird.«

»Das ist doch Quatsch, Nicole«, sagte Winston ungeduldig.

Mit Tränen in den Augen sah Nicole ihn an. »Du musst mir helfen, Winston. Roy wird wirklich von Tag zu Tag schlimmer. Er hat mir angedroht …« Ihre Stimme versagte.

»Was hat er dir angedroht?«, fragte Winston besorgt.

»Er will sich von mir scheiden lassen, wenn Miss Penrose freikommt.«

»Oh, aber damit täte er dir doch einen großen Gefallen.« Winstons Erleichterung war nicht gespielt.

»Ich meine es ernst.«

»Ich auch.«

»Aber mein Leben ist ruiniert, wenn Roy sich scheiden lässt, Winston. Ich kann nicht einfach wieder zu Nicole Mitchell werden.«

»Merkst du eigentlich, wie verrückt das klingt?«, fragte Winston.

»Mag sein. Für dich als Beamter mit gutem Gehalt ist die Welt ja auch in Ordnung. Aber siehst du mich allen Ernstes wieder als Schankmädchen im The Black Bull Inn bei Mum und Dad? Allein die Vorstellung, diese Arbeit wieder verrichten zu müssen, empfinde ich als Albtraum.«

Winston schmunzelte. Mehr als zwanzig Jahre hatten die Eltern die inzwischen recht heruntergekommene Kneipe geführt. Auch er fand, dass Nicole nicht mehr in ihr früheres Leben passte, was allerdings daran lag, dass sie inzwischen sehr verwöhnt war. »Es spielt doch keine Rolle, was du tust. Hauptsache, du bist glücklich«, sagte er sanft.

In Nicoles großen grünen Augen standen wieder Tränen. »Es ist mir ernst, Winston, sonst wäre ich nicht hier. Roy hat mir angedroht, sich scheiden zu lassen und mir auch Harrison fortzunehmen. Und ohne meinen Sohn kann ich nicht leben.«

Winstons Blick verfinsterte sich. Er dachte daran, dass Nicole mehrere Fehlgeburten erlitten hatte, ehe Harrison zur Welt kam. Nachdem das Baby geboren war, erklärte man ihr, dass sie nie wieder ein Kind bekommen könne. Fünf Jahre später aber erblickte Isabella das Licht der Welt – ihr Wunder-Baby, wie Nicole die Kleine stets nannte. Ein Verlust der Kinder würde Nicole schwer zusetzen. »Das würde er doch nicht wirklich tun?«, fragte Winston entsetzt.

»Oh doch! Zweifelst du ernsthaft daran, dass er seine Drohung in die Tat umsetzen würde, Winston? Und was für ein Leben blüht Harrison dann, ohne mich? Roy würde ihn hart angehen, ohne dass der Junge jemanden hätte, der ihn zumindest ab und an verteidigen und trösten kann.«

Winston sah den Schmerz in ihren Augen. Nicole war zweifelsohne eine gute Mutter, und er mochte seinen Neffen, der so sensibel war und so sehr damit zu kämpfen hatte, die hohen Erwartungen seines Vaters zu erfüllen. Dennoch konnte es für ihn nur eine Antwort geben. »Ich verstehe dein Dilemma, Nicole. Wirklich. Aber ich lasse mich nicht zu einer Gefängnisstrafe für Miss Penrose erpressen, nur um deine und Roys Ehe zu retten. Das sind Probleme, mit denen ihr selbst fertig werden müsst.« Er schäumte vor Wut, dass Roy Nicole in dieser Angelegenheit benutzte.

Nicole stand auf. Sie tupfte die Tränen ab und zog ihre Jacke an. »Tut mir leid, dass ich gekommen bin, Winston. Du bist ein guter Richter, und ich hätte dich nicht in diese Situation bringen dürfen. Aber ich wusste einfach nicht, was ich sonst hätte tun können.«

Dann verlor sie die Fassung und begann zu schluchzen. Winston nahm sie in die Arme. Der Kummer seiner Schwester brach ihm fast das Herz.

Am folgenden Tag rief Winston einen alten Freund und Kollegen an und verabredete sich mit ihm zum Lunch in der Stadt. Er hatte eine schlaflose Nacht hinter sich und hoffte auf Paul Fitzsimons’ Rat.

Das Hot Pot Café bot hervorragendes Essen an, und allein beim Gedanken an Mrs Fellowes köstliche Suppen und Pies lief Winston das Wasser im Munde zusammen. Das Café lag nicht weit von seiner Wohnung entfernt und war fast leer, als Winston eintrat, wie so oft seit Kriegsbeginn. Er entschied sich für einen abgelegenen Tisch, wo sie ungestört reden konnten. Winston hatte Paul sehr lange nicht gesehen und freute sich auf das Treffen mit ihm.

»Mensch, bist du braun!«, begrüßte er ihn fröhlich.

»Und du so käseweiß wie immer«, lachte Paul und reichte dem Freund die Hand. »Sag mal, hat es hier seit meiner Abreise überhaupt irgendwann einmal aufgehört zu regnen?«

Winston grinste. »Soweit ich mich erinnere, hatten wir zwischendurch mal einen Sonnentag. Einen einzigen, wohlgemerkt. Wohin hat deine Reise dich denn dieses Mal geführt?«

»In den Norden Australiens. Dort ist es wirklich immer heiß – morgens meist sonnig, nachmittags oft ziemlich schwül. Feucht wird es überhaupt nur in der Regenzeit, aber dann schüttet es gleich wie aus Eimern. Nur kalt wird es nie. Heute trage ich zum ersten Mal seit Monaten einen Mantel und ein Hemd mit langen Ärmeln.«

»Hast du ein Glück«, meinte Winston neidisch. Er schwieg, während die Bedienung ihre Bestellungen aufnahm.

»Dich bedrückt doch etwas, mein Freund«, sagte Paul schließlich. »Macht dir wieder einmal ein Fall zu schaffen?«

»Du kennst mich wirklich gut«, nickte Winston. Er hatte nicht die Absicht, die Verbindung zu seiner Schwester oder ihrem Mann auszusprechen. Paul war zwar ein sehr guter Freund, trotzdem wollte er den Fall anonym halten.

»Und worum geht es dabei?«

»Um eine junge Frau, die beschuldigt wird, einen Adligen sowie einen Polizisten tätlich angegriffen zu haben.«

»Das klingt nach einer respektablen Gefängnisstrafe.«

»Sie beteuert ihre Unschuld im ersten Fall, der zweite soll ein Unfall gewesen sein. Leider gibt es keine Zeugen, die ihre Aussage bestätigen können, aber ehrlich gesagt glaube ich ihr. Sie ist übrigens Lehrerin und bisher völlig unbescholten. Ihre Schüler lieben sie, die Eltern der Schüler sind von ihr begeistert, und sie hat noch nie mit der Polizei zu tun gehabt.«

»Dann lass sie doch gegen Kaution frei.«

»So einfach ist das nicht. Ihre angeblichen Opfer bestehen beide auf einer Gefängnisstrafe.«

»Dazu haben sie kein Recht. Die Entscheidung ist Sache des Gerichts.«

»Wenn es doch nur so einfach wäre«, murmelte Winston. Zu gerne hätte er seinen Freund in die Tiefen der Problematik eingeweiht, doch das war unmöglich, ohne die Probleme seiner Schwester zu offenbaren. Schweren Herzens wechselte er das Thema. »Wohin soll deine nächste Reise führen?«

»Ich bin zurück nach England gekommen, weil ich versuchen möchte, Lehrer zu finden, die bereit sind, eine Stelle im Norden Australiens zu übernehmen.«

»Lehrer? Wieso?«

»Die Männer dort sind fast alle zum Kriegsdienst eingezogen, und die Kinder sind außer Rand und Band, sie tun und lassen, was sie wollen. Zur Schule gehen sie gar nicht mehr.«

»Warum gehen sie nicht zur Schule?«